Lieferung 13

Karl May

8. November 1884

Der verlorne Sohn
oder
Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.


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»Sapperment, das geht nicht,« sagte er dann. »Sie ist ganz steif; sie kann sich nicht bewegen. Da muß ich den Schließer holen!«

Er ging und brachte den Genannten herbei. Beide trugen Marie fort. Sie war nicht ohnmächtig, aber sie war doch ohne Leben. -

Seidelmann war nicht nur Vorsteher der Gesellschaft der Brüder und Schwestern der Seligkeit. Er trachtete auch nach anderen Ämtern, welche geeignet waren, ihn in den Geruch der Frömmigkeit zu bringen. Darum hatte er sich auch um die Almosenpflegerschaft beworben, und darum war er auch in das Chor der Adjuvanten getreten. Nach und nach hatte er es auch zum Vorsteher dieser Corporation gebracht.

Am anderen Tage besuchte er den Pfarrer Matthesius. Dieser saß an seinem Studiertische und memorirte die Leichenpredigt, welche er zu halten hatte. Als es klopfte, war er anfangs ungehalten über die Störung, als er jedoch Seidelmann eintreten sah, glättete sich seine Stirn, die sich bereits in Falten gelegt hatte.

»Ah, Sie!« sagt er. »Ich dachte, daß es Jemand Anderes sei.«

»Ja, ich bin es, Herr Pastor! Darf ich stören?«

»Treten Sie näher! Sie wissen ja, daß Sie mir niemals eine Störung bereiten. Setzen Sie sich! Was bringen Sie mir?«

»Ich komme mit einer hochwichtigen Frage!«

Er machte dabei ein Gesicht, nach welchem man allerdings überzeugt sein mußte, daß die Frage eine hochwichtige sei.

»Sprechen Sie, mein Lieber!«

»Darf ich fragen, welchen Text Sie Ihrer heutigen Leichenrede zu Grunde zu legen beabsichtigen?«

»O, gewiß. Ich habe mir gesagt, daß wir mehrere Seelen zu retten haben -«

»Verlorene Seelen,« nickte Seidelmann verständnißvoll.

»Daß Verbrecher bei der Leiche stehen werden -«

»Um ein Geständniß abzulegen!«

»Und daß ihre Verbündeten herbeiströmen werden -«

»Um Dem, was sie ein Schauspiel nennen werden, beizuwohnen. Da werden kommen die Moabiter und Amalekiter, die Midianiter und Hethiter. Sie werden kommen von Norden und Süden, von Osten und Westen. Es werden kommen die verborgenen Sünder und Verbrecher, die Untergebenen des 'geheimen Hauptmannes' und wohl gar er selbst. Da gilt es, ein Wort zu sprechen, welches wie Blitz und Donner unter sie fährt, welches ihre Herzen zermalmt und ihre Seele zerschmettert. Es giebt da nur einen einzigen Text.«

»Jedenfalls ist es derjenige, den ich ausgewählt habe!«

»Ich bin begierig, es zu erfahren!«

»Matthäus 3, Vers 7 bis 12.«

»Ja, ja! Das ist es! Ihr Otterngezüchte, wer hat Euch denn gewiesen, daß ihr dem zukünftigen Zorne entrinnen werdet?«


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»Sehet zu! Thut rechtschaffene Früchte der Buße!«

»Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt!«

»Darum, welcher Baum nicht gute Früchte bringt, der wird abgehauen und in das Feuer geworfen!«

»Und er hat seine Wurfschaufel in der Hand, er wird seine Tenne fegen!«

»Er wird den Waizen in seine Scheuern sammeln, die Spreu aber wird er verbrennen mit ewigem Feuer!«

Der Pfarrer war ganz begeistert für sein Thema. Er meinte es jedenfalls ernst, sehr ernst. Er wußte, daß der Sohn an den Sarg des Vaters geführt werden solle, um zum Geständnisse bewegt zu werden. Er wollte das Seinige dazu beitragen, den verstockten Verbrecher, denn dafür hielt er ihn, zu erweichen. Und er war auch wirklich überzeugt, daß die geheimen Untergebenen des »Hauptmanns« sich einfinden würden. Auch an sie sollten seine Worte gerichtet sein. Das war seine ehrliche Absicht.

»Sie werden die Bösen zerknirschen, wie der Sand unter den Füßen zerknirscht!« meinte Seidelmann. »Aber welches Lied haben Sie zu dieser Rede ausgewählt, Herr Pastor?«

»Wie es zu dieser Gelegenheit nur einen einzigen Text giebt, so ist auch nur ein einziges wirklich passendes Lied vorhanden!«

»Ich errathe!«

»Nun?«

»O Ewigkeit, Du Donnerwort!«

»Ja, das ist es. Keines paßt so gut, denn kein anderes ist so schwer, so gewaltig, so niederschmetternd. Es ist gut, daß Sie selbst kommen. Da brauche ich Ihnen den Zettel nicht zu schicken, mein lieber Herr Seidelmann. Wir singen den ersten, dritten, achten und neunten Vers. Wollen Sie sich das notiren!«

»Gewiß! Ich freue mich, daß wir dem Worte vom ewigen Gerichte einmal Gelegenheit geben, Gräber und Herzen zu öffnen. Das Chor wird vollständig erscheinen. Keiner darf fehlen!«

Er drückte Matthesius salbungsvoll die Hand und ging.

Sämmtliche Bewohner der Residenz hatten gehört und gelesen, was geschehen war. Alle wußten, daß der alte Bertram, den der gewaltsame Tod so plötzlich darnieder geworfen hatte, heute begraben werden sollte und daß dabei seine hinterlassenen Kinder am Sarge stehen würden. So war es also kein Wunder, daß bei einem Begräbnisse noch niemals so viele Menschen anwesend gewesen waren als heute. Der Friedhof vermochte sie, trotz der Kälte, welche herrschte, kaum zu fassen.

Natürlich gab es keinen Leichenzug, da der Todte sich bereits in der auf dem Gottesacker befindlichen Leichenhalle befand. Die Polizei hielt auf Ordnung. Zur festgesetzten Stunde hielten mehrere Schlitten vor dem Eingange. Gerichtsbeamte stiegen aus, mit ihnen Robert und Marie. Beide wurden geführt, Marie aber mußte beinahe getragen werden. Die kleinen


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Geschwister waren aus dem Waisenhause herbeigebracht worden. Sie warteten bereits am offenen Grabe.

Nun wurde der Sarg geholt, über die Oeffnung des Grabes gestellt und dann des Deckels entledigt. Die Kleinen, welche den todten Vater erkannten, fingen sofort zu weinen an. Robert stand dabei, ohne die Augen zu erheben. Marie war thränenlos und mußte gehalten werden, verwendete aber keinen Blick von dem Todten.

Da trat der Pfarrer herbei, die Adjuvanten und Currende folgten ihm. Der Erstere gab das Zeichen und die Letzteren begannen:

»O Ewigkeit, Du Donnerwort,
O Schwerdt, das durch die Seele bohrt,
     O Anfang sonder Ende!
O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit,
Ich weiß vor großer Traurigkeit
     Nicht, wo ich mich hinwende.
Mein ganz erschrocknes Herz erbebt
Daß mir die Zung' am Gaumen klebt!«

Der Chor schwieg. Der Pfarrer begann mit dem evangelischen Gruße und verlas dann Namen, Stand, Geburts- und Sterbetag und Alter des Todten. Die Hörer glaubten, daß jetzt die Rede beginnen werde. Es geschah noch nicht. Robert und Marie wurden bis hart an den Sarg geführt. Der Erstere ließ es ganz theilnahmslos geschehen, die Letztere aber brach in die Knie. Doch hörte man sie weder sprechen noch weinen oder schluchzen.

Da gab der Geistliche abermals das Zeichen und der Chor sang:

»O Ewigkeit, Du machst mir bang!
O, ewig, ewig ist so lang,
     Da gilt fürwahr kein Scherzen!
Drum, wenn ich diese lange Nacht
Zusammt der großen Pein betracht,
     Erschreck ich recht von Herzen.
Nichts ist zu finden weit und breit
So schrecklich wie die Ewigkeit!«

Jetzt nun begann der Pfarrer. Er war ein tüchtiger Redner, und er sprach mit Begeisterung für den Zweck, den er verfolgte. Sein Text war wohl sehr kräftig gewählt, und seine Rede zeigte ganz dieselbe Eigenschaft, aber das wurde hier nicht abgewogen.

