Lieferung 37

Karl May

4. August 1883

Waldröschen
oder
Die Rächerjagd rund um die Erde.

Großer Enthüllungsroman
über die
Geheimnisse der menschlichen Gesellschaft

von

Capitain Ramon Diaz de la Escosura.


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Er konnte nicht weiterreden; er fiel vor Freude ohnmächtig in das Loch zurück. -

Sternau untersuchte seine Fesseln und fand, daß sie mit einer Zange zu lösen seien. Quimbo aber war bereits nach oben geeilt und kehrte mit dem Schlüssel zurück. Er hatte gewußt, daß derselbe in der Kajüte des Kapitäns hing. Jetzt wurde der Lieutenant losgeschlossen und in noch bewußtlosem Zustande nach oben getragen. Da seine Augen jetzt nicht mehr an das Licht gewöhnt waren, so schaffte man ihn nicht auf das Verdeck, sondern in die Kajüte, worauf Sternau sofort ein Boot nach dem Kriegsschiff sandte, um Amy Lindsay holen zu lassen.

Mittlerweile kam der Lieutenant, oder Mariano, wie er bei den Räubern des Gebirges genannt worden war, wieder zu sich.

»Sennor Sternau, Engel des Himmels, ist es wahr, ist es kein Traum?« fragte er.

»Es ist Wirklichkeit,« antwortete dieser. »Aber fragen Sie nicht. Man wird Ihnen Alles sagen und erzählen. Bitte, Ihre Kleidung ist verfault. Sie sind vollständig unmöglich zu betrachten. Dieser Kapitän Landola wird in seinem Koffer einen Anzug haben. Lassen Sie uns suchen; denn Sie werden in einigen Minuten Besuch erhalten.«

»Aber, wie ist das gekommen, Sennor? Ich hörte schießen!«

»Das erfahren Sie später. Ich bin Ihrer Spur von Europa nach Afrika und von da wieder hierher gefolgt. Wir befinden uns bei Jamaica. Doch davon später. Hier ist eine Hose, eine Jacke, ein Hemde, Schuhe, Taschentuch, Hut, Alles, was Sie brauchen. Hier ist auch Wasser zum Waschen. Beeilen Sie sich!«

»Wer ist der Besuch, welcher kommen will?«

»Eine Dame. Weiter sage ich nichts. Klopfen Sie, wenn Sie fertig sind!«

Sternau verließ die Kajüte, und Mariano begann, sich um- und anzukleiden. Während er damit beschäftigt war, hörte er draußen ein leises Flüstern. Er war sehr schwach, aber es gelang ihm doch, in die anderen Kleider zu kommen, und als er sich dann im Spiegel besehen und da bemerkt hatte, daß er nun wenigstens ein sauberes Aussehen habe, öffnete er den Riegel und klopfte.

»Treten Sie ein, Miß. Er wird vor Freude nicht sterben.«

So hörte er draußen die Stimme Sternau's sagen. Er blickte auf und - sah die Geliebte vor sich, welche sein einziger Gedanke gewesen war in all der Zeit seiner schweren, bitteren Gefangenschaft. Ihr Angesicht strahlte ihm entgegen, wie die Sonne, deren Anblick er so lange entbehrt hatte. Er wankte, aber er raffte sich zusammen. Die Arme ausbreitend in unendlichem Entzücken trat er auf das jetzt vor Freude doppelt schöne Mädchen zu und jauchzte:

»Amy, Miß Amy, welch eine Wonne!«

Sie sah nicht seine abgezehrte Gestalt, seine bleichen, eingesunkenen Wangen; sie sah nur das Leuchten seiner Augen und streckte ihm beide Hände entgegen.

»Alfred,« antwortete sie, »endlich, endlich bist Du wieder frei!«

Sie sanken einander an das Herz und hielten sich lange fest und innig umschlungen. Kein Wort wurde gesprochen, aber ihre Lippen fanden sich wieder und immer wieder; ihre Herzen schlugen an einander, und die Wonne des Wiedersehens ließ ihnen den Augenblick vergessen und dazu Alles, was zwischen ihrer Trennung


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in Rodriganda und dem heutigen Tage lag. Da endlich lösten sich seine Arme, mit denen er sie hielt, langsam von ihrer Schulter, sie sanken ermattet herab; Todesblässe breitete sich über sein Angesicht; seine Augen schlossen sich und sein Körper wankte.

»Alfred!« rief sie, ihn voller Angst festhaltend; »was ist mit Dir!«

»Das Glück - - ist zu mächtig - - - für mich!« seufzte er mit leiser Stimme.

Er griff mit den Händen, wie um einen Halt zu suchen, in die Luft. Er wurde ihr zu schwer, und sie ließ ihn vorsichtig in einen der vorhandenen Sessel gleiten.

»Setze Dich, und ruhe aus,« bat sie. »Du hast viel gelitten; Du bist zu schwach.«

Sie kniete vor ihm nieder, schlang die Arme um ihn und blickte innig und besorgt zu ihm auf. Erst jetzt bemerkte sie die Zerstörung, welche Gefangenschaft, Hunger, Durst und seelisches Leiden in seinem Gesichte und seinem ganzen Körper hervorgebracht hatten. Ihr Herz krampfte sich zusammen; sie hätte laut aufschreien mögen vor Mitleid und Schmerz, aber sie bezwang sich und gab ihre unendliche, angstvolle Theilnahme nur durch die mit zitternder Stimme ausgesprochene Frage kund:

»Du leidest? Du bist krank, mein Geliebter?«

Es währte einige Zeit, bis er seiner augenblicklichen Schwäche Herr werden konnte; dann öffneten sich seine Augen; sein Blick senkte sich mit glücklichem Ausdrucke in den ihrigen; es kehrte eine leise Röthe auf seine Wangen zurück, und er antwortete:

»Ich habe viel erduldet; ich wäre meinen Leiden in kurzer Zeit erlegen, aber nun ist Alles, Alles gut.«

Sie streichelte ihm vor überquellender Zärtlichkeit die hageren Wangen und sagte:

»Ja, mein Alfred, Du sollst wieder stark werden, so stark wie damals, als Du in Spanien unser Schutz und Retter warst. Ich werde Dich nicht wieder von mir lassen; ich werde Dich pflegen, bis alle Spuren Deiner Leiden verschwunden sind. Und dann - - -«

Sie hielt erröthend inne und sprach den begonnenen Satz nicht aus.

»Und dann - - -?« fragte er, sich liebevoll zu ihr niederbeugend.

»Und dann - -« fuhr sie leise fort, »dann werden wir vereinigt bleiben für das ganze Leben.«

Sie schmiegte ihr schönes Köpfchen innig an ihn; er aber schüttelte langsam den Kopf und sagte:

»Das wird wohl nicht möglich sein!«

»Warum nicht?« fragte sie.

»Du kennst mich nicht. Du weißt nur wenig von mir, und das, was Du weißt, das ist - - das ist reine Unwahrheit.«

Man sah es ihm an, wie schwer es ihm wurde, diese letzten Worte auszusprechen. Ueber ihr Gesicht flog es wie ein leichtes Erschrecken. Sie blickte ihm forschend in die Augen; sie sah darin nur Liebe und Trauer; darum drückte sie seine Hände und sagte:


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»Haben Dich die Leiden so verzagt gemacht? Dein Muth wird wiederkehren, mein Geliebter. Ja, ich weiß wenig von Dir, aber ich weiß ja, daß Du mich liebst, und das ist genug für mich. Das Andere alles ist meinem Herzen eine Nebensache.«

»Aber dennoch mußt Du es erfahren. Höre mich an! Ich bin nicht der, der ich scheine - -«

Sie legte ihm die Hand auf den Mund und unterbrach ihn rasch:

»Nicht jetzt, Alfred! Ich weiß, daß Du rein und edel bist und mehr mag ich jetzt nicht erfahren. Hast Du Dich gekräftigt, dann magst Du mir erzählen, was Du auf dem Herzen trägst. Jetzt aber laß uns nur daran denken, Gott zu danken, daß er Dich aus solch einer Trübsal erlöst und mir wiedergegeben hat.«

Ein leises, glückliches Lächeln breitete sich über sein Angesicht und er that ihr den Willen. Seine Hände lagen in den ihrigen, und sein Auge hing trunken an ihren schönen, milden Zügen. Sie dachten nur an sich; sie achteten nicht des Lärmes, welcher dadurch erregt wurde, daß vielfache Schritte die Luckentreppe auf- und niederstiegen. Dies kam daher, daß die auf dem Piratenschiffe vorhandenen Waaren, Waffen und andere Gegenstände auf das Kriegsschiff übergeladen wurden.

Endlich klopfte es leise an die Thür, und auf ihren Zuruf trat Sternau herein.

»Entschuldigen Sie,« bat er. »Die Sorge um den Freund veranlaßt mich zu der Störung. Ich komme als Arzt und möchte den Herrn Lieutenant ersuchen, mit auf das Verdeck zu kommen. Ein Mann, welcher Monate lang im Kielraume eines Schiffes eingekerkert war, darf sich der Sorge um seine Gesundheit nicht länger entziehen, als es durchaus unumgänglich ist.«

Sie folgten ihm hinauf.

Da droben sah es wirr und chaotisch aus. Da lagen Kisten, Säcke, Ballen, Waffen, Munition und Proviant bunt durcheinander, und alle Hände waren beschäftigt, diese Dinge auf das Kriegsschiff zu bringen, welches sich Seite an Seite mit dem Piraten gelegt hatte. Am anderen Bord des Letzteren lag die kleine Dampfyacht, deren Bemannung den Engländern bei der Arbeit half.

Jetzt, da der Spanier von dem vollen Lichte der Sonne beschienen wurde, sah man erst mit Deutlichkeit, welchen Einfluß seine traurige Gefangenschaft auf ihn hervorgebracht hatte. Er glich der Abbildung des Todes. Seine Farbe spielte in das Grüne; seine Augen lagen tief in ihren Höhlen, und die Haut spannte sich scharf über die hervortretenden Knochen. Er war der körperlichen Auflösung ebenso nahe gewesen wie dem geistigen Verschmachten.

Sternau untersuchte ihn sorgfältig, wobei das Auge des Mädchens voller Angst auf dem ernsten Angesicht des Arztes ruhte.

»Wir wollen Gott danken,« sagte er endlich, »daß wir Sie heut getroffen haben, Lieutenant. Eine Woche später wären Sie nicht mehr unter den Lebenden gewesen.«

Amy erschrak und entfärbte sich.

»O mein Gott!« rief sie. »Ist sein Zustand so Besorgniß erregend, Herr Doktor?«

»Nein, Miß,« antwortete Sternau. »Ich konstatire nichts als eine allerdings


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hochgradige Schwächung, deren wir aber bei einiger Vorsicht recht bald Meister werden wollen. Freie Luft, fleißige Bewegung und eine sorgfältige, dem Leiden angemessene Ernährung werden das Ihrige thun, unserem Freund seine früheren Kräfte wieder zu geben.«

»O, ich danke Ihnen für diesen Trost!« sagte sie, dem Arzte ihre Hand entgegen streckend. »Ich werde ihn pflegen nach besten Kräften und Nichts versäumen, was nöthig ist.«

Er blickte sie fragend an und sagte:

»Werden Sie Gelegenheit dazu finden, Miß Amy?«

»Gewiß. Ich werde mich ja nicht wieder von ihm trennen!«

»Dann bitte ich Sie vor allen Dingen, mich zu unterrichten, wie Sie an Bord dieses Kriegsschiffes in die Nähe von Jamaika kommen.«

»Ich will zum Gouverneur dieser Insel, um ihm wichtige Briefschaften zu überbringen.«

»So ist unser Zusammentreffen also ein rein zufälliges - - -«

»O nein,« unterbrach sie ihn schnell. »Es ist viel mehr als das; es ist eine Fügung Gottes, dem wir nicht genug Dank dafür sagen können.«

»Ich gebe dies natürlich zu. Wie lange werden Sie sich auf Jamaika verhalten?«

»So lange, bis ich die Antwort erhalten habe. Oder meinen Sie, daß der Zustand unseres Freundes einen längeren Aufenthalt nöthig macht?«

»Ich möchte ihm allerdings eine längere Zeit der inneren und äußeren Ruhe verordnen; aber das Klima von St. Jago de la Vega ist sehr ungesund.«

»Der Gouverneur residirt jetzt nicht in dieser Hauptstadt, sondern in Kingston.«

»O, Kingston ist noch gefährlicher. Diese Stadt ist ja berüchtigt in Beziehung auf ihre Fieberluft; ich möchte dort keinen Patienten wissen. Das Ziel Ihrer Rückreise ist Mexiko?«

»Ja. Der Kriegsdampfer hat Auftrag, mich wieder nach Vera Cruz zu bringen.«

Sternau nickte nachdenklich und sagte dann:

»Der Dampfer wird bis morgen hier liegen bleiben, um die Güter des Piraten über zu laden. Ich schlage daher vor, Sie dampfen sogleich mit meiner Yacht nach Kingston. Der Gouverneur wird, wenn Sie ihn darum ersuchen, sich beeilen, Ihnen seine Antwort zu geben, und dann bringe ich Sie sofort selbst nach Vera Cruz. Sie können sich meiner Yacht getrost anvertrauen. Sie ist schneller als das Kriegsschiff und auch gut bewaffnet, so daß wir nichts zu befürchten haben. Je eher wir den Lieutenant nach der gesunden Hochebene von Mexiko bringen, desto sicherer können wir auf seine baldige Herstellung rechnen.«

Sie ging auf diesen Vorschlag ein, und Mariano, der einstige Räuber, stimmte bei. Der Kapitän des englischen Kriegsschiffes wurde von diesem Entschlusse benachrichtet. Er bemerkte zwar, daß die Dame ihm anvertraut sei, konnte sie aber doch nicht zwingen, auf seinem Fahrzeuge zu bleiben. Er machte in ehrlicher Weise Sternau darauf aufmerksam, daß dieser bei dem Angreifen des Piraten mitgewirkt habe und also Theilhaber am Prisengelde sei, doch dieser schlug dies aus, ließ die Effekten der Engländerin an Bord der Yacht bringen und dampfte dann davon, Kingston entgegen.


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Als sie dort anlangten, wurde nach den nothwendigen Formalitäten Amy an das Land gesetzt, und Sternau begleitete sie zum Gouverneur. Dieser wollte sie seiner Familie vorstellen und bat sie, längere Zeit der Gast derselben zu sein; sie aber bat, sie von einem solchen Aufenthalte zu dispensiren, da sie Veranlassung habe, mit möglichster Schleunigkeit nach Mexiko zurückzukehren. Als der Beamte bemerkte, daß sein Bitten nichts fruchtete, versprach er sofortige Erledigung der Depeschen und er hielt auch in der Weise Wort, daß die Yacht »Rosa« bereits am nächsten Vormittage in See stechen konnte.

Sie dampfte ganz denselben Weg zurück, den das Kriegsschiff gekommen war; darum traf sie an der Pedro-Bank wieder auf dasselbe. Es lag noch immer neben der »Pendola« um deren Ladung zu löschen. Sternau legte einige Augenblicke bei und erfuhr da, daß man bald mit der Arbeit fertig sei und dann das Räuberschiff anbohren und in die Tiefe senken werde.

»Es wird von den Piraten wohl keiner entkommen sein,« sagte Amy.

»Das ist sehr fraglich,« meinte der englische Kapitain. »Als Sie uns gestern verlassen hatten, suchte ich mit dem Fernrohre die da drüben liegende Küste von Jamaika ab, und da glaubte ich einige Männer in Seemannstracht zu bemerken, welche einen Verwundeten oder überