Lieferung 12

Karl May

1. November 1884

Der verlorne Sohn
oder
Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.


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»Er ist mein!« antwortete sie stolz und selbstbewußt.

»Nun, so haben wir ihn ja!«

»O, noch lange nicht!«

»Sogar ganz sicher! Er wird Dich besitzen wollen. Du sagst, daß hier keine zärtliche Liebkosung möglich sei.«

»Und Du denkst, daß er mich dann zu sich einladen wird?«

»Gewiß! Und thut er es nicht, so ist es Deine Sache, diesen Gedanken bei ihm anzuregen.«

»Gut! Ich werde es versuchen!«

»Thue es! Du weißt, daß ich nicht eifersüchtig bin!«

»Das wollte ich mir auch sehr verbitten!«

»Schön! Dabei denke ich an den Vortrag, welchen der Vorsteher machen wird. Ich hoffe, daß Du Ja sagen wirst!«

»Um was handelt es sich?«

»Er mag es Dir dann selbst sagen. Du wirst ein gutes Werk verrichten!«

»Eine Seltenheit, wenn es sich um einen Auftrag von Dir handelt.«

»Du wirst spitz! Meinetwegen! Wann soll er kommen?«

»Sogleich.«

»Ich denke, daß Du erst Toilette machen willst!«

»Fällt mir nicht ein! Dein Administrator weiß auch die Vorzüge einer schönen Frau zu schätzen!«

Der Baron horchte auf. Er sagte dann:

»Davon bin ich überzeugt. Aber Du sagst das in einem so eigenen Tone. Ist er Dir gegenüber vielleicht einmal liebenswürdig gewesen?«

»Nicht nur einmal, sondern stets. Ich wollte es ihm auch nicht rathen, einmal unliebenswürdig zu sein!«

»So meine ich es nicht. Ich wollte wissen, ob er sich einmal in Dich verliebt gezeigt hat?«

»Niemals!« antwortete sie, aber in einem Tone, welcher eher das gerade Gegentheil vermuthen ließ.

»Das wollte ich mir auch verbeten haben!« meinte der Baron. »Er ist mein Untergebener, und für einen solchen ist die Baronin Ella von Helfenstein nicht vorhanden!«

Er ging. Ella ließ sich auf demselben Platze nieder, auf welchem sie vorhin den Fürsten empfangen hatte, und zwar that sie das in einer solchen Weise, daß alle ihre körperlichen Vorzüge zur vollsten Geltung kommen mußten.

Nach kurzer Zeit meldete die Zofe den Vorsteher an. Er trat ein und verbeugte sich so tief, als ob er sich vor einer Königin befinde. Dann erst erhob er den Kopf so, daß er die schöne Frau in ihrer reizenden Attitude erblicken konnte. Sein Blick wurde spitz, auch seine Lippen spitzten sich. Er hatte ganz das Aussehen eines Menschen, welcher lange Zeit fürchterlich gehungert hat und sich nun plötzlich vor eine Tafel gestellt sieht, auf welcher die delicatesten Gerichte prangen.


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»Treten Sie näher!« forderte sie ihn in einem süßen Flötentone auf.

Er folgte diesem Gebote in kleinen, tänzelnden Schritten, welche zierlich sein sollten, aber zu seiner Gestalt, seinem Anzuge und seinem ganzen Wesen gar nicht paßten.

»Was wünschen Sie?« fragte sie, als er vor ihr stand.

Er verschlang mit seinen Blicken die Reize, welche er vor sich sah. Das Wasser lief ihm im Munde zusammen. Welch ein herrliches, entzückendes Weib. Was hätte er gethan, um einen Kuß von ihr zu empfangen, einen einzigen, allereinzigen Kuß. Es wurde ihm schwer, zu beginnen; er schluckte und schluckte und stieß endlich mit wirklicher Anstrengung hervor:

»Ich muß um allergnädigste Verzeihung bitten, wenn -«

»Nun, wenn?« fragte sie.

»Wenn - wenn - daß ich Sie, gnädige Frau Baronin, in diesem himmlischen Negliggé überrasche.«

Sie blickte ganz erstaunt zu ihm empor und sagte:

»Was geht Sie mein Negliggé an? Sie sind ein Diener Gottes. Geben Sie sich nicht mit so weltlichen Dingen ab! Uebrigens ist von einer Ueberraschung gar keine Rede. Ich bin es ja gewesen, welche Sie zu mir befohlen hat.«

»Pardon! Pardon! Diese Bedeutung wollte ich meinen Worten allerdings nicht beigelegt wissen!«

»Gut! Also in welcher Angelegenheit kommen Sie?«

Er sah sich unwillkürlich nach einem Stuhle um; aber sie that, als ob sie dies gar nicht bemerke. Er war verurtheilt, vor ihr zu stehen und, wie Sysiphus, Schätze zu erblicken, die er niemals zu erreichen hoffen durfte.

»Es ist eigentlich Gott selbst, der mich zu Ihnen sendet, gnädige Frau,« antwortete er endlich.

»Gott selbst? Das ist eine unendliche Ehre für Sie. Er pflegt doch gewöhnlich nur Apostel und Propheten zu senden. Also welcher Art ist Ihr Auftrag?«

»In einem Hause auf der Wasserstraße, welche das Eigenthum des gnädigen Herrn ist, zog heute Morgen der Tod ein. Ein braver, glaubenstreuer Familienvater wurde seinen Kindern entrissen. Die Kleinsten befinden sich jetzt bereits im Waisenhause. Nun ist aber noch die älteste Tochter zu versorgen.«

Er machte eine Pause. Ella ahnte, um was es sich handelte. Sie hatte gute Laune genug, dem frommen Manne die Sache zu erleichtern.

»Sie suchen wohl eine Stellung für sie?« fragte sie.

»Ja, ja; das ist es, was ich bemerken wollte.«

»Und wenden sich in dieser Beziehung an mich? Schön! Das finde ich sehr lobenswerth von Ihnen!«

Ganz glücklich über diese Worte verneigte er sich fast bis auf den Teppich herab.

»Ich kenne das gute, milde, menschenfreundliche Herz der gnädigen Frau Baronin!«


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»So? Wann und wo haben Sie es kennen gelernt?«

Diese Frage brachte ihn in außerordentliche Verlegenheit. Er hatte noch niemals Veranlassung gefunden, über das gute Herz der Baronin eine Erfahrung zu machen.

»Ueberall und stets!« antwortete er. »Die Mildthätigkeit Euer Gnaden ist ja in der ganzen Stadt bekannt.!«

»Das gereicht mir zur besonderen Ehre. Darum sollen Sie sich auch dieses Mal nicht vergeblich an mich wenden.«

Er verbeugte sich abermals.

»Ich bin ganz entzückt, Hoheit!«

»Ich sehe es!« lächelte sie. »Ich werde mich also nächster Tage erkundigen, ob bei einer meiner Freundinnen oder Bekannten für unseren Schützling ein Placement zu finden ist.«

Sie spielte mit ihm, wie die Katze mit der Maus. Er machte eine abwehrende Handbewegung und stotterte:

»O nein! Ich wollte - ich ahnte - ich dachte -«

»Nun, mein Lieber, was dachten Sie?«

Es war ihr eine Locke ihres Haares aufgegangen. Sie erhob die beiden Arme, um sie wieder zu befestigen. Dabei kam die Form der Arme, des Busens, des ganzen Oberkörpers zu einer Darstellung, welche dem Vorsteher den Kopf verdrehte. Er suchte nach Worten, ohne sie zu finden. Sie merkte das, ja, sie hatte es sogar beabsichtigt. Und als sie nun, wie ganz zufällig, mit der einen Hand an der Büste niederstreifte, wobei der Verschluß des Morgenhemdes seine Festigkeit verlor, da war es um ihn geschehen. Er räusperte sich ängstlich und zog sein Taschentuch hervor, um sich die kahle, vom Haar entblößte Stirn abzutrocknen.

»Nun?« fragte sie verwundert. »Ein Frommer, der vergeblich nach dem richtigen Worte sucht, seine Gedanken auszudrücken! Ist das möglich?«

»Verzeihung!« stammelte er. »Hier ist es so warm!«

»Mir scheint sogar, es wird Ihnen heiß. Aber das geht doch Ihren Schützling nichts an. Reden Sie!«

Er faßte sich und sagte:

»Meine Mündel ist, wie ich bereits erwähnte, in einer sehr gottesfürchtigen Familie erzogen worden. Der Same, welchen ich da säete, soll nicht verloren werden. Das Mädchen ist eine reine Seele, welche nach Gott und dem Himmel dürstet, und so ist es meine heilige Pflicht, sie nur in eine Familie zu geben, in welcher der wahre Glaube und die echte Gottesfurcht vorhanden sind.«

»Das ist sehr löblich von Ihnen!«

Diese Zustimmung gab ihm die Gabe der Rede vollständig zurück:

»Da ich nun weiß, daß das Haus der gnädigen Frau Baronin ein Tempel ist, in welchem die wahre Verehrung herrscht, so hätte ich es als eine Schickung des Allerhöchsten angesehen, wenn es möglich gewesen wäre, hier ein Plätzchen für das gute Kind zu finden.«

»Ah! Sie wünschen eine Stellung für sie bei mir?«


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»Ja, gnädige Frau. Der Himmel wird es Ihnen lohnen, was Sie hier auf Erden an der armen Waise thun!«

»Als was soll ich sie denn engagiren?«

»Als was Sie denken!«

Da schnippste sie fröhlich mit den Fingern, warf ihm einen pfiffig-malitiösen Blick zu und sagte:

»Ich kann sie leider nicht gebrauchen, aber mein Mann, der Baron hat vielleicht irgend eine Verwendung - nicht?«

Er trat erschrocken einen Schritt zurück.