Seine Rede wirkte geradezu erschütternd. Aus hundert Augen flossen Thränen, und auf allen Seiten hörte man nicht ganz verhaltenes Schluchzen. Nur die Beiden, auf welche es ganz besonders abgesehen war, weinten nicht: Robert und Marie.

Die Rede wurde beendet. Noch lag Marie auf den Knieen, aber mit trockenen Augen, und ihr Bruder stand dabei, unberührt von Dem, was bei und um ihn geschah.

Der Pfarrer blickte den Gerichtsdirector fragend an. Dieser nickte leise und sofort begann der Chor von Neuem:


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»Solang ein Gott im Himmel lebt
Und über allen Wolken schwebt,
     Wird solche Marter währen:
Es wird sie plagen Kält und Hitz,
Angst, Hunger, Schrecken, Feu'r und Blitz,
     Und sie doch nicht verzehren.
Nur dann kann enden diese Pein,
Wenn Gott nicht mehr wird ewig sein!«

Jetzt wurde der Segen über die Leiche gesprochen, langsam und feierlich, daß er zu aller Herzen ging. Dann folgte noch der Vers:

»Wach auf, o Mensch, vom Sündenschlaf,
Ermuntre Dich, verlornes Schaf,
     Und bessre bald Dein Leben!
Wach auf! Es ist doch hohe Zeit.
Es kommt heran die Ewigkeit,
     Dir Deinen Lohn zu geben!
Vielleicht ist heut Dein letzter Tag!
Kein Mensch weiß, wann er sterben mag!«

Während dieses Gesanges sollte der Sarg geschlossen und in die Grube gesenkt werden. Man ergriff den Deckel. Da aber ertönte ein lauter, schriller Schrei, so laut und schrill, daß er selbst den Gesang durchdrang. Marie hatte ihn ausgestoßen. Sie raffte sich mit aller Gewalt, deren sie noch fähig war, empor.

»Vater! Mein Vater - Vater - Va -«

So ertönte es in markerschütterndem Tone. Sie konnte das Wort nicht zum vierten Male aussprechen, sie brach zusammen. Man schaffte sie augenblicklich nach der Droschke.

Nun rasselte der Sarg zur Tiefe. Kein Mensch warf ihm eine Hand voll Erde nach. Die Feier war beendet, aber die Menge entfernte sich nicht, sie wartete. Man wollte Robert sehen.

Man hatte ihm vorhin, als man ihn aus der Zelle holte, seine Ketten abgenommen, er war also nicht gefesselt. Er wurde jetzt in die Mitte der Beamten genommen und fortgeschafft.

Er ließ es ruhig geschehen. Er hielt den Blick starr vor sich hin gerichtet. Jedermann erkannte, daß er vollständig geistesabwesend sei. Unzählige Augen waren auf ihn gerichtet. Er sah sie nicht, er bemerkte sie nicht.

Wirklich nicht?

Bereits war er bis nahe an das Thor gekommen, da blieb er plötzlich stehen. Sein starrer Blick hatte zwei schwarze, dunkle Augensterne getroffen. Was war das? Wurde seine Seele lebendig? Sein kaltes Auge erhielt Bewegung und Glanz. Er stutzte noch einen Augenblick, dann aber geschah Etwas, was seine Wächter nicht zu verhindern vermochten, da sie nicht darauf vorbereitet gewesen waren.

Aber ehe dies erzählt werden kann, ist es nöthig, vorher um einen Tag zurückzugehen.


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Die Kunde von dem Einbruch bei Oberst von Hellenbach hatte die Bevölkerung der Hauptstadt in große Erregung versetzt. Der Schreck hatte sich gesteigert, als man erfuhr, daß der berüchtigte und gefürchtete Bormann die That ausgeführt habe.

Am anderen Tage hatte folgende Notiz in den Blättern gestanden:

»Es ist nun doch dem Bemühen der Behörde gelungen, die Persönlichkeit des mit dem Riesen Bormann ergriffenen Einbrechers festzustellen. Der noch sehr junge Mensch heißt Robert Bertram, hat sich scheinbar mit Abschreibereien beschäftigt und ist der Sohn eines schwindsüchtigen Schneiders in der Wasserstraße Nr. 11.

Daß dieser angebliche Schreiber ein äußerst gefährlicher und verwegener Mensch ist, läßt sich nicht nur daraus schließen, daß er der Verbündete des berüchtigsten Einbrechers ist, sondern auch daraus, daß er mit einem lebensgefährlichen Werkzeuge bewaffnet war.

Gegen solche aus der menschlichen Gesellschaft getretene Subjecte ist natürlich die allerstrengste Schärfe des Gesetzes in Anwendung zu bringen.

Uebrigens diene zur Berichtigung, daß der Einbruch nicht, wie erst verlautete, in der zweiten Stunde, sondern ganz kurz nach Mitternacht stattfand. Richtig aber ist es, daß man die Entdeckung des Verbrechens und die Ergreifung der Uebelthäter der Intervention des 'Fürsten des Elendes' verdankt.«

Also war festgestellt worden, wer der zweite Spitzbube war. Man las diese Notiz und ging dann zur gewöhnlichen Tagesordnung über. Tiefer berührte sie nur die Bewohner der Wasserstraße und besonders die des Hauses Nummer Elf.

Zwei Orte aber waren es, an denen diese Veröffentlichung einen außergewöhnlichen Eindruck hervorbrachte. Der erste dieser Orte war das Haus des Trödlers Salomon Levi.

Seine Tochter Judith saß oben in ihrem Zimmer und las gerade das Gedicht, welches Robert so absprechend beurtheilt hatte; da kam es eilig die Treppe heraufgepoltert, die Thür wurde mit Vehemenz aufgerissen, und ihr Vater trat ein, ein Zeitungsblatt in der Hand. Hinter ihm stand die Mutter, die Hände ringend.

»Was ist's?« fragte Judith erschrocken. »Was ist geschehen?«

»Was geschehen ist?« fragte Salomon Levi. »Was soll sein geschehen! Ein großmächtiges Unglück ist geschehen, ein Mallör, wie es sein kann gar nicht größer und schlimmer auf der Welt!«

»So sage es doch!«

»Ein Mallör, ein großes, gewaltiges Mallör, meine Tochter Judithleben!« jammerte Rebecca.

»Schweig, Weib!« wurde sie von ihrem Manne angeherrscht. »Wenn Israel sich befindet in Traurigkeit, so haben erst zu klagen die Männer! Dann, wenn diese sind fertig geworden, können auch beginnen zu jammern die Weiber!«


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»Aber so redet doch!« bat Judith, der es ganz angst wurde.

»Ja, reden werde ich, reden von dem großen Verluste, der da hat betroffen meine Familie und meine Tochter, mein Kind, meine Judith, welche hat ein zu weiches Herze und darum giebt hinaus das Geld, ohne zu fragen ob es auch wieder kommt herein!«

»Geld? Ah, handelt es sich nur um Geld? Ich hätte viel, viel Schlimmeres gedacht!«

Salomon Levi schlug die Hände sammt dem Zeitungsblatte über dem Kopfe zusammen und rief:

»Geld? Nur Geld? Ist Geld wirklich nur Geld? Nein! Geld ist Capital, ist Reichthum, ist Größe, ist Glück, ist Seligkeit. Man kann nur dann sein ein Mensch, wenn man hat Geld, viel Geld. Man darf es nicht hinausgeben mit Leichtsinn. Du aber hast dies gethan und wirst es verlieren, das ganze, ganze Geld!«

»Verlieren? Ich? Wieso? Ich habe keinem Menschen Geld gegeben, welches ich verlieren könnte!«

»Nicht? Hast Du nicht gegeben eine große Summe für eine Halskette von Gold? Hast Du das nicht gethan?«

»Du meinst an Bertram, den Dichter der Wüstenbilder?«

»Ja.«

»O, das kann und werde ich nicht verlieren.«

»Täusche Dich nicht, Judith! Dieses Geld ist verloren!«

»Auf keinen Fall. Ich habe ja die Kette und auch noch die Schuldverschreibung.«

»Wie nun, wenn diese Kette ist geraubt oder gestohlen?«

Sie blickte ihn überrascht an.

