Lieferung 69

Deutscher Wanderer

10. Januar 1885

Die Liebe des Ulanen.

Original-Roman aus der Zeit des deutsch-französischen Krieges von Karl May.


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Fritz streckte behaglich die Beine aus, machte ein höchst wichtiges Gesicht und sagte:

»Ja, mein verehrtester Herr Doctor, das ist eine ganz verteufelte Geschichte. Wir können gewaltig in die Käse fliegen. Wer hätte aber auch so Etwas denken können.«

»Du machst mich besorgt. Was giebt es denn?«

»Hm. Sie kennen doch die Familie des Herrn Husarenrittmeisters von Hohenthal?«

»Natürlich! Ich bin ja mit dem Rittmeister innig befreundet. Wir besuchen uns sogar.«

»Das weiß ich. Sie kennen also auch die Gesellschafterin seiner gnädigen Frau Mutter?«

»Die kleine Madelon? Ja.«

»Fällt Ihnen nicht auf, daß sie gerade Madelon heißt?«

»Warum sollte mir das auffallen? Wohl weil dieser Vorname ein französischer ist?«

»Ja. Nanon und Madelon, Madelon und Nanon. Ist Ihnen der Familienname dieser kleinen Dame bekannt?«

»Hm. Ich glaube, ihn gehört zu haben. Ah, jetzt fällt er mir ein. Ich glaube, daß der Rittmeister »Fräulein Köhler« zu ihr sagte!«

»So ist es! Und Nanon heißt auch Köhler. Daraus folgt, daß -«

»Daß sie verwandt sind?« fiel Müller schnell ein.

»Sogar daß sie Schwestern sind!«

»Sapperment. Ist das wahr?«

»Ja. Nanon hat es mir selbst gesagt.«

»Und ich habe keine Ahnung davon gehabt. Wer hätte das denken können. Du willst doch nicht etwa sagen, daß diese Madelon kommen wird?«

»Gerade das will ich sagen. Auch sie ist von dem betreffenden Pflegevater erzogen worden. Nanon hat ihr telegraphirt, und nun wird sie morgen mit dem Mittagszuge in Thionville eintreffen, um sich ihrer Schwester anzuschließen.«

»Das ist unangenehm, höchst unangenehm!«

»Allerdings.«

»Du wirst Nanon nicht begleiten können.«

»Das habe ich mir auch gesagt. Man dürfte sich eigentlich gar nicht sehen lassen; aber - hm - ich habe mir das Ding genau überlegt; ich habe es nach rechts und links gewendet und bin da zu der Ansicht gekommen, daß es doch wohl besser ist, wenn ich mich vor ihr zeige.«

»Wieso?«

»Nun, erstens habe ich Nanon mein Wort gegeben. Es ließe sich zwar eine Ausrede nicht schwer erfinden, aber es könnte auffallen und, aufrichtig gestanden, fahre ich doch gar zu gern mit.«

»Deine persönlichen Gefühle müssen hier vor den Rücksichten der Klugheit zurücktreten.«

»Das wäre richtig, wenn es richtig wäre. Aber die beiden Schwestern haben einander seit Jahren nicht gesehen. Madelon wird dieser kleinen Nanon einige Tage widmen; sie wird nach dem Begräbnisse ganz sicher mit nach Schloß Ortry kommen, und dann ist es ja gar nicht zu vermeiden, daß Sie von ihr bemerkt und gesehen werden.«

»Das ist leider sehr richtig«

»Das kann gefährlich werden; das kann Alles verrathen. Im Augenblicke des Erkennens hat man sich nicht so wie zu anderer Zeit in der Gewalt. Wie nun, wenn die kleine junge Dame vor Ueberraschung mit Ihrem wirklichen Namen herausplatzte!«

»Das wäre verteufelt.«


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»Das meine ich auch, und darum ist es besser, daß ich mich vor ihr sehen lasse und sie vorbereite.«

»Das mag sein. Aber womit wollen wir unsere Anwesenheit, unser Incognito begründen?«

»Dies zu bestimmen, überlasse ich Ihnen. Die Wahrheit dürfen wir auf keinen Fall sagen.«

»Natürlich nicht. Du kennst wohl Einiges aus der Vergangenheit meiner Familie?«

»Ja, was ich so hier und da gehört und weggeschnappt habe.«

»Der alte Capitän spielt da eine große Rolle -«

»Ich weiß es. Sie meinen, daß ich ihr auf diese Weise unsere Anwesenheit erklären soll?«

»Ja, es wird dies das Beste sein.«

»Jedenfalls. Aber, was soll ich ihr da sagen?«

»Das überlasse ich Dir. Du bist klug und vorsichtig genug, um das Richtige zu treffen und weder zu viel noch zu wenig zu sagen. Ich kann Dir keine Vorschriften machen, da ich ja nicht weiß, wie sich Euer Zusammentreffen gestalten wird.«

»Und darf Nanon davon hören?«

»Kein Wort!« antwortete Müller schnell.

»Sie darf also gar nicht wissen, daß ihre Schwester mich kennt. Das erschwert die Sache.«

»Ich halte diese Madelon für klug, verschwiegen und gewissenhaft.«

»Ich auch. Ich hoffe, daß sie selbst gegen ihre Schwester nicht plaudern wird. Aber, hm, da macht mir eben der Augenblick des Zusammentreffens Sorge.«

»Du hast Dich mit Nanon auf den Bahnhof bestellt?«

»Freilich. Ihre Schwester weiß, daß sie dort von ihr erwartet wird. Da wird sich die Coupeethür öffnen; die beiden Schwestern fliegen sich in die Arme; ich stehe dabei wie ein Oelgötze, Madelon erkennt mich und schreit: Ei potz Blitz, bist Du nicht die Gustel von Blasewitz? Ich bin erkannt und entlarvt; die Butter fällt mir vom Brod; Nanon staunt mich an und fragt nach meinem Heimathsschein - es wird eine Scene, welche wir auf alle Fälle vermeiden müssen.«

»Sehr richtig.«

»Aber das Mittel. Es will mir augenblicklich nichts einfallen!«

»Es giebt da nur ein einziges Mittel, vorzubeugen, daß wir nicht verrathen werden.«

»Und das wäre?«

»Du mußt ihr entgegenfahren.«

»Alle Wetter. Das ist richtig. Und ich Dummkopf komme nicht selbst darauf. Aber wie weit fahre ich?«

»Der Zug trifft nach zwölf Uhr hier ein. Auf einem kleinen Anhaltepunkt, wo es keinen Aufenthalt giebt, hast Du keine Zeit, ihr Coupee zu entdecken. Du mußt ihr unbedingt bis Trier entgegen fahren, und das ist nur mit dem Morgenzuge möglich.«

»Gut. In Trier hält der Zug zehn Minuten; das genügt, um einen Passagier ausfindig zu machen, zumal ich annehmen kann, daß sie nicht in dritter Classe fahren wird.«

»Du brauchst Dich nur an die Schaffner zu wenden. Du steigst bei ihr ein, und bis Du hier ankommst, ist die Angelegenheit in Ordnung gebracht. Ich weiß, daß ich keine Befürchtung zu hegen brauche, da ich mich auf Dich verlassen kann.«

»Keine Sorge, Herr Doctor. Aber wie kommt es, daß Sie sich jetzt in der Stadt befinden?«

»Ich kam, um beim Buchhändler einige Bücher zu kaufen. Horch! Es scheinen Gäste gekommen zu sein.«

Die Kellnerin hatte die nach dem großen Zimmer führende Thür nicht fest zugemacht, sondern nur angelehnt. Die Beiden hörten Schritte, und eine Stimme fragte:

»Ist der Wirth zu Hause?«

»Ja,« antwortete das Mädchen.

»Gieb mir einen Absynth und rufe ihn. Dich aber brauchen wir nicht dabei.«

Das Mädchen ging.

»Ah, eine heimliche Unterredung, wie es scheint!« flüsterte Müller.

Er trat an die Thür, warf einen Blick durch die Spalte und gewahrte einen Mann, dessen Gesicht durch einen dunklen Vollbart verhüllt war. Er trug ganz gewöhnliche Kleidung, doch war der Eindruck, den er machte, ein martialischer. Er hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und trank von dem Schnapse, den ihm das Mädchen gegeben hatte, ehe sie aus der Stube gegangen war.

Müller und Fritz verhielten sich unwillkürlich ganz schweigsam. Es währte eine ziemliche Zeit, bis der Wirth eintrat.

»Du lässest mich lange warten!« sagte der Mann zu ihm. »Und meine Zeit ist kurz bemessen.«

»Kann ich dafür? Was giebts?«

»Versammlung.«

»Ach so. Dann hast Du allerdings gehörig zu laufen. Versammlung für Alle?«

»Nein, nur die Anführer.«

»Wann?«

»Punkt elf Uhr.«

»In den Ruinen?«

»Nein; das ist nicht mehr möglich, seit wir damals belauscht worden sind. Möchte nur wissen, welchem Subjecte es gelungen ist, sich einzuschleichen. Einen Verdacht hat man.«

»Ah. Wirklich? Wer?«

»Es läuft ein fremder Kerl den ganzen Tag im Walde herum, um Kräuter zu sammeln. Man hat ihn auch bei den Ruinen gesehen. Vielleicht ist Der es gewesen.«

Der Wirth schüttelte den Kopf und antwortete:

»Der? Das fällt ihm gar nicht ein.«

»Kennst Du ihn?«

»Ja. Er ist der Pflanzensammler von Doctor Bertrand. Ich kenne ihn genau, da er bei mir viel verkehrt.«

»Was ist es für ein Mensch?«

»Der ist ebenso dumm, wie er lang und stark ist. Saufen kann er, wie ein Loch. Aber sonst ist ganz und gar nichts mit ihm. Er thut das Maul nicht auf, spielt weder Billard noch Karte; der hat für Nichts Sinn als für seinen Kräutersack!«

»Das ist sein Glück. Wollte er seine Nase in unsere Angelegenheit stecken, so würde sie ihm bald breit gedrückt werden. Woher stammt er?«


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»Aus Genf, überhaupt aus der französischen Schweiz, glaube ich. Um den brauchen wir uns nicht zu grämen.«

»Schön. Der Capitän hat ihm mißtraut und will ihn beobachten lassen. Ich werde ihn also beruhigen.«

»Das kannst Du getrost thun. Also in den Ruinen kommen wir nicht zusammen? Folglich beim alten Thurme?«

»Auch nicht. Wo denkst Du hin. Wie können wir so Etwas wagen! Hast Du denn die Kerls vergessen, welche damals das Grab geöffnet haben?«

»Ah, richtig. Ihr hättet sie erschießen sollen.«

»Pah. Du hast gut Reden. Der Capitän hatte den Klingeldraht falsch angebracht; es läutete zu spät. Wir waren nur drei Personen am Wachen, und als wir kamen, ging eben der Spectakel los, nämlich das Donnern und Blitzen.«

»Diese Kerls mögen schön erschrocken sein.«

»Und wie! Der Eine riß sofort aus. Er schrie Etwas in einer fremden Sprache, welche der Teufel vielleicht versteht, ich aber nicht.«

»Habt Ihr Keinen erkannt?«

»Nein. Es waren Drei. Also Einer riß aus, aber die beiden Anderen blieben furchtlos stehen. Natürlich kam der Capitän dazu, von dem Glockenzeichen herbeigerufen. Er befürchtete, daß diese Zwei bleiben würden, um zu lauschen, was nun von unserer Seite geschehen werde; darum mußten wir uns vollständig still verhalten. Und wirklich. Ein Rascheln, welches später zu hören war, überzeugte uns, daß sie sich zwar entfernt hatten, aber wiedergekommen seien.«

»Schlauköpfe.«

»Ja. Ich möchte wissen, wer es gewesen ist. Erst am Morgen entfernten sie sich, und von da an hatten wir Gelegenheit, das Loch wieder zuzuwerfen und die Zerstörung, welche sie angerichtet hatten, zu beseitigen.«

»Hoffentlich aber ist der Alte so klug gewesen, das Arrangement verändern zu lassen!«

»Jedenfalls. Er schweigt natürlich darüber; aber ich vermuthe, daß einige Kameraden, welche ich mehrere Tage lang nicht zu Gesichte bekam, heimlich bei ihm arbeiten mußten.«

»So bleibt uns nur noch das Trou du bois, wo wir uns versammeln könnten?«

»Jetzt, ja. Also heut Abend zehn Uhr im Trou du bois. Jetzt muß ich weiter.«

»Ist Etwas mitzubringen?«

»Nein. Wir werden einige Befehle erhalten; das ist Alles. In einer Viertelstunde ist's abgemacht. Adieu!«

Er gab dem Wirthe die Hand und ging. Der Letztere begleitete ihn hinaus und kehrte nicht wieder zurück.