»Gnädige Frau!«

»Papperlapapp! Wie alt ist sie?«

»Neunzehn.«

»Wie heißt sie?«

»Marie Bertram.«

»Ist sie hübsch?«

»Die Vorsehung hat ihr in ihrem Äußeren allerdings eine Empfehlung für ihre irdische Pilgerschaft gegeben.«

»Ist sie munter?«

»Nein, eher nachdenklich. Die Kinder Gottes pflegen ernst zu sein.«

»Nicht wahr, mein Mann wünscht, daß ich sie engagire?«

»Er hat allerdings gemeint, daß es ein Fingerzeig des Himmels sei, daß ihr Vater in einem Hause gestorben ist, welches dem gnädigen Herrn gehört.«

»Reden wir aufrichtig. Ist er verliebt in sie?«

»Gnädige Frau!« rief der Mann, ganz erschreckt die knochigen Hände faltend.

»Gut! Ich werde sie also nicht engagiren!«

Dieser plötzliche Entschluß brachte ihn in die allergrößte Verlegenheit.

»Sie weisen mich zurück? Mein Herz glaubte bereits, ein Hosianna singen zu können -!«

»Ja. Ich muß Ihnen leider sagen, daß mein Mann ein großer Liebhaber weiblicher Schönheiten ist. Ich engagire in Folge dessen, um ihm gefällig zu sein, nur hübsche Mädchen, welche nicht prüde sind und ihm gefallen. Ihre Mündel kann ich also nicht gebrauchen!«

Da beeilte sich der Vorsteher zu erklären:

»Ich besinne mich jetzt glücklicher Weise, daß der Herr Baron sich in recht beifälliger Weise über sie ausgesprochen hat.«

»So! Er ist ihr also gut?«

»Ich weiß nicht, welche Deutung ich diesem etwas weltlichen Ausdrucke geben soll.«

Da ließ sie ein kurzes, lustiges Lachen hören und sagte:

»So will ich ihn erklären: Mein Mann hat bei dem Anblicke Ihrer Mündel ganz dieselben Gedanken und Wünsche, welche Sie jetzt in diesem Augenblicke haben, indem Sie mich hier vor sich liegen sehen.«

»Jesus, mein Heiland! Was denken die gnädige Frau!«


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»Pah! Sprechen wir ehrlich! Ich will Ihre Mündel zu mir nehmen, aber nur unter der Bedingung, daß Sie sich jetzt mir gegenüber nicht in eine Manier werfen, welche Ihrem inneren Wesen fremd ist. Leute, welche sich kennen und durchschauen, dürfen nicht Komödie mit einander spielen. Sagen Sie aufrichtig: Würde Ihnen ein Kuß von mir unangenehm sein?«

Er wußte jetzt wirklich nicht, was er antworten solle. Er rieb sich die Hände, wand sich hin und her und stotterte endlich:

»Gnädige Frau, ich halte Sie allerdings für meine Schwester in dem Herrn. Als Bruder würde ich mir wohl einen solchen Erweis der Zärtlichkeit erlauben dürfen.«

Da kam ein kleines, schlimmes Teufelchen über sie. Sie erhob sich halb, hielt ihm ihre rechte Wange entgegen und sagte:

»Gut, mein lieber Bruder in dem Herrn, kommen Sie her und geben Sie mir einen herzhaften Kuß auf die rechte Wange!«

Da stieg ihm das Blut in die Wangen. War es wahr? Er sollte dieses herrliche Weib küssen dürfen?

»Gnade!« stammelte er. »Ein solcher Scherz -!«

»Es ist kein Scherz! Küssen Sie, sonst geht die Zeit vorüber. Dann ist es zu spät!«

Er warf ihr einen gierig forschenden Blick zu. Er sah, daß es ihr Ernst sei, und da fuhr er denn heftig auf sie los und drückte seine Lippen auf ihre Wange. So Etwas hätte er ganz und gar nicht für möglich gehalten!

Sie legte sich wieder in ihre vorige Stellung zurück und sagte:

»So dürfen Sie mich küssen als Bruder in dem Herrn. Wären sie eine rein menschliche Person, ohne diese Zuthat von Frömmigkeit und Heiligkeit, so hätte ich Ihnen erlaubt, mich zu umarmen und auf den Mund zu küssen. Sie sind ein schöner Mann, und der meinige ist mir nach und nach fremd und immer fremder geworden.«

Diese Worte klangen in seinen Ohren wie Gesang der Cherubim und Seraphim. Er riß die Augen weit auf, um die ganze, vor ihm ausgebreitete Schönheit in sich aufzunehmen und fand dabei den Muth zu den Worten:

»Ich bitte dringend um Aufrichtigkeit, gnädige Frau! Sprechen Sie im Scherze oder im Ernste mit mir?«

»Im Ernste, mein Lieber!«

»Mein Lieber!« Diese beiden Worte gingen ihm durch Leib und Seele, durch Mark und Bein. Seine Augen funkelten. Er trat einen Schritt näher.

»Ich würde Sie umarmen dürfen?«

»Ja.«

»Und küssen!«

»Und küssen!« nickte sie.

»Gut, so will ich mein Amtsgewand abwerfen, solange ich bei Ihnen bin. Der Mensch ist zunächst für die Erde und dann erst für den Himmel geschaffen, und den einzigen Himmel auf Erden findet man nur durch ein schönes, liebevolles Weib!«


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Er streckte die Hände aus; er wollte sich ihr nähern. Sie machte aber eine abwehrende Handbewegung und gebot:

»Halt! So schnell und leicht nicht. Jede Liebe muß verdient sein! Sagen Sie zunächst, ob mein Mann in diese hübsche Marie Bertram wirklich verliebt ist.«

»Er ist ganz verteufelt auf sie!«

»Ist sie denn so sehr viel hübscher als ich?«

»Ganz und gar nicht! Was denken Sie, gnädige Frau! Sie sind tausendmal entzückender als dieses Mädchen! Für Sie könnte man durch Feuer und Flammen gehen!«

»Auch Sie?«

»Auch ich! Noch eher und williger als tausend Andere!«

»Und wenn ich Sie nun beim Worte halte?«

»Thun Sie es! Thun Sie es!« rief er begeistert.

Sein Inneres glühte von den Flammen, welche das Weib in ihm angefacht hatte. Er wäre in diesem Augenblicke zu Allem fähig gewesen, was sie von ihm verlangt hätte.

»Gut, mein Lieber, ich werde Sie auf die Probe stellen!«

»Wann? Womit? Was soll ich thun?« fragte er begierig.

»Das wird sich finden. Zunächst will ich Ihnen aufrichtig sagen, daß ich einen treuen Freund brauche, auf den ich mich verlassen kann.«

»Ich werde es sein, gnädige Frau! Ich will Ihnen dienen und gehorchen in Allem, was Sie von mir fordern!«

»Auch gegen meinen Mann?«

»Auch gegen ihn, wenn Sie befehlen!«

»So sind wir einig. Gehen Sie jetzt. Es wird die Zeit kommen, in der ich Sie brauche, und dann wird die Liebe auch Gelegenheit finden, Sie reich zu belohnen!«

Sie streckte ihm ihre Hand entgegen; er ergriff dieselbe und küßte sie. Dann ließ er sich auf ein Knie vor ihr nieder, erhob die Hand zum Schwur und sagte:

»Ich erkläre Ihnen hiermit an Eides Statt, daß Sie über mich verfügen können zu jeder Zeit, bei Tag und Nacht, und daß ich Ihnen treu und ergeben sein werde bis zu meinem Tode!«

Dann entfernte er sich.

»Scheusal!« murmelte sie, während sie eine Geberde des Abscheues machte. »Ich werde ihn nothwendig brauchen; aber ich werde ihn benützen und dann zertreten, diesen elenden Wurm!« -

Der Gegenstand dieser Audienz, Marie Bertram, hatte mehr mechanisch oder automatisch, als infolge besonderen Nachdenkens dem Gebote, welches ihr ertheilt worden war, Folge geleistet. Sie hatte das Zimmer gereinigt und sich dann zum Ausgehen angekleidet. Es war ihr so dumpf im Kopfe, als hätte sie einen Keulenschlag erhalten. Ihr Herz schien leer zu sein, und doch war es nur die unendliche Traurigkeit, welche sie fast von Sinnen brachte.