»Wo denkst Du hin! Ein Dichter kann nicht stehlen.«

»Nicht? Kann er nicht? Wirklich nicht? Aber wenn er nun nicht nur stiehlt, sondern sogar einbricht?«

»Vaterleben, Du bist krank! Robert Bertram soll eingebrochen sein, soll geraubt haben?«

»Ich werde es Dir beweisen! Du sagst selbst, daß sein Name lautet Robert und Bertram?«

»Ja.«

»Er hat gesagt, daß er wohnt in der Wasserstraße hier?«

»Ja, Nummer Elf.«

»Und er hat auch gesagt, daß er ist Schreiber, um abzuschreiben anderen Leuten für Geld?«

»Das hat er gesagt. Ist das eine Schande für ihn?«

»Nein. Aber das ist eine Schande für ihn, wenn hier auf dem Tagesblatt von der Zeitung ist zu lesen von ihm: 'Es ist nun dem Bemühen der Behörde gelungen, die Persönlichkeit des mit dem Riesen Bormann ergriffenen Einbrechers festzustellen.' Ist das keine Schande?«

»Für ihn doch nicht!«


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»Nicht? Da steht weiter: ›Der noch sehr junge Mensch heißt Robert Bertram, hat sich scheinbar mit Abschreibereien beschäftigt und ist der Sohn eines schwindsüchtigen Schneiders in der Wasserstraße Nummer Elf.‹ Ist das nicht eine grausige Schande?«

Sie war leichenblaß geworden.

»Herr Sabaoth!« rief sie. »Das steht dort?«

»Ja, hier!«

»So, grad so steht es dort?«

»Grad so!«

»Das ist unmöglich! Er kann es nicht sein! Man meint einen Anderen! Ich glaube es nicht.«

»So siehe es Dir an mit Deinen eigenen Augen!«

Er hielt ihr das Blatt entgegen, und sie ergriff es. Es war ihr so eigenthümlich zu Muthe, ganz so, als ob man sie selbst beschuldigt hätte. Sie las, aber die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen.

»Nun, steht es dort?« fragte Salomon Levi.

»Ja, es steht dort!« bestätigte seine Frau. »Ich habe es auch schon gelesen, mit meinen Augen, mit meinen eigenen, und dazu habe ich aufgesetzt die Brille, welche wir heute haben abgekauft dem Studenten für einen Gulden vierzig Kreuzer, weil das Gestelle ist von gelbem Golde.«

Judith war ein willensstarkes, kräftiges Mädchen. Der Schreck hatte sie überrascht. Jetzt beherrschte sie sich. Sie zwang sich zur Ruhe. Sie hielt das Blatt nun ohne das leiseste Zittern in der Hand und las, las von Anfang bis zu Ende, vom ersten Worte an bis zum letzten.

»Nun, habe ich richtig gesprochen?« fragte der Vater.

Da legte sie das Blatt auf den Tisch, griff nach einem Tuche, welches zur Hand lag und antwortete ruhig:

»Ich werde Euch beweisen, daß er unschuldig ist!«

Sie warf das Tuch über; ihr Vater aber ergriff sie beim Arme und sagte, sie erschrocken betrachtend:

»Was willst Du thun, meine Tochter? Ich glaube gar, Du willst verlassen dieses Haus, um zu gehen auf die Straße!«

»Ja, das will ich!« antwortete sie kalt.

»Und wohin willst Du gehen?«

»Nach der Nummer Elf.«

»Dorthin? Zu wem, Judithleben?«

»Zu ihm, zu Robert!«

»Zu ihm? Zu Robert? Zu dem Dichter? Glaubst Du denn wirklich, daß Du ihn finden wirst in dem Hause auf unserer Straße, über dessen Thür steht geschrieben die Nummer Elf?«

»Warum nicht?«

»Hast Du nicht gehört, daß er sitzt gefangen im Kerker, wo da sind die Spitzbuben, Einbrecher und ertappte Pfandleiher?«

»So gehe ich dorthin!«


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»Gott Abrahams! Bist Du denn geschlagen mit Blindheit auf den Augen und auch im Verstande? Denkst Du denn, daß man Dich wird einlassen in den Kerker, um zu sprechen mit dem Dichter?«

»Ich werde es erzwingen!«

Sie that einen Schritt vorwärts. Sie schien fest entschlossen zu sein, ihren Entschluß auszuführen. Ihre Mutter war ganz erschrocken darüber. Sie schlug die Hände zusammen und rief:

»Wo denkst Du hin, Tochterleben; werden wir zugeben, daß unser Kind geht in das Gefängniß, wo da sind lauter Verbrecher und Leute, denen man wohl abkauft Uhren, Ringe und Lampen, denen man aber nicht macht einen Besuch an einem solchen Orte!«

»Laßt mich! Ich gehe doch!«

Da nahm sie ihr Vater bei den Schultern, setzte sie mit Gewalt auf den Stuhl nieder und fragte:

»Sage vorher Deinem Vater, was Du willst im Gefängnisse?«

»Ihn retten!«

»Du bist ein eigensinniges, ein streitbares Geschöpf! Was Du Dir vorgenommen hast, das thust Du, denn wir haben Dir gelassen zuviel Willen in den Jahren Deiner Kindheit. Aber Du bist auch ein vernünftiges Mädchen und wirst nicht bringen ein Opfer, mit dem nicht verbunden ist ein Profit. Laß uns sprechen offen über diese Sache! Wie willst Du ihn retten?«

»Indem ich beweise seine Unschuld!«

»Wie willst Du beweisen seine Unschuld?«

»Sie steht bereits da in der Zeitung!«

»Hier? Auf diesem Tageblatt vom Journale der Zeitung?«

»Ja. Hast Du nicht gelesen, daß der Einbruch ist vorgenommen worden kurz nach der Zeit der Mitternacht?«

»Das habe ich gelesen.«

»Nun, als er von mir ging, hatte es bereits Mitternacht geschlagen. Kann er da verübt haben den Einbruch?«

»Warum nicht? Er kann gemacht haben sehr schnell und rasch.«

»So schnell geht das nicht. Zu einem solchen Einbruche sind sehr viele Vorbereitungen zu treffen.«

»Die hat der Riese Bormann getroffen oder -«

Er hielt inne. Sein Gesicht drückte Bestürzung aus.

»Was ist Dir; was hast Du, Salomonleben?« fragte die Alte.

»Es fällt mir da Einer ein, Rebecca,« antwortete er, »an den wir hierbei gar nicht gedacht haben.«

»Wer?«

»Der Hauptmann.«

»Der Hauptmann? Gott unserer Väter! Es ist ja wahr!«

»Ja,« nickte der Jude. »Der Hauptmann ist es ja, welcher befohlen und vorbereitet hat diesen Einbruch, um zu machen dem Riesen ein rothes Maal und ihn zu retten.«


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»Was geht das mich an!« meinte Judith.

»Dich? Sehr viel, sehr viel! Haben wir nicht genommen eine große Summe Geldes, um ihm beizustehen bei diesem Plane?«

»Aber Bertram darf dabei nicht unglücklich werden!«

»Wer sagt denn, daß er wird werden unglücklich? Willst Du nicht sein gut und verständig, mein Tochterleben? Dein Vater ist klug. Er wird Dir sagen, wie Du Dir zu überlegen hast diese Sache. Entweder ist der Bertram mit beim Hauptmanne, oder er ist unschuldig -«

»Er ist unschuldig!« behauptete Judith.

»Sei ruhig. Laß uns überlegen! Also, entweder er ist mit beim Hauptmanne; dann hat der Hauptmann seine Absicht mit ihm, und wir dürfen nicht stören. In diesem Falle aber ist der Bertram ein Dieb, und er soll nicht werden mein Schwiegersohn!«

»Aber ich sage ja, daß er unschuldig ist!«

»Kannst Du darauf schwören einen Eid?«

»Ja, zehn!« antwortete sie voll zuversichtlicher Ueberzeugung.