Die beiden Lauscher blickten einander an. Dann nickte Fritz wohlgefällig vor sich hin und sagte mit gedämpfter Stimme:

»Bon! Das war famos! Nicht?«

»Sehr gut!«

»Der Wirth muß von unserer Anwesenheit gar nichts wissen.«

»Jedenfalls. Darum wollen wir die Thür zumachen, damit er, wenn er unsere Gegenwart bemerkt, nicht auf die Vermuthung kommt, daß wir Etwas hören konnten.«

Fritz drückte die Thür in's Schloß, nahm wieder Platz und sagte:

»Also auf mich haben diese Kerls Verdacht! Wie gut, daß ich dies weiß! Jetzt kann ich mich darnach verhalten.«

»Und ich freue mich sehr, daß nicht ich es bin, auf den ihr Augenmerk gefallen ist. Seit mich der Capitän mit Dir in den Ruinen sah, war ich überzeugt, daß der Verdacht sich einzig gegen mich richten werde.«

»Heut Abend wieder eine Zusammenkunft! Alle Wetter! Wenn man die belauschen könnte!«

»Den Ort wüßten wir. Im Trou du bois

»Das heißt auf Deutsch im Waldloche. Kennen Sie vielleicht diesen Ort, Herr Doctor?«

»Nein; aber ich muß ihn zu erfahren suchen.«

»Die Erkundigung könnte auffallen!«

»Nein. Ich spreche auf dem Nachhausewege beim Förster vor.«

»Wenn nun Der mit ihnen unter der Decke steckt?«

»Ich halte mich an den Forstgehilfen. Dieser ist ein junger, unerfahrener Mensch, vor dem mir nicht bange zu sein braucht.«

»Was werden Sie thun, wenn Sie erfahren, wo dieses Waldloch sich befindet?«

»Das kann ich jetzt noch nicht sagen; ich muß die Umstände berücksichtigen.«

»Vielleicht kommen Sie auf den Gedanken, die Versammlung zu belauschen?«

»Möglich!«

»Donnerwetter! Das ist gefährlich!«

»Allerdings,« antwortete Müller, indem er die Achsel zuckte.

»Es kann Ihnen an den Kragen gehen!«

»Das kann mich nicht abhalten, meine Pflicht zu thun!«

»Aber Sie haben sich vor allen Dingen zu erhalten, schon um Ihre Aufgabe zu erfüllen.«

»Die erfülle ich ja eben, indem ich horche!«

»Aber man jagt Ihnen unter Umständen eine Kugel durch den Kopf!«

»Ich bin auch bewaffnet. Uebrigens wirst Du mir wohl die nöthige Vorsicht zutrauen.«

»Man kann bei aller Klugheit und Vorsicht in die allerdickste Tinte gerathen!«

»Ich danke Dir für die Besorgniß, welche Du für mich zeigst! Aber denke an Dich selbst! Hast Du etwa gezaudert, als Du damals des Nachts Dich bei der Ruine befandest?«

»Nein. Ich habe allerdings meine Nase, die sie mir so gern breit schlagen möchten, sofort in die Ruine gesteckt.«

»Und das Leben dabei gewagt!«

»Pah! Man hat mir nichts gethan!«

»Aber man hätte Dich beinahe ergriffen, und dann wäre es jedenfalls aus mit Dir gewesen!«

»Ja, Matthäi am Letzten wäre es gewesen! Aber ich hätte mich doch vorher ganz gehörig meiner Haut gewehrt, und es ist doch auch ein Unterschied zwischen Ihnen und mir zu machen!«

»Das sehe ich nicht ein!«

»O! Ein Ritt- und ein Wachtmeister!«

»Pst!«

»Schön! Also ein Doctor der Philosophie und ein Kräutermann! Wenn sie mich wegputzen, so sind Sie


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immer noch Manns genug, Ihre Aufgabe zu lösen; dreht man aber Ihnen den Kopf auf den Rücken, so ist's aus mit der Laterne. Also, lieber Herr Doctor, schicken Sie lieber mich nach dem Trou du bois

»Das geht nicht! Ich muß selbst da sein!«

»So nehmen Sie mich wenigstens mit.«

»Du mußt ausschlafen!«

»Pah! Etwa der morgenden Reise wegen?«

»Natürlich!«

»Das fehlte noch! Ich bitte wirklich von ganzem Herzen, nicht ohne mich zu gehen!«

Das klang so treu und dringend, daß Müller nicht zu widerstehen vermochte. Er antwortete:

»Gut! Wenn ich Dir damit einen so großen Gefallen thue!«

»Einen sehr großen! Wo treffen wir uns?«

»Punkt zehn Uhr da, wo vom Schlosse aus der Fußweg in den Wald tritt.«

»Werden Sie bis dahin wissen, wo das Waldloch zu suchen ist?«

»Ich hoffe es. Natürlich bewaffnest Du Dich!«

»Das versteht sich ganz von selbst! Befehlen Sie vielleicht, daß ich mich nun zurückziehe?«

»Nein. Wir warten noch. Gehen wir jetzt, und der Wirth erblickt uns, so schöpft er Verdacht. Sieht er uns aber erst später, so meint er vielleicht, daß wir erst später gekommen sind. Apropos! Hast Du Abu Hassan wiedergesehen?«

»Nein.«

»Er ist seit jener Nacht spurlos verschwunden.«

»Aber seine Requisiten befinden sich noch hier im Gasthofe.«

»So kehrt er sicher zurück.«

»Auf alle Falle. Er müßte sonst gewärtig sein, daß man ihn steckbrieflich verfolgt. Er hat ja vor Gericht seine Aussage über den Tod der Schauspielerin zu thun. Bleibt er damit im Rückstande, so wird er gesucht.«

»Solltest Du ihn sehen, so benachrichtigst Du mich sofort!«

»Sie haben mit ihm zu sprechen?«

»Ja. Ich muß mir über Einiges klar werden. Ich bedaure jetzt, nicht aufrichtiger mit ihm gewesen zu sein. Uebrigens möchte ich jetzt am Schlusse ein aufrichtiges Wort mit Dir reden, Fritz!«

»Ganz wie der Herr Doctor befehlen!«

»Sage mir einmal ohne allen Rückhalt: Liebst Du diese Nanon wirklich?«

Der Gefragte wurde roth. Er blickte eine Weile vor sich nieder, hob dann den Kopf, richtete seine treuherzigen, guten Augen auf Müller und antwortete:

»Herr Doctor, das ist eine ganz und gar verdonnerte Frage! Man ist so manchem Gesichte gut gewesen; aber was Liebe ist, wirkliche, richtige Liebe, hm! Wenn Sie mir doch sagen könnten, was das ist?«

»Nun,« antwortete Müller lächelnd, »in diesem Punkte bin ich gerade ebenso gescheidt wie Du. Auch ich bin nicht im Stande, eine Definition von diesem Worte zu geben.«

»Nicht? Da will ich es doch einmal versuchen!«

»Laß Dich hören!«

»Ist das Liebe, wenn man ein Mädchen zum ersten Male sieht und sie doch gleich mit Haut und Haar fressen möchte?«

»Nein; das ist vielmehr der Heißhunger eines Menschenfressers.«

»So! Oder ist das Liebe, wenn man so ein Mädchen an das Herz nehmen und gar nicht wieder von sich lassen möchte?«

»Vielleicht.«

»Wenn man für sie durchs Feuer gehen und tausend Mal für sie sterben möchte, wenn das möglich wäre?«

»Hm! Hübscher ist es doch jedenfalls, für die Geliebte zu leben als für sie zu sterben!«

»Das leuchtet auch mir ein. Aber, Alles in Allem gerechnet, bin ich doch wohl auf der richtigen Fährte, wenn ich annehme, daß ich dieser Nanon von ganzem Herzen gut bin.«

»Hast Du Dir aber auch überlegt, was daraus folgen kann?«

»Ja.«

»Nun, was?«

»Eine Hochzeit oder ein alter Junggeselle.«

»Unsinn!«

»Herr Doctor, das ist kein Unsinn! Wenn dieses Mädchen meine Frau nicht werden will, so bleibe ich ledig!«

»Das ist fester Entschluß?«

»Ja!«

»Und da thust Du noch zweifelhaft, ob Du sie wirklich liebst?«

»Gut, so will ich den Zweifel zur Thür hinauswerfen!«

»Dann bedenke, wer sie ist!«

»Ein wunderbar gutes und liebes Mädchen!«

»Eine Gesellschafterin, ohne Familie und Vermögen!«

»Habe ich etwa Vermögen oder Familie?«

»Fritz! Du weißt ja, daß ich daran arbeite, das Geheimniß Deiner Geburt zu enthüllen!«

»Lassen Sie lieber den Vorhang drüber! Ich bin jetzt ein ganz und gar glücklicher Kerl. Ich habe Sie; ich habe meine Uniform - wollte sagen, meinen Kräutersack; ich kann zuweilen einige Augenblicke mit Nanon sprechen; ja, ich darf sogar morgen mit ihr verreisen! Das ist bereits mehr, als dazu gehört, zufrieden zu sein.«

»Aber wenn Du doch der Sohn eines Grafen, eines Generals wärst?«

»Dieses Glück wäre wohl nicht so groß wie dasjenige, der Mann dieser Nanon sein zu dürfen!«

»Nun gut, sprechen wir jetzt nicht weiter darüber. Wenn es mir gelingt, diesen Bajazzo ausfindig zu machen, so - - -«

»So werden Sie vielleicht erfahren,« fiel Fritz ein, »daß wir Spinnewebe gesponnen haben!«

Da wurde die Thür geöffnet; der Wirth blickte herein.

Er machte, als er die Beiden sah, ein finsteres Gesicht, trat näher und fragte, sich an Fritz wendend:

»Sind Sie schon lange hier?«

Fritz machte das dümmste Gesicht, welches er fertig zu bringen vermochte, und antwortete:

»Sie wissen es ja.«

»Ich? Ich sah Sie nicht kommen!«


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»O doch! Als ich zum ersten Male bei Ihnen einkehrte, standen Sie unter der Thür.«

»Ah, wer fragt denn darnach!

»Sie doch!«

»Ist mir nicht eingefallen!«

»Donnerwetter! Sie fragten mich doch, wie lange ich bereits hier bin, in Thionville!«

»Da haben Sie mich falsch verstanden. Ich meine, wie lange Zeit Sie bereits hier sitzen, nämlich heute.«

»Hm! Ich habe nicht nach der Uhr gesehen.«

»War Jemand im vorderen Zimmer?«

»Die Kellnerin.«

»Kein Gast?«

»Nein.«

Jetzt schien der Wirth beruhigt zu sein. Er wendete sich an Müller und fragte diesen:

»Sie waren noch nie bei mir, Monsieur. Darf ich fragen, wer Sie sind?«

»Aus welchem Grunde fragen Sie? Muß man, um ein Glas Wein bei Ihnen zu trinken, sich legitimiren?«

»Nein; das nicht; aber ich liebe es, die Herren zu kennen, welche bei mir verkehren. Sie wissen ja, Monsieur, es ist Pflicht eines Wirthes, Jeden nach seinen begründeten Ansprüchen zu behandeln.«

»Möglich. Was mich betrifft, so sind meine Ansprüche nicht groß. Ich bin Erzieher.«

»Wo?«

»Auf Schloß Ortry.«

Ein leises Zucken ging über das Gesicht des Wirthes. Er ließ sein Auge von dem Einen auf den Andern herüber und hinüber schweifen und fragte:

»So sind Sie Herr Doctor Müller?«

»Ja.«

»Sie haben das gnädige Fräulein gerettet?«

»Ja.«

»Und dann auch den jungen Baron Alexander?«

»Es gelang mir, ihn vor dem gefährlichen Sturze zu bewahren.«

»Sie müssen ein sehr muthiger Mann sein!«

Dabei musterte er ihn mit offenbar mißtrauischem Blicke.

