Lieferung 2

Karl May

23. August 1884

Der verlorne Sohn
oder
Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.


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»Wahrhaftig, da spaziert sie fort!« zürnte er. »Und wohin? Jedenfalls zu dem geliebten Milchbruder. Ich werde ihr folgen, um zu beobachten, was geschieht.«

Und als er das Schloß verließ, stand der Baron droben an seinem Fenster und brummte zufrieden vor sich hin:

»Da ging sie, und da geht er. Beim Förstersohne treffen sie sich, und da geht der Spektakel los. Ob ich dabei vielleicht etwas profitiren kann? Ich werde es versuchen. Mich soll übrigens verlangen, was sie sagen, wenn sie den Alten todt finden.«

Auch er begab sich auf den Weg, welcher nach der Tannenschlucht führte. Dort lagen noch die Zeugen des Kampfes, einige Leichen und Schwerverwundete und die erbeuteten Packete, bewacht von den siegreichen Grenzaufsehern. Man mußte Alles liegen lassen, bis die Gerichtspersonen, nach denen bereits geschickt worden war, gekommen waren, um den Sachbefund aufzunehmen.

Gustav hatte gestern eine weite Fußtour gemacht und des Nachts nicht geschlafen. Er wollte bei der Ankunft der gerichtlichen Commission zugegen sein und ging daher nicht nach dem Forsthause, wo er bequemer hätte ruhen können. Er blieb in der Tannenschlucht, zog sich jedoch ein wenig seitwärts in den Wald hinein, um sich in das weiche Moos hinzustrecken. Seine Doppelbüchse lehnte an dem Baume neben ihm; die beiden Läufe waren natürlich geladen.

Indem er so da lag und mit dem Schlafe kämpfte, war es ihm, als ob er das leichte Trippeln von Frauenfüßchen vernehme. Er erhob sich und that einige Schritte nach dem Wege hin, welcher hier vorüberführte. Man denke sich seine Freude, als er Alma erblickte, welche soeben vorbei wollte.

»Wohin will mein Sonnenstrahl?« fragte er, indem er zwischen den Bäumen hervortrat.

Sie eilte sofort auf ihn zu und gab ihm die Hand.

»Ich mußte sehen, ob Du noch lebst, mein lieber Gustav,« sagte sie. »Wie? Dein Rock ist voller Blut. Bist Du verwundet?«

»Nein. Ich wollte einen angeschossenen Pascher, welcher fliehen wollte, festhalten und habe mich dabei beschmutzt. Im Schlosse ist doch kein Unglück passirt?«

»Nein. Was sollte denn geschehen sein?«

»Zwei Pascher wollten Deinen Papa durch das Fenster erschießen.«

»Mein Gott!« rief sie erschrocken. »Ich habe noch gar nicht mit dem Vater gesprochen; er war noch nicht wach. Ich horchte an seiner Thür und fand Alles still. Himmel, wenn er todt wäre!«

»Hast Du Schüsse im Schlosse gehört?«

»Nein.«

»So darfst Du ruhig sein. Ich war bei ihm und habe ihn gewarnt.«

»Du? Bei ihm? Nachdem er Dir den Zutritt untersagt hatte?«

»Ja. Ich hielt es für meine Pflicht, ihm selbst die Mittheilung zu machen, wurde aber allerdings nicht gut von ihm empfangen.«

»Er wird nicht ewig zürnen. Der Hauptmann hat ihm die Begebenheit falsch geschildert. Wie denkst Du in Beziehung der Satisfaction?«


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»Daran denke ich jetzt nicht. Man muß das später überlegen.«

»So bin ich beruhigt und kann zurückkehren. Lebe wohl!«

Sie reichte ihm abermals die Hand, schlug den Mantel fester um sich herum und ging. Wie glücklich machte ihn die Aufmerksamkeit, welche sie für seine Person an den Tag gelegt hatte!

Baron Franz war dem Hauptmanne gefolgt. Da dieser Letztere sich in die Büsche links vom Wege schlug, so blieb er auf der rechten Seite des Letzteren. Der Hauptmann wollte Alma mit Brandt, der Baron aber alle Drei belauschen.

Dieser Letztere schritt leise unter dem Schutz der Bäume und Sträucher hin, bis er eine männliche und eine weibliche Stimme hörte. Er schlich sich dem Schalle nach und erkannte, daß er Brandt und Alma vor sich habe. Und grad da, wo er sich befand, lehnte die Doppelbüchse des Förstersohnes an dem Stamme eines Baumes. Der Baron untersuchte sie.

»Sie ist geladen, wahrhaftig geladen!« murmelte er. »Jetzt sollte der Hauptmann hinzukommen! Er sollte mich nie wieder an mein Ehrenwort erinnern, und dieser Brandt, den sie liebt, müßte als Doppelmörder auf das Schafott!«

Er kniete nieder, um nicht so leicht gesehen zu werden, und doch Alles besser beobachten zu können. Er bemerkte, daß Alma sich von dem Milchbruder verabschiedete. Kaum aber hatte sie sich entfernt, so trat aus dem gegenüber liegenden Wegsaume der Hauptmann hervor. Brandt blickte ihn zornig an und sagte:

»Herr, Sie haben uns belauscht!«

»Allerdings,« gestand der Hauptmann gleichmüthig. »Ich wollte mir Gewißheit verschaffen über die Art und Weise, in welcher Sie mit der Baronesse verkehren. Ich habe mich überzeugt, daß Ihr Verhältniß ein rein geschwisterliches ist und habe meine Verpflichtung kennen gelernt. Herr Brandt, ich habe Sie gestern außerordentlich beleidigt; ich befand mich in einer Aufregung, welche ich so hochgradig noch nie an mir beobachtet habe. Können Sie mir verzeihen? Ich bin natürlich zu jeder Art von Satisfaction bereit.«

»Ich bin allerdings nicht gewohnt, in der Weise, wie es von Ihnen geschah, mit mir sprechen zu lassen, aber wenn ein Ehrenmann, wie Sie es sind, die Beleidigungen zurücknimmt, so bin ich gern erbötig, es so zu betrachten, als ob sie nicht ausgesprochen worden seien. Nur bitte ich, den Herrn Baron informiren zu wollen, damit er mir nicht länger zürnt!«

»Das wird sofort geschehen. Ihre Hand, Herr Brandt?«

»Hier ist sie. Denken wir nicht mehr an diese Angelegenheit.«

»Ich danke Ihnen! Sie sind ein Ehrenmann und ich drücke Ihnen die Hand mit dem Wunsche, daß - Gott, o Gott!«

Es war aus nächster Nähe ein Schuß gefallen. Er ließ die Hand Gustavs los und fuhr sich mit den beiden seinigen nach dem Herzen. Zu gleicher Zeit fiel ein zweiter Schuß. Der Hauptmann sank, von zwei Kugeln durchbohrt, zu Boden.

Brandt hatte einige Augenblicke lang dagestanden, wie vom Schreck gelähmt; jetzt aber sprang er in das Dickicht hinein.


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»Tod und Teufel, wer hat da mit meiner Büchse geschossen?«

Er sah wohl das Gewehr, es lag am Boden, der Schütze aber war verschwunden, und nicht das leiseste Geräusch zeigte die Richtung an, in welcher er entflohen war. Vor allen Dingen mußte nach dem Hauptmanne gesehen werden. Gustav kehrte also, das abgeschossene Gewehr in der Hand, zu ihm zurück.

Grad in demselben Augenblicke, an welchem er durch die Sträucher brach, welche den Rand des Weges besäumten, hörte er leichte, eilige Schritte nahen und blieb stehen, um zu sehen, wer da komme. Es war - Alma. Sie hatte allerdings nach dem Schlosse zurückkehren wollen, aber kaum von ihm fort, waren laute Stimmen an ihr Ohr gedrungen und sie hatte ganz unwillkürlich ihre Schritte gehemmt, um zu horchen.

»Mit wem spricht er jetzt?« fragte sie sich. »Es befand sich ja Niemand bei ihm! Er war allein.«

Wenn sie auch die einzelnen Worte nicht verstehen konnte, so kannte sie doch die Stimme: es war diejenige des Förstersohnes und des Hauptmannes.

»Mein Gott!« flüsterte sie angstvoll. »Gestern die böse Scene auf dem Tannensteine und jetzt treffen sie sich hier auf dem einsamen Waldwege. Der Hauptmann war so grimmig, und Gustav wird sich nicht ungestraft beleidigen lassen. Ich muß schleunigst zurückkehren, denn da ich - - Herr Jesus Christus, was ist das! Das hat ein Unglück gegeben, ein entsetzliches, ein fürchterliches Unglück!«

Es waren an dem Orte, an welchem sie Gustav verlassen hatte, schnell hinter einander zwei Schüsse gefallen. Sie wollte fort, hin, zurück, aber ihre Füße versagten ihr den Dienst. Sie stand vor Schreck wie gelähmt und erst nach einem Weilchen erhielt sie ihre Beweglichkeit zurück.

Sie stürzte hin, wo die Schüsse gefallen waren. Als sie dort ankam, bot sich ihr ein gräßlicher Anblick dar. Der Hauptmann lag lang ausgestreckt in einer Blutlache am Boden. Aus seiner Brust quoll ein dicker Strom der kostbaren Lebensflüssigkeit, und vor ihm stand Gustav, verzerrten Angesichtes und das abgeschossene Doppelgewehr in der Hand. Es wurde ihr schwarz vor den Augen und es war ihr, als ob die Umgebung sich in rasender Schnelligkeit um sie zu drehen beginne.

»Heiliger Himmel!« stotterte sie. »Du hast ihn erschossen! Du bist ein Mörder.«

Sie fuhr mit den Armen durch die Luft, als ob auch sie von einer Kugel getroffen worden sei, und brach dann besinnungslos zusammen.

