Hermann Wohlgschaft |
»Als
Fledermaus ist sie erschienen …« |
Noch heute findet die Vampirliteratur einen
reißenden Absatz. Und seit langem schon ist der Vampirglaube ein
verbreitetes literarisches Sujet. Wir finden dieses Motiv bei vielen
Dichtern und Schriftstellern, darunter auch – ins Humoristische und
Satirische gewendet – bei Karl May.
Im Abendland und speziell im deutschen Sprachraum zur Zeit Karl Mays
wusste jeder gebildete und vernünftige Mensch, dass Vampire ins Reich der
Phantasie gehören. Denn seit dem 18. Jahrhundert, seit dem Zeitalter der
Aufklärung, gab es in Deutschland eine systematische Vampirforschung, zum
Beispiel das Tractat von dem Kauen und Schmatzen der Todten in Gräbern
(1734). Verfasst wurde diese kritische Untersuchung von Michael Ranft,
einem evangelischen Theologen, der ganz im Geiste der Aufklärung dachte.[1]
Dem lange Zeit in vielen Kulturen verbreiteten – erst von Forschern wie Michael Ranft als Aberglaube durchschauten – Vampirismus zufolge, bleiben die Toten, unselig gestorben, aktiv präsent. Den Vampiren wird überdies ein ausschweifender Sexualtrieb zugesprochen, in makabrer Verbindung mit der Mordlust. Dabei können der Biss oder der Kuss des Vampirs sehr leicht als erotische Symbole verstanden werden.
Zugleich berührt der Vampir-Mythos, wenn auch
dunkel-pervers, eine religiöse Dimension: das Geheimnis von Sterben und
Wiedergeburt. Das Opfer des Vampirs verliert ja infolge des Bisses sein
sterbliches Leben und steht als ›Untoter‹ wieder auf. Vermutlich übt
gerade diese Synthese, die Zusammenschau von Lieben und Sterben, von Tod
und ›ewigem Leben‹, von Grausamkeit und sexueller Befriedigung, eine
faszinierende Wirkung auf viele Menschen aus.
1 Spuren des Vampirismus in den Schluchten des Balkan
Für Karl May, wie für viele andere Fabulierkünstler, war der Vampirismus
ein Phänomen des Aberglaubens, das er augenzwinkernd beschrieb. Dabei
diente ihm der Vampirglaube als literarisches Mittel, um den christlichen
Glauben von volkstümlichen Formen des Aberglaubens abzugrenzen.
Wir dürfen nicht übersehen: Der Glaube an ein Fortleben der menschlichen Person nach dem Tode und die feste Überzeugung, es könne eine reale, tiefe Verbindung der Lebenden mit den Verstorbenen geben, spiegelt sich zunehmend in Mays Alterswerk, aber auch schon sehr deutlich in früheren Romanen. Dabei wird dieser Glaube – schon im Frühwerk – von diversen Formen des Aberglaubens klar unterschieden.[2]
Ein Dialog Kara Ben Nemsis mit einem bulgarischen Christen – im Orientroman ›In den Schluchten des Balkan‹ (1892; ursprünglich, 1885, in der ›Hausschatz‹-Erzählung ›Der letzte Ritt‹) – unterstreicht die Unterscheidung von biblischer Frohbotschaft und törichtem Aberglauben besonders eindringlich:
»Kennst du«, fragt der bulgarische Ziegelstreicher
den Effendi, »die heilige Schrift und ihre Lehren?«
»Ich habe gesucht und geforscht in ihr, denn es
ist das ewige Leben darin […] Ich habe sehr oft wochenlang über ein
einziges Wort der Bibel nachgedacht und dabei erkannt, daß ich vermessen
handelte. Dann las ich mit dem Herzen und fand das Richtige gleich.«
»Mit dem Herzen? Wer da auch lesen könnte! Hast
du gefunden, was die Bibel von dem Tode und von dem ewigen Leben sagt?«
»Ja.«
»Glaubst du an ein Leben nach dem Tode?«
»Hätte ich diesen Glauben nicht, so wäre es besser, ich wäre nicht
geschaffen. Der Glaube an die ewige Seligkeit ist bereits der Anfang der
Seligkeit.«
»So lebt der Geist nach dem Tode fort?«
»Ganz gewiß.«
»Und es gibt ein Fegefeuer?«
»Ja.«
»Wir sagen, daß es keins gebe. Gibt es
Gespenster?«
»Nein.«
»O, wer das glauben könnte! Es gibt Seelen, die
keine Ruhe finden und als Gespenster wiederkommen. Ich weiß es. Darum bin
ich so unglücklich, und darum faste ich mit meinem Weibe. Wir denken, daß
wir sie dadurch vielleicht erlösen können.«
»Sie? Wen meinst du?«
»Die, an deren Grab du warst. Meine Tochter.«
»Willst du etwa sagen, daß sie als Gespenst
umgehe?«
»Ja.«
»Unglücklicher! Wer ist so boshaft gewesen, einem
Vater glauben zu machen, daß seine Tochter als Gespenst spuke?«
»Ich weiß es genau!«[3]
Wie sich herausstellt, hält der Ziegelstreicher
seine verstorbene Tochter für einen »Vampyr«, für ein Blut saugendes, Tod
bringendes Monster, das die Angehörigen in Angst und Schrecken versetzt!