»Nicht einen einzigen! Du hast ihn gesehen erst ein einziges Mal! Du mußt ihn erst länger kennen lernen. Aber, selbst wenn er ist unschuldig, so hat der Hauptmann mit ihm eine Absicht, und wir müssen es gehen lassen, wie es ist!«

»Ihn verderben lassen! Nimmermehr!«

»Tochter, Tochter!« warnte der Alte. »Habe ich gesagt, daß wir ihn wollen verderben lassen? Nein. Er ist ein großer Dichter, und wenn er ist unschuldig, so soll er nicht rennen und laufen in das Unglück. Aber auch wir wollen uns nicht stürzen in Angst und Sorgen. Wenn er ist unschuldig, so werden wir warten eine kurze Zeit. Wird er dann noch nicht gelassen aus dem Kerker heraus, so werden wir hingehen und beweisen, daß er ist gewesen bei uns an diesem Abende. Vor allen Dingen müssen wir abwarten einen Besuch des Hauptmannes, um zu erfahren, ob er uns erlaubt zu retten den Dichter der Wüstenbilder.«

»Und wenn er es uns nicht erlaubt, sollen wir da den Unschuldigen verurtheilen lassen?« fragte Judith.

»Nein. Dann werde ich zu Dir sagen: Judithleben, gehe hin und sage, daß er unschuldig ist.«

»Und bis dahin soll er also schmachten?«

»Es wird sein nur einige Tage. Mancher wird eingesteckt und bald wieder freigelassen, weil er ist ohne Schuld. Warum willst Du Dich zanken mit dem Gericht, wenn das Gericht ihn wird freigeben ganz von selbst? Warum sollen erfahren die Leute, daß Du ihn hast lieb und daß er gewesen ist bei Dir in Deinem Zimmer, um zu lesen Gedichte und zu essen Allerlei mit Knoblauch?«

»Ich brauche mich nicht zu schämen. Er ist ein großer Dichter und ein Edelmann, sobald er seinen Vater findet.«

»Ich will es hoffen! Dann wirst Du die Frau eines großen Dichters,


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der da heißt Robert Bertram, anstatt Wolf von Geheimrath Göthe oder Friedrich von Professor Schiller, und ich und Rebecchen werden sein die Schwiegereltern eines Edelmannes, welcher sich kann legitimiren durch eine goldene Kette um den Hals, als er noch war ein Kind. Dann werden sie uns hauen in Stein, den Buchstaben zu zwanzig Kreuzer. Aber wir müssen klug sein und jetzt noch keinem Menschen ein Wort sagen von der Kette um den Hals, sonst kommen andere Mädchen, um zu werden die Frau eines Dichters, und andere Väter und Mütter, um zu sein die Schwiegerleute eines Mannes vom verlorenen und wiedergefundenen Adel. Also, sei still, Judithleben! Laß und noch warten einige Tage, bis wir können sehen klar in dieser Angelegenheit!« -

Der zweite Ort, an welchem die erwähnte Zeitungsnotiz mehr als anderswo beachtet wurde, lag in der Palaststraße.

Dort, in dem großen Palais des Fürsten von Befour, in einem fast kaiserlich ausgestatteten Zimmer, saß - Gustav Brandt der Försterssohn.

Ja, Gustav Brandt war es, der da am Fenster saß, vor sich ein Tischchen mit fein gearbeiteter Elfenbeinplatte, auf welchem ein ganzer Stoß Zeitungen lag. Er war sofort wieder zu erkennen. Das vollständig glatt rasirte Gesicht war ganz das alte. Kaum sah man es ihm an, daß zwanzig Jahre vergangen waren, seit dem Tage, an welchem er als verkleideter Flüchtling seinem 'Sonnen strahle' im Walde von Helfenstein die Hand geküßt hatte. Nur reifer waren die Züge geworden, reifer, ausgesprochener und vornehmer.

Es lag Etwas in diesem schön ausgearbeiteten, durchgeistigten Gesichte, was dem Profanen die Annäherung durchaus und absolut verweigerte, obgleich man nicht sagen konnte, was es war.

Auf dem kostbaren Divan, gar nicht weit entfernt, saß jenes schöne, ehrwürdige Ehepaar, welches, in dem kleinen Häuschen der parallelen Siegesstraße wohnend, dem Schlosser den Ort gesagt hatte, wo der Fürst des Elendes unter dem Namen eines Kunstmalers Brenner zu finden sei. Diese beiden Leute waren Gustavs Eltern, der alte Förster Brandt und seine Frau.

Diese drei schienen in einem animirten Gespräch begriffen zu sein, denn soeben sagte der alte Förster:

»Ja, damals, als Du von uns schiedest, dachten wir wohl, daß Du einst zurückkehren würdest, nicht aber als ein solcher Fürst und Krösus.«

»Pah!« antwortete Gustav. »Ich wollte als ein Gerechtfertigter wiederkehren, das ist besser als aller Reichthum!«

»Klage nicht, mein Lieber! Du bist ja bereits unserem Wilde auf der Fährte!«

»Ja, wir wollen hoffen, daß es zum Schusse kommt.«

»Du denkst also wirklich, daß Baron Franz der Mörder ist?«

»Ich denke es nicht nur, sondern ich bin überzeugt.«

»Und daß er auch der Hauptmann ist?«

»Jedenfalls.«


// 299 //

»So ist es auch möglich, daß er und kein Anderer unter dem Waldkönige zu verstehen ist.«

»Fast möchte ich auch das behaupten; jedenfalls aber werde ich es nächstens untersuchen.«

»Nimm Dich nur in Acht! Wenn er Dich erwischt und erkennt, so bist Du ohne Gnade und Barmherzigkeit verloren.«

»Pah! Er, und mich erkennen! Hat er mich bisher erkannt?«

»Allerdings noch nicht.«

»Hat Baronesse Alma mich erkannt?«

»Auch nicht, was mich eigentlich wundert.«

»Euch wundert? Habt Ihr mich erkannt?«

»Ja, das ist wahr. Höre, Alte, ist das nicht wirklich ein blaues Mirakel, daß unser Sohn sechs Wochen, sechs volle Wochen bei uns hat wohnen können, ohne daß wir eine Ahnung hatten, wer er war?«

Die Försterin neigte lächelnd den Kopf.

»Wunderbar ist's freilich,« meinte sie. »Diese Farben, diese Haare und Bärte, das Alles ist ja geradezu meisterhaft! Freilich hat mir während dieser sechs Wochen die Stimme Gustav's oft und viel zu schaffen gemacht, die Stimme und die Augen.«

»Auch da läßt sich nachhelfen,« lachte Gustav. »Was nun die Bärte und Perrücken betrifft, so ist es kein Wunder, daß sie so täuschend wirken. Sie sind ja nicht nachgemacht, sondern wirklichen Menschen vom Kopfe und vom Gesicht gezogen und dann präparirt worden. Da läßt sich das Alles leicht erklären.«

»Prr! Scalpirt!« schüttelte sich die Försterin.

»O nein! Die Menschen waren todt. Die Bärte und Perrücken sind hinterindische Kriegstrophäen. Mir nun bringen sie jetzt einen wirklich ungeheuren Nutzen. Aber hört, was ich da lese!«

Er nahm das Blatt zur Hand und las den erwähnten Artikel vor, auf den sein Auge gefallen war. Die Eltern horchten aufmerksam zu. Dann meinte der Förster:

»Ein Schreiber? Robert Bertram? Kenne ihn nicht. Aber ein schlechter Hallunke ist er auf jeden Fall!«

Gustav hatte das Blatt fortgelegt und blickte höchst nachdenklich vor sich hin. Erst nach einer Weile sagte er:

»Diese Meinung möchte ich denn doch nicht sofort unterschreiben!«

»Warum nicht?«

»Wo der 'Hauptmann' und der Bormann mit einander arbeiten, da hat der Teufel seine Hand im Spiel; da kann auch ein sehr ehrlicher Mensch unschuldig unglücklich werden. Bertram? Hm! Mir ist, als ob ich den Namen bereits einmal gehört hätte!«

»Namen hört man oft und viele!«

»Ich meine, unter besonderen Umständen. Wasserstraße! Robert Bertram aus der Wasserstraße! Hm!«


// 300 //

Er sann und sann. Endlich schien er eine Spur entdeckt zu haben.