Sie ging aus, die Straße hinab, mit Schritten, als ob ihre Füße


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an Stricken gezogen würden. Sie begab sich nach dem Gefängnisse, um nach dem Bruder und dem Geliebten zu fragen. Man sagte ihr, daß Beide anwesend seien, aber man erlaubte ihr nicht, sie zu sehen oder gar mit ihnen zu sprechen.

Von da begab sie sich nach dem Gottesacker. Die Leichenhalle war verschlossen, und auf ihre Bitte erklärte ihr der Todtengräber, daß er ihr nicht öffnen dürfe.

Nun wandelte sie zwischen Gräbern umher, eine lange, lange Zeit. Sie dachte nicht an Essen und Trinken. Sie hatte weder Hunger noch Durst. Sie fühlte nichts, gar nichts. Sie wandelte unter Todten und war selbst eine wandelnde Leiche.

Endlich verließ sie den Kirchhof und kehrte zurück. Da schlugen die Glocken die Stunde. Sie blieb stehen und zählte. Hierbei kam ihr der erste, klare, geordnete Gedanke: Um die jetzige Zeit war sie ja in das Stickgeschäft bestellt. Sie wandte den Schritt dorthin und trat ein. Aller Augen richteten sich auf sie, und die Verkäuferinnen flüsterten heimlich miteinander.

Die Besitzerin wurde herbeigerufen. Als sie das Mädchen erblickte, machte sie ein höchst zorniges Gesicht und fragte:

»Nicht wahr, Marie Bertram ist Ihr Name?«

»Ja,« murmelte die Gefragte vor sich hin.

»Sind Sie nicht die Schwester des Robert Bertram, welcher mit dem Riesen Bormann arretirt worden ist?«

»Ja.«

»Und die Geliebte des Mechanikus Fels, den man gestern auch eingezogen hat?«

»Ja.«

»So, so! Auf solche Verwandtschaft und Bekanntschaft können Sie sich fürchterlich viel einbilden! Sie kommen wegen Ihrer Stickerei?«

Marie hielt die Augen voll und offen auf die Sprecherin gerichtet. Diese Augen schienen todt und leer zu sein; aber das war eine Täuschung. Es glänzte darin, tief unten, eine ganze, gewaltige Thränenflut. Hätten sich einzelne Tropfen aus diesem See lösen können, wie wohl, wie wohl hätte das diesem schwer geprüften Herzen gethan! Aber diese Fluth wollte mit einem Male herausbrechen, und da kam denn kein einzelner Tropfen zum Vorschein. Sie hörte, was man zu ihr sagte; sie gab auch Antwort; aber der Jammer hielt ihren Geist so fest gepackt, daß er sich nicht selbstständig zu regen und zu bewegen vermochte.

»Ja,« antwortete sie auch auf die letzte Frage.

»Da haben Sie ein schönes Unheil angerichtet! Der Fleck läßt sich nicht entfernen. Der Chemiker sagt, daß es nicht ein Oel, sondern eine geradezu raffinirte Mischung verschiedener Fette und Oele sei. Er meint, daß der Fleck mit Fleiß gemacht worden ist!«

Sie schien jetzt eine Bemerkung zu erwarten; da Marie aber schwieg, so fuhr sie fort:

»Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß die Stickerei für die Frau Baronin


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von Helfenstein ist. Diese hat sämmtliche Auslagen getragen. Das Material wird ungefähr vierzig Thaler gekostet haben. Ich getraue mich nicht hin zu ihr. Sie mögen selbst gehen, und den Sturm aushalten. Hier ist das Paquet!«

Marie griff zu und drehte sich um, sich wortlos zu entfernen. Das lag aber nicht im Plane dieser Dame.

»Halt!« rief sie. »Bleiben Sie noch! Der Schwester und Geliebten von zwei Dieben darf ich das nicht allein anvertrauen. Es wird Jemand mit Ihnen gehen, um dafür zu haften, daß nichts verloren gehe. Warten Sie also noch!«

Auch diese Demüthigung nahm Marie wortlos hin. Nach einiger Zeit wurde ihr ein Arbeitsmädchen beigegeben, um sie zur Baronin zu begleiten. Dort angekommen, wurden Beide vorgelassen. Marie sprach kein Wort; die Andere mußte die Angelegenheit vortragen. Die Baronin gerieth in einen außerordentlichen Zorn. Sie hatte Monate lang auf diese Stickerei gewartet, um sie zu dem nächsten Weihnachtsfeste anzulegen, und nun war das unmöglich geworden. Sie erklärte den beiden Mädchen, daß sie mit ihnen nichts zu thun habe, sie sollten die Arbeit wieder mitnehmen; sie selbst aber werde sich wegen des Schadenersatzes an die Principalin halten.

Auch diesen Sturm ließ Marie über sich ergehen, ohne ein Wort zu sprechen. Und als sie während des Rückweges den Mund ebenso wenig öffnete, sagte ihre Begleiterin:

»Sie dauern mich. Ich ahne, daß Sie nicht schuldig sind. Was will die Herrin noch mit Ihnen machen? Gehen Sie in Gottes Namen nach Hause Ich werde die Stickerei überbringen.«

Hierauf ging Marie schweigend heim. Sie schritt wie im Traume der Wasserstraße zu und stieg hierauf in ihre Wohnung. Dort setzte sie sich auf die alte Matratze und vergrub das Gesicht in die Hände, bis draußen Schritte ertönten und Jemand eintrat. Sie blickte auf. Es war der Vorsteher, Herr Seidelmann. Sie starrte ihn an und grüßte nicht. Darum gebot er ihr:

»Stehen Sie auf!«

Sie erhob sich, steif und still wie eine Nachtwandlerin. Dann fuhr der Fromme fort:

»Ich bringe Ihnen eine frohe Botschaft, ein wahres Evangelium. Sie sollen gerettet werden, das ist Gottes Wille. Darum gab er Ihnen einen treuen Sorger zum Vormund, der über Sie wachen wird, daß Sie nicht wieder in die Arme der Sünde fallen. Denn Ihre größte Sünde war die Lectüre von Liebesliedern. Ich selbst bin Ihr Vormund, und Sie haben mir in allen Stücken Gehorsam zu leisten. Verstehen Sie mich?«

»Ja,« hauchte sie tonlos.

»Sie werden heute eine neue, glanzvolle Stellung antreten, und zwar in einer hohen, adeligen Familie, zu welcher ich Sie sofort bringen werde. Ihre Siebensachen, welche hier liegen, können Sie dort nicht brauchen. Sie bleiben hier, um im Interesse Ihrer kleinen Geschwister verkauft zu werden. Folgen Sie mir!«


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Er ergriff sie beim Arme und zog sie fort. Sie folgte ihm, ohne den geringsten Versuch, Widerstand zu leisten. Ihr Wille schien ganz gestorben zu sein.

Sie fuhren in einer Droschke nach dem Palaste des Barons. Dieser war ausgegangen. Darum ließ Herr Seidelmann sich bei der Baronin melden. Als diese ihn mit dem Mädchen eintreten sah, fragte sie:

»Herr Vorsteher, kommen Sie etwa, mich zu erbitten? Dieses Mädchen ist bereits hier gewesen, und ich habe in dieser ärgerlichen Angelegenheit mein letztes Wort gesprochen!«

»Bereits hier gewesen?« fragte er.

»Ja. Ich hatte mich auf diese Stickerei wirklich wie ein Kind -«

»Stickerei?« fiel er ein. »Davon weiß ich nichts. Ich komme ganz und gar nicht wegen einer Stickerei!«

»Nicht? Weshalb denn?«

»Ich gebe mir die Ehre, Ihnen dieses Mädchen als die Marie Bertram vorzustellen, von welcher wir gesprochen haben.«

»Marie Bertram? Ist das möglich!« rief die Baronin ganz erstaunt. »Das ist ein eigenthümliches Zusammentreffen!«

Sie musterte das Mädchen sehr aufmerksam, schüttelte den Kopf und fragte dann:

»Fräulein Bertram, kennen Sie den Baron von Helfenstein?«

»Nein,« antwortete Marie leise.