Der Glaube an die Auferstehung der Toten und an die Gemeinschaft der
Lebenden mit den Verstorbenen pervertiert – im Falle des Ziegelstreichers
– zum abstrusen Zerrbild, zum lebensfeindlichen »Aberglauben«.[4]
2 »Nun ist sie ein Vampyr und holt ihn zu sich …«
Der literaturpädagogische Wert des Mayschen Erzählwerks besteht, unter
anderem,[5] in der klaren Zurückweisung von
pseudoreligiösen und abergläubischen Praktiken. Das literarische Ich des
Autors betont seine philanthropische und – was manchen Zeitgenossen
missfiel und manche heutige Leser irritiert – seine christliche
Einstellung. Im Namen einer lebensfreundlichen Religion, eines
authentischen, in der biblischen Offenbarung begründeten Christentums,
aber ebenso im Namen der Humanität wendet sich May bzw. seine Ich-Figur –
erzählerisch sehr geschickt – gegen unterschiedliche Weisen des
Aberglaubens, speziell auch gegen obskure Vorstellungen, was das Jenseits
und das Leben der Toten betrifft.
Nicht nur wegen des Todes, viel mehr noch wegen des postmortalen Treibens seiner Tochter ist der Ziegelstreicher – im Orientroman – entsetzt und verängstigt. Seinem Gesprächspartner Kara Ben Nemsi flüstert er ins Ohr:
»Als Fledermaus ist sie erschienen […] Man soll
nicht davon reden, wenigstens nicht laut. Ich gräme mich zu Tode. Da ich
hörte, du seist ein so großer Gelehrter, dachte ich, du könntest mir ein
Mittel sagen, ihr die Ruhe zu geben.«
»Kein Gelehrter kennt ein Mittel, wie du es
meinst. Aber glaube nur fest, daß es keine Gespenster gibt, so bist du auf
einmal befreit von deinem Kummer!«
»Das kann ich nicht; das kann ich nicht. Ich höre
sie ja! Und stets grad um ihre Todesstunde.«
»Wann ist das?«
»Zwei Stunden vor Mitternacht. Dann kommt sie
durch die Luft gesaust und klopft an unsern Laden.«
»Als Fledermaus? Da klopft sie?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe sie nur gehört,
aber nie gesehen. Doch Andere haben sie als Fledermaus gesehen, und nun
liegt ihr Verlobter todkrank und muß sterben.«
Da stieg mir eine Ahnung auf. Ich fragte:
»Meinst du etwa, daß sie ein Vampyr sei?«
»Ja, das ist sie!«
»Mein Gott! Das ist ja noch schrecklicher, als
ich dachte!«
»Nicht wahr? Ich sterbe noch vor Kummer!«
»Ja, stirb vor Kummer! Aber vor Kummer über deine
Dummheit! Verstanden?«[6]
Der Leser weiß also sofort: Es gibt keine Vampire! Es muss sich um ein Missverständnis des Ziegelstreichers, womöglich um einen raffinierten Schwindel böswilliger Personen, jedenfalls um eine Täuschung handeln. Wie es zu derunsinnigen Annahme des Ziegelstreichers kam, verrät der Autor – um die Spannung zu erhöhen – zwar noch nicht. Eine Information aber gibt der Erzähler gleich zu Beginn der ebenso lehrreichen wie schaurig-amüsanten Story:
»Der Aberglaube ist in jenen Provinzen so tief eingedrungen, daß man starke Mittel braucht, wenn man gegen ihn kämpfen will.«[7]
Die Unterredung des Ziegelstreichers – eines orthodoxen, ostkirchlichen Christen – mit Kara Ben Nemsi wird zunehmend pikanter:
»Herr, ich hatte Trost von dir erwartet,« sagte er,
»nicht aber solchen Spott!«
»Ich spotte deiner nicht, sondern ich bin
entrüstet über deinen schlimmen Aberglauben. Geh zu deinem Popen und frage