»Pah! Man thut seine Pflicht!« meinte Müller kalt.

»Haben diese Herren sich zufällig getroffen?«

»Zufällig,« nickte der verkleidete Officier, der damit ja auch die Wahrheit sagte.

»Kennen Sie sich vielleicht?«

Das war denn doch zu unverschämt. Müller stand auf, warf ein Geldstück auf den Tisch und antwortete:

»Bringen Sie Ihre Fragen bei Schulknaben an, nicht aber bei Einem, der selbst gewohnt ist, Antworten zu hören. Hier die Bezahlung! Adieu!«

Er ging. Der Wirth blickte ihm nach und sagte dann, zu Fritz gewendet:

»Ein grober Mensch!«

»Ja,« meinte der Kräutersammler kurz.

»Finden Sie das nicht auch?«

»Sogar sehr! Ich hätte ihn beinahe beohrfeigen mögen!«

»Wieso?«

»Er trat hier ein, als ich mich eben niedergesetzt hatte. Meinen Sie etwa, daß er grüßte?«

»Nicht?«

»Fiel ihm gar nicht ein! Ich wollte ein Gespräch beginnen - - -«

»Er mochte nicht?«

»Nein. Ich fing vom Wetter an; er aber gönnte mir nicht einmal einen Blick. Ich brachte Verschiedenes vor, lauter prächtige und intressante Sachen; wissen Sie, was er da zu mir sagte?«

»Nun?«

»Ich solle den Schnabel halten!«

»Das ist allerdings sehr stark!«

»Sehr! Mich wundert es, daß er es nicht auch zu Ihnen gesagt hat. Schnabel! Als ob man ein Staar oder eine Blaumeise wäre! Dieser Kerl wird dem jungen Baron eine schauderhafte Bildung beibringen!«

»Ja, das scheint so! Aber, sagen Sie: Ist wirklich Niemand in der vorderen Stube gewesen?«

»Nein.«

»Sie haben nicht gehört, daß Jemand gesprochen hätte?«

»Kein Wort!«

»So ist's also doch gut! Ich erwarte nämlich den Briefträger; er ist aber, wie ich nun höre, noch nicht dagewesen. Waren Sie heute bereits nach Pflanzen aus?«

»Ja. Allüberall, im Walde und im Felde.«

»Wo sind da Ihre liebsten Stellen?«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich meine, wo Sie sich am Allerliebsten aufhalten?«

»Hm! Im Bette.«

Fritz sagte das, indem seine Miene die größte Unbefangenheit zeigte. Der Wirth warf ihm einen zornig forschenden Blick zu und fragte:

»Monsieur, wollen Sie mich etwa zum Narren haben?«

Fritz sah erstaunt zu ihm auf und antwortete:

»Wieso? Sie fragen mich, wo ich mich am Allerliebsten aufhalte, und ich sage es Ihnen. Was ist da weiter daran?«

Der Wirth sah ein, daß er es mit einem Menschen zu thun habe, dem die Intelligenz nicht mit Scheffeln zugemessen worden sei. Er beruhigte sich also und erklärte:

»Ich meine, ob Sie im Walde vielleicht ein Lieblingsplätzchen haben, an welchem Sie sich am Liebsten aufhalten.«

»Ich gehe dahin, wo ich meine Pflanzen finde; andere Plätze können mich gar nicht interessiren.«

»Sind Sie oft beim alten Thurme?«

»Brrrr! Dort geht es ja um!«

»Wer sagte Ihnen das?«

»Alle Welt weiß es ja!«

»Oder gehen Sie zuweilen nach der großen Ruine, welche mitten im Walde liegt?«

»Was soll ich in Ruinen? Dort wächst Das, was ich suche, jedenfalls nicht.«

»Oder halten Sie sich öfters am Trou du bois auf?«

Fritz merkte natürlich, daß er ausgehorcht werden solle. Je mehr der Wirth in ihn drang, ein desto dümmeres Gesicht machte er. Jetzt freute er sich innerlich, daß der Ort erwähnt wurde, von dem er gern wissen wollte, wo er liege. Er fragte darum:

»Am Trou du bois? Was ist das?«


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»Ein Loch im Walde.«

»Das heißt, ein Ort, an welchem sich keine Bäume befinden?«

»Nein. Es ist ein großes Loch in der Erde.«

»Es giebt viele Löcher im Walde, bei denen ich gewesen oder vorübergekommen bin.«

»Es ist, wenn Sie von dem großen Steinbruche aus über die nächste Waldesecke eine gerade Linie ziehen.«

»Was verstehe ich von dem Steinbruche, der Waldesecke und der Linie! Wer soll das begreifen!«

»Ich meine, wenn Sie auf dieser Linie fortgehen, so gelangen Sie in Zeit einer guten halben Stunde nach dem Loche.«

»Meinetwegen. Fällt mir gar nicht ein, eines alten Loches wegen, welches mir gar nichts angeht, eine Linie durch den Steinbruch und den Wald zu ziehen. So eine Heidenarbeit. Da habe ich mehr zu thun.«

Der Wirth lachte laut auf. Er fühlte sich außerordentlich befriedigt und sagte, noch immer lachend:

»Aber, Monsieur, ich habe doch auch gar nicht gemeint, daß Sie eine wirkliche Linie ziehen sollen.«

»Na also! So lassen Sie mich auch mit dieser Linie in Ruhe. Warum reden Sie überhaupt von ihr, wenn Sie gar nicht verlangen, daß ich sie ziehen soll.«

»Sie sind köstlich, wieder köstlich. Also Sie waren noch nicht an dem Loche. Sie kennen es nicht?«