»Alma!« rief er und kniete, den Hauptmann über sie ganz vergessend, neben ihr nieder. »Ich bin kein Mörder! Nicht ich bin es gewesen, der geschossen hat! Wache auf und höre mich!«

Er ergriff ihre Hände, welche kalt waren. Er nahm ihr Köpfchen auf und küßte sie auf den erblaßten Mund. Er war so bestürzt, daß er gar nicht wußte, was er that. Er drückte sie an sich; er küßte und liebkoste sie wieder und immer wieder; er bemerkte gar nicht, daß er nicht mehr allein mit ihr sei und daß dieser Ausbruch der Bestürzung und Liebe Zeugen gefunden hatte.


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Es gab nämlich in Dorf Helfenstein eine Schänke, deren Besitzer, der Schmied des Ortes, ein heimlicher Verbündeter der Schmuggler war. Er und sein Sohn, Beide kräftige Riesengestalten, waren ebenso schlau und vorsichtig, wie unternehmend. Sie machten die Hehler und pflegten sich nur dann bei einem Paschergange mit zu betheiligen, wenn sie überzeugt sein konnten, daß keine Gefahr vorhanden sei. Nicht etwa, als ob sie die Gefahr fürchteten, o nein; aber sie brachten die Größe derselben in Vergleichung zu der Wahrscheinlichkeit, sie zu bestehen. Sie hatten, Beide allein, oft mehr gewagt, als alle Anderen; aber sie waren niemals ergriffen worden, ja kaum einmal in einen nennenswerthen Verdacht gerathen.

Auch sie waren aufgefordert worden, sich an dem letzten Unternehmen zu betheiligen; sie hatten zugesagt, aber ihre Zusage noch im letzten Augenblicke zurückgenommen, als sie hörten, daß Gustav Brandt angekommen sei.

Die von verschiedenen Seiten herbeigekommenen Pascher hatten sich, ehe sie sich in den Wald begaben, in einer Hinterstube der Schänke zusammen gefunden. Dort war von dem Bruder der Zofe erzählt worden, daß er Brandt getroffen und was er mit ihm gesprochen habe. Da hatte der Schmied sofort gemeint:

»Hört, ich mache heute nicht mit und rathe Euch, den Gang auf eine andere Zeit zu verschieben. Der Brandt ist schlau, aber noch jung und wohlwollend. Was er gesagt hat, das hat vielleicht eine versteckte Warnung sein sollen. Und wäre dies auch nicht der Fall, so klingt aus seinen Worten eine Siegesgewißheit, welche mir zu denken gibt. Es scheint mir, daß er auf irgend eine Weise von unserem Unternehmen Wind bekommen hat. Ihr wißt, daß ich mich nicht fürchte; aber ich begebe mich auch nicht in eine Gefahr, die ich gar nicht kenne. Ich verzichte für heute!«

Man redete ihm zu, aber er blieb fest, und sein Sohn schloß sich seiner Meinung an. Daher kam es, daß die Beiden daheim blieben, als die Anderen aufbrachen; aber die Sorge um den Ausgang des Unternehmens ließ die Beiden nicht schlafen. Sie begaben sich mit Anbruch des Tages in den Wald, um in der Gegend der Tannenschlucht nach Anzeichen zu suchen, aus denen sie darauf schließen konnten, ob die Schmuggelei geglückt sei oder nicht. Vorher gingen sie nach dem Gute, welches dem Bruder der Zofe gehörte, der ja den Anführer machte. Er war unverheirathet. Sie weckten einen Knecht und erfuhren, daß sein Herr noch nicht wieder zurückgekehrt sei. Das war ein schlimmes Zeichen.

Sie sollten aber bald deutlicher sehen, wie klug sie gethan hatten, sich nicht anzuschließen. Sie hatten kaum den Wald erreicht und waren, einem schmalen Fußpfade folgend, nur wenige Schritte in denselben eingedrungen, so sahen sie einen Menschen am Boden liegen, in welchem sie sogleich den Anführer erkannten.

»Donnerwetter!« rief der Schmied, ganz bestürzt stehen bleibend. »Der ist todt! Wer in einer solchen Blutlache liegt, der hat kein Leben mehr. Wollen einmal sehen!«

Sie bückten sich nieder, um die Leiche zu untersuchen.


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»Die Kugel hat ihn von hinten getroffen«, meinte der Sohn. »Er ist verfolgt und auf der Flucht erschossen worden!«

»Ja, ja; das ist richtig! Das hat man davon, wenn man den Rath eines Vernünftigen nicht befolgt. Ein Glück, daß er weder Frau noch Kinder hat! Was aber wird seine Schwester sagen!«

»Pah! Sie wird ihn beerben!«

»Trotzdem! Sie hat große Stücke auf ihn gehalten und uns so manchen guten Wink gegeben. Sie wird dem Brandt Rache schwören, weil er der eigentliche Urheber dieses Unglückes ist.«

»Was thun wir mit der Leiche? Schaffen wir sie nach Hause?«

»Fällt uns gar nicht ein! Das wäre ja die größte Dummheit, welche wir begehen könnten! Wir würden in Verdacht kommen, von dem Unternehmen gewußt zu haben oder gar dabei gewesen zu sein. Das müssen wir vermeiden. Auch von diesem hier braucht man nicht gerade zu wissen, wobei er umgekommen ist. Wir tragen ihn in das Dickicht, wo man ihn nicht leicht findet, bestreuen die blutige Stelle hier mit Baumnadeln, die ja in Masse hier liegen, und machen seiner Schwester heimlich Meldung. Später entdeckt man die Leiche, und dann mag man über die Ursache seines Todes denken, was man will. Uns geht es nichts mehr an. Komm, greife mit an! Dann schleichen wir uns nach der Tannenschlucht. Sehen darf uns aber Niemand.«

Die Leiche wurde in ein dichtes Gebüsch geschafft und die blutige Stelle unkenntlich gemacht; dann verließen die Beiden den Fußweg, auf welchem sie leicht Jemandem begegnen konnten, und drangen vorsichtig querwaldein nach der Schlucht vor.

Sie glaubten natürlich, daß der Todte von den Grenzern erschossen worden sei, und hatten keine Ahnung, daß ihn die Kugel eines der Ihrigen getroffen habe. Die beiden Pascher, deren Worte Gustav Brandt auf den Baron von Helfenstein bezogen hatte, waren, von Rachegedanken gegen ihren flüchtenden Anführer erfüllt, auf denselben gestoßen, und der Eine hatte ihn von hinten niedergeschossen.

Als der Schmied mit seinem Sohne in der Nähe der Tannenschlucht angekommen war, wo Beide nun ihre Vorsicht verdoppeln mußten, hörten sie plötzlich seitwärts menschliche Stimmen sprechen.

»Komm!« flüsterte der Vater. »Wir müssen sehen, wer das ist. Aber leise, ganz und gar leise!«

Sie bückten sich auf den Boden nieder und krochen vorwärts, der Schmied voran und sein Sohn hinter ihm her. Bereits nach kurzer Zeit hielt der Erstere inne und winkte, vorwärts zeigend, seinen Sohn zu sich heran. Dieser gehorchte, und Beide erblickten, nur wenige Schritte von ihnen getrennt - den Baron Franz von Helfenstein, der soeben nach einem Doppelgewehre griff, welches an einem Baume lehnte. Er untersuchte, ob es geladen sei, blickte vor sich zwischen den Bäumen hindurch und schien leise vor sich hin zu murmeln.

»Der hat etwas vor! Vielleicht gar etwas Schlimmes!« flüsterte der Schmied.


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»Wollen wir hin zu ihm, um ihn zu hindern?«

»Unsinn! Noch wissen wir ja gar nicht, was er beabsichtigt. Und selbst wenn er Böses im Schilde führte, was geht es uns an? Ich wenigstens mag mich auf keinen Fall hier sehen lassen. Paß auf! Alle Teufel! Er zielt; er schießt!«

Ein Schuß krachte; der Todesschrei des Hauptmannes erscholl; der zweite Schuß fiel; dann warf der Baron das Gewehr von sich und sprang davon, kaum acht Schritte von den beiden Lauschern vorüber.

»Herrgott, Vater, er hat Einen erschossen!« stieß der Sohn hervor, lauter, als es mit ihrer Lauscherei im Einklang stand.

»Pst! Um Gotteswillen, still!« antwortete der Schmied. »Da kommt Einer! Ah, der Brandt! Es war sein Gewehr. Er hebt es auf. Er blickt sich um. Wenn er uns bemerkt, wird er denken, daß wir es gewesen sind. Doch nein; er eilt retour. Wir müssen sehen, wen die Kugeln getroffen haben. Komm weiter vor, aber unendlich vorsichtig!«

Sie schoben sich in kriechender Stellung leise, leise weiter, bis sie den Unglücksplatz überblicken konnten. Da lag der todte Hauptmann; in seiner Nähe kniete Brandt am Boden und liebkoste die ohnmächtige Alma, welche er in seinen Armen hielt. Und seitwärts kam - war es möglich! - der Baron, der Mörder herbei. Er überblickte die Scene. Ein teuflisches Lächeln überflog sein Gesicht. Er griff in seine Tasche und zog etwas hervor; es schien ein Schlüssel zu sein. Mit einigen raschen, unhörbaren Schritten näherte er sich von hinten dem vor Bestürzung gar nicht auf die Umgebung achtenden Förstersohne und steckte ihm mit der Geschwindigkeit eines Jongleurs den Schlüssel in die Tasche. Dann trat er zurück und eilte in der Richtung nach der Tannenschlucht davon.

Da faßte der Schmied seinen Sohn am Arme und zog ihn davon. Erst in weiter Entfernung hielt er an:

»Höre, Junge«, sagte er, »Du wirst denken, daß wir Anzeige machen müssen?«

»Natürlich!« antwortete der Sohn.