»Sie haben aber wohl von ihm gehört?«

»Ja.«

»Was?«

»Unser Wirth.«

»Was ist Ihnen, warum sprechen Sie nicht anders?«

Da fiel der Vorsteher ein:

»Entschuldigen Sie gnädigst! Ihr Vater ist heute Vormittag gestorben. Sie ist sehr erschüttert und muß sich erst in ihre Lage finden.«

»Gut! Lassen wir sie allein. Bringen Sie das Mädchen zum Leibdiener meines Mannes, welcher bereits die nöthigen Befehle erhalten hat. Er mag sie nach ihrem Zimmer bringen!«

Das geschah. Nach kurzer Zeit befand Marie sich in einem nicht zu großen, aber allerliebst ausgestatteten Zimmerchen. Sie setzte sich auf das Sopha und starrte vor sich hin. Es wurde Licht gebracht, sie beachtete es nicht. Der Diener servirte ihr ein kleines Abendessen; sie rührte es aber nicht an.

So verging Stunde um Stunde, bis Mitternacht vorüber war. Da öffnete sich plötzlich die Nebenthür, und der Baron trat ein. Als er sie erblickte, leuchtete sein Auge befriedigt auf.

»Guten Abend, liebes Kind!« grüßte er. »Warum sind Sie nicht bereits schlafen gegangen?«

Sie sah ihn an und antwortete nicht. Er deutete auf das in dem Zimmer stehende Bett und meinte:


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»Das ist ja für Sie bestimmt!«

»Ja,« antwortete sie, ohne weiter zu überlegen.

»Haben Sie gespeist?«

»Nein.«

Er setzte sich neben sie auf das Sopha und erkundigte sich weiter:

»Ich hoffe doch, daß Sie aufmerksam bedient worden sind?«

»Ja.«

»Wollen wir uns noch ein wenig unterhalten?«

»Ja.«

»Wovon? Vielleicht von dem Grunde, welcher mich veranlaßt hat, Ihnen hier eine Anstellung zu geben?«

»Ja.«

Die Antworten kamen so monoton zwischen den Lippen hervor, als ob sie einem verständnißlosen Wesen einstudirt worden seien. Dennoch rückte der Baron näher zu ihr heran und fuhr fort:

»Ich will Ihnen aufrichtig sagen, daß der einzige Grund in der Liebe besteht, welche ich für Sie gefaßt habe. Ich habe zwar gehört, daß Ihr Herz nicht mehr frei ist, aber ich glaube, Sie werden so verständig sein, die Chancen, welche ich Ihnen zu bieten vermag, allem Anderen vorzuziehen. Nicht wahr, ich darf das hoffen?«

»Ja.«

»Ah, ich sehe, daß Sie eine höchst verständige und liebenswürdige junge Dame sind. Kommen Sie her und lassen Sie sich umarmen!«

Er legte den Arm um sie und wollte sie küssen. Da stieß sie ihn von sich. Er aber ließ sich nicht irre machen. Er hatte von dem Diener bereits gehört, in welchem Seelenzustande er die neue Maitresse finden werde. Er zog sie abermals an sich und hielt sie so fest, daß sie sich kaum zu rühren vermochte. Aber zu einem Kusse kam er doch nicht. Ohne einen Laut von sich zu geben, ohne um Hilfe zu rufen, wußte sie ihm ihre Lippen jedesmal zu entziehen.

So kämpften sie still und lautlos, bis ihm endlich ein Gedanke kam, der ihm Erfolg versprach. Er ließ sie los, betrachtete sie mit freundlicheren Augen und fragte:

»Nicht wahr, Ihr Bruder heißt Robert?«

»Ja.«

»Und Ihr Geliebter Wilhelm?«

»Ja.«

»Beide sind jetzt gefangen?«

»Ja.«

»Sie sind verloren; man wird sie verurtheilen und in das Zuchthaus schaffen. Aber Sie können sie retten.«

Der teuflische Plan des Barons schien gelingen zu wollen, denn ihr Auge belebte sich ein Wenig.

»Wollen Sie, daß Beide gerettet werden?« fragte er weiter.

Sie nickte mit einiger Lebhaftigkeit.


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»Gut! Hören Sie! Ich bin der Richter, welcher Beide zu verurtheilen hat. Nun kommt es darauf an, wie Sie sich gegen mich verhalten. Sind Sie freundlich und gehorsam, so werde ich dafür sorgen, daß Robert und Wilhelm bereits in einigen Tagen auf freiem Fuße sind. Kämpfen Sie aber gegen meine Liebe, so sind die beiden Gefangenen nicht zu retten. Verstehen Sie mich?«

Sie blickte ihm lange Zeit starr in das Gesicht und nickte dann.

»Gut! Sie haben gehört, was ich Ihnen gesagt habe. Entscheiden Sie also jetzt über das Schicksal der Ihrigen!«

Er legte den Arm um sie - sie duldete es. Er zog sie an sich - sie widerstrebte nicht. Er küßte sie auf den Mund - sie leistete nicht den geringsten Widerstand. Nun hob er ihren Kopf ein Wenig empor, um die lieben, treuen, reinen Züge näher zu betrachten. Da hielt sie das Auge auf ihn gerichtet mit einem Ausdrucke, den die Sprache gar nicht wiederzugeben vermag. Dieser Blick war ein Ertrinken der Seele im tiefsten Jammer, in fürchterlichster Qual und Noth.

Ein Anderer hätte bei diesem Blick gradauf schluchzen müssen; er hätte es nicht vermocht, diesem armen, beklagenswerthen Mädchen auch nur das geringste weitere Leid anzuthun. Aber der Baron hatte weder Gefühl noch Gewissen. Er hielt sie mit dem einen Arme umschlossen und versuchte mit der anderen Hand, die Lampe zu verlöschen. Marie verhielt sich vollständig bewegungslos dabei. Es war Nacht geworden im Zimmer und Nacht in ihrem Innern. - - -

Am anderen Morgen kam der Vorsteher, um sich nach dem Befinden seiner Mündel zu erkundigen. Er fand den Baron in der allerschlechtesten Laune. Dieser fragte:

»Was ist denn eigentlich mit dem Mädchen geschehen? Sie ist ein Körper ohne Seele, ohne Leben.«

»Es ist eine schwere Prüfung über sie gekommen, welche aber nach einiger Zeit vorübergehen wird.«

»Ich habe keine Lust, diese Zeit zu erwarten. Nehmen Sie das Mädchen immerhin wieder mit sich fort!«

»Sie scherzen, gnädiger Herr!«

»Fällt mir gar nicht ein! Sie ist eine Leiche bei lebendigem Leibe, und eine Leiche dulde ich nicht in meinem Hause.«

»Ihr Wunsch ist mir Befehl, Herr Baron. Ich bin wegen eines Unterkommens für sie nicht in Verlegenheit.«

Er ging. Sein Weg führte ihn nach der Ufergasse und zwar in dasselbe Haus, in welchem der Schlosser gestern abend bei Madame Pauli den vermeintlichen Kunstmaler Brenner aufgesucht hatte.

Madame Pauli, eine jener Restaurationsinhaberinnen, welche von der Schönheit ihrer Kellnerinnen leben, bewohnte das Parterre und die erste Etage. Der Vorsteher stieg noch eine Treppe höher. Dort stand an der Thür des Vorsaales zu lesen »Madame Groh, Rentière«. Er klingelte, und es wurde geöffnet. Eine große, breitschultrige Dame erschien.


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»Gott grüße Dich, liebe Adelheid!« sagte er.

»Du bist es, lieber August! Herzlich willkommen! Tritt näher!«

Sie führte ihn in eine Art Salon, wo Beide auf einem Sopha in vertraulicher Weise Platz nahmen.

»Nun, wie geht es mit dem Geschäfte?« fragte er.

»Wie immer! Man macht die Ansprüche nicht so groß und muß zufrieden sein.«

»Hast Du genug Auswahl hier?«

»Nicht sehr. Es ist Alles fort. Hast Du etwas Neues?«

»Ja.«

»Gut?«

»Ausgezeichnet! Exquisit!«

»Geh! Mache mich nicht neugierig!«

»Es ist überhaupt ein eigener Fall. Das Mädchen ist brav, gut und noch niemals einer Versuchung unterlegen! Hast Du von den beiden Diebstählen gehört, welche gestern vorgekommen sind?«

»Ja. Fels und Bertram.«

»Nun, Fels ist ihr Geliebter und Bertram ist Stiefbruder. Sein Stiefvater, welcher ihr richtiger Vater war, ist heute Vormittag vor Schreck gestorben, als er hörte, daß sein Sohn ein Einbrecher sei. Auch auf sie hat der Schreck außerordentlich gewirkt. Sie spricht kein Wort.«

»O, das findet sich! Ist sie hübsch?«

»Sehr sogar!«

»Farbe?«

»Blond.«

»Gestalt?«

»Mittlere Statur, nicht gerade üppig, aber feingliedrig und voll.«

»Das ist gut! Zähne?«

»Vollständig.«

»Und wie steht es mit dem Preise?«

»Du sollst sie billig haben.«

»Gut, bringe sie einmal her, sobald es dunkel geworden ist.«

»Ich werde kommen. Aber Eins sage ich Dir: Sie ist nämlich meine Mündel. Verstanden? Weißt Du, was das zu bedeuten hat?«

»Ich weiß es. Du brauchst keine Sorge zu tragen.«

»Ich möchte mir natürlich keine Unannehmlichkeiten bereiten. Sie mag als Dein Hausmädchen gelten und Niemand braucht zu wissen, daß sie des Abends mit da unten bei Madame Pauli sich befindet.«

»Wird sie mir Noth machen?«

»Hoffentlich nicht. Sie ist überhaupt stets ein stilles Mädchen gewesen.«

Nach einer längeren Unterredung empfahl er sich.