»Ach,« sagte er, »Vater, erinnerst Du Dich noch jenes jungen Schriftstellers, von dem ich Dir erzählte? Er wurde von seinem Verlagsbuchhändler so grausam abgewiesen.«

»Ja. Du gabst ihm eine Kleinigkeit, und er bedankte sich nicht.«

»O, das unterließ er aus purem, reinem Glücke! Das nehme ich ihm nicht übel.«

»Das sieht Dir ganz ähnlich! Zuletzt nimmst Du es nicht einmal dem Baron übel, daß er Dich zum Doppelmörder gestempelt hat!«

»Das ist etwas Anderes! Aber jener junge Mann nannte sich Bertram, wenn ich mich nicht irre.«

»War jedoch nicht Schreiber!«

»Das ist richtig, sondern Schriftsteller. Ich werde mich aber doch erkundigen. Der Hauptmann soll mir die Unschuldigen in Ruhe lassen. Die Wasserstraße liegt hinter derjenigen, in welcher Hellenbachs wohnen. Wie leicht - alle Wetter! Da kommt mir ein Gedanke!«

»Welcher?«

»Wie nun, wenn dieser arme Bertram herbeigeeilt wäre, um den Einbruch zu vereiteln?«

»Auch möglich!«

»Und wäre dabei als Spitzbube angesehen und ergriffen worden?«

»Höchst fatal!«

»Das ist mehr als fatal! Ich werde diesem Hauptmanne einmal hinter den Sattel steigen! Ich will ihn nicht eher ergreifen, als bis ich Alles beisammen habe; aber er darf es mir auch nicht gar zu bunt treiben, sonst reißt mir die Geduld!«

Er griff nach einer silbernen Glocke, welche auf dem Tischchen stand, und schellte. Sofort trat ein gallonirter Diener ein. Dieser war ein hübscher, junger Mensch mit sehr intelligenten und ehrlichen Gesichtszügen.

»Anton!« sagte der Fürst.

»Durchlaucht!«

»Erinnerst Du Dich meiner vorgestrigen Weisung?«

»Sehr wohl!«

»Ist sie ausgeführt worden?«

»Nach Kräften.«

Bei diesen Worten spielte ein zufriedenes Lächeln um die Lippen des Dieners.

»So? Wirklich?«

Der Diener verneigte sich.

»War die Annäherung so leicht?«

»Was man gern thut, fällt nie schwer.«

»Und der Sturm auf das Mädchen?«

»Es ging nicht lebensgefährlich her. Die Baronin von Helfenstein ist eine gute Lehrerin.«


// 301 //

»Wo trafst Du die Zofe?«

»Ich lauerte in der gegenüberliegenden Restauration, bis sie ausging; dann begann der Angriff.«

»Mit Erfolg?«

»Sofort! Die Livrée Euer Durchlaucht ist ja die eleganteste, die es nur geben kann!«

»Ah, damit willst Du sagen, daß Du ein hübscher Kerl bist, und die Livrée, mit Chic zu tragen weißt! Sahst Du die Zofe dann später wieder?«

»Am Abend.«

»Schon! Das geht schnell! Und dann?«

»Gestern Vormittags und auch des Abends.«

»Gratulire! Was aber nun?«

»Heute Abend ist Hausball.«

»Wo?«

»Beim Grafen Rudolstein.«

»Was hast Du mit diesem Ball zu schaffen?«

Anton machte ein sehr vielsagendes Gesicht und antwortete mit einer ernsten Miene:

»Ich bin geladen!«

»Zum Ball?« fragte Brandt erstaunt.

»Ja.«

»Beim Grafen Rudolstein?«

»Ja, und die Zofe auch mit.«

»Sprich nicht in Räthseln!«

»Die einfache Lösung ist, daß der Graf und die Gräfin auf einige Wochen verreist, also abwesend sind.«

»Ah, so! Nun giebt die zurückgebliebene Dienerschaft einen Ball aus dem Keller und der Küche der Herrschaft?«

»So ziemlich denke ich es mir.«

»Ihr seid Schlingels! Ich hoffe, daß so Etwas nicht etwa auch einmal bei mir geschieht! Also die Zofe kommt?«

»Ganz gewiß! Ich soll sie sogar in der Nähe erwarten.«

»Hm! Wenn Du nun zu Hause bleiben mußt?«

»Ich hoffe, daß Durchlaucht die Gnade haben werden, mir einen Urlaub zu bewilligen!«

»Vielleicht thue ich es, jedenfalls aber nur unter einer Bedingung!«

»Ich werde sie zu erfüllen suchen.«

»Du begleitest die Zofe heim.«

»Das wird mich wenig Ueberwindung kosten!«

»Ich glaube es. Ich habe nämlich Veranlassung, anzunehmen, daß ich bereits nächster Tage, vielleicht schon morgen, in der Lage bin, Jemand zu brauchen, der die Zimmer des Barons und der Baronin genau kennt.«

»Das wird seine Schwierigkeiten haben!«


// 302 //

»Bist Du ein Dummkopf?«

Anton schüttelte sich, als ob er vor irgend Etwas Abscheu hege.

»Also gut!« fuhr der Fürst fort. »Vielleicht bin ich sogar gezwungen, noch mehr von Dir zu verlangen. Ich vermuthe nämlich, daß ich bestohlen werden soll.«

»Du?« fiel da der alte Förster überrascht ein.

»Ja, ich,« antwortete der Gefragte.

»Wann?«

»Nächstens, vielleicht schon morgen.«

»Das soll man nur schön bleiben lassen! Wer hier die Nase sehen läßt, dem schieße ich zehn Läufe Schrot ins Gesicht!«

»Das ist nicht meine Absicht, lieber Vater.«

»Nicht? Was denn? Willst Du Dich bestehlen lassen?«

»Vielleicht!«

»Was? Donnerwetter! Man soll hier ausräumen dürfen?«

»Gewiß!«

»Aber, Kerl, Gustav! Bist Du klug?«

»Ich hoffe!« Und sich wieder zu dem Diener wendend, fuhr er fort: »Du weißt, unter welchen Bedingungen ich Dich engagirt habe, und ebenso bist Du auch überzeugt, wie sehr ich Dir vertraue -«

»Mein gnädiger Herr, ich gehe für Sie ins Feuer!« fiel Anton ein.

»Ich weiß das, und darum habe ich grad Dich für das Schwierige auserwählt. Also, ich sagte, daß ich nächster Tage vielleicht bestohlen werde. Es liegt mir nun daran, zu erfahren, wer die Gegenstände besitzen wird, der Baron von Helfenstein oder die Baronin, seine Frau.«

Der Diener machte ein höchst erstauntes Gesicht; der alte Förster aber fuhr geradezu vom Sitze empor.

»Alle Teufel!« rief er. »Sind sie es, welche Dich bestehlen werden oder bestehlen wollen?«

»Ja,« nickte Gustav.

»Wie denn?«

»Entweder eigenhändig oder durch Dritte.«

»Ah, ich verstehe, ich verstehe! Und Du läßt es Dir gefallen?«

»Ja, natürlich nur, um sie desto fester zu haben. Nun also, Anton, hast Du Dich von Deinem Erstaunen erholt?«

»Ja. Was ich hörte, war allerdings so, daß ich hoffe, mein Erstaunen werde Verzeihung finden.«

»Dieses Mal noch; dann aber nicht mehr. Ein guter Diener findet an einem Auftrage seines Herrn nichts zu staunen! Also, ich setze den Fall, die Baronin käme des Abends zu mir auf Besuch und fände Etwas, was sie des Einsteckens für werth befände, ein Geschmeide zum Beispiel oder sonst etwas dem Ähnliches. Sie brächte es nach Hause; wäre es mir da möglich, noch an demselben Abende zu erfahren, wohin sie es gesteckt hat?«

Der Diener machte ein halb trolliges und halb verlegenes Gesicht.


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»Nun?« fragte der Fürst.

»Hm!« antwortete der Gefragte achselzuckend.

»Höre, Anton, Du weißt, warum ich lauter tüchtige und ausgezeichnete Polizisten als Diener engagirt habe?«

»Allerdings, Durchlaucht.«

»Ich habe Euch mir vom Polizeiminister erbeten, und Dich hat die Exzellenz am Besten empfohlen.«

»Das ist mir eine hohe Auszeichnung!«

»Willst Du diese Empfehlung zu Schanden machen?«

»Durchaus nicht; aber der gnädige Herr geben vielleicht zu, daß die Aufgabe, welche mir jetzt zuertheilt wird, ihre großen, ihre außerordentlichen Schwierigkeiten hat?«

»Gewiß! Aber ist die Lösung unmöglich?«

»Nein. Stehen mir die Dietriche zur Verfügung?«

»Alles, was Du brauchst.«

»So bitte ich, mir zwei Stunden des Nachdenkens zu erlauben!«

»Um mir dann zu sagen, ob Du die Aufgabe übernehmen wirst oder nicht? Meinst Du es so?«

»Nein, sondern ich meine, um dann klar darlegen zu können, in welcher Weise ich diese Aufgabe zu lösen beabsichtige. Ich muß mich doch der Zustimmung Euer Durchlaucht versichern.«

»Das ist etwas anderes! Also, die zwei Stunden sind gewährt!«

Er winkte zur Entlassung, und Anton entfernte sich.