»Nein.«

»Finden Sie nicht, daß der Wald, gerade dieser Wald sehr einsam ist?«

»Wie jeder andere auch.«

»O, es giebt doch Wälder, in denen viel Verkehr ist. Dieser Wald wird aber wohl nicht viel von Menschen besucht?«

»Ich weiß nichts davon. Wenigstens habe ich nicht gefunden, daß dort so viele Menschen verkehren, daß sie geradezu mit den Köpfen zusammen rennen.«

»Aber zuweilen trifft man Jemand?«

»Ja.«

»Wen denn zum Beispiel?«

»Den Förster, einen Holzhauer oder einen Handwerksburschen.«

»Sonst Niemanden?«

»Ich kann doch nicht wissen, wer da herumläuft. Ich habe verteufelt wenig Personen gesehen.«

»Aber man spricht davon, daß besonders zur Nachtzeit zuweilen viele Menschen dort zu treffen sind.«

»Unsinn. Welcher vernünftige Kerl läuft des Nachts im finsteren Walde herum.«

»O! Man redet Eigenthümliches.«

»Dummheiten redet man! Gäbe es hier eine Grenze, die sich durch den Wald zieht, so wäre es möglich, daß sich Pascher an derselben herumtreiben. Wenn man aber da von Leuten redet, welche sich des Nachts im Walde herumtreiben, so befindet man sich gehörig auf dem Holzwege. Ich weiß das viel besser.«

Der Wirth stutzte. Sollte dieser dumme Bursche dennoch vielleicht Etwas ahnen? Er fragte darum:

»Nun, wer könnte es denn sonst sein, wenn es keine Leute sind, Monsieur?«

»Hm! Ja! Davon darf man eigentlich nicht sprechen.«

»Nicht? Warum nicht?«

»Es ist gefährlich!«

»Wieso gefährlich?« fragte der Wirth, dessen Mißtrauen wieder zu wachsen begann.

»Weil sie Einem sonst erscheint, sogar wenn man gar nicht in den Wald geht, sondern im Bette liegt.«

»Wer denn? So reden Sie doch.«

»Na, leise darf man schon davon sprechen. Also wissen Sie, was sich des Nachts im Walde herumtreibt? Menschen sind es nicht.«

»Nun, wer sonst?«

»Kommen Sie her.«

Der Wirth trat ihm näher. Fritz faßte ihn am Arme, zog seinen Kopf zu sich nieder und flüsterte ihm in das Ohr:

»Die wilde Jagd.«

Dann ließ er den Arm des Wirthes wieder los, schüttelte sich, als ob es ihn schaure, machte ein höchst ernstes Gesicht, nickte einige Male sehr bedeutungsvoll und fügte dann hinzu, indem er drei Kreuze schlug:

»Ja, so ist es, wenn man auch nicht laut davon sprechen darf. Aber des Nachts brächte mich keine Macht der Erde in den Wald, selbst wenn man zehn Pferde vorspannte!«

Jetzt fühlte sich der Wirth nun ganz und gar überzeugt, daß er es mit einem höchst unschädlichen und im Superlativ harmlosen Menschen zu thun habe. Er nickte, indem er innerlich sehr belustigt war, dem Pflanzensammler verständnißinnig zu und sagte:

»Ja, so ist es! Ich habe auch bereits davon gehört!«

»Wissen Sie auch, wer während der wilden Jagd in den Wald geht, dem dreht der wilde Jäger das Gesicht hinter auf den Rücken?«

»Ich habe es gehört.«

»Und dann muß er mit jagen und hetzen in alle Ewigkeit. Der Himmel behüte mich dafür.«

»Ja, das ist schlimmer selbst als das Fegefeuer und die ewige Verdammniß. Es graut Einem, wenn man nur daran denkt. Ich will lieber an meine Arbeit gehen.«

Er ging; aber als er sich in dem vorderen Zimmer befand und die Thüre hinter sich zugemacht hatte, drehte er sich um, schlug ein Schnippchen und brummte vergnügt:

»O Du tausendfacher Dummkopf Du! Du bist im ganzen Leben nicht zu kuriren. Und diesen albernen Menschen haben wir für gefährlich gehalten. Sind wir da nicht noch viel dümmer gewesen als er?«

Und drinnen im kleinen Zimmer lächelte Fritz leise vor sich hin und sagte zu sich selbst:

»Jetzt wird er da draußen lachen und seine Glossen reißen. Dieser Franzmann ist doch ein unendlich gescheidter Kerl. Er hat die Güte gehabt, mir die allerbeste Auskunft zu geben. Nun weiß ich genau, woran ich bin. Diese Linie vom Steinbruch aus über die Ecke des Waldes ist ganz famos. Ich werde den Herrn Doctor erfreuen, wenn ich ihm heute Abend sagen kann, wo sich dieses Waldloch befindet. Ich breche sofort auf, um es mir anzusehen. Aber vorher muß ich nach Hause, erstens um beim Wirthe keinen Verdacht zu erregen, und zweitens um mir noch


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eine Waffe zu holen. Man weiß nicht, ob ich gleich draußen bleiben muß.«

Er ging, um einen Revolver zu sich zu stecken, und verließ dann die Stadt, indem er die Richtung nach dem ihm sehr wohl bekannten Steinbruche einschlug.

Müller war froh gewesen, vom Wirthe loszukommen. Er nahm sich vor, nicht direct nach Schloß Ortry zu gehen, sondern das Forsthaus aufzusuchen. Er lenkte also von der Straße ab und schlug eine Richtung ein, welche auch an dem erwähnten Steinbruch vorüberführte. -

Unterdessen hatte sich auf dem Schlosse eine aufregende und etwas stürmische Scene ereignet.

Noch befanden sich nämlich die beiden Rallions hier, Vater und Sohn. Die Wunde, welche Fritz bei seiner Flucht aus der Ruine dem Ersteren in die Hand beigebracht hatte, war als nicht bedeutend erkannt worden. Der Schnitt jedoch, welchen Fritz dem Sohne versetzt hatte, war fataler. Erstens verursachte er eine heftige Entzündung und große Schmerzen, und sodann entstellte er das Gesicht, auf welches der Oberst stets sehr eitel gewesen war.