Pastor Matthesius, der Gefängnißgeistliche, besuchte die Frohnveste, in welcher die Untersuchungsgefangenen inhaftirt zu sein pflegten. Als Gefängnißseelsorger hatte er Zutritt in jede Zelle. Der Erste, welchen er heute besuchte, war der Riese Bormann.


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Dieser lag lang ausgestreckt auf der nackten Diele und machte auch keine Anstalt, sich zu erheben, als er den Geistlichen eintreten sah.

»Nun,« sagte der Letztere, »wollen Sie nicht aufstehen?«

»Nein.«

»Aber es würde wohl anständiger sein, zu stehen als zu liegen.«

»Wer hier wohnt, braucht von Anstand nichts zu verstehen!«

»Aber die Ehrfurcht vor dem Beichtvater!«

»Habe ich einmal bei Ihnen gebeichtet?«

»Leider nein.«

»Nun, so nennen Sie sich also auch nicht meinen Beichtvater!«

»So bin ich doch wenigstens Ihr Seelsorger!«

»Sorgen Sie zunächst für Ihre Seele; dann wollen wir sehen, was ich mit der meinigen mache!«

»Bormann, Bormann, Ihnen ist nichts Gutes zu prophezeien!«

»Zwanzig Jahre Zuchthaus. Dazu brauche ich keinen Theologen.«

»Haben Sie sich wegen Ihrer Aussage besonnen?«

»Nein.«

»Bleiben Sie bei derselben?«

»Ja.«

»Wenn man Ihnen aber nicht glaubt?«

»So kann ich es nicht ändern. Aber, wollen Sie nicht so gut sein, mich allein zu lassen?«

»Warum?«

»Ich bin nicht gar zu sehr für Sie eingenommen!«

»Es ist meine Pflicht, die Gefangenen zu besuchen, um ihre -«

Er hielt schleunigst mitten in der Rede inne. Die lange, breite Gestalt des Riesen hatte sich aufgerichtet und hielt ihm die geballte Faust unter die Nase.

»Wollen Sie etwa Keile?« fragte Bormann.

»Nein, nein, Adieu!«

»Adieu! Nicht so bald wieder, sonst -«

Die Thür wurde verschlossen. Der Pfarrer begab sich zu dem Schließer, welcher nun selbst Gefangener war. Dieser saß, in trübes Sinnen versunken, auf seiner Pritsche. Als er den Eintretenden erblickte, erhob er sich, um zu grüßen. Seinem Gesichte aber war es anzusehen, daß ihm der Besuch nichts weniger als willkommen war.

»Nun, Arnold, heut wieder Verhör gehabt?« fragte der Pastor.

»Ja.«

»Haben Sie gestanden?«

»Wie wäre das möglich! Ich bin ja unschuldig!«

»Aber Sie geben doch zu, daß der Riese ohne Ihre Hilfe nicht heraus gekonnt hätte?«

»Die Sache ist mir selbst ein Räthsel. Ich kann nur sagen, daß ich nichts von Allem weiß.«

»Sie werden trotzdem verurtheilt werden.«


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»Ich werde mich zu vertheidigen wissen!«

»Was könnten Sie da anführen?«

»Dreierlei: Erstens, daß es mehrere Beamte giebt, welche Schlüssel haben. Zweitens, daß Bormann den Richtigen nicht nennen wird, sondern Denjenigen unter dem Personal, auf den er eine Picke hat.«

»Und drittens?«

»Drittens, das ist der geheime Hauptmann. Man weiß, daß der fast allmächtig ist. Es ist leicht möglich, daß der ihn herausgeholt hat.«

»Alle diese drei Punkte haben wenig Wahrscheinlichkeit für sich. Ich rathe Ihnen, die Wahrheit zu gestehen.«

»Und Ihnen, Herr Pastor, rathe ich, sich nicht in Sachen zu mengen, welche Sie nichts angehen. Ob ich geständig bin oder nicht, das ist Sache des Untersuchungsrichters, aber nicht die Ihrige! Adieu!«

Der abermals abgewiesene Geistliche begab sich nun nach einem anderen Corridor. Man pflegt die Gefangenen, welche unter einem und demselben Untersuchungsfalle stehen, möglichst zu trennen. Daher kam es, daß Robert Bertram in einer anderen Abtheilung des Gefängnisses untergebracht war.

Als der Pfarrer in den betreffenden Corridor trat, fand er, daß eine Zellenthür offenstand. Er ging näher. Vor der Thür stand, discret zurückgezogen, der Schließer. Der Pfarrer blickte hinein. Da stand der Assessor, welcher als Untersuchungsrichter fungirte, und der Bezirksarzt, welcher zugleich Gefängniß- und Gerichtsarzt war. Am Boden aber lag der Gefangene in einem Zustande, welcher mitleiderregend war.

Man hatte ihm, als man ihn inhaftirt hatte, einen Strohsack in die Zelle gelegt; dieser aber war jetzt ganz zerrissen, so daß der Gefangene auf dem blanken Stroh lag. Man erkannte auf den ersten Blick, daß er den Strohsack zerstört hatte. Aus welchem Grunde?

Auch die Beiden, welche sich soeben bei Robert in der Zelle befanden, waren soeben erst eingetreten. Sie erblickten den Geistlichen und begrüßten ihn. Dann wendete sich der Untersuchungsrichter an den Schließer.

»Hat er gesprochen?«

»Ja,« lautete die Antwort.

»Was?«

»Nur ganz dummes Zeug.«

»Haben Sie nichts verstanden?«

»Es waren viel Reime dabei.«

»Das ist sonderbar!«

»O, der Kerl will uns doch nur an der Nase herumführen, Herr Assessor! Er thut nur so, als ob er ganz von Sinnen sei; das kennt man! Das ist die letzte Zuflucht solcher Kerls, wenn sie keine andere Hilfe mehr wissen. Er declamirt in Einem fort.«

»Also verständige Antworten auf Ihre Fragen giebt er nicht?«

»Nein.«

»Und die Augen, waren sie stets so geschlossen wie jetzt?«

»Ja.«


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»Und der Gesichtsausdruck?«

»Er zieht sehr oft ganz gräuliche Grimassen. Man soll denken, daß er große Schmerzen leide.«

»Hm! Warum haben Sie ihm diesen zerrissenen Strohsack gegeben?«

»Zerrissen? Er war noch fast ganz neu. Aber er selbst hat ihn zerfetzt und so zugerichtet. Er tobte, ohne sich vom Boden zu erheben, in der Zelle herum und demolirte Alles. Darum haben wir es für nöthig gehalten, ihn, wie ja die Hausordnung besagt, an die Kette zu schließen.«

Der Gefangene war wirklich an Arm und Fuß mittels einer starken Kette an die Mauer gefesselt.*)

Der Assessor schien kein Unmensch zu sein. Er schüttelte leise mit dem Kopfe und wendete sich an den Gerichtsarzt:

»Halten Sie die Kette für nothwendig?«

»Unter Umständen, ja.«

»Sie kann aber auch schädlich sein!«

»Wenn er seinen Zustand nicht simulirt, sondern wirklich Schmerzen fühlt, ist sie sogar eine Grausamkeit.«

»Hoffentlich ist es nicht schwer, zwischen der Wahrheit und der beabsichtigten Täuschung zu unterscheiden?«

»Ich hoffe es. Versuchen wir es einmal!«

Er trat näher zu dem Gefangenen heran. Dieser lag, lang ausgestreckt und den Kopf in die rechte Hand stützend, halb auf dem Stroh und halb auf der harten Diele. Seine Augen waren geschlossen, und nicht die mindeste Bewegung zeigte an, daß Leben in ihm sei.

»Bertram!« rief der Arzt, sich zu ihm niederbeugend.

Er erhielt keine Antwort.

»Bertram!«

Der Gefragte blieb stumm wie vorher.

»Berühren Sie ihn einmal,« bat der Untersuchungsrichter.

Der Arzt legte ihm die Hand leise auf den Kopf, aber ohne alles Resultat. Er gab der Hand eine andere Lage und drückte kräftiger. Dabei berührte er die Stelle, welche von dem Todtschläger des Polizisten getroffen worden war, und sofort fuhr der Gefangene mit einem lauten Schmerzensschrei aus seiner liegenden Stellung in eine sitzende empor. Seine Augen öffneten sich und starrten mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke die vor ihm stehenden Männer an.

»Bertram!« wiederholte der Arzt.