»Kein dummer Kerl!« meinte der Förster.

»Und treu, verschwiegen und zuverlässig wie Alle, welche der Minister mir zur Verfügung gestellt hat,« fügte Gustav hinzu.

»Ja,« meinte der alte Brandt mit einem Anfluge von Stolz, »es ist doch gut, wenn man einen Studiengenossen hat, der im Alter von vierzig Jahren bereits Polizeiminister ist! Aber wie kommst Du auf den Gedanken, daß Du bestohlen werden sollst?«

»Ist dieser Gedanke so unbegreiflich? Bin ich nicht als der reichste Mann der Residenz oder gar des ganzen Landes bekannt?«

»Das ist wahr. Wenn also der 'Hauptmann' gewisse Absichten hat, so ist das zu begreifen, aber seine Frau - hm!«

»Ich weiß nicht, ob sie der Versuchung wird widerstehen können.«

»Du willst sie in Versuchung führen?«

»Ja.«

»Aus welchem Grunde?«

»Darüber später! Uebrigens, daß der 'Hauptmann' Absichten hat, das weiß ich genau. Es giebt da unten am Flusse einen alten, verkommenen Apotheker, welcher verschiedener Fehler wegen die Concession verloren hat. Er darf nicht mehr dispensiren und -«

»Ah, der alte Medikaster, welcher auch den Viehdoctor macht?«

»Ja. Als kürzlich der Rappe lahmte und das Mittel des Thierarztes


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nicht sofort anschlug, ist der Kutscher ohne mein Wissen zu diesem Winkelapotheker gegangen, und das Mittel desselben hat schnell gewirkt. Der Kutscher -«

»Hm, auch ein Polizist!«

»Natürlich! Er hat bei dem Apotheker so etwas wie Wildpret, nämlich menschliches, gerochen, und ist öfters zu ihm gegangen, hat auch später unseren Adolf mitgenommen -«

»Das ist erst der richtige Tausendsassa!«

»Ja, ausgezeichnet ist er, der reine Spürhund! Dieser nun hat mir verschiedene Mittheilungen gemacht, welche ich nun auszunutzen entschlossen bin.«

Er ergriff die Glocke abermals und schellte dreimal, während er dies vorhin nur einmal gethan hatte. Nach kurzer Zeit trat ein anderer Diener ein. Er war kurz und dick gebaut, sah recht behäbig und behaglich aus und schien kein Wässerchen trüben zu können. Wer ihn genauer ansah, bemerkte vielleicht an den hervorgezogenen Augäpfeln, daß dieser Diener gewohnt sei, eine scharfe Brille zu tragen. In seiner jetzigen Stellung aber schien ihm das nicht erlaubt oder gerathen zu sein.

»Adolf!«

»Gnädiger Herr!«

Diese beiden Worte hatten einen so knappen, exacten Ton, als befände sich der Mann als Offizier vor seinem General. Das hätte man von seiner legeren Behaglichkeit kaum erwartet.

»Weiter gehorcht?«

»Ja.«

»Etwas gehört?«

»So ziemlich.«

»Wichtiges?«

»Wie man es dreht und faßt. Ich habe dem Alten weiß gemacht, daß ich mit Ihnen nicht verkommen kann.«

»Ah!« lachte Gustav. »Warum nicht?«

»Sie sind zu stolz, zu knickerig, zu anspruchsvoll! Sie halten einen Diener nicht für einen Menschen! Uebrigens will ich heirathen, und Sie dulden das nicht!«

»Das ist ja eine ganze Litanei! Gehst Du wieder hin?«

»In einer Viertelstunde.«

»Wovon unterhaltet Ihr Euch?«

»Daß ich Ihnen heute früh aufgesagt habe.«

»Sapperment!«

»Und daß Sie mir den Lohn verweigern!«

»Noch besser!«

»Ich muß mit dem Kutscher schlafen!«

»Schlingel!«

»Ich möchte mit allen vier Fäusten drein schlagen!«

»Schön! Ich werde Dir möglichst aus dem Wege gehen!«


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»Sie haben mir sogar mit einer Ohrfeige gedroht!«

»Das ist kühn!«

»Ja, wir sind so zusammengerathen, daß ich das Leben hier satt habe. Ich halte es nicht länger mehr aus!«

»So gehe fort und heirathe! Wer ist sie denn eigentlich?«

Adolf zog ein Gesicht, als ob er eine Bürste verschlingen müsse, und antwortete dann mit Nachdruck:

»Die - die - Jet - Jette!«

»Die Jette? Was für eine Göttin ist das?«

»Drei und einen halben Fuß lang, zwei Fuß in den Achseln, dünn wie eine Fensterscheibe und Arme wie ein Paar Windmühlenflügel!«

»Eine wahre Venus! Keinen Kropf?«

»Nein, aber sie geht lahm!«

»Doch wenigstens ein Ersatz für den fehlenden Kropf! Wessen Tochter ist denn diese Holde?«

»Sie ist die einzige Tochter des Apothekers, vier andere Töchter nicht mitgerechnet, die aber noch nicht verheirathet sind.«

Brandt lachte fröhlich auf.

»Aber die Jette ist verheirathet?«

»Sie war es. Jetzt ist sie Wittwe nebst Mutter von drei Kindern. Ich habe mir vorgenommen, der Waisenvater von allen Vieren zu sein.«

»Hast Du bereits mit dem Alten gesprochen?«

»Nein.«

»Aber mit der Jette?«

»Auch noch nicht; aber sie erwarten aller Minuten, daß ich losplatze. Der Sieg ist mir gewiß. Ich soll mit der Witwe und meinen drei Stiefkindern von ihrer Seite in die Oberstube ziehen. Eine Bodenkammer und die Hälfte Keller bekomme ich auch.«

Das hatte der verkappte Polizist mit der ernstesten Würde vorgetragen. Dann fuhr er fort:

»Und weil ich hier mich nicht wohlfühlen kann und dort ein solches Glück finde, so ist es leicht begreiflich, daß ich mir das Bessere erwähle. Wer rasch handelt, handelt gut; ich werde also sehen, ob die Gelegenheit heute günstig ist.«

Da machte Brandt ein ernstes Gesicht und fragte:

»Aber, Adolf, daß wir uns nicht etwa später Vorwürfe machen müssen! Ich liebe es nicht, mit Menschenherzen zu spielen!«

Aus dem Auge des Dieners brach ein scharfer Blitz. Es war fast der Blick eines Hundes, der sich auf einen Wolf stürzt.

»Der gnädige Herr haben Recht, sehr Recht,« sagte er, »aber wie nun, wenn der Mensch sich sein Herz aus dem Leibe gerissen hat, um seine Mitbrüder nach Lust quälen zu können und ihre Schmerzen nicht mitzufühlen? Solche Menschen giebt es. Sie gleichen dem Raubzeuge und müssen vertilgt werden, ohne Rücksicht, mit allen Mitteln, auf jede Art und Weise, mit List


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und mit Gewalt! Ich bin ein Polizist, das heißt ein Spürhund, ein Wächter von Beruf. Kommt mir ein Raubthier in den Weg, ein Iltis, ein Wiesel, ein Marder, ein Fuchs, ein Wolf, ich werfe mich auf ihn und frage nicht, ob es ihm weh thut.«

»Ja, das ist die rechte Art und Weise, das Haus seines Herrn zu beschützen. Wirst Du mir Neues bringen?«

»Ich hoffe es!«

»Dann gut für jetzt!«

Er entließ den Diener, und dieser ging.

Einige Zeit vorher hatte sich die bereits erwähnte hintere Thür am Palais des Barons von Helfenstein geöffnet, und es war ein Mann heraus getreten, welcher rothes Haar, einen rothen Vollbart und dazu eine blaue Schutzbrille trug. Seine Kleidung war nicht im Geringsten elegant, aber auch nicht grad schäbig zu nennen. Er trug sich wie Einer, der bessere Tage gesehen hat und davon die Erinnerung noch im Gewand an seinem Leibe trägt.

Er verschloß die Thüre, steckte den Schlüssel ein und wendete sich dem Flusse zu, und zwar demjenigen Theile desselben, an welchem die Armuth ihre Hütten aufgeschlagen hat. Dort betrat er ein kleines, einstöckiges Häuschen und klopfte an die wackelige Thür des Hinterstübchens.

Es regte sich nichts. Er klopfte abermals, und zwar jetzt auf eine eigenthümliche Weise, die fast wie ein Erkennungszeichen klang. Sofort regte sichs im Innern.

»Gleich!« gröhlte eine tiefe Baßstimme.

Die Thür wurde geöffnet. Ein langer, riesenhaft stark gebauter Mann blickte heraus. Sein Gesicht war wohl weniger ein verschlafenes, als ein versoffenes. Er sagte:

»Wer sind Sie? Ich kenne Sie nicht!«

Der Rothe fuhr sich mit der Hand nach dem rechten Auge, als ob er dasselbe auswischen wolle.

»Ach so!« meinte der Riese, jetzt in bedeutend freundlicherem Tone. »Ein Eingeweihter! Kommen Sie herein!«

Er ließ den Andern eintreten und schloß dann die Thür hinter ihm zu, indem er auf einen Schemel deutete:

»Setzen Sie sich!«

Dieser Schemel, ein alter Tisch und ein noch älterer Stuhl, nebst einem Strohbunde in der Ecke, das war das ganze Ameublement des armseligen Raumes. Der Rothe nahm auf dem Schemel Platz und deutete nach dem Tische, auf welchem eine fast ganz geleerte Schnapsflasche stand.

»So fleißig beschäftigt?«

»Fleißig? Woher soll die Arbeit kommen? Es ist ja kein einziger Tropfen mehr drin?«

Damit nahm er die Flasche und leerte den Rest mit einem Zuge. Der Rothe lächelte und sagte:

»So müssen Sie wieder füllen!«


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»Wovon?« lachte der Andere höhnisch.

»Sind Sie so sehr ausgebrannt?«

»Vollständig!«

»Wo ist Ihre Frau?«

»Betteln. Aber sie ist seit vier Tagen nicht nach Hause gekommen. Sie lebt in Florio da draußen herum; ich aber sitze hier und verdurste, indem ich auf sie warte. Wenn sie kommt, so schlage ich ihr die Knochen entzwei!«

»Giebt es denn keine Arbeit?«

»Arbeit?« fuhr der Riese auf. »Wollen Sie mich beleidigen?«

»Fällt mir gar nicht ein!«

»So kennen Sie mich nicht!«

»Sehr gut sogar!«

»So? Nun, wer bin ich denn?«

»Der Tausendkünstler Bormann!«

»Hol's der Teufel, er kennt mich! Wer sind denn Sie?«

»Das ist Nebensache. Der Hauptmann sendet mich.«

»Donnerwetter! Ist's wahr?«

»Ja.«

»Da hat die Noth ein Ende; da regnet es Geld!«

»Gemach, gemach!«

»Etwa nicht, he? Da können Sie nur wieder gehen! Wer zu mir kommt, muß Geld haben, um bezahlen zu können.«

»Wenn er Etwas von Ihnen verlangt!«

»Sie verlangen wohl nichts? So verschwinden Sie schleunigst! Ich lasse mich nicht ungestraft nutzloser Weise stören!«

Der Andere nickte ihm behaglich zu, griff in die Tasche und klimperte mit dem darin befindlichen Gelde.

»Alle Teufel!« rief Bormann. »Das hat einen verdammt guten Klang! Heraus damit, heraus!«

»Oho! Nur langsam! Erst das Geschäft, und dann der Lohn!«

»Meinetwegen! Aber ein Stück müssen Sie doch flott machen; denn ich gebe Ihnen bei allen Teufeln mein heiliges Wort, daß ich nicht eher zu sprechen sein werde, als bis die Flasche wieder voll ist!«

»Gut! Wieviel also?«

»Zwanzig Kreuzer.«

»Hier!«

Er zog einen Guldenzettel hervor und reichte ihn dem Anderen hin: dieser griff schleunigst zu und sagte:

»Einen ganzen Gulden? Desto besser! Warten Sie!«

Er ergriff die Flasche, öffnete die Thür und sprang fort.

»Bestie!« murmelte der Rothe, der natürlich kein anderer als der 'Hauptmann' war. »Mit solchem Pack hat man zu verkehren! Aber es sind die besten Arbeiter!«


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Nach kurzer Zeit kehrte Bormann zurück. Sein Gesicht glühte und seine Augen leuchteten unheimlich.

»Hier, eine volle Flasche,« sagte er. »Eine habe ich zuvor erst ausgetrunken. Nun können wir vom Geschäft sprechen. Also sagen Sie, was Sie wollen!«

»Sie glücklich machen!«

»Donnerwetter! Das ist viel gesagt!«

»Ich weiß, was ich sage!«

»Ob Sie es auch halten werden!«

»Ich denke!«

»Oder halten können!«

»Pah!«

»Sie thun ja recht reich. Haben Sie eine Ahnung davon, was ich brauche, um mich glücklich zu fühlen?«

»Ja.«

»Nun, so sagen Sie!«

»Die Mittel, um mit einigen Leuten als Künstler im Lande herumziehen zu können!«

»Weiß Gott, er hat es errathen! Ja, Künstler bin ich, und Director will ich sein!«

»Nun, so engagiren Sie sich eine kleine Truppe.«

»Ich wüßte schon, wen! Meine Frau und noch Zwei oder Drei, das genügt, Dazu braucht man aber Geld!«

»Wieviel!«

»Zweihundert Gulden!«

»Thun's nicht auch hundertfünfzig?«

»Nein!«

»Gut, der 'Hauptmann' schickt Ihnen die Zweihundert.«

Bormann sprang von seinem Stuhle auf, als ob er electrisirt worden sei. Er blickte den Sprecher scharf an und fragte:

»Herr, ist's wahr, ist's wahr?«

»Was hätte ich für Grund, Ihnen eine Lüge zu sagen?«

»Ja, das wollte ich Ihnen auch nicht gerathen haben. Ich würde Sie zu Brei zerschlagen! Also heraus mit dem Gelde!«

»Langsam, langsam, mein Lieber!«

»Ach so! Ja, das habe ich in meiner Freude ganz und gar vergessen. Wo gäbe es denn einen Menschen, der sein Geld umsonst weggäbe? Also, was verlangt der Hauptmann von mir?«

»Eine Kleinigkeit.«

»So? Hm! Kleinigkeit! Ich kenne das! Na, ich habe ihm schon manche Gefälligkeit erwiesen, warum also nicht auch jetzt?«

»Er hat Sie aber auch jedenfalls gut dafür bezahlt!«

»Das ist richtig. Wir sind stets nobel gegen einander gewesen. Also, welche Kleinigkeit meinen Sie?«


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»Es ist ein Dienst, den Sie eigentlich auch sich selbst leisten.«

»Da machen Sie mich neugierig!«

»Was man dem Bruder thut, das thut man sich doch auch selbst!«

»Ah, Sie meinen den? Diesen dummen Kerl?«

»Ja.«

»Danke sehr!«

»Wieso?«

»Für den rühre ich keine Hand!«

»Warum nicht?«

»Er ist's nicht werth, ganz und gar nicht werth!«

»Das müssen Sie mir erklären!«

»Er selbst ist Schuld an Allem. Warum sitzt er denn jetzt? Weil er so dumm gewesen ist, sich erwischen zu lassen!«

»Sind Sie noch nicht erwischt worden?«

»Hm, ja! Viele Male!«

Er that einen tüchtigen Schluck aus seiner Flasche und fuhr dann fort:

»Das will ich ihm also auch nicht nachtragen. Aber das Letzte kann ich ihm nicht vergeben!«

»Was?«

»Den letzten Einbruch bei Hellenbachs.«

»Was finden Sie hier so Unverzeihliches?«

»Das begreifen Sie nicht? Da sind Sie grad so ein dummer Kerl wie mein Bruder! Er hat im Loch gesteckt?«

»Ja.«

»Ist dennoch herausgekommen, um einzubrechen?«

»Ja.«

»Wissen Sie, wer ihm da geholfen hat?«

»Nun?«

»Der Hauptmann, kein Anderer. Der hat irgend eine gute Absicht dabei gehabt, einen feinen, pfiffigen Kniff. Und mein Bruder, der Tolpatsch, läßt sich erwischen! Ehe mir das geschehen wäre, hätte ich lieber Alles und Alle todtgeschlagen!«

»Ihre Vermuthung hat vielleicht das Richtige getroffen.«

»Nicht wahr, ich habe Recht? Wissen Sie etwas davon?«

»Ich spreche nicht davon. Also Sie wollen wirklich nichts für Ihren Bruder thun?«

»Nein.«

»Dann ist unsere Unterredung beendet!«

Er stand auf, als ob er sich entfernen wolle.