ihn. Er wird dir sagen, welch eine Sünde es ist, zu glauben, daß deine
Tochter ein Vampyr sei.«
»O, ich war ja bei ihm!«
»Nun, was sagte er denn?«
»Dasselbe, was er zu Wlastan gesagt hat, der auch
bei ihm gewesen ist.«
»Wer ist denn dieser Wlastan?«
»Mein bester Freund früher, jetzt aber mein
ärgster Feind. Sein Sohn war der Verlobte meiner Tochter. Jetzt steht sie
aus ihrem Grabe auf und saugt ihm das Blut aus dem Leibe, so daß er
langsam hinsiecht und sterben muß.«
»Hm. Also ist er bei dem Popen gewesen! Was hat
dieser zu ihm gesagt?«
»Er hat zugegeben, daß meine Tochter ein Vampyr
sei.«
»Unmöglich! Ist sie denn ohne Beichte und
Absolution gestorben? Man sagt, daß dies bei einem Vampyr immer der Fall
sei.«
»Leider war es so. Der Pope wohnt weit von hier
und konnte nicht kommen […]«[8]
Ein doppelter Seitenhieb Karl Mays gegen einen dummen, verantwortungslosen, theologisch ungebildeten Klerus in Osteuropa (und anderswo): Der Priester glaubt selbst an Vampire und meint überdies, dass Leute, die »ohne Beichte und Absolution« sterben, in jedem Falle dem (zeitweiligen oder endgültigen) Verderben geweiht seien!
Doch hören wir weiter, was der Ziegelstreicher dem ungläubigen Kara Ben Nemsi zu sagen hat:
»[…] Meine Tochter […] sagte im Phantasieren nur
immer, daß der Sohn Wlastans, ihr Bräutigam, sterben müsse. Dann brachen
die Pocken aus, und sie starb, aber noch vor ihrem Tode sagte sie, daß er
sterben müsse. Nun ist sie ein Vampyr und holt ihn zu sich, wenn man nicht
das Mittel des Popen in Anwendung bringt.«
»Welches Mittel ist es?«
»Man muß ihr Grab öffnen und ihr einen spitzen,
geweihten Pfahl, welcher mit dem Fett eines acht Tage vor Weihnacht
geschlachteten Schweines bestrichen ist, in das Herz stoßen!«
»Schrecklich, schrecklich! Auch daran glaubst du,
daß das Mittel hilft?«
»Ja. Aber ich gebe die Erlaubnis nicht dazu. Der
Pope mag kommen und bei dem Kranken wachen; dann kann ihr Gespenst nicht
zu ihm. Geschieht dies zwölf Nächte lang, so kommt sie nicht wieder und
ist erlöst. Wird sie aber im Grabe gespießt, so fällt sie dem Teufel
anheim. Es soll entsetzlich sein, wie so ein Vampyr schreit und gute Worte
gibt, wenn er gespießt werden soll. Das geschieht stets um Mitternacht.
Der Leib des Vampyrs verwest nämlich nicht. Er liegt im Grabe so warm und
rot, als ob er am Leben sei. Weil ich das Grab meiner Tochter nicht öffnen
lassen will, ist Wlastan mein Todfeind geworden.«[9]
Illustration von Peter Schnorr (1862–1912) aus
› In den Schluchten des Balkan‹, Freiburg 1908. – Archiv:
Karl-May-Stiftung.
Natürlich gelingt es Kara Ben Nemsi problemlos, die Vampir-Geschichte als
Aberglauben zu entlarven und die dubiosen Vorgänge rational zu erklären:
Wlastans Knecht Andràs war von der Tochter des Ziegelstreichers abgewiesen
worden. Um sich zu rächen, spielte er den Vampir. Zuvor hatte er Wlastans
Sohn – dem Verlobten des armen Mädchens – Rattengift verabreicht. Das
Mädchen hatte dieses Verbrechen, kurz vor ihrem Tode, noch mitbekommen,
war aber nicht mehr in der Lage, den wahren Grund der Todesgefahr für
Wlastans Sohn zu benennen. Folglich meinten Wlastan und der
Ziegelstreicher, die Umtriebe der Tochter als Vampir müssten zum
qualvollen Tode des Bräutigams führen.