»Judith!« flüsterte der Gefangene.

»Kommen Sie doch zu sich!«

»Sie haben uns gerettet!«

»Sammeln Sie sich! Dann werden Sie vielleicht auch jetzt gerettet!«

»O, das viele, blanke Geld.«

Der kranke Geist des Gefangenen beschäftigte sich mit den fünfzig Münzen,
__________
     *) Siehe die Abbildung auf dem Heftumschlage!


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welche er von Judith empfangen hatte. Die drei Männer aber gaben seinen Worten eine andere Bedeutung.

»Ah!« flüsterte der Assessor dem Arzte zu. »Geld! Er denkt jetzt an den Einbruch! Sprechen Sie weiter mit ihm!«

»War es denn bloß Geld?« fragte der Arzt.

»Auch eine goldene Kette.«

Der Untersuchungsrichter nickte sehr befriedigt. Er raunte den beiden Anderen so leise wie möglich zu:

»Hören Sie! Auch eine Kette! Er meint auf alle Fälle die kostbare Halskette, welche er in der Hand hatte, als er ergriffen wurde!«

»Und weiter nichts?« fragte der Arzt.

Da der Gefangene nicht antwortete, so ergriff er ihn bei der Schulter, schüttelte ihn leise hin und her und wiederholte:

»Weiter nichts als die Kette?«

»Und der Schein! Und das Essen! O, Judith, ich hatte Hunger!«

»Das verstehe ich nicht,« meinte der Arzt, zu dem Assessor gewendet.

»Sprechen Sie nur immer weiter mit ihm,« antwortete dieser.

»Wem gehörte der Schein? Wer gab das Essen?«

»Wer?« fragte Robert langsam und wie abwesend.

»Ja. Und wer ist diese Judith?«

»Judith? Die Fee des Meeres.«

Bei diesen letzten Worten schien ein Strahl von Selbstbewußtsein aus seinen Augen zu brechen. Er breitete die Arme aus, als ob er declamiren wolle und begann zu recitiren:

»Wo keiner Stimme Töne klangen,
     Am Grunde der krystallnen See,
Da liegt, vom Schlummer lind umfangen,
     Im Zauberschloß, des Meeres Fee.«

Er hielt inne, wie um nachzudenken. Der Arzt schüttelte den Kopf und öffnete bereits die Lippen zu einer Bemerkung; da fuhr Robert fort:

»Sie träumt von Liebe, träumt vom Leben,
     Das über ihrem Reiche rauscht,
Wo, von Triton und Elf umgeben,
     Sie oft verborgen zugelauscht.«

Wieder hielt er inne. Sein Auge war starr in die Ecke gerichtet.

»Ist das Simulation?« flüsterte der Assessor.

»Wenn das Simulation ist, so ist er ein Meister in der Verstellungskunst, Herr Untersuchungsrichter.«

»Forschen Sie weiter! Ihnen scheint er zu antworten.«

»Bertram, beantworten Sie mir -«

Der Arzt konnte den begonnenen Satz nicht vollenden, denn der Gefangene sprach weiter, und zwar in einem Tone, als ob er von einem schönen, wohlthätigen Traume befangen sei:

»Doch endlich hat auch sie getrunken
     Des Lebens und der Liebe Gluth,


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Und trägt in sich den Gottesfunken,
     Der im erwärmten Herzen ruht.«

Er streckte den Arm aus, als ob er die Gestalt vor sich habe, von der er sprach, und seufzte:

»O Nacht, Nacht, meine Nacht!«

Aber nicht Judith, die Jüdin, sondern eine ganz Andere war seine »Nacht« gewesen. Sein irrer Sinn sprang sogleich zu der Letzteren über. Sein Gesicht zeigte eine entsetzliche Angst, und er rief:

»Zurück, Bösewicht!«

Dann sank er wieder nieder in das Stroh, und seine Augen schlossen sich von Neuem. Der Assessor gab den Anderen einen Wink, zurück zu treten, und sagte dann zu dem Gerichtsarzte:

»Diese Worte geben mir zu denken!«

»Warum?«

»Weil er bei ihnen abermals in Ohnmacht fällt.«

»Er hat sie sehr häufig ausgesprochen,« wagte der Schließer zu bemerken, »sehr häufig!«

»Im drohenden Tone; so wie jetzt?« fragte der Arzt. »Oder hatte sein Ton den Klang eines plötzlichen Schreckes?«

Er war Psycholog und wußte, daß die jetzt erwartete Antwort von großer Bedeutung sein werde.

»Drohend,« antwortete der Schließer. »Es klang immer grad so, als ob er sich auf irgend Jemanden stürzen werde.«

Der Assessor hob die Hand bedeutungsvoll empor und sagte:

»Es sind ganz dieselben Worte, welche oben im Zimmer von Fräulein von Hellenbach gerufen wurden. Die beiden Polizisten, welche an der hinteren Thür Wache standen, haben sie deutlich gehört. Wollen Sie die Güte haben, zu versuchen, ob ihm noch irgend Etwas zu entlocken ist, Herr Doctor?«

Der Arzt trat wieder näher zu dem Gefangenen heran und fragte:

»Wer ist der Bösewicht, den Sie meinen?«

Aber der Gefragte antwortete nicht. Es war, als ob er gar nicht wisse, daß Menschen in der Nähe seien. Der Doctor wiederholte seine Frage, und als dies abermals keinen Erfolg hatte, legte er ihm die Hand abermals auf dieselbe Stelle des Kopfes. Da fuhr Bertram auf, ballte die Fäuste und brüllte:

»Zurück, oder ich ermorde Dich! Du sollst ihr nicht ein einziges Haar ihres Hauptes krümmen!«

Er blickte wild um sich. Seine Augen leuchteten, wie diejenigen eines Menschen, der sich in der größten Aufregung befindet.

»Wem soll kein Haar gekrümmt werden?« fragte der Arzt.

»Ihr, der Nacht, Nacht, Nacht!«

»Wer ist das?«

»Wer? Wißt Ihr das nicht?«

Er machte ein Gesicht, in welchem sich die größte Verwunderung aussprach, und fuhr dann fort:


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»In ihren dunklen Locken blühn
     Der Erde düftereiche Lieder;
Aus ungemess'nen Fernen glühn
     Des Kreuzes Funken auf sie nieder,
Und traumbewegte Wogen sprühn
     Der Sterne goldne Opfer nieder.«

Er hob das bleiche, aber erregte Gesicht nach oben, als ob er das funkensprühende Firmament des Südens erblickte, und fuhr dann fort:

»Und bricht der junge Tag heran,
     Die Tausendäugige zu finden,
Läßt sie das leuchtende Gespann
     Sich durch purpurne Thore winden,
Sein Angesicht zu schau'n und dann
     Im fernen Westen zu verschwinden.«

Jetzt sank er langsam und mit sich schließenden Augen wieder auf das Stroh zurück. Der Arzt fragte:

»Kennen Sie diese Verse, Herr Assessor?«

»Natürlich! Es ist 'Die Nacht des Südens' aus der Gedichtssammlung des berühmten Hadschi Omanah.«

»Er kann sie auswendig. Er verbindet mit dieser Nacht des Südens irgend welche Gedanken und Begriffe; wer aber weiß, welche?«

»Er ist verrückt!«

»Ich vermuthe, daß er geistig gestört ist. Vielleicht infolge eines plötzlichen Schreckes, vielleicht auch in Folge - ah, da fällt mir ein: Nicht wahr, sein Vater ist gestorben?«

»Ja, ganz plötzlich, vor Schreck.«

»Weiß er es?«

»Nein.«

»Man sollte ihn zu der Leiche führen!«

»Das ist allerdings ein frappanter Gedanke! Selbst wenn seine geistige Verwirrung nur simulirt sein sollte, läßt sich annehmen, daß der plötzliche, unerwartete Anblick der Leiche seines Vaters ihn so packen werde, daß er die Maske nicht fest zu halten vermag.«

»Das ist wahrscheinlich. Aber ich möchte behaupten, daß er sich nicht verstellt. Sein Zustand ist nicht simulirt. Grad deshalb erwarte ich, daß der Anblick der Leiche ihn zu sich bringen wird.«

»So wollen wir nicht säumen, Herr Bezirksarzt!«

»Ich habe sofort Zeit und stehe zur Verfügung. Der Fall ist ein über alle Maßen interessanter. Aber, müssen wir uns nicht vorher die Genehmigung erbitten?«

»Bei dem Herrn Gerichtsdirector, ja. Ich bin überzeugt, daß er sich sofort selbst anschließen wird. Wir brauchen zwei Droschken: Die eine ist für uns und die andere für den Inculpaten mit seiner Bewachung. Kommen Sie!«

Die Herren verließen die Zelle, welche der Schließer hinter ihnen wieder verschloß. Als sie die Gefängnißräume verlassen hatten und den Wartesaal