»Halt!« rief da Bormann. »So schnell geht das nicht! Ich brauche Geld, und wenn ich es auf keine andere Weise bekommen kann, so will ich mich denn also mit meinem Bruder befassen.«

Der Rothe setzte sich langsam wieder nieder und sagte:


// 310 //

»Gut! Freut mich, daß Sie Verstand annehmen! Es ist ja auch besser für Sie! Kommen wir also zur Sache!«

»Ja, kommen wir zur Sache!«

Dabei griff er zur Flasche und trank sie aus.

»Sie haben vorhin ganz recht gerathen,« sagte der Rothe. »Ihr Bruder wurde auf Veranlassung des Hauptmannes, dem dies sehr viel Geld gekostet hat, herausgelassen -«

»Wohl den Schließer bestochen?«

»Ja.«

»Ich hörte so Etwas.«

»Ihr Bruder erhielt ein rothes Maal auf die Wange. Das sollten Die sehen, bei denen er einbrach. Dadurch wurde die Annahme begründet, daß es Einen giebt, der ihm außerordentlich ähnlich sieht, der aber ein Maal auf der Wange hat. Nun aber war der Hauptmann im Stande, zu beweisen, daß Derjenige, welcher den Einbruch verübt hat, wegen dessen Ihr Bruder sich jetzt in Untersuchungshaft befunden hat, ein rothes Maal an der Wange hatte. Folglich mußte Ihr Bruder freigesprochen werden!«

»Alle Teufel!«

»Oder etwa nicht?«

»Ganz sicher! Verdammt feiner Kniff! Das kommt direct aus dem Kopfe des Hauptmannes, aus keinem anderen.«

»So ist's allerdings in Wirklichkeit. Ihr Bruder wurde zweimal herausgelassen. Das erste Mal verdarb er es, und das zweite Mal ließ er sich gar gefangen nehmen!«

»So ein riesenhafter Dummkopf! Was aber nun? Ich glaube nicht, daß er noch zu retten ist!«

»Für jetzt gilt es nur, Zeit zu gewinnen. Und da sollen Sie auch mit helfen.«

»Wieso?«

»Ihr Bruder muß für verrückt gelten.«

»Donnerwetter! Er soll so thun, als ob er verrückt sei?«

»So ähnlich, aber nicht ganz, denn er wird in Wirklichkeit ein Wenig verrückt sein!«

»Hole Sie der Teufel!«

»Jetzt noch nicht! Der Hauptmann braucht Ihren Bruder, er will Alles für ihn thun. Nun giebt es eine Medicin, welche verrückt macht, verstanden, mein Lieber?«

»Ja, solche Mittel giebt es mehrere!«

»Sie sind entweder zu gefährlich oder nicht zuverlässig.«

»Belladonna?«

»Vielleicht. Oder wenigstens den Stoff, der sich in der Tollkirsche befindet. Man nennt ihn Atropin.«

»Den soll mein Bruder erhalten?«

»Ja.«


// 311 //

»Wenn er nun wirklich verrückt wird?«

»Das soll er ja!«

»Und auch verrückt bleibt?«

»Der Hauptmann wird schon sorgen, daß dies nicht geschieht!«

»Gut! Der Hauptmann versteht sich auf solche Sachen. Aber was soll der Wahnsinn meinem Bruder helfen?«

»Sehen Sie das nicht ein?«

»Jetzt noch nicht.«

»Nun, erstens wird dadurch die Untersuchung unterbrochen. Dadurch fällt Manches in Vergessenheit. Der Kranke wird scharf beobachtet, und resultirt man, daß er wirklich geisteskrank ist, so schickt man ihn in eine Irrenanstalt.«

»Die soll der Teufel holen! Ich mag nichts davon wissen!«

»Unsinn! Dort wird er nicht so streng gehalten. Er genießt Freiheiten, die es im Zuchthause nicht giebt.«

»Ah, jetzt begreife ich, dann wird er herausgeholt?«

»Ja, wenn er nicht bereits vorher freigesprochen worden ist.«

»Freigesprochen?«

»Ja.«

»Nicht möglich!«

»Warum nicht? Ist es denn nicht Wahnsinn, einzubrechen?«

»Donnerwetter! Zielen Sie dahin? Man soll annehmen, daß er bereits seit längerer Zeit wahnsinnig ist?«

»Natürlich!«


// 312 //

Der Riese nickte langsam und bedächtig mit dem Kopfe. Dann brachte er die sehr wichtige Frage vor:

»Aber wie soll mein Bruder zu der Medicin kommen?«

»Durch Sie.«

»Durch mich? Da verrechnen Sie sich ganz und gar! Wenn man alle Brüder mit einander sprechen läßt, uns Beide aber nicht. Ich darf auf keinen Fall zu ihm. Ich stehe ja wohl noch schwärzer angeschrieben, als er selbst!«

»Auf diesem offiziellen Wege soll es auch gar nicht geschehen. Da würden wir ihm gar nichts helfen, sondern die Sache nur verschlimmern. Nein, es soll heimlich geschehen. Sie sind doch wohl unter Anderem auch Trapez- und Seilkünstler?«

»Das versteht sich! Ich bin Alles!«

»Nun, dann sind Sie ja der Mann, den wir brauchen können!«

»In welcher Weise aber?«

»Hm, man muß eine Leiter anlegen.«

»Also von außen?«

»Ja.«

»An das Fenster seiner Zelle?«

»Natürlich.«

»Wissen Sie es?«

»Sehr genau. Ich habe mich erkundigt. Ich habe einen Bekannten, welcher der Freund des Gefängnißgeistlichen ist.«

»Schön! Es wäre verteufelt unangenehm, wenn man an ein falsches Fenster käme!«

»Natürlich! Man kann da nicht vorsichtig und sicher genug gehen.«

»Aber eine Leiter von außen? Verdammte Geschichte!«

»Das ist wahr! Der Hauptmann hatte eine Leiter construirt, welche von Eisen war, zusammengelegt werden konnte und dennoch bis in das dritte Stockwerk reichte; die ist aber mit Ihrem Bruder in die Hände der Polizei gefallen.«

»Dieser Kerl ist wirklich Prügel werth. Aber ich kenne das hiesige Gefangenenhaus auch ziemlich genau. Wo liegt mein Bruder?«

»Nach dem Hofe zu.«

»Wieviel Treppen?«

»Drei. Im Parterre giebt es keine Zellen. Drei Treppen, das zweite Fenster von der Ecke aus.«

»So, so! Hm, hm! Ah, da fällt mir etwas ein!«

»Was?«

»Geht keine Steigleiter der Feuerwehr an?«

»Nicht gut.«

»Warum nicht?«

»Erstens ist keine so schnell zu bekommen -«

»O, sehr schnell! Da in der Nähe hat die freiwillige Feuerwehr dieses Bezirkes ihren Uebungsplatz im Garten des Gasthofes. In einem Schuppen befinden sich die Leitern.«

»Das wäre günstig. Aber Sie müssen ja die Leiter in dem unteren Zellenfenster einhaken!«

»Was thut das?«

»Der, welcher in der Zelle sitzt, kann Alles verrathen.«

»Unsinn! Kein Gefangener wird so schlecht sein, den anderen zu verrathen. Uebrigens kann ich dem Manne ja Etwas mitnehmen, um ihn zum Schweigen zu bewegen, Etwas zu essen oder zu trinken.«

»Und wenn er dennoch nach der Wache ruft?«

»Pah! Bis die kommt, bin ich lange wieder herunter und über die Hofmauer weg! Nimmt die Medicin viel Platz weg?«

»Nein.«

»Nun, so ist die Sache viel leichter, als ich es mir dachte. Also abgemacht! Ich übernehme den Streich.«

»Wie viele Leute brauchen Sie?«

Der Riese blickte ihn eine Weile an, brach dann in ein schallendes Gelächter aus und fragte, noch immer lachend:

»Wie viele Leute?«

»Ja.«


Ende der dreizehnten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der verlorne Sohn

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