»Was fällt Dir ein. Das, was wir gesehen haben, kann uns ungeheuren Nutzen bringen, wenn wir uns nicht hineinmengen. Der Baron hat den Hauptmann erschossen; das haben wir gesehen. Er hat Brandt einen Schlüssel in die Tasche gesteckt. Wozu? Das wissen wir nicht; aber ich denke, daß wir es erfahren werden. Es handelt sich hier um eine geheimnißvolle That, welche wir auszunützen suchen müssen, und das können wir nur dann, wenn wir abwarten, was nun noch weiter geschehen wird.«

»Meinetwegen, mir ist Alles recht. Gehen wir nun nach der Schlucht?«

»Nein; auf keinen Fall. Wenn wir riskiren, gesehen zu werden, begeben wir uns jetzt in eine doppelte Gefahr. Komm nach Hause. Das ist das Klügste, was wir thun können. Du kannst dann nach dem Schlosse gehen, um der Ella heimlich mitzutheilen, was mit ihrem Bruder geschehen ist.«

Sie eilten davon, dem Dorfe entgegen.

Die beiden Schüsse waren noch von Anderen gehört worden. Zu den


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Grenzern, welche in der Schlucht die Gefallenen und die erbeuteten Packete bewacht hatten, waren einige Gensdarmen gestoßen, um mit ihnen die Ankunft der gerichtlichen Commission zu erwarten. Die Unterhaltung, welche zwischen ihnen geführt wurde, bezog sich natürlich auf das Ereigniß der letzten Nacht und wurde in der lebhaftesten Weise geführt. Diese Lebhaftigkeit aber verhinderte nicht, daß man die beiden Schüsse hörte, welche ja an einem nicht weit entfernten Orte fielen.

»Was war das?« fragte einer der Gensdarmen. »Man hat zweimal geschossen. Der Förster kann es nicht gewesen sein. Es ist in der Richtung jenes Weges gewesen, welcher dort nach dem Schlosse führt. Vorwärts! Wir müssen sehen, wer es war!«

Er eilte fort, und die Mehrzahl der Anwesenden folgte ihm. Auf halbem Wege kam ihnen der Baron entgegen. Er schien sehr erschreckt und echauffirt zu sein.

»Ah, welch ein Glück, daß Gensdarmen anwesend sind!« rief er. »Meine Herren, soeben bin ich Zeuge eines gräßlichen Mordes gewesen.«

»Eines Mordes?« fragte der Gensdarm. »Wir haben zwei Schüsse gehört. Wer ist erschossen worden?«

»Der Hauptmann von Hellenbach.«

»Alle Teufel! Von wem denn?«

»Von Gustav Brandt, dem Sohne des hiesigen Försters.«

Der Beamte fuhr ganz erschrocken zurück.

»Das ist unmöglich! Das muß ein Irrthum sein!« sagte er.

»Herr, ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen.«

»Und dennoch kann ich es kaum glauben, begreifen aber gar nicht. Herr Brandt ist Jurist; er ist in der Residenz angestellt; er ist von dort nach hier beordert worden, um das Verbrechen zu steuern, er kann nicht selbst ein Verbrecher sein!«

Da maß der Baron den Sprecher mit seinem stolzesten Blicke, machte eine sehr geringschätzende Bewegung der Achsel und sagte:

»Hat es noch keinen Juristen, keinen Beamten gegeben, welcher ein Verbrecher war? Eine Ansicht, eine Meinung kann nichts gelten, wo das Auge gesehen und das Ohr gehört hat, was geschehen ist. Sie sind Polizeibeamter; als solcher erhalten Sie von mir die Mittheilung, daß Brandt den Baron vor meinen Augen erschossen hat, und ich fordere Sie allen Ernstes auf, Ihre Pflicht zu thun!«

»Habe ich gesagt, daß ich sie nicht thun will? Wo liegt der Todte?«

»Da drin auf dem Wege.«

»Und wo befindet sich der Mörder?«

»Als ich fort eilte, befand er sich noch in der Nähe der Leiche.«

»Das wäre unbegreiflich. Ein Mörder flieht und verbirgt sich. Er bleibt nicht bei seinem Opfer stehen, besonders wenn er weiß, daß man die That gesehen hat.«

»Er weiß nicht, daß ich Zeuge derselben bin. Ich sah, daß er den Hauptmann niederschoß und daß Baronesse Alma dazu kam. Ich wußte, daß


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sich Beamte in der Schlucht befinden und eilte, um ihnen Anzeige zu machen.«

»Ah, die Baronesse kam dazu? Was sagte, und was that sie? Wo befindet sie sich?«

»Sie nannte ihn einen Mörder und wurde dann ohnmächtig. Der Ermordete war ihr Verlobter. Ich fordere Sie auf, zu eilen, damit der Mörder nicht entkommen kann.«

»So kommen Sie!«

Als sie den Platz erreichten, an welchem die Leiche lag, kniete Gustav, mit Alma beschäftigt, noch immer auf der Erde. Er sah kaum, daß Menschen daher kamen; er beachtete sie gar nicht. Eben öffnete sie die Augen. Sie sah, daß sie in seinen Armen lag; sie sah auch die Anwesenden, und eine jähe Röthe flog über ihr Gesicht. Dann jedoch fiel ihr Blick auf den Todten. Das Blut trat aus ihren Wangen zurück; ihre Züge nahmen den Ausdruck der Furcht, des Abscheues an; sie machte eine Bewegung des Widerwillens, wand sich aus seinen Armen, vermied es, den Blick abermals auf den Ermordeten fallen zu lassen und sagte:

»Unglücklicher! Laß mich! Deine Hände rauchen von dem Blute, welches Du vergossen hast!«

Diese Worte erst ließen ihn an die Gefahr denken, in welcher er sich befand. Er wendete seinen Blick von ihr weg auf die Anderen und sagte:

»Ich? Ich soll dieses Blut vergossen haben? Das ist ein Irrthum, ein großer, ein ungeheurer Irrthum!«

Da trat der Gensdarm zu ihm heran und fragte:

»Herr Brandt, Sie stellen in Abrede, die beiden tödtlichen Schüsse abgefeuert zu haben?«

»Ja, ganz entschieden! Aber, bitte, untersuchen wir erst den Hauptmann! Vielleicht ist noch Leben in ihm. Er würde es mir bezeugen, daß ich die That nicht begangen habe.«

Man folgte diesen Worten, aber es zeigte sich leider, daß nicht eine Spur von Leben mehr vorhanden war. Alma hatte abseits gestanden, an einen Baum gelehnt. Ihr Gesicht war bleich; es zeigte eine fast wächserne Blutleere. Der Gensdarm trat zu ihr und sagte:

»Gnädiges Fräulein, Sie werden diesen Ort gern verlassen wollen; ich muß Sie jedoch vorher um die Beantwortung einiger Fragen ersuchen. Halten Sie Herrn Brandt für schuldig?«

Ihr Auge suchte den Angeklagten. Liebe, Mitleid und Abscheu kämpften in ihrem Blicke. Sie zögerte zu antworten, und sagte erst nach einer langen Pause:

»Muß ich denn eine Antwort geben?«

»Ja, Sie müssen.«

»Mein Gott, welch' eine Qual!« Sie legte die Hand auf das Herz und fuhr dann, in ein lautes Schluchzen ausbrechend, fort: »Ich kann, ich darf es nicht leugnen; ich muß die Wahrheit sagen: ja, er ist es gewesen.«

Dabei umfaßte sie den Stamm des Baumes, um nicht umzusinken.


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Gustav hatte sein Auge mit Siegeszuversicht auf sie gerichtet gehabt; jetzt fuhr er zusammen und griff sich mit beiden Händen an die Stirn, als ob ihn dort ein Schlag getroffen habe.

»Alma!« rief er, nicht im Tone des Vorwurfs, sondern mit einem Ausdrucke, welcher sich gar nicht beschreiben läßt.

»Bitte, schweigen Sie jetzt!« gebot ihm der Gensdarm. Und sich an den Baron wendend, fuhr er zu diesem fort: »Herr von Helfenstein, ich muß ganz dieselbe Frage auch an Sie richten.«

»Auch ich bin Zeuge, daß er der Mörder ist«, antwortete der Gefragte in einem Tone, der gar keinen Widerspruch aufkommen ließ.

»Herr Baron!« rief Gustav zornig. »Wahren Sie Ihre Zunge. Sie sind ja gar nicht dabei gewesen!«

»Das wird untersucht werden«, meinte der Gensdarm. »Herr von Helfenstein, Sie haben vielleicht die Güte, das gnädige Fräulein nach dem Schlosse zu begleiten. Wir werden nachkommen.«

Der Baron bot Alma den Arm; sie nahm denselben an.

»Alma! Schwester!« rief Gustav. »Willst Du mich wirklich verlassen, mit diesem Verdachte im Herzen?«

Sie wendete ihm noch einmal den Blick der schönen Augen zu. Ihr Busen wogte heftig auf und nieder. Sie kämpfte einen schweren Kampf, der ihr Herz, ihr ganzes Innere zerfleischte. Dann aber antwortete sie:

»Ich darf nicht lügen! Es ist kein Verdacht, es ist die unbestreitbare Gewißheit, daß Du der Thäter bist. Lebe wohl, auf ewig!«

Sie ging mit dem Baron. Gustav wußte nicht, was er thun, was er sagen sollte. Das, was er jetzt erlebte, war so ungeheuerlich, daß es ihn fast betäubte. Es brauste ihm um die Ohren, als ob er sich inmitten einer tosenden Brandung befinde, und nur wie im Traume, nur wie aus weiter Ferne vernahm er die Frage des Gensdarmen:

»Aus welchem Gewehre sind die Kugeln gekommen, Herr Brandt?«

»Aus diesem«, antwortete er, auf seine Büchse deutend.