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des Gefängnißgebäudes betraten, erhob sich dort - Seidelmann von einem Stuhle. Er trat auf den Assessor zu, grüßte sehr höflich und salbungsvoll und sagte:

»Ich kam soeben nach Hause und fand einen Bestellzettel vor, welcher Ihre Unterschrift trägt, Herr Assessor.«

»Ja, ich wollte mit Ihnen sprechen. Sie waren in der Familie des Schneiders Bertram anwesend, als dieser starb?«

»Ja, ich war Zeuge seines plötzlichen Todes. Der Herr ist ein gerechter Richter aller Lebendigen und Todten.«

»Sie kennen die Familie näher?«

»Gewiß, denn ich bin Armenpfleger dieses Districtes und zugleich Privatbeistand in geistlichen Angelegenheiten.«

»Ich höre, daß Sie Vormund der Waisen sind?«

»Der Herr hat mich würdig befunden für dieses höchst verantwortungsvolle Amt.«

»Die kleineren Kinder befinden sich jetzt, wie man mir sagt, im Waisenhause. Nun giebt es aber eine größere Tochter. Wo ist diese?«

»Herr Assessor, an diesem Mädchen habe ich bereits erfahren, welche Last ich auf mich genommen habe. Ich erbat mir für sie eine Stellung bei der Frau Baronin von Helfenstein -«

»Ah, bei dieser Dame! Dort ist sie also?«

»Nein. Sie hat nicht gut gethan. Man hat sie in Folge dessen kaum einen Tag behalten können, dann wurde sie fortgejagt.«

»Wohin?«

»Ich brachte sie zu einer Verwandten von mir, einer frommen, Gott wohlgefälligen Seele. Sie hat ein Herz wie der Apostel Nathanael und wird das Mädchen zu retten suchen.«

»Davon spreche ich jetzt nicht. Aber ich muß die Marie Bertram sprechen. Ihr Bruder ist als Dieb und Einbrecher bei uns inhaf-«

»Das ist er auch! Ein Dieb und Einbrecher!« fiel der fromme Vorsteher der Gesellschaft der Seligkeit eifrig ein.

»Wirklich? Meinen Sie?«

»Ja, gewiß!«

»Wieso? Haben Sie Beweise?«

Seidelmann wurde ein wenig verlegen und antwortete:

»Beweise? Nein, Herr Assessor! Das heißt - hm!«

»Nun? Sprechen Sie!«

»Erstens ist der von Gott abgefallene Mensch zu Allem fähig. Und die Familie Bertram war abgefallen!«

»Und zweitens?«

»Zweitens? Hm! Oh!«

Er blickte auf den Boden nieder, wiegte die Achseln leise hin und her und sagte dann, auf Matthesius deutend:

»Herr Assessor, der Herr Pastor hier ist ein ausgezeichneter und pflichteifriger Hirte seiner Heerde. Er wird Ihnen sagen, daß es einem wahren


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Christen schwer fallen muß, der Ankläger einer Seele zu sein, nach welcher der Teufel die Hand ausstreckt.«

Der Untersuchungsrichter machte eine Bewegung der Ungeduld.

»Lassen wir jetzt diese theologischen Erörterungen!« sagte er. »Haben Sie vielmehr die Güte, mir zu sagen, was Sie mit Ihrem 'Zweitens' meinten!«

Der Fromme machte das unschuldigste Gesicht von der Welt und antwortete:

»Die Familie arbeitete nicht.«

»Ah! Ich dachte, der Sohn habe geschrieben?«

»Ja, aber nichts verdient. Daß er Copist sei, war nur der Deckmantel seines sonstigen Treibens!«

»Welchen Treibens?«

»Das ist Sache des Untersuchungsrichters. Ich aber weiß, daß Robert Bertram zuweilen ganz plötzlich über bedeutende Summen verfügte, nachdem er vorher nicht einen Pfennig gehabt hatte.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich bin Administrator der Wohnung, welche die Familie inne hatte. Das Haus gehört dem Herrn Baron von Helfenstein.«

»Sagen Sie mir einen concreten Fall!«

»Nun, beim letzten Zins bat mich die Familie himmelhoch um Nachsicht, und doch zahlte der Sohn, als ich darauf drang. Ich bemerkte, daß er eine ganze Tasche voll Geld hatte.«

»Hm! Das ist sehr wichtig. Sie werden mir erlauben, Ihre Aussagen zu Protocoll zu nehmen. Aber jetzt nicht. Ich bin beschäftigt. Ich werde Sie bestellen. Wie ist die Adresse dieser Marie Bertram? Ich muß sie in einigen Stunden bei mir sehen.«

»Sie wohnt, wie ich bereits sagte, bei einer Verwandten von mir. Am Einfachsten ist es, ich bringe sie Ihnen her, Herr Assessor.«

»Gut! Ich werde jetzt vielleicht zwei Stunden beschäftigt sein. Dann abererwarte ich sie. Adieu!«

Der Fromme wurde entlassen. Er war sehr froh die Adresse seiner 'gottesfürchtigen Freundin' verheimlicht zu haben. Der Pastor Matthesius, welcher ja nicht bei der Leiche zugegen zu sein brauchte, entfernte sich ebenfalls mit ihm.

Der Assessor begab sich zum Gerichtsdirector und kehrte bald zum Arzte mit der Nachricht zurück, daß das Gesuch bestätigt worden und der Director selbst bereit sei, sich anzuschließen.

Nach der Zeit von einer halben Stunde fuhren zwei Droschkenschlitten nach dem Friedhofe. Dort stiegen der Director, der Assessor, der Gerichtsarzt und zwei Sicherheitsbeamte mit dem Gefangenen aus. Dieser Letztere wurde nach der Halle geführt, in welcher die Leiche seines Vaters lag, nur mit einem Tuche zu gedeckt.

Er hatte ohne Sträuben seine Zelle verlassen. Er hatte im Schlitten gesessen wie Einer, der abwesend ist, und starrte auch jetzt grad vor sich nieder.


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Sein Körper bebte vor Frost und Schwäche; er aber schien das nicht zu bemerken und zu fühlen.

Die Herren traten mit ernster Feierlichkeit an die Leiche. Der Assessor wendete sich an den Gefangenen:

»Bertram, wissen Sie, wo Sie sich befinden?«

Der Gefragte antwortete nicht, ja, er hob nicht einmal den Blick zu dem Beamten empor.

»Bertram,« fuhr dieser fort, »hören Sie denn nicht, daß mit Ihnen gesprochen wird?«

Es folgte dasselbe Schweigen. Sie Alle hielten die Augen auf den unglücklichen jungen Mann gerichtet, der in Ketten vor ihnen stand. Er bemerkte es nicht. Der Assessor fuhr fort:

»Heucheln Sie keine Krankheit, welche Sie nicht besitzen! Sie stehen vor einem Todten. Hier! Erkennen Sie ihn?«

Er schlug das Tuch von der Leiche fort. Robert blickte nicht auf und bewegte sich auch nicht.

»Näher!« gebot der Gerichtsdirector.

Als der Gefangene auch diesen Befehl überhörte, trat einer der zwei Begleiter herbei, um ihm einen Stoß zu geben. Dabei berührte er mit der einen Hand den Rücken und mit der anderen den Kopf des Gefangenen. Sofort stieß der Letztere einen Schmerzensschrei aus, fuhr sich mit der Hand nach dem Kopfe und erhob erschrocken die Augen. Sein Blick fiel auf die Leiche.

Alle waren gespannt, was jetzt geschehen werde. Aber sie hatten sich getäuscht. Er betrachtete den Todten mit irrem Blicke und gab keinen Laut von sich, welcher hätte verrathen können, daß er den Vater erkenne.

»Wer ist dieser Mann?« fragte der Assessor.