3 Der Vampirismus
Der Vampirglaube stammt, mit einiger Wahrscheinlichkeit, aus der
osteuropäischen Volksmythologie. Aus dem Karpatenraum hat sich diese
Horror-Vorstellung vor allem nach Rumänien und Bulgarien, nach Albanien,
Serbien und Griechenland verbreitet. Aber nicht nur auf dem Balkan, auch
in Deutschland kannte man den Mythos der ›Wiedergänger‹. In die
Massenhysterie zur Zeit der Hexenverfolgungen floss er mit ein.[10] Und auch außerhalb Europas ist der Glaube an
Vampire oder vergleichbare – ähnlich dämonische – Ungeheuer anzutreffen.
Fast weltweit gibt es derartige Mythen, zum Beispiel in Ghana und Togo,
auf den Philippinen oder in China.[11]
Seit Jahrhunderten gehört – in zahlreichen Variationen – der Glaube an ›Wiedergänger‹ (›Untote‹) und ›Nachzehrer‹ (Tote, die auferstehen, um von den Lebenden zu zehren) in besonderem Maße zur südosteuropäischen, vorwiegend christlich-orthodoxen Volkskultur.[12] Der Verfasser des Orientromans In den Schluchten des Balkan kannte sich in solchen Dingen gut aus. Den Erzähler lässt er erklären: »Ich hatte von diesem Vampyr-Aberglauben viel gehört und viel gelesen.«[13]
Mays Darstellung beruht auf ethnografisch – und religionskundlich – zutreffenden Informationen. So zählte in Südosteuropa vor allem das Pfählen, das Schlagen eines Holzpflocks mitten durchs Herz des Leichnams, zu den gängigen Möglichkeiten, einen Vampir zu vernichten. Mildere, passive, Schutzmaßnahmen waren das Emporheben des Kruzifixes und das Besprengen mit Weihwasser, das den Vampiren, wie man glaubte, besonders schade.
Es gibt recht unterschiedliche Überlieferungen. In manchen Legenden können sich Vampire in Fledermäuse verwandeln: ein Motiv, das ja auch May für seine Vampir-Episode in den ›Schluchten des Balkan‹ verwendete. Auch später noch, im Schlussband des ›Silbernen Löwen‹ (1903), wird die »Sauggier dieser Flügelhäuter«,[14] der Fledermäuse, zum »Vampyr« in Beziehung gebracht.
Der Vampir-Mythos hat grundsätzlich eine Affinität zum Blutsaugen, das in der Literatur meist wörtlich gemeint, aber auch im symbolischen Sinne zu verstehen ist: als Gewinn von übernatürlichen Kräften durch das Absaugen fremder Energien. In dieser übertragenen Bedeutung wird beispielsweise im ›Silbernen Löwen IV‹ von Vampiren »geistiger Natur«[15] berichtet. Und exzessiv in Mays autobiografischer – ziemlich bösartig geratenen – ›Pollmer-Studie‹ (1907) erscheint die erste Ehefrau des Dichters als »unaufhörlich saugende(r) Vampyr«.[16]
Die Geschichte des Vampirismus geht wohl zurück auf
die nichtchristliche Antike. Nach dem Talmud, dem nachbiblischen – in
mehrhundertjähriger schriftlicher und mündlicher Tradition entstandenen,
um 500 n. Chr. abgeschlossenen – Hauptwerk des Judentums, war die erste
Frau Adams nicht Eva, sondern eine Dame namens Lilith. Nach ihrer
Vertreibung aus dem Paradiese (sie wollte sich Adam nicht unterordnen)
sucht Lilith als ›Nachteule‹, als erste ›Untote‹ der Weltgeschichte, die
junge Menschengemeinde heim und erwürgt kleine Kinder, um sie zu
verzehren.
›Lilith‹ (1889), Gemälde von John Maler Collier
(1850 – 1934).
Auch der Lilith-Mythos (der dem babylonischen Volksglauben entstammt)[17] war Karl May selbstverständlich bekannt. Im
zweibändigen Werk Die Bestie im Weibe (1903) von Carl Felix von
Schlichtegroll strich May einen Passus an, in welchem es heißt: »Lachend
wandte sie [Lilith] ihm [Adam] den Rücken, um fortan Sammael, dem Obersten
der Teufel, zu gehören und durch diesen die Unsterblichkeit der Hölle zu
erlangen.«[18]
Was die Lilith-Sage mit dem Vampirismus gemeinsam hat, ist nicht zuletzt die erotisch-sexuelle Komponente. Jüdische Interpreten – und zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch Carl Felix von Schlichtegroll und wahrscheinlich auch Karl May – sahen in der ›untoten‹ Lilith ein lüsternes weibliches Gespenst.[19]
Wie schon gesagt: Wahrscheinlich übt gerade diese
Zusammenschau, die eigentümliche Verbindung von ›sex and crime‹,[20] eine nachhaltige Wirkung auf viele Menschen – und
viele Literaten – aus. Menschliche Grundbedürfnisse wie Geben und Nehmen,
Lieben und Geliebtwerden tragen zu dieser Wirkung bei: Der Vampir nimmt
seinem Opfer das Blut und schenkt ihm dafür, in vielen Adaptionen des
Stoffes, eine gewisse masochistische Lust.