»Es ist das Ihrige?«

»Ja. Ich lag da drinnen zwischen den Bäumen. Die Büchse lehnte an einem Stamme. Ich sah die Baronesse kommen und trat auf den Weg fort; da kam der Hauptmann. Während wir uns unterhielten, fielen zwei Schüsse; sie trafen ihn in die Brust. Er war todt. Ich sprang dahin, wo ich mein Gewehr gelassen hatte. Es lag abgeschossen am Boden, aber Niemand war da. Der Mörder war augenblicklich entflohen. Ihm nachzueilen, wäre vergebens gewesen. Ich kehrte darum zu dem Hauptmanne zurück, um zu sehen, ob er wirklich todt sei. Ich hatte das Gewehr noch in der Hand. In diesem Augenblicke kam die Baronesse retour. Sie hatte die Schüsse gehört. Sie sah mich mit der Büchse, sie erblickte den Todten; ich sehe ein, daß sie mich für den Mörder halten mußte, zumal ich gestern mit dem Hauptmanne einen Wortwechsel hatte. Sie fiel in Ohnmacht.«

Er hatte diesen Bericht in kurzen, abgerissenen Sätzen gegeben. Sein


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Gesicht glich dabei demjenigen eines Nachtwandlers, welcher nicht weiß, was er thut und spricht.

Der Gensdarm schüttelte den Kopf und meinte:

»Ich möchte gern glauben, daß Sie unschuldig sind und daß es in Wirklichkeit so ist, wie Sie sagen. Jedenfalls wird es Ihnen gelingen, dies zu beweisen. Aber Sie sind Jurist; Sie kennen die Pflichten meines Amtes. Ich muß Sie bitten, sich als meinen Gefangenen zu betrachten.«

Alle Anwesenden hatten gewußt, daß es so kommen müsse; aber als das schlimme Wort ausgesprochen war, ging doch ein halblautes Murmeln durch ihre Reihe.

»Er ist es nicht gewesen«, meinte der Eine.

»Nein, er kann es nicht gewesen sein; man muß ihm Glauben schenken«, sagte der Andere.

»Ich verbürge mich für ihn!« rief ein Dritter. »Man darf, man soll ihn nicht arretiren!«

Der Gensdarm warf einen strengen Blick auf den Sprecher. Er wollte eine Antwort geben, aber Gustav kam ihm zuvor.

»Laßt das gut sein, meine Freunde«, sagte er. »Der Verdacht ist gegen mich, und es wird mir wohl gelingen, ihn zu zerstreuen. Ich darf mich der Arretur nicht widersetzen. Herr Gensdarm, ich stelle mich Ihnen zur Verfügung.«

Der Beamte nickte mit dem Kopfe und sagte dann:

»Sie wissen ebenso gut wie ich, was ich da zunächst zu thun habe?«

»Ja. Sie werden mich erst durchsuchen und dann fesseln. Einem Mörder legt man Fesseln an; das ist vorgeschrieben.«

Er hatte das im bittersten Tone gesprochen. Dann griff er in die Taschen und zog Alles hervor, was sich in denselben befand: die Uhr, ein Federmesser, die Geldbörse, das Taschentuch, ein Cigarrenetui und endlich -

»Was ist das?« fragte er, im höchsten Grade erstaunt, als er aus der Seitentasche seines Jaquetes auch einen Schlüssel hervorbrachte.

»Sie kennen diesen Schlüssel nicht?« fragte der Gensdarm.

»Nein, ganz und gar nicht. Ich habe ihn niemals besessen.«

»Zeigen Sie her! Der Form und Größe nach muß es ein Zimmerschlüssel sein. Vielleicht läßt es sich später sagen, wem er gehört und wie er in Ihre Tasche gerathen ist. Ich bin verpflichtet, diese Gegenstände an mich zu nehmen. Darf ich um Ihre Hände bitten!«

Es überlief Brandt doch ein Grauen, als er sah, daß der Beamte eine dünne, aber feste Schnur hervorzog.

»Ah, die Fessel!« sagte er. »Hier, binden Sie mich, damit ich Ihnen nicht entfliehen kann! Wohin führen Sie mich?«

»Nach dem Schlosse. Wenn die Herren vom Gerichte in der Tannenschlucht fertig sind, werden sie sich zu Ihnen verfügen und ich bin überzeugt, daß es Ihnen sofort gelingen wird, sie von Ihrer Unschuld zu überzeugen. Mein College wird hier bei der Leiche zurückbleiben, damit der status quo erhalten bleibe.«


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Brandt wurde gebunden und mußte dann dem Beamten nach dem Schlosse folgen. Er befand sich in einem Zustande, welcher sich nicht beschreiben läßt; er war vollständig unfähig, sich objectiv in dem Ereignisse zurecht zu finden. Er schritt ganz mechanisch neben dem Gensdarmen her. Er bemerkte nicht, wem er begegnete; er sah nicht, wie verwundert, ja entsetzt man überall die Augen auf ihn richtete, und erst als er in ein festes Gelaß des Schlosses eingesperrt worden war, kam ihm der Gedanke, daß sein Verhalten doch ein noch viel entschiedeneres hätte sein können.

Auch Alma war in einer ähnlichen Geistesverfassung auf dem Schlosse angekommen. Sie wollte zu dem Vater eilen, um ihm das Schreckliche mitzutheilen, fand jedoch seine Thür verschlossen. Das war noch niemals vorgekommen. Als sie auf mehrmaliges und immer stärkeres Klopfen keine Antwort erhielt, wurde ihr himmelangst. Sie rief die Diener herbei und erfuhr von ihnen, daß der gnädige Herr sich seit gestern gar nicht habe erblicken lassen. Man klopfte noch einige Male so stark, daß es laut genug war, um nicht nur einen Schläfer, sondern gradezu einen Ohnmächtigen zu erwecken, und als selbst jetzt keine Antwort wurde, schickte Alma, welche sich vor Angst kaum zu fassen vermochte, in das Dorf nach dem Schmiede. Dieser machte auch die vorkommenden Schlosserarbeiten und hatte das nöthige Werkzeug, eine Thür zu öffnen.

Das überlaute Klopfen war dem Gensdarm aufgefallen. Um zu sehen, was es zu bedeuten habe, kam er herbei. Er sah sämmtliche Diener um Alma versammelt, dachte sich, daß dies einen außergewöhnlichen Grund haben müsse und fragte nach demselben. Er erfuhr ihn. Ganz unwillkürlich dachte er an den Schlüssel, welchen Brandt in seiner Tasche gehabt hatte. Er trug denselben noch bei sich und zog ihn hervor.

»Ist es dieser vielleicht?« fragte er.

Die Zofe Ella kannte die Schlüssel am besten. Sie nahm ihn in die Hand, betrachtete ihn und antwortete:

»Er scheint es wirklich zu sein. Woher haben Sie ihn?«

»Das werden Sie vielleicht erfahren. Bitte, probiren Sie einmal, ob er paßt, ob er schließt.«

Sie steckte ihn an. Es war der richtige Schlüssel. Die Thür ging auf. Aber als die vor derselben Stehenden einen Blick in das Zimmer warfen, ertönte ein allgemeiner Schrei des Entsetzens. Der Raum war mit Blut überschwemmt gewesen, welches nun geronnen war, und inmitten dieser fürchterlichen Scene lag mit durchschnittenem Halse der Baron.

Alma stand da, als ob sie ein Gespenst erblicke. Ihre Augen waren starr auf den Todten gerichtet, sie streckte die Hände mit den ausgespreizten zehn Fingern weit von sich, und ihr Haar schien sich emporsträuben zu wollen. Endlich aber löste sich der Bann, welcher sie umfangen hielt.

»Vater! Mein Vater!« rief sie.

Mit einigen raschen Sprüngen stand sie bei ihm. Sie wollte sich zu ihm niederbeugen, aber das Entsetzliche war über sie gekommen, wie eine tödtliche Kugel, welche den vorwärts stürmenden Soldaten im Felde trifft und erst


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einmal um seine eigene Achse dreht, ehe sie ihn niederwirft. Sie taumelte, bewegte sich strauchelnd im Kreise herum und stürzte dann auf den Ermordeten nieder. Sie war abermals ohnmächtig geworden.

Der vielstimmige Schrei, welcher erschollen war, hatte auch alle übrigen Bewohner des Schlosses herbei gerufen; sie standen am Eingange des Zimmers und richteten ihre entsetzten Blicke auf die blutige Scene. Der Gensdarm hatte seine Fassung nur für einen Augenblick verloren. Er wendete sich zu den Leuten um und fragte:

»Wer unter ihnen hat die persönliche Bedienung der Baronesse?«

»Die Zofe Ella«, antwortete man ihm.

»Wo ist sie?«

»Sie war ja hier! Sie ist - ah, da vorn an der Treppe steht sie!«

Nämlich Ella hatte, sich schaudernd von der Scene abwendend, den Sohn des Schmiedes bemerkt, welcher in das Schloß gekommen war, um sie zu sprechen. Er hatte sie zu gleicher Zeit gesehen und ihr einen Wink gegeben. Sie war zu ihm geeilt.

»Was ist's? Was bringst Du?« hatte sie ihn gefragt.

»Eine schlimme Nachricht. Die Schmuggler sind überfallen worden. Der Brandt's Gustav ist schuld daran. In der Tannenschlucht liegen mehrere von ihnen todt neben den Waaren, die nun auch verloren sind.«

»Herr Gott! Und mein Bruder? Ist er entkommen?«

»Nein.«

»Gefangen?«

»Auch nicht. Nimm es nicht übel, daß ich Dir so eine Nachricht bringe.«

»So ist er wohl gar todt?«

»Ja. Er liegt erschossen im Walde. Er lag auf dem Wege; ich und der Vater fanden ihn, und da haben wir ihn in dem Dickicht versteckt, damit man nicht erfahren soll, daß er als Schmuggler gestorben ist. An dem Allen ist nur dieser Brandt schuld!«

Sie antwortete nicht. Sie war keine übermäßig zärtlich und empfindsam angelegte Natur, aber der Schreck hatte sie doch ergriffen. Da hörte sie, daß der Gensdarm sie zu sich rief.