Auch jetzt erhielt er keine Antwort. Darum warf er einen fragenden Blick auf den Gerichtsdirector. Dieser sagte:

»Fort mit ihm! Kehren wir zurück!«

Aber als er dann mit den beiden Anderen wieder in der Droschke saß, meinte er:

»Was sagen Sie, Doctor?«

»Er ist wirklich geistig gestört.«

»Könnten Sie das beschwören?«

»Beschwören? Hm! Das möchte ich nun gerade nicht wagen, wenigstens jetzt noch nicht. Freilich habe ich viele Geisteskranke behandelt, und es will mir ganz unmöglich scheinen, daß ein junger, unerfahrener Mensch uns zu täuschen vermöchte!«

»O, lieber Doktor, wir haben noch jüngere Verbrecher kennen gelernt, welche raffinirter waren als ein Alter!«

»Aber er hätte doch nicht in dieser Weise an sich halten können! Es ist selbst für den verstocktesten Bösewicht nichts Kleines, den Vater so plötzlich als Leiche vor sich zu sehen.«

»Ich gebe Ihnen Recht, fühle mich aber doch noch nicht beruhigt. Ich


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werde noch ein Zweites versuchen, dann erst kann ich mir ein richtiges Urtheil bilden.«

»Darf man fragen?«

»Gewiß! Morgen wird der Todte beerdigt. Die Kinder müssen dabei sein, der Sohn auch!«

»Ah!«

»Ja, der Sohn auch. Läßt auch das ihn so ganz und gar gleichgiltig, so werde ich überzeugt sein, daß er nicht simulirt.«

»Für einen wirklichen Simulanten wird es morgen leichter sein, unbeweglich zu bleiben, als heute, wo er die Leiche so plötzlich erblickte!«

»Aber die Feier, die Feier! Der Fall ist ein ganz außerordentlicher. Tausende von Menschen werden sich auf dem Friedhofe einfinden. Der Eindruck muß ihn überwältigen, falls er sich verstellt. Oder haben Sie als Arzt Bedenken?«

»Nicht die mindesten. Ich werde natürlich dabei sein. Hier aber bitte ich, mich aussteigen zu lassen. Ich habe einen Patienten in der Nähe und kann mir also den Weg ersparen.«

Er verabschiedete sich von den beiden anderen Herren, welche nach dem Gerichtsgebäude zurückkehrten. Dort wurde Robert wieder nach seiner Zelle gebracht und angekettet. Er ließ sich das ohne Sträuben gefallen und sank dann auf das Strohlager nieder wie Einer, welcher keinen einzigen Gedanken hat.

Der Assessor fand Seidelmann mit Marie Bertram bereits vor. Das Mädchen hatte sich in so kurzer Zeit sehr verändert. Das Auge des Beamten streifte sie mit forschendem Blicke; dann winkte er Seidelmann, bei ihm einzutreten.

Der fromme Vorsteher befand sich über eine Viertelstunde lang in dem Verhörzimmer. Als er herauskam, hatte sein Gesicht den demüthig selbstbewußten Ausdruck eines Gläubigen, dem es gelungen ist, den Antichrist zu besiegen. Er griff nach seinem Hute und entfernte sich, ohne einen Blick auf Marie zu werfen.

»Nun, Herr Seidelmann?« fragte der Wachtmeister, indem er auf das Mädchen deutete.

Der Gefragte zuckte die Achsel und antwortete stolz:

»Geht mich nichts an!«

Damit war er zur Thür hinaus. Bereits eine Minute später wurde Marie zu dem Assessor beschieden. Er warf abermals einen forschenden, doch nicht unfreundlichen Blick auf sie und fragte:

»Sie heißen?«

Sie stand zitternd vor ihm und hob die Augen zu ihm auf, wie eine Taube, welche den Habicht vor sich hat. Doch antwortete sie nicht.

»Wie heißen Sie?« wiederholte er.

"Wie heissen Sie?"

»Marie Bertram,« antwortete sie jetzt so leise, daß er es kaum zu verstehen vermochte.

»Wie alt?«


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Er sprach die gewöhnlichen Recognitionsfragen aus, mußte aber jede einmal oder auch mehrere Male wiederholen, ohne daß er hätte behaupten können, daß sie böswillig schweige.

»Haben Sie Vermögen?« fragte er dann.

»Nein,« antwortete sie stockend, und dabei blickte sie ihn so verwundert an, als ob er die größte Ungereimtheit ausgesprochen habe.

Er setzte das Verhör fort. Sie beantwortete seine Fragen sehr langsam und zögernd. Das machte ihn doch ungeduldig. Er sagte:

»Antworten Sie schneller! Warum überlegen Sie sich denn jedes Wort, bevor Sie es aussprechen, so lange?«

»Ich muß nachdenken,« entschuldigte sie sich.

»Warum erst nachdenken? Haben Sie Angst, sich zu verrathen?«

Wieder blickte sie ihn verwundert an und antwortete dann:

»Ich habe nichts zu verrathen, aber mein Kopf.«

»Was ist's mit Ihrem Kopfe?«

»Er ist so schwer! Und doch fühle ich keine Gedanken darin.«

Er kam nach und nach zu der Ueberzeugung, daß er auch mit ihr auf das Vorsichtigste verfahren müsse, da sie geistig höchst angegriffen sei. Er erfuhr alle ihre Verhältnisse und konnte doch keine Schuld auf sie bringen, wenigstens in Beziehung auf ihren Bruder nicht. Vieles hatte sie geradezu vergessen, und zwar nach so kurzer Zeit! Sie wußte, daß ihr Bruder sich das Geld geborgt hatte, aber bei wem? das vermochte sie bereits nicht mehr zu sagen.

Während des Verhörs wurde auch die Familie Fels erwähnt. Der Assessor hatte die Untersuchung gegen den jungen, unglücklichen Mechanikus nicht zu führen, aber er glaubte irgend einen Fingerzeig für den betreffenden Collegen zu erhalten; darum fragte er:

»Haben Sie die Fels, Mutter und Sohn, gekannt?«

»Ja.«

»Verkehrten Sie mit Ihnen?«

»Ja. Ich war täglich bei ihnen.«

Und bei dem Gedanken an Wilhelm wich die geistige Erstarrung für kurze Zeit von ihr, und darum fügte sie freiwillig hinzu:

»Er hat es nicht bös gemeint.«

»Nicht bös? Wer?«

»Der Wilhelm.«

»Und was?«

»Das mit der Maschiene und dem Arbeitsmaterial.«

Sie hatte gar keine Ahnung, daß sie im Begriffe stand, sich selbst als Mitwisserin seines Geheimnisses zu denunciren.

»Ah, Sie haben davon gewußt?« fragte der Assessor.

»Er hat es mir gesagt?«

Und entschuldigend fuhr sie fort:

»Er hätte seinem Prinzipal ganz sicher Alles bezahlt!«

Es that dem Beamten ganz sicherlich leid, daß sie so unvorsichtig war,


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sich mit in diese Angelegenheit zu verwickeln, aber er war nun gezwungen, weiter zu forschen. So erfuhr er, daß sie Wilhelms Geliebte sei und seit langer Zeit von der Maschine gewußt habe. Als er zu Ende war, sagte er, nicht ohne einen Blick des Bedauerns und in seinem mildesten Tone:

»Ich sehe mich leider gezwungen, Sie hier zu behalten!«

Sie blickte ihn verständnißlos an.

»Wissen Sie, was ich meine?« fragte er.

»Nein.«

»Ihr Bruder ist bei einem Einbruche ergriffen worden, sogar mit einer lebensgefährlichen Waffe, einem Messer in der Hand. Ist er schuldig, so steht zu erwarten, daß Sie Mitwisserin sind. Ihr Geliebter hat Arbeitsmaterial unterschlagen. Sie haben davon gewußt, Sie sind seine Mitschuldige. Ich kann Sie nicht eher fortlassen, als bis diese beiden Fälle zum Rechtsspruche gekommen sind.«

»Wo soll ich da bleiben?«

»Man wird Sie in eine Gefängnißzelle bringen.«

Jetzt kam ihr eine Ahnung Dessen, was ihr bevorstand. Sie fragte, am ganzen Leibe bebend:

»Gefangen soll ich sein, gefangen?«

»Leider!«

Da schlug sie die Hände vor das Gesicht und schrie laut auf:

»Gefangen! Herr, da werde ich sterben!«

Sie schluchzte nicht; sie weinte nicht; sie nahm die Hände nicht vom Gesicht fort. Er wartete eine Weile; dann trat er zu ihr und sagte:

»Fassen Sie sich! Es ist nicht so arg, wie Sie es sich vorstellen. Kommen Sie! Ich selbst werde Sie dem Wachtmeister übergeben und ihm befehlen, gegen Sie alle mögliche Rücksicht walten zu lassen!«

Er zog ihr die Hände weg und erblickte ein Gesicht, so todtesbleich, so starr und ausdruckslos wie dasjenige einer Leiche.

»Fräulein Bertram!«

Sie antwortete nicht, und sie bewegte sich nicht.

»Kommen Sie! Stehen Sie auf!«

Sie war auf einen Stuhl niedergesunken. Er wollte sie aufrichten, aber sie war fast so schwer wie Blei.

»Fassen Sie sich!« bat er weiter. »Es wird Ihnen voraussichtlich nichts geschehen. Nur jetzt müssen Sie sich in das Unvermeidliche fügen. Doch wird man es Ihnen auf alle Weise zu erleichtern suchen.«

Er zog, aber er brachte sie nicht empor. Er klingelte, und der Wachtmeister erschien. Es war der brave Christian Uhlig, der Sohn des einstigen Helfensteiner Todtengräbers.

»Das Mädchen hier bekommt eine gute Zelle,« gebot der Assessor. »Es ist die Schwester des gefangenen Robert Bertram. Schaffen Sie sie fort! Sie scheint sehr erschrocken zu sein.«

Der Wachtmeister versuchte sein Heil.


Ende der zwölften Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der verlorne Sohn

Karl May – Forschung und Werk