Es verstand sich ganz von selbst, daß die beiden Grafen sich nicht in der allerbesten Laune befanden. Ihre heimlichen Angelegenheiten befanden sich zwar scheinbar im besten Gange, aber in Beziehung der beabsichtigten Verbindung des Obersten mit Marion wollte sich kein erfreulicher Fortschritt zeigen. Darum war Rallion, der Vater, am Morgen, als Marion beim Unterrichte ihres Bruders zugegen war, zu dem alten Capitän gegangen.

Er fand denselben über Briefen und Berechnungen sitzend. Der Alte reichte ihm die Hand und fragte ihn nach dem Grunde des unerwarteten Besuches.

»Hier,« sagte Rallion, »lesen Sie die Zeilen, welche mir durch die Morgenpost zugegangen sind.«

Der Capitän nahm das Papier. Es enthielt nur wenige Zeilen, welche also lauteten:

   »Dem Grafen Jules Rallion auf Ortry!
Kommen Sie sofort. Ihre Gegenwart ist dringend nothwendig, um Gegenströmungen zu bekämpfen.
          Herzog von Gramont.«

Der Befehl war also von dem Minister des Auswärtigen unterzeichnet, welcher, der Kaiserin zur Seite stehend, zu der Kriegspartei gehörte.

»Was sagen Sie dazu?« fragte Rallion.

»Daß Sie reisen müssen. Wer mag der Schöpfer dieser Gegenströmung sein?«

»Das ist mir hinlänglich bekannt, interessirt mich aber augenblicklich gar nicht. Sie selbst sagen, daß ich reisen müsse. Aber denken Sie dabei auch an die Absichten, welche mich zu Ihnen führten?«

»Natürlich.«

»Sie sind unerfüllt geblieben.«

Der Alte blickte verwundert auf. Er legte die Feder weg, zupfte an den Spitzen seines Schnurrbartes und sagte:

»Daß ich nicht wüßte. Sie haben gesehen, daß unsere Organisation nahezu vollendet ist. Sie haben ferner die Vorräthe gesehen, welche sich täglich vergrößern und -«

Rallion schnitt ihm mit einer raschen Handbewegung das Wort ab und fiel ein:

»Das ist es nicht, was ich meine; ich denke vielmehr an unsere Privatangelegenheit.«

»Nun, ist diese nicht in Ordnung?«

»Was nennen Sie Ordnung, bester Capitän?«

»Den gegenwärtigen Zustand der Dinge!«

»Pah, ich finde ihn sehr unbefriedigend, also nicht in Ordnung.«

Der Alte sah ihn groß an; auf seiner Stirn zeigte sich eine Falte des Unmuthes.

»Mein lieber Graf,« sagte er, »wenn ich von Ordnung spreche, so weiß ich, was ich sage. Ich hoffe, Sie kennen mich.«

»Ja, ich kenne Sie allerdings; aber selbst der sorgfältigste Rechner irrt sich einmal. Vielleicht nähern wir uns einem Facit, an welches wir nicht gedacht haben.«

»Wieso? Es giebt Gründe, welche uns eine Verbindung unserer Kinder dringend wünschen lassen. Ich habe Ihnen gesagt, daß Marion die Gemahlin Ihres Sohnes wird. Beide haben sich hier eingefunden, um sich kennen zu lernen. Ist das nicht genug?«

»Nein.«

Da zog ein eigenthümliches Lächeln über das Gesicht des Alten.

»Hm!« sagte er. »Sollten Sie so heißblütig sein, an eine sofortige Vermählung zu denken?«

»Das kann mir nicht einfallen. Aber eine Sicherheit wünsche ich doch zu erhalten.«

»Sie haben mein Wort. Genügt Ihnen das nicht?«

»Nein.«

Der Graf sagte das ruhig, konnte sich aber doch nicht enthalten, einen ängstlichen Blick auf den Capitän zu werfen. In den Augen desselben leuchtete es zornig auf.

»Wie?« fragte er. »Was sagen Sie? Mein Wort, mein Versprechen, mein Ehrenwort genügt Ihnen nicht?«

»Wie hoch Ihr Wort mir steht, das wissen Sie. Sie haben es oft und zur Genüge erfahren. Aber in diesem Falle kommt es in eben dem Grade, vielleicht noch mehr, auf das Wort noch einer anderen Person an.«

»Wen meinen Sie? Den Baron? Oder die Baronin?«

Der Graf kannte die Verhältnisse des Hauses genau. Er lachte verächtlich auf und sagte:

»Pah! Nach dem Willen oder den Wünschen dieser Beiden fragen Sie doch auf keinen Fall!«

»Allerdings. Sie können also nur Marion selbst meinen?«

»Ja; sie ist es.«

»Nun, da beruhigen Sie sich sehr. Marion wird gehorchen!«

»Sie erlauben mir, das zu bezweifeln!«

»Wieso? Haben Sie Gründe?«

»Beobachten Sie doch die Dame, wie sie sich meinem Sohne gegenüber verhält!«

»Nun, wie denn?«

»Kalt abweisend, fast möchte ich sagen verächtlich.«

»Ja, das Mädchen hat Temperament, und Ihr Sohn giebt sich keine Mühe, sich ihrem Ideale zu nähern. Denn ein Ideal, so ein lächerliches Phantom, schafft sich ja jedes junge Ding. Er mag versuchen sie zu gewinnen!«

Der Graf schüttelte den Kopf.

»Dazu habe ich keine Zeit. Ich bin gekommen, Sicherheit mit hinweg zu nehmen. Jetzt muß ich reisen. Was bieten Sie mir?«


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»Ah! Denken Sie vielleicht an eine Verlobung?«

»Vielleicht!«

»Bei dem Zustande Ihres Sohnes? Er hütet das Bett; er ist Patient; er ist entstellt!«

»Nun, so mag mir die Zusage Marions genügen. Diese aber muß ich haben, wenn ich beruhigt abreisen soll.«

»Sie ist nicht nöthig, Graf!«

»Und dennoch verlange ich sie. Wie nun, wenn Marion bereits gewählt hätte?«

Da zogen sich die Spitzen des weißen Schnurrbartes in die Höhe. Der Alte hatte jetzt jenes bissige Aussehen, welches man in den Augenblicken des Zornes an ihm zu beobachten pflegte.