»Ja, der Brandt ist schuld!« raunte sie dem Schmiedesohn zu. »Er soll es büßen. Ich muß fort. Der Baron ist ermordet worden. So bald ich kann, komme ich zu Euch, da sollt Ihr mir erzählen.«

Sie eilte fort, und auch er ging, von der neuen Kunde ganz betroffen. Das war ja ein wahres Morden jetzt in diesem kleinen Helfenstein!

»Kann der Schlüssel, welcher hier steckt, nicht auch ein Anderer sein und hier nur zufällig schließen?« wurde Ella von dem Gensdarm gefragt.

»Das ist möglich«, antwortete sie. »Aber er ist noch ganz neu. Der vorige war zerbrochen, und der Schmied hat einen neuen machen müssen; er wird ihn kennen. Ah, sein Sohn war soeben hier. Aber er selbst wird auch kommen, da wir zu ihm schickten, um das Schloß öffnen zu lassen.«

»So wird man es ja erfahren. Ihre Herrin ist ohnmächtig. Schaffen


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Sie dieselbe nach Ihrem Zimmer. Aber nur so viel Personen, als dazu nöthig sind, dürfen hier eintreten.«

Alma wurde fortgeschafft; dann schloß der Gensdarm zu. Er wollte sich sofort zu Brandt begeben, um diesen auszufragen; aber er überlegte sich, daß es doch vielleicht gerathen sei, diesem noch nichts wissen zu lassen.

Nach einer Weile stellte sich der Schmied mit seinem Handwerkszeuge ein; das letztere war nicht mehr nothwendig, aber als der Gensdarm ihm den Schlüssel zeigte, recognoscirte er denselben ganz genau als denjenigen, welchen er vor kurzer Zeit für den Baron gemacht hatte. Der Beamte erklärte ihm, daß er hier zu bleiben habe, um als Zeuge zu dienen.

Jetzt begannen sich einige Herrschaften einzustellen, welche zur beabsichtigten Jagd geladen waren. Als sie erfuhren, was geschehen war, fuhren sie sofort wieder ab. Aus dem beabsichtigten Vergnügen konnte nichts werden, und ihre Anwesenheit hätte doch nur gestört, ohne ihnen den geringsten Nutzen zu bringen.

Bald traf auch die gerichtliche Commission ein, welcher der Bezirksarzt beigegeben war. Der Gensdarm machte seine Meldung und brachte dadurch nicht wenig Aufsehen hervor. Die Herren hatten wohl von der Ermordung des Hauptmannes, nichts aber von derjenigen des Barons gewußt.

Sie verfügten sich sofort in das Zimmer, in welchem die Leiche des Letzteren lag. Der Gerichtsarzt untersuchte dieselbe und erklärte, daß der Baron zweifellos durch einen mittelst eines sehr scharfen Instruments ausgeführten Schnittes durch den Hals ermordet worden sei. Der Mord könne nicht vor aber auch nicht viel nach Mitternacht ausgeführt worden sein.

Ein Obergensdarm war mitgekommen. Er fragte jetzt seinen Untergebenen:

»Wer hat nach dem Oeffnen der Thür hier Zutritt gehabt?«

»Eine Zofe und zwei Diener, welche die ohnmächtige Baronesse fortzuschaffen hatten.«

»Auch Sie nicht?«

»Nein. Ich wollte Ihnen nicht vorgreifen.«

»Das war richtig gehandelt. Sollte denn nicht etwas zu finden sein, was - ah, was ist das?«

Im geronnenen Blute, aber ein wenig unter dem weit herabhängenden Tischtuche war ein Gegenstand zu bemerken. Er hob ihn auf und hielt ihn den Herren hin.

»Ein Rasirmesser, meine Herren! Ganz voll Blut. Das Heft besteht aus zwei Elfenbeinplatten und ist mit - alle Wetter! - mit den beiden Buchstaben G.B. gezeichnet. Mir scheint, daß mit diesem Instrumente die That vollbracht worden ist.«

Ein Grauen bemächtigte sich der Anwesenden. Der Amtmann fragte den Gensdarmen:

»Der Schlüssel zu diesem Zimmer hat sich bei Brandt gefunden?«

»Ja. Und wie ich bemerkt habe, trägt dieser Herr den Vornamen Gustav. Gustav Brandt, das würde G.B. ergeben.«

Die Herren der Commission blickten einander betroffen an. War es


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möglich? Brandt, ein College, den man trotz seiner Jugend so ausgezeichnet hatte, ein Mörder, ja ein Doppelmörder!

»Meine Herren«, sagte der Amtmann, »es ist hier ein geradezu grauenhaftes Verbrechen verübt worden, ein Verbrechen, welches die schwerste, unnachsichtlichste Ahndung verdient. Der Verdacht richtet sich gegen einen Mann, den zu achten wir gezwungen gewesen sind. Geben wir uns also Mühe, uns nicht von einem bloßen Scheine beeinflussen zu lassen, damit unser Forschen nicht durch ein Vorurtheil getrübt werde. Suchen wir zunächst alles Wissenswerthe von den Zeugen zu erfahren.«

Sie begaben sich in ein passendes Zimmer, und hier ließ der Amtmann zunächst den Baron Franz von Helfenstein zu sich entbieten. Dieser erschien mit der Miene eines Mannes, welcher Denjenigen, zu denen er kommt, eine Gnade erweist. Als der Vorsitzende ihn darauf aufmerksam machte, daß in einem Falle wie der vorliegende die genaueste Gewissenhaftigkeit erforderlich sei, antwortete er:

»Diese Bemerkung ist vollständig überflüssig. Ich pflege selbst im Kleinsten und Unbedeutendsten gewissenhaft zu sein!«

»Wohl! So sagen Sie uns, Herr Baron, in welchem Verhältnisse Sie zu dem Angeklagten gestanden haben!«

»Wie meinen Sie das? Ein Baron von Helfenstein kann mit einem Manne des bürgerlichen Namens Brandt wohl kein Verhältniß gehabt haben!«

Der Amtmann fühlte sich unangenehm berührt. Er antwortete also mit einiger Schärfe:

»Sie gehen von falschen Voraussetzungen aus. Auch ich trage einen bürgerlichen Namen, und doch stehen Sie gegenwärtig in einem Verhältnisse zu mir. Oder nennen Sie dies kein Verhältniß, wenn Sie gezwungen sind, meine Fragen zu beantworten? Gustav Brandt wurde von Ihrem Herrn Cousin zur Familie gezogen und reichlich unterstützt. Sie müssen ihn oft gesehen und gesprochen haben; ein gesellschaftliches Verhältniß läßt sich also voraussetzen.«

»Ich will das zugeben; aber es kann hier ja nur von dem Verhältnisse einer vollständigen Gleichgiltigkeit die Rede sein.«

»Das soll heißen, daß Sie einander weder freundlich noch feindlich gesinnt gewesen sind?«

»So meine ich es; die Verschiedenheit unserer Geburt bringt es ja mit sich, daß eine persönliche Annäherung ausgeschlossen ist.«

»Ich habe weder die Pflicht noch die Lust und Zeit, mich darüber mit Ihnen in eine Controverse einzulassen. Die Sache ist vielmehr die, daß Sie Gustav Brandt des Mordes an dem Hauptmann von Hellenbach beschuldigen. Ist dies an dem?«

»Ja«, antwortete der Gefragte mit fester Stimme.

»Was wissen Sie über die That?«

»Ich war Augenzeuge von ihr.«

»Bitte, erzählen Sie, was Sie gesehen haben!«

»Ich stand heute nach Tagesanbruch am Fenster und bemerkte, daß meine Cousine das Schloß in der Richtung nach dem Tannengrunde zu verließ. Einige


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Augenblicke darauf folgte ihr der Hauptmann. Ich vermuthete den Försterssohn in der Schlucht und beschloß, Beiden zu folgen, um einem feindseligen Zusammenstoße vorzubeugen.«

»Aus welchem Grunde vermutheten Sie eine Feindseligkeit?«

»Der Hauptmann und Brandt waren Nebenbuhler.«

»Ah! Das ist allerdings von großer Wichtigkeit! Aber können Sie beweisen, daß dies so gewesen ist?«

»Ja. Uebrigens wird auch meine Cousine gezwungen sein, es einzugestehen. Es hat ja noch gestern eine ganz bedeutende Scene zwischen ihr und Brandt einerseits und ihrem Vater und dem Hauptmanne andererseits gegeben.«

»Auch das ist wichtig. Was wissen Sie von dieser Scene?«

»Ich war nicht Augenzeuge derselben, traf aber meine Cousine zufällig auf dem Tannensteine. Nach mir ist sie dort von Brandt umarmt und geküßt worden. Sie scheinen einander zu lieben. Sie war aber von Seiten des Vaters schon längst dem Hauptmanne versprochen. Dieser überraschte die Beiden in einem nichts weniger als gleichgiltigen tête-à-tête und stellte Brandt natürlich zur Rede, erhielt aber eine Antwort, welche ihn veranlaßte, an eine Ausgleichung mittelst Duelles zu denken. Er erzählte mir den Vorgang und bat mich, ihm zu secundiren. Trotzdem das Liebespaar überrascht worden war, trat es in Gemeinschaft den Weg nach dem Schlosse an, stieß aber unterwegs auf meinen Cousin und den Hauptmann. Der Vater des Mädchens stellte Brandt nun ebenfalls zur Rede, erhielt aber nichts als Drohungen zur Antwort. Dies, meine Herren, sind die Gründe, welche mich heute früh veranlaßten, dem Hauptmanne zu folgen. Ich fürchtete einen übereilten Ausbruch der Feindseligkeit zwischen ihm und Brandt.«

Er hatte in dieser Darstellung seine Cousine Alma keineswegs in ein vortheilhaftes Licht gestellt; dies war mit Fleiß und Ueberlegung geschehen. Sie hatte ihm gestern auf so malitiöse Weise einen Korb ertheilt, und so war er entschlossen, sie nicht im Mindesten zu schonen. Der Vorsitzende meinte ernst:

»Ueber das, was Sie da erzählen, werden wir die Dame selbst auch zu vernehmen haben. Fahren Sie fort!«

»Ich wollte nicht zudringlich erscheinen und nur im Falle der Nothwendigkeit meine Gegenwart bemerken lassen. Daher verfolgte ich die gleiche Richtung wie der Hauptmann, aber etwas abseits von dem Wege.«

»Nach welcher Seite?«

»Nach links.«

Das war nicht wahr, denn er war den Beiden auf der rechten Seite des Wegsaumes gefolgt.

»Und von welcher Seite fielen dann die Schüsse?«

»Von der rechten.«

»Hm! Erzählen Sie weiter!«

»Ich hörte nach einiger Zeit einen mehr als lebhaften Wortwechsel. Ich erkannte sogleich die Stimmen der beiden Sprecher. Es waren der Hauptmann und Brandt. Eben als ich, hinzueilend, von der linken Seite her aus den Büschen treten wollte, fielen die beiden Schüsse. Brandt hatte sein Gewehr,


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welches wohl in der Nähe lag, geholt und dem Hauptmanne zwei Kugeln in die Brust gejagt.«

»Sahen Sie es, als Brandt schoß?«

»Ja, ganz genau.«

»In welcher Entfernung standen Sie von ihm?«

»Vielleicht zehn Schritte.«

»Warum versuchten Sie nicht, die That zu verhindern?«

»Das war eine Unmöglichkeit, da sie mit wirklicher Gedankenschnelligkeit geschah.«

»Was thaten Sie dann?«

»Ich wollte mich auf den Mörder stürzen; aber ich konnte vor Entsetzen keinen Fuß bewegen. Die Kehle war mir wie zugeschnürt, so daß ich auch nicht zu rufen vermochte. In diesem Augenblicke kam Cousine Alma dazu.«

»Wurden Sie von ihr bemerkt.«

»Nein, denn ich stand nicht auf dem Wege, sondern zwischen den Bäumen.«

»Was mag sie dort gewollt haben?«

»Ich vermuthe, daß sie ein tête-à-tête mit Brandt gehabt hat und abermals vom Hauptmanne überrascht wurde. Die beiden Herren sind arg aneinander gerathen; sie hat fliehen wollen, ist aber, als sie die Schüsse hörte, zurückgekehrt, um sich zu überzeugen, wem sie gegolten haben.«

Während der Protokollant jedes Wort notirte, hatte der Vorsitzende mit größter Aufmerksamkeit zugehört. Er sagte sehr ernst:

»Herr Baron, was Sie jetzt erzählt haben, ist von solcher Schwere, daß es den Angeklagten zermalmen kann, ja zermalmen muß. Ich will dennoch meine Eingangs gemachte Mahnung nicht wiederholen, sondern Sie nur fragen, was Sie weiter sahen.«

»Die Wiederholung würde noch unnöthiger sein, als die Mahnung an sich selbst schon war! Also ich sah, daß Alma kam. Sie schien sehr erschrocken zu sein, nannte ihn einen Mörder und fiel in Ohnmacht.«

»Und Sie?«

»Ich eilte nach der Schlucht, um Beamte herbeizuholen.«

»Warum ergriffen Sie den Thäter nicht sofort?«

»Soll ich mich etwa mit einem Mörder herumprügeln?«

»Er hat also gar nicht bemerkt, daß Sie Zeuge der That gewesen sind?«

»Nein.«

»Er behauptet, wie man mir sagte, nicht der Schütze gewesen zu sein. Wie nun, wenn er vermuthet, daß Sie sich nicht auf der linken, sondern auf der rechten Seite des Weges befunden haben.«

»Ah, pah! Wozu das?«

»Und daß Sie es waren, welcher schoß!«

Der Baron hatte so etwas Ähnliches erwartet und verstand es daher, seine Fassung vollständig zu bewahren.

»Das wäre ja Wahnsinn!« antwortete er achselzuckend.

»Auch der Wahnsinnige hält seine Einbildungen für Wahrheit. Wir


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werden immerhin auf etwas Derartiges gefaßt sein müssen. Doch bitte, fahren Sie weiter fort!«

»Ich habe nichts hinzuzufügen. Ich traf unterwegs auf Gensdarme und Grenzbeamte, welche das Weitere wissen.«

»Würden Sie bereit sein, Ihre Aussage zu beschwören?«

»Wort für Wort!«

»Man wird es von Ihnen verlangen. Doch, apropos, wissen Sie bereits daß auch Ihr Cousin, Baron Otto von Helfenstein, ermordet worden ist?«

»Ja. Ich habe diese zweite Mordthat vor zehn Minuten durch einen der Diener erfahren.«

»Haben Sie Verdacht auf irgend Jemand?«

»Nein.«

»Sie sagten, daß gestern Brandt auch mit dem Baron einen Wortwechsel gehabt habe?«

»Einen sehr heftigen; es ist schon mehr als ein Wortwechsel gewesen; der Hauptmann erzählte mir, daß mein Cousin dem Menschen das Schloß verboten habe.«

»Wäre es nicht möglich, daß er dennoch Zutritt gefunden haben könnte?«

Franz von Helfenstein wiegte den Kopf hin und her und antwortete:

»Hm! Er hat ihn gefunden!«

»Wie? Wirklich? Er ist im Schlosse gewesen?«

»Ich erfuhr es vorhin ganz zufällig.«

»Wann soll es gewesen sein?«

»Kurz nach Mitternacht.«

Der Vorsitzende schaute nach dem Arzte hinüber und fragte:

»Und wann meinen Sie, daß die That geschehen sei?«

»Wenig vor und auch nicht viel nach Mitternacht,« antwortete der Gefragte im Tone der Sicherheit.

»Was hat Brandt um diese Zeit im Schlosse zu thun gehabt?« fragte der Amtmann den Baron weiter.

»Er ist bei meinem Cousin gewesen.«

»Können Sie dies beweisen?«

»Durch mehrere Zeugen, denen er selbst es mitgetheilt hat.«

»Wer sind diese Zeugen?«

»Die Zofe Ella und einige andere Domestiken, welche Sie sich von der Zofe nennen lassen können.«

»Ich bin mit meinen Fragen zu Ende. Haben Sie noch etwas zu bemerken, zu berichtigen oder hinzuzufügen?«

»Nein.«

»So nehmen Sie unseren Dank für Ihre Bereitwilligkeit, uns die erbetene Auskunft zu ertheilen.«

Der Baron nickte vornehm mit dem Kopfe und entfernte sich.

Jetzt nun wurde die Zofe geholt. Sie wußte von einem Liebesverhältniß zwischen Brandt und ihrer Herrin nicht das Mindeste; aber sie erzählte, daß der Angeklagte nach Mitternacht bei dem Barone gewesen sei. Sie war


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wegen des Todes ihres Bruders über Brandt so ergrimmt, daß sie ihm nur schaden konnte.

Auch das weitere Zeugenverhör führte zur bestimmten Annahme, daß er der Mörder sei. Zu Allerletzt sollte auch Alma geholt werden; aber sie war zu schwach, zu kommen und ließ die Herren zu sich bitten. Sie lag, bleich wie der Tod, auf einem Ruhebette und vermochte nur mit leiser Stimme ihre Aussagen abzugeben.

Der Amtmann wollte sie möglichst schonen, mußte aber doch nach Dingen fragen, welche sie lieber umgangen gehabt hätte. Sie stimmte in ihrer Darstellung des Mordes an dem Hauptmanne mit der Erzählung ihres Cousins überein. Sie gab auch zu, von Brandt selbst gehört zu haben, daß er um Mitternacht bei ihrem Vater gewesen sei und mit ihm gesprochen habe.

»Sie halten ihn also für den Mörder des Hauptmannes?« fragte der Amtmann.

»Ich bin leider dazu gezwungen.«

»Und auch für den Mörder Ihres Vaters?«

Sie blickte, abermals auf's heftigste erschrocken, auf.

»Meines Vaters?« fragte sie, indem das reine Entsetzen aus ihrem Auge blickte. »Fällt auch da der Verdacht auf ihn?«

»Ja. Er hat den abhanden gekommenen Zimmerschlüssel in seiner Tasche gehabt.«

»O Gott, o mein Gott!« jammerte sie. »Das wäre zu viel, mehr als ich ertragen könnte. Nein, so ein Ungeheuer kann er doch nicht sein!«

»Sie wissen noch nicht, daß Ihr Herr Vater mit einem Rasirmesser ermordet wurde?«

»Nein.«

»Nun, dieses Rasirmesser haben wir unter dem Tische gefunden. Wir wollen Ihnen den Anblick desselben ersparen. Aber vielleicht wissen Sie zufälligerweise, ob Ihr Milchbruder sich rasiren läßt, oder sich selbst rasirt.«

»Er rasirt sich selbst. Ich weiß, daß Papa ihm zu seinem letzten Namenstage ein elfenbeinernes Rasirbesteck geschenkt hat.«

»Hm! Können Sie sich irgend welche Gründe denken, welche Brandt zu so blutigen Gedanken geführt hätten?«

»Nur den einen, daß er von dem Hauptmanne provocirt worden war.«

»Weshalb forderte ihn dieser heraus?«

Sie erröthete leise und fragte:

»Werden Sie auf eine Beantwortung dieser Frage dringen?«

»Nein; aber es könnte grad davon Wichtiges abhängen.«

»So will ich gestehen, daß vielleicht Eifersucht der Grund gewesen sein mag.«

»Wohl unbegründete?« fragte der Richter lächelnd.

»Sicher! Sie müssen nämlich erfahren, daß ohne mein Wissen eine Verheirathung zwischen mir und dem Hauptmanne bestimmt gewesen ist. Vater sagte es mir erst gestern früh.«

»Wußte Brandt davon?«


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»Kein Wort. Wir hatten uns während zweier Jahre nicht gesehen. Gestern war ich nach dem Tannensteine promeniren gegangen, wo ich mit ihm zusammentraf. Während unserer Begrüßung kam der Hauptmann herbei. Er glaubte, ein Recht auf mich und meine Hand zu haben -«

»Ich darf wohl fragen, ob diese Begrüßung - Sie verstehen mich, gnädiges Fräulein!«

Sie erröthete abermals und antwortete nach einigem Zögern:

»Brandt ist mein Milchbruder; wir sind uns zugethan wie Geschwister; so war die Begrüßung, inniger keineswegs. Der Hauptmann hatte das Ungeschick, sich meiner bemächtigen zu wollen. Brandt verteidigte mich; es kam zu Worten und Thaten, welche eine Forderung als gerechtfertigt erscheinen lassen. Ein Duell hielt ich für möglich, einen Mord aber niemals.«

»Traf Brandt nicht dann auch mit Ihrem Papa zusammen?«

»Allerdings. Ich hatte ihn gebeten, mich zu begleiten, um gegen einen etwaigen zweiten Angriff des Hauptmannes geschützt zu sein.«

»Dieses Zusammentreffen war ein unfreundliches?«

»Leider. Papa war durch den Hauptmann falsch unterrichtet worden und zeigte sich gegen Brandt höchst unfreundlich, ja, höchst ungerecht.«

»Und wie verhielt sich der Angeklagte dabei?«

»Er beherrschte sich ganz und gar. Er sagte, daß er Papa so sehr viel verdanke und daher schweigen wolle.«

»Meinen Sie, oder meinen Sie es nicht, daß die Unfreundlichkeit oder Ungerechtigkeit des Herrn Barons in Brandt den Vorsatz der Rache, und zwar der Rache durch einen Mord erweckt haben kann?«

»Nein; das werde ich niemals meinen können. Ich habe Brandt nie einer bösen That für fähig gehalten. Ich würde auch jetzt noch auf seine Unschuld schwören, wenn ich nicht das noch rauchende Gewehr in seinen Händen gesehen hätte. Daß er der Mörder des Vaters sei, mag ich noch viel weniger glauben.«

Bei dieser Ansicht blieb sie. Der Richter brach das Verhör ab. Er bemerkte, wie sehr Alma darunter litt. Ihre Augen erhielten zuletzt einen fieberhaften Glanz, und als der Arzt ihren Puls prüfte, gab er den Herren einen Wink, abzubrechen. Draußen meinte er besorgt:

»Sie ist schwächer, als sie scheint. Ich glaube, es wird ein schweres Fieber im Anzuge sein.«

Nun wurde Brandt selbst vorgenommen. Er hatte sich unterdessen gefaßt und war im Stande, mit ruhiger Ueberlegung zu antworten. Er erzählte den ganzen Hergang der Wahrheit gemäß. Der Richter schüttelte den Kopf dazu und sagte am Ende:

»Es ist mir unbegreiflich, daß Sie, anstatt den Thäter zu verfolgen, zu dem Ermordeten zurückkehrten. Es läßt sich ja die Möglichkeit denken, daß ein Anderer sich Ihres Gewehres bedient habe, um einen Act der Rache auszuüben; aber wer könnte das sein?«

»Wer?« fragte Brandt. »Wer anders als Baron Franz!«

Der Amtmann fühlte sich frappirt. Er fragte:


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»Welchen Grund zur Rache gegen Sie hätte er da wohl?«

»Die Eifersucht.«

»Ah! Hm! Wieso?«

»Als ich gestern die Heimath erreichte, bestieg ich zuerst den Tannenstein. Oben traf ich auf Baronesse Alma, und ihr Cousin stand im Begriffe, ihr den Heirathsantrag zu stellen. Sie wies ihn mit Ironie ab; er wollte Gewalt brauchen, sich Liebkosungen erzwingen; da trat ich dazwischen. Vielleicht hält er mich für bevorzugt von dem Fräulein.«

»So, so! Hm! Sie haben ihn heut am Orte der That nicht bemerkt?«

»Später, als er mit den Beamten kam.«

»Ihre Unterhaltung mit dem Hauptmanne war eine freundschaftliche?«

»Ja. Er bat mir die gestrige Beleidigung ab und wollte auch dem Baron sagen, daß er mir Unrecht gethan habe.«

»Aber, Herr Brandt, wie kommt der Schlüssel in Ihre Tasche?«

»Auf eine mir unbegreifliche Weise.«

»Sie kennen ihn?«

»Nein.«

»Sind Sie gestern bei Baron Otto von Helfenstein gewesen?«

»Ja, und zwar sehr spät, nach dem Ueberfall um Mitternacht.«

Er erzählte die Ursache, die ihn bewogen hatte, den Baron aufzusuchen, um ihn zu warnen, er sagte auch, wie er ihn gefunden, und welche Antwort er von ihm erhalten hatte.

»Rasiren Sie sich selbst?« fragte da der Richter.

Brandt blickte bei dieser sonderbaren Frage erstaunt auf.

»Ja,« antwortete er ruhig.

»Wo haben Sie Ihr Rasirmesser?«

»Im Forsthause. Ich brachte das Besteck gestern mit. Ich nehme es auf jede Reise mit. Darf ich vielleicht fragen, in welcher Verbindung mein Rasirmesser mit der Erschießung des Hauptmannes von Hellenbach steht?«

»Sie sollen es erfahren. Hier ist der Schlüssel, welcher bei Ihnen gefunden wurde. Nehmen Sie ihn, und folgen Sie uns.«

Er wurde vor das Zimmer des Barons geführt. Es war vorhin natürlich wieder verschlossen worden.

»Oeffnen Sie!« meinte der Amtmann.

»Womit? Mit diesem Schlüssel?« fragte Brandt.

»Ich denke, daß Sie wissen werden, zu welchem Schlosse er gehört, Herr Brandt!«

»Bei Gott, ich habe keine Ahnung davon!«

»Nun, schließen Sie nur auf!«

Er öffnete. Aller Augen waren dabei scharf auf ihn gerichtet. Er blickte in das Zimmer, und ein lauter, fürchterlicher Schrei entfuhr seinen Lippen. Das Entsetzen, welches auf seinem Gesichte lag, war ein wahres. Der Richter hätte jetzt auf die Unschuld des Angeklagten schwören mögen.

»Herr, mein Heiland!« rief Brandt. »Das ist ja der Baron! Todt, oder wohl gar ermordet!«


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»Treten Sie ein!« gebot der Amtmann.

Jetzt erst, als er sich in dem Zimmer befand, sah Brandt den fürchterlichen Schnitt am Halse des Todten.

»Gott! Gott!« sagte er, zusammenschaudernd. »Man hat ihm die Kehle durchgeschnitten! Ihm, meinem Wohlthäter, meinem zweiten Vater! Meine Herren, wer hat das gethan?«

»Das wissen Sie nicht?«

»Ich? Wie soll ich es wissen?«

»Sie waren ja zur Stunde seines Todes bei ihm!«

Brandt sah den Sprecher mit starren Blicken an.

»Mein Herr,« sagte er, »ich will nicht hoffen, daß Sie mich für den Mörder aller Welt halten! Herr Gerichtsarzt, Sie haben die Leiche jedenfalls untersucht. Seit wann ist der Baron todt?«

»Seit letzter Mitternacht.«

»Also seit kurz nach meinem Fortgange! Ich wollte ihn warnen, aber er glaubte mir nicht und wies mir die Thür. Nun haben sie ihn doch getödtet!«

»Sie meinen die beiden Schmuggler?«

»Ja.«

»Sie irren. Wie sollten diese Eingang gefunden haben?«

»Gibt es keine Spur hierüber?«

»Die brauchen wir nicht. Der Mörder ist bereits entdeckt.«

»Ah! Wer ist es?«

»Er nahm nach vollbrachter That den Zimmerschlüssel mit, um den Eintritt zu verwehren, damit die That nicht zu früh entdeckt werde. Dieser Schlüssel wurde in Ihrer Tasche gefunden.«

Brandt wußte nicht, was er antworten sollte. In seinem Kopfe wirbelte es wie von lauter Rädern.

»Meine Herren,« sagte er, »ich weiß von diesem Schlüssel nichts. Er muß mir heimlich in die Tasche gesteckt worden sein.«

»So! Eigenthümlich. Ahnen Sie vielleicht, mit was für einem Instrumente dieser gräßliche Schnitt vollbracht wurde?«

»Mit einem sehr scharfen, vielleicht mit einem Rasirmesser.«

»Richtig! Der Mörder hat die Unvorsichtigkeit begangen, das Rasirmesser hier liegen zu lassen. Hier ist es. Kennen Sie es?«

Er hielt ihm das Messer vor die Augen. Brandt taumelte förmlich zurück. Er schlug die Hände zusammen und rief:

»Das ist das meinige! Wie kommt es hierher?«

»Sie müssen das besser wissen als wir!«

Da sammelte er sich. Das war zu viel, zu viel. Er kniete neben dem Todten nieder, legte ihm die eine Hand auf das Herz, erhob die andere und sagte:

»Meine Herren, ich schwöre, daß ich weder der Mörder des Hauptmannes von Hellenbach noch dieses edlen Mannes bin. Wenn ich hiermit die Unwahrheit sage, so mag Gott mich richten in diesem Augenblicke und für alle Ewig-


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keit. Der Schein ist gegen mich. Ich weiß nicht, wie der Schlüssel in meine Tasche und das Messer in dieses Zimmer kommt. Beurtheilen Sie den Fall nicht nach den jetzt vorliegenden Indizien, sondern helfen Sie mir suchen, den wirklichen Thäter zu entdecken. Ich beschwöre Sie bei Gott und Allem, was Ihnen lieb und heilig ist, mich nicht für den Schuldigen zu halten!«

Seine Worte hatten einen tiefen Eindruck gemacht.

»Ich möchte so gern glauben, was Sie sagen,« meinte der Amtmann, »aber es ist nicht mehr als Alles gegen Sie!«

»O nein; es ist nur Eins oder vielmehr nur Einer gegen mich! Und diesem Einen ist es gelungen, sich auf eine wahrhaft teuflisch raffinirte Weise dieser Beweise gegen mich zu bemächtigen.«

»Sagen Sie aufrichtig: meinen Sie Baron Franz?«

»Ja. Wenigstens wüßte ich keinen Anderen.«

»Wie käme er zu Ihrem Messer? Wie käme der Schlüssel in Ihre Tasche. Sie haben das Messer gestern mitgebracht, mit nach dem Forsthause genommen. Ist der Baron dort gewesen?«

»Nein. Aber halt! Da fällt mir ein, daß ich - - ah, ja, meine Herren, als ich den Baron und Alma belauschte, war mir mein Ränzchen hinderlich. Ich legte es hinter den Sträuchern ab. In ihm steckte mein Rasirzeug. Der Baron mußte fliehen. Wie aber, wenn er, um uns Beide zu belauschen, heimlich und leise zurückgekehrt wäre, das Ränzchen gesehen, es neugierig geöffnet und sich eines der beiden Messer bemächtigt hätte, um sich desselben auf die vorliegende Weise gegen mich zu bedienen!«

»Diese Complication scheint mir zu gewagt! Und selbst, die Möglichkeit derselben zugestanden, wie wollen Sie den Umstand mit dem Schlüssel erklären?«

»Auch diese Erklärung ist möglich. Alma nannte mich heut einen Mörder, das raubte mir die Ueberlegung. Sie war vor Entsetzen in Ohnmacht gefallen; ich kniete lange Zeit neben ihr, ohne etwas Anderes als sie zu beachten. Dabei war es leicht, im weichen Boden sich unhörbar heranzuschleichen und mir den Schlüssel in diese offene Seitentasche zu stecken.«

»Und das sollte der Baron gethan haben?«

»Ja.«

»Aus einfacher Eifersucht? Unglaublich!«

»Herr Amtmann, kann man wissen, welche weiteren Gründe mitgewirkt haben? Man sagt, die Verhältnisse des Barons Franz von Helfenstein seien außerordentlich derangirt. Ich weiß es aus dem Munde seines Cousins, der hier als Todter liegt, daß er öfters bedeutende Summen ausgegeben hat, um ihn zu retten und immer wieder zu retten. Haben Sie dieses Zimmer genau untersucht? Haben Sie die Kasse mit den Büchern verglichen?«

»Noch nicht; es wird aber geschehen. Wir haben uns jetzt das Material zu sammeln. Gegen Sie spricht der Schein am meisten; es kann gar nicht Schein genannt werden.«

»Aber bei Gott, es ist Schein, meine Herren! Welche Absicht sollte ich gehabt haben, den Baron und den Hauptmann zu ermorden?«


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»Eifersucht. Sie sehen, ich gebe Ihnen ganz dieselbe Antwort, welche ich bekommen habe.«

»Eifersucht? Herr Richter, ich bin nicht so wahnsinnig zu glauben, daß ich meine Augen zu Baronesse Alma erheben darf. Und selbst in dem Falle, daß ich für diese Dame ein tieferes Gefühl im Herzen trüge, würde es mich nicht zum Mörder machen. Gegen den Hauptmann übrigens war Eifersucht unmöglich, denn Alma hatte ihm in meiner Gegenwart gesagt, daß seine Absicht auf ihre Hand eine völlig hoffnungslose sei.«

»Sie besitzen unsere vollste Theilnahme, Herr Brandt. Wir werden nichts versäumen, den rechten Thäter zu entdecken. Eigentlich haben wir Sie jetzt unten im Walde bei der Leiche des Hauptmannes zu vernehmen; damit Sie aber sehen, daß Ihre Versicherung nicht auf hartnäckigen Unglauben stößt, werden wir vorher erst einmal mit Baron Franz diese Stelle aufsuchen. Vielleicht entfällt ihm eine Äußerung, welche uns eine Handhabe gegen ihn bietet. Wir wollen Ihnen nicht übel, ersuchen Sie jedoch, sich geduldig in das Unvermeidliche zu fügen.«

Er wurde einstweilen wieder gebunden und eingeschlossen. Dann mußte der Baron den Herren der Commission nach dem Walde folgen. Er mußte sie ganz genau den Weg führen, welchen er gegangen war; natürlich that er dies auf falsche Weise. Er kannte überhaupt das Terrain so genau, überlegte ein jedes Wort, ehe er es sprach, so scharf, daß der Verdacht bei ihm nicht den mindesten Angriffspunkt fand.

Dann wurde Gustav Brandt geholt.

Eben als der Gensdarm ihn gefesselt die Treppe herunter brachte, fuhren im Hofe einige Equipagen vor. Der König kam mit mehreren Herren seines Hofstaates. Er war sehr oft hier zur Jagd gewesen; er hielt große Stücke auf den alten Förster und kannte auch dessen Sohn genau. Wie betreten mußte er also sein, als er diesen jetzt gefesselt und in der Gewalt eines Gensdarmen sah. Er sprang in mehr als gewöhnlicher Eile aus der Equipage, winkte die Beiden zu sich heran und fragte:

»Brandt, was soll das bedeuten? Sie sind gefangen?«

Gustav erglühte vor Scham bis in den Nacken herab.

»Ja, Majestät,« antwortete er kaum hörbar.

»Weshalb?«

»Ich soll ein Mörder sein.«

»Wer wurde ermordet?«

»Der Herr Baron und der Hauptmann von Hellenbach.«

Der Monarch blickte dem jungen Mann scharf in die Augen.

»Das ist ein großes Unglück!« sagte er. »Mein treuer Helfenstein todt, gefallen unter Mörderhand. Wo starb er?«

»Er liegt in seinem Zimmer.«

»Und der Hauptmann?«

»Da unten im Walde, unweit der Tannenschlucht.«

»Wohin bringt man Sie jetzt?«

»An den Thatort.«


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»Ich gehe mit. Meine Herren, kommen Sie!«

Den Gefangenen, welcher vor Scham tief in die Erde hätte versinken mögen, voran, setzte sich der Zug in Bewegung. Die Herren der Commission staunten nicht wenig, als sie den Monarchen und sein hohes Gefolge erblickten. Der König schaute außerordentlich ernst, ja finster d'rein. Er befahl den Amtmann zu sich, trat mit diesem auf die Seite und ließ sich Bericht erstatten. Eben als der Amtmann zu Ende war, ließen sich nahende, fast stürmisch eilige Schritte hören. Der Förster nahte.

Er hatte im Walde zu thun gehabt und auf dem Heimwege im Dorfe erfahren, was geschehen war und daß sein Sohn des Doppelmordes angeklagt sei. Er war im Dauerlaufe herbeigekommen und drängte sich fast athemlos durch die Menge. Er sah seinen Sohn in Fesseln, er sah alle die Anderen, auch den König; aber er beachtete sie alle nicht, sondern er wendete sich direct an den Amtmann:

»Herr Richter,« sagte er, »mein Sohn soll zwei Menschen ermordet haben, hinterrücks ermordet?«

»Regen Sie sich nicht auf, Herr Förster,« bat der Angeredete, »ich gebe Ihnen die Versicherung, daß -«

»Geben? Eine Versicherung geben? Ich brauche sie nicht. Ich will wissen, ob der Junge ein Mörder ist oder nicht!«

»Die Untersuchung wird das resultiren.«

»Die Untersuchung? Ja, die wollen wir sogleich beginnen!«

Er trat zur Leiche des Hauptmannes und untersuchte sie. Dann wendete er sich an seinen Sohn. Sein Gesicht war kalt, fast gefühllos zu nennen.

»Erzähle!« gebot er.

Da trat der Amtmann herbei und sagte:

»Mein lieber Herr Brandt, die Untersuchung zu führen, ist meines Amtes. Sie dürfen überzeugt sein, daß -«

Der Förster unterbrach ihn durch eine rasche Handbewegung und sagte, beinahe aufbrausend:

»Ueberzeugt? Wovon wollen Sie mich überzeugen? Ich kann mich schon selbst überzeugen!« Und sich direct an den Monarchen wendend, fragte er: »Königliche Majestät, ist es mir erlaubt, mit meinem Sohne zu sprechen?«

Es war ein sonderbarer Fall, ein Ausnahme-Fall; aber der Monarch kannte den alten Ehrenmann und nickte ihm Gewährung zu. Dann fragte der Förster seinen Sohn:

»Hier an der Stelle, an welcher er liegt, hat ihn die Kugel getroffen?«

»Ja,« antwortete Gustav. »Zwei Kugeln sind es gewesen.«

»Pah! Dann wird mir das Herz leicht. Du bist der Mörder nicht, denn bei Dir hätte es eine Kugel gethan. Wo sind sie hergekommen?«

»Von hier heraus.«

»Wo warst Du?«

»Ich stand hier neben ihm. Er hatte mich gestern beleidigt. Wir trafen uns hier; er war zur Einsicht gekommen und bat mir die Beleidigung ab. Da kamen die Kugeln.«


Ende der zweiten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der verlorne Sohn

Karl May – Forschung und Werk