4 Die Nachtseite des Lebens
Vor allem in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts wurde das
Vampirmotiv sehr oft verwendet. In die Vampir-Episode des Mayschen
Orientzyklus freilich kann eine sexuelle Nebenbedeutung, wenn überhaupt,
nur mit Mühe hineingelesen werden.
Im Frühsommer 1885, fast zeitgleich mit dem Romanteil ›Der letzte Ritt‹ (erstmals publiziert im katholischen Familienblatt ›Der deutsche Hausschatz‹), erschien jedoch – im Kolportageverlag H. G. Münchmeyer in Dresden – Mays Romanfragment ›Ulane und Zouave‹.[21] In dieser unabgeschlossenen, in mehrfacher Hinsicht rätselhaften Textpartie – die stofflich zu Mays Kolportagewerk ›Der verlorne Sohn‹ gehört – ist von einer walachischen Jüdin, Elma von Flakehpa-Ociului, die Rede. Eine andere Jüdin, Sulamith Silberglanz, weiß über Elma, die sirenenhafte, in ihrer blendenden Schönheit höchst ambivalente junge Frau zu berichten:
»Sie denkt, daß sie sei das schönste Mädchen der Welt; aber sie ist eine Hexe. Sie hat den bösen Blick. Haben wir nicht auch gewohnt in der Walachei? Ist uns nicht auch bekannt die Sprache des Landes dort? Warum hat die Familie geheißen Flakehpa-Ociului, was auf Deutsch bedeutet die Augenflamme? Alle Weiber dieser Familie haben gehabt den bösen Blick; sie sind gewesen Vampyre und haben getrunken das Blut aus den Adern der Lebendigen. Wenn sie gestorben waren, diese Weiber, dann hat man ihnen noch stoßen müssen einen spitzen Pfahl durch den Leib, und sie haben dann vor Schmerz geheult, obgleich sie Leichen gewesen sind.«[22]
Natürlich ist Elma von Flakehpa-Ociului kein Vampir im Sinne des wörtlich verstandenen Aberglaubens. Nein, mit ihrer »üppig volle(n) Gestalt« und ihren »Lippen, welche zum Küssen förmlich drängten«,[23] ist sie eine sehr irdische, gerade auch sexuell sehr aktive Frau; sie ist (wie man vermuten darf) ein »Vampyr« im übertragenen Sinne: eine Femme fatale, eine egomanische, ›männermordende‹ Schönheit. »Einen Mann«, so ihre Devise, »liebt man nicht; aber gerade deshalb heirathet man ihn!«[24]
Dem ursprünglichen Mythos, dem eigentlichen Vampirglauben schon wesentlich näher stehend wirkt die populäre – und mehrmals verfilmte – Vampir-Geschichte ›Carmilla‹ (1872) des irischen Schriftstellers Joseph Sheridan Le Fanu (1814–1873). Die Titelfigur kann als Prototyp einer langen Reihe von weiblichen Vampiren betrachtet werden. Der von ihr begehrten Ich-Erzählerin Laura flüstert die lesbische Carmilla zu: »du wirst in mein Leben hineinsterben – süß sterben.«[25]
Gewiss stellen diese Worte des Vampirs »eine totale Perversion der Liebe zu einem menschlichen Du dar und sollen nur die Brutalität verdecken, mit der der Vampir nach dem Blut der unglücklichen Heldin lechzt«.[26]
Geistesgeschichtlich interessant aber ist der Glaube an ein dunkles Zwischenreich zwischen Leben und Tod allemal. Immerhin wurde dieser Gedanke, vielfach variiert, von herausragenden Dichtern – darunter Goethe – literarisch gestaltet.
In Goethes Ballade ›Die Braut von Korinth‹ (1797) saugt die ›untote‹ Braut das Blut des Geliebten und nimmt ihn mit in den Tod:
»(…) Aus dem Grabe werd’ ich ausgetrieben, / Noch zu suchen das vermißte Gut, / Noch den schon verlornen Mann zu lieben / Und zu saugen seines Herzens Blut. / […] // Schöner Jüngling! Kannst nicht länger leben; / Du versiechest nun an diesem Ort. / […] // Höre, Mutter, nun die letzte Bitte: / Einen Scheiterhaufen schichte du; / Öffne meine bange kleine Hütte, / Bring in Flammen Liebende zur Ruh! / Wenn der Funke sprüht, / Wenn die Asche glüht, / Eilen wir den alten Göttern zu.«[27]
Erlauchte Geister – wie Novalis, E. T. A. Hoffmann,
Lord Byron, John Keats, Edgar Allen Poe, Alexandre Dumas, Charles
Baudelaire, Nicolai Gogol, Guy de Maupassant, Gilbert K. Chesterton oder
Arthur Conan Doyle – haben den Vampir-Mythos, in ganz verschiedenartiger
Weise, literarisch aufgegriffen.[28] Zur
großen Berühmtheit aber brachte es der Roman ›Dracula‹ (1897) des irischen
Autors Bram Stoker. Der Name des Titelhelden in Stokers – von Le Fanus
›Carmilla‹ beeinflusstem – Roman wurde zum Inbegriff des Vampirs.
Zahlreiche literarische oder filmische Werke zum Themenkomplex ›Vampir‹
sind dann auch im 20. Jahrhundert bis hin zur Gegenwart entstanden:
Friedrich Murnaus Film ›Nosferatu‹ (1921) zum Beispiel oder Roman
Polanskis Film ›Tanz der Vampire‹ (1966) oder die Schauerromane von Anne
Rice (u. a. ›Die Schule der Vampire‹, 1978).
Max Schreck in ›Nosferatu – Eine Symphonie des
Grauens‹ (1922), deutscher Stummfilm von Friedrich Wilhelm Murnau in
fünf Akten.
Polanskis ›Tanz der Vampire‹ ist – wie ja auch Mays Vampirepisode im
Orientroman – eine gelungene Parodie auf das Vampir-Genre. Wie aber ist
der Vampirismus als solcher zu bewerten? Gewiss sind Vampire eine
Projektion der menschlichen Phantasie. Vielen Vampirgeschichten freilich
kommt ein bedeutender Kunstwert zu. Zur gesellschaftlichen Bedeutung und
Funktion der Vampir-Literatur speziell des 18./19. Jahrhunderts bemerkt
der Philologe und May-Kenner Werner Kittstein:
»Die einschlägigen Texte sind als Reaktion auf geistige und politische Entwicklungen zu verstehen, auf den Vernunftglauben der Aufklärung, dem sie die Nachtseite des Lebens entgegensetzen, dann im 19. Jahrhundert auf Revolution und Restauration. Da geht es literarisch recht widersprüchlich zu. Die Schauerromane lassen einerseits dem Umsturz aller bisherigen Ordnungen und Werte die dunklen Ausgeburten der Phantasie irgendwie strafend gegenübertreten, weichen andererseits vor den Versuchen, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, resignierend in die nächtliche Welt bedrohlicher Wesen aus.«[29]
Im allgemeinen wird diese Beurteilung der
Vampir-Literatur durch Kittstein wohl zutreffen, nicht aber im Sonderfalle
des Mayschen Balkan-Romans. Denn in die »Nachtseite des Lebens« führt die
dort geschilderte Vampirepisode nur insofern, als durch Kara Ben Nemsi
eine Schwindelei, eine kriminelle Machenschaft aufgedeckt werden soll. Die
Story wurde – wie wir sahen – in einer aufklärerischen, in einer radikal
entmythologisierenden Intention verfasst: Die Pointe, Mays
›katechetisches‹ Anliegen in diesem Romanteil, ist die Unterscheidung von
biblisch begründeter Glaubenszuversicht und pseudochristlichem
Aberglauben.
5 Die Unsterblichkeit der Liebe
Gleichwohl: Einen geheimnisvollen Zusammenhang zwischen dem Diesseits und
dem Jenseits nahm Karl May durchaus an. Auch einen möglichen
›Zwischenzustand‹ zwischen Tod und ewigem Leben hat er nicht bestritten,
im Gegenteil: Die Frage des Ziegelstreichers (im ›Balkan‹-Roman), ob es
ein Fegefeuer – nach traditioneller katholischer Lehre: ein
Läuterungsprozess zwischen Tod und endgültiger Erlösung – gebe, wird von
Kara Ben Nemsi ausdrücklich bejaht.
Nun könnte man dieses »Ja« als Zugeständnis des protestantischen Autors an die katholischen ›Hausschatz‹-Leser verstehen. Es gibt jedoch überzeugende Indizien für die Annahme, dass May tatsächlich an eine jenseitige Läuterung der Verstorbenen glaubte. Vor allem im 1899 erschienenen Erzählwerk ›Am Jenseits‹ ist diese Auffassung sehr gut zu belegen.[30]
Nach der Ansicht vieler katholischer Theologen des 20./21. Jahrhunderts ist mit dem ›Fegefeuer‹ (Purgatorium) freilich kein Leidenszustand in zeitlicher Erstreckung gemeint, sondern eine – mehr oder weniger schmerzliche – Selbsterkenntnis der Sterbenden, eine – heilende – ›Nachreifung‹ im ›Augenblick‹ des Todes.[31] Jenseits des Todes aber erfreuen sich die Verstorbenen, in moderner theologischer Sicht, der ewigen Seligkeit (es sei denn, sie verweigern sich, in einer letzten Entscheidung, der göttlichen Liebe). Sie können, freilich in ganz anderer Weise als zu ihren Lebzeiten auf Erden, mit den Hinterbliebenen kommunizieren, sie sogar beschützen und geistlich begleiten.[32]
Mays »Lebens- und Sterbensphilosophie« kommt modernen theologischen Deutungen von Tod und Ewigkeit erstaunlich nahe. Denn die Verstorbenen sind für Karl May keine ›armen Seelen‹, die im ›Fegefeuer‹ schreckliche Qualen erleiden. Und sie sind erst recht keine Vampire (die ihre ›Lieben‹ in den Tod treiben), sondern unsichtbare – und hilfreiche – Gefährten auf dem Weg zum Leben.
Die religiöse Wahrheit, die selbst noch der Vampirglaube enthält, ist der Gedanke eines Weiterlebens nach dem Tode und das ›Wissen‹ um eine bleibende Beziehung der Verstorbenen zu den Lebenden. Aus christlicher Sicht allerdings ist diese Beziehung keine böse, keine giftige, keine Angst einjagende Energie, sondern – wie gerade das Schrifttum Karl Mays erhellt – eine göttliche, über den Tod hinausreichende Liebeskraft.
Anmerkungen
[1]
Michael Ranft: ›Traktat von dem Kauen und
Schmatzen der Toten in Gräbern‹. Augsburg 2006 (deutsche Übersetzung
aus dem Lateinischen. Neuausgabe).
[2] Vgl. Hermann
Wohlgschaft: ›Die »Lebens- und Sterbensphilosophie« Karl Mays und
der »Unsinn des Spiritismus«‹. In: Heiko Ehrhardt/Friedmann Eißler
(Hg.): ›»Winnetou ist ein Christ«. Karl May und die Religion‹.
EZW-Texte 220. Berlin 2012, S. 111–135.
[3] Karl May: ›In den
Schluchten des Balkan‹. Freiburg 1892, S. 406f.
[4] Ebd., S. 408
u. ö.
[5] Vgl. z. B.
Heinz Stolte: ›Ein Literaturpädagoge. Untersuchungen zur
didaktischen Struktur in Karl Mays Jugendbuch »Die
Sklavenkarawane«‹. In: Ders.: ›Der schwierige Karl May. Zwölf
Aspekte zur Transparenz eines Schriftstellers‹. Husum 1989, S.
134–230.
[6] Karl May, wie Anm.
3, S. 407f.
[7] Ebd., S. 408.
[8] Ebd., S. 408f.
[9] Ebd., S. 409f.
[10] Vgl. Thomas Schürmann: ›Der Nachzehrerglauben
in Mitteleuropa‹. Marburg 1990; Peter Mario Kreuter: ›Der
Vampirglaube in Südosteuropa. Studien zur Genese, Bedeutung und
Funktion. Rumänien und der Balkanraum‹. Berlin 2001; Peter Kremer:
›Draculas Vettern. Auf den Spuren des Vampirglaubens in
Deutschland‹. Düren 2006.
[11] Wie Anm. 8; dazu
Norbert Borrmann: ›Vampirismus oder die Sehnsucht nach
Unsterblichkeit‹. Kreuzlingen/München 2001, bes. S. 42–46.
[12] Vgl. Kreuter, wie
Anm. 10; Basil Copper: ›Der Vampir in Legende, Kunst und
Wirklichkeit‹. Leipzig 2006, S. 15–70.
[13] Karl May, wie Anm.
3, S. 413.
[14] Karl May: ›Im
Reiche des silbernen Löwen IV‹. Freiburg 1903, S. 144.
[15] Ebd., S. 319; vgl.
ebd., S. 315. – Vgl. Karl May: ›Das Geldmännle‹. In: Ders.:
›Erzgebirgische Dorfgeschichten‹. Dresden-Niedersedlitz 1903, S.
534: Der geldgierige ›Herr Frömmelt‹ wird als »Vampyr« bezeichnet,
der andere Leute gleichsam aussaugt.
[16] Karl May: ›Frau
Pollmer, eine psychologische Studie‹ (1907). ›Prozeßschriften 1‹.
Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1982, S. 924; vgl. ebd., S. 841,
922 u. ö.
[17] Vgl. Heinrich
Krauss: ›Das Paradies. Eine kleine Kulturgeschichte‹. München 2004,
S. 68f.: Lilith »wird auch in der Bibel beiläufig genannt, nämlich
beim Propheten Jesaia in einer Schilderung der Verwüstung des
Nachbarlandes Edom«; vgl. Jesaia 34, 14.
[18] Carl Felix von
Schlichtegroll: ›Die Bestie im Weibe. Beiträge zur Geschichte
menschlicher Verirrung und Grausamkeit‹. Bd. 1. Dresden 1903, S. 36;
in Mays Exemplar in der Bibliothek der Villa »Shatterhand.« mit
Bleistift unterstrichen.
[19] Vgl. Vinzenz Hamp:
›Lilith‹. In: ›Lexikon für Theologie und Kirche‹ Bd. 6. Hrsg. von
Josef Höfer u. Karl Rahner. Freiburg 1961, Sp. 1054.
[20] Dazu Borrmann, wie
Anm. 11, S. 218–253.
[21] Dazu Ralf Harder: ›Karl May und seine Münchmeyer-Romane.
Eine Analyse zu Autorschaft und Datierung‹. Ubstadt 1996, S.
167.
[22] Karl May: ›Die
Liebe des Ulanen. Original-Roman aus der Zeit des
deutsch-französischen Krieges‹. In: ›Deutscher Wanderer‹.
Dresden 1883–85, S. 1415 (Lieferung 89, Hervorhebungen von mir) –
Das Kapitel ›Ulane und Zouave‹ wurde aus Zeitnot in ›Die Liebe des
Ulanen integriert‹, obwohl es thematisch zum ›Verlornen
Sohn‹ gehört.
[23] Karl May, wie Anm.
22, S. 1429.
[24] Ebd., S. 1427.
[25] Joseph Sheridan Le
Fanu: ›Carmilla‹ (1872). In: ›Von denen Vampiren oder
Menschensaugern. Dichtungen und Dokumente‹. Hrsg. von Dieter Sturm
und Klaus Völker. München 1968, S. 321–414 (347).
[26] Werner Kittstein in
einem Brief vom 28. 3. 2007 an mich.
[27] Johann Wolfgang von
Goethe: ›Die Braut von Korinth‹. In: ›Goethes Werke in zehn Bänden‹.
Hrsg. von Reinhard Buchwald. Bd. 5. Olten o. J., S. 322–328 (328).
[28] Zu den
literarischen Adaptionen des Vampir-Stoffes vgl. Erwin Jänsch: ›Das
Vampir-Lexikon. Die Autoren des Schreckens und ihre blutsaugerischen
Kreaturen‹. München 2000; Copper, wie Anm. 12, S. 73–158.
[29] Kittstein: Brief
vom 28. 3. 2007, wie Anm. 26; ebd. heißt es weiter: »Ich glaube,
auch das Motiv des Ewigen Juden spielt in das Thema hinein, etwa mit
dem Roman ›Melmoth der Wanderer‹ (1820) von Charles Maturin.«
[30] Vgl. z. B.
Karl May: ›Am Jenseits‹. Freiburg 1899, S. 454: Die »unendlich
schwierige Reinigung« wird hier als diesseitiger und als
postmortaler Prozess verstanden.
[31] Vgl. z. B.
Ladislaus Boros: ›Mysterium mortis. Der Mensch in der letzten
Entscheidung‹. 1964, bes. S. 138–150.
[32] Vgl. z. B.
Karl Rahner: ›Das Leben der Toten‹. In: Ders.: ›Schriften zur
Theologie IV‹. Einsiedeln 1964, S. 429–437.