»Die?« fragte er in verächtlichem Tone. »Was hätte denn die zu wählen!«

»Und wenn es nun doch so wäre!«

»So bin doch ich Derjenige, dem sie zu gehorchen hat und dem sie gehorchen muß!«

»Ueberzeugen Sie mich!«

»Graf, Sie sind wirklich unbegreiflich! Aber aus alter Freundschaft will ich Ihnen den Willen thun. Ich werde mit Marion sprechen.«

»Wann?«

»Wann reisen Sie?«

»Morgen früh.«

»Ihr Sohn bleibt hier?«

»Ja. Sein Zustand verträgt nicht, daß er seinen hiesigen Aufenthalt unterbricht.«

»Nun gut, so werde ich nach der Tafel mit Marion reden, und dann können Sie ihre Zustimmung aus ihrem eigenen Munde vernehmen.«

»Ich will es hoffen!«

»Uebrigens habe ich Ihnen auch außer dieser Angelegenheit eine höchst erfreuliche Mittheilung zu machen. Ich erhielt, gerade wie Sie, heute Briefe; darunter befindet sich Einer, den wir längst mit Sehnsucht erwartet haben.«

Der Graf horchte auf.

»Doch nicht aus New-Orleans?« fragte er rasch.

»Ja, doch.«

»Gott sei Dank! Wie lautet er? Zustimmend?«

»Ja. Die Firma sendet uns einen ihrer Beamten, einen Master Deephill, welcher den Auftrag hat, mit uns abzuschließen. Der Mann hat die Millionen bei sich und wird morgen mit dem Mittagszuge hier eintreffen.«

»Von Trier oder Luxemburg aus?«

»Auf der ersteren Linie.«

»So haben wir gewonnen! Dies giebt mir die Hoffnung, daß auch die Privatangelegenheit sich glücklich ordnen lassen wird.«

»Verlassen Sie sich auf mich!«

Damit war diese Besprechung zu Ende.

An der Mittagstafel ging es sehr einsilbig, fast möchte man sagen, düster her. Der Baron speiste wie ein Automat; er war geistesabwesend und sprach kein Wort. Der junge Graf konnte nicht erscheinen; sein Vater hatte keine Lust, ein Gespräch zu beginnen. Der alte Capitän konnte es noch immer nicht verwinden, daß er gezwungen worden war, den Erzieher mit an dem Tische zu sehen. Die Baronin, Marion und Nanon berücksichtigten diese Verhältnisse durch tiefes Schweigen, und wenn ja ein lautes Wort gehört wurde, so waren es nur Müller und Alexander, welche mit einander sprachen.

Nach Tische, als sich Alle erhoben, beorderte der Capitän Marion und die Baronin auf sein Zimmer. Dies geschah in jenem harten, befehlenden Tone, welcher nie etwas Gutes verhieß.

Der Alte ging langsam in dem Raume auf und ab. Die Baronin war die Erstere, welche erschien.

»Wo ist Marion?« fragte er.

»Ich weiß es nicht,« antwortete sie. »Ich hatte natürlich Grund, sie hier zu vermuthen.«

Sein Schnurrbart zuckte, aber er sagte doch nichts. Die Baronin nahm Platz, und Beide warteten, bis endlich Marion in das Zimmer trat.

Der Alte lehnte sich an seinen Schreibtisch, musterte sie eine Weile und begann dann:

»Warum kommst Du nicht sofort?«

Ihr Gesicht war bleich aber ruhig. Sie ahnte, welches der Gegenstand der Unterhaltung sein werde. Sie hob ihr Auge zu ihm auf und antwortete:

»Ich mußte erst Papa nach seinem Zimmer bringen.«

»Pah! Er kann selbst gehen! Du hast meinen Befehlen stets ohne alles Zaudern nachzukommen. Ich habe sehr Wichtiges mit Dir zu besprechen.«

»So erlaube, daß ich mich setze!«

Sie machte Miene, nach einem Sessel zu greifen; er aber hielt sie durch eine gebieterische Handbewegung davon ab.

»Das ist nicht nöthig!« sagte er. »Was ich Dir zu sagen habe ist zwar wichtig, aber auch kurz. Du wirst gehorchen, und so ist die Unterredung in einer Minute beendet.«

Er fuhr sich mit der Hand über die kahle glänzende Stirn, wendete sich an die Baronin und fragte:

»Sie wissen, Madame, weshalb ich Marion heimgerufen habe?«

»Ja, Herr Capitän,« antwortete sie.

Auf ihrem Gesichte lag ein Lächeln nicht zurück zu haltender Befriedigung. Sie wußte, worüber jetzt gesprochen werden sollte. Sie haßte Marion, haßte sie von ganzer Seele, und so freute sie sich, sie los zu werden, und ebenso großes Vergnügen gewährte ihr der Gedanke, daß das schöne Mädchen einem Manne gehören werde, den sie nicht lieb hatte.

»Und weshalb Graf Rallion mit seinem Sohne sich gegenwärtig auf Ortry befindet?« fragte er weiter.

»Ja.«

»Ich denke mir, daß dieses Arrangement nicht gegen Ihren Geschmack sein wird?«

»Ich fühle mich vielmehr sehr befriedigt von demselben. Oberst Rallion hat eine Zukunft und ist überdies eine sehr interessante Persönlichkeit.«

»Hörst Du, Marion! Der Brief, mittelst welchem ich Dich zurückrief, enthielt bereits einen ziemlich deutlichen Wink. Seit Deiner Rückkehr wirst Du die Güte und Zweckmäßigkeit meiner Absichten erkannt haben, und so bin ich überzeugt, daß Du dem Grafen eine freudige Antwort geben wirst, wenn er Dich jetzt besucht, um Dich zu fragen, ob er Dich von heute an als die Verlobte seines Sohnes betrachten darf?«


Ende der neunundsechzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Die Liebe des Ulanen

Karl May – Forschung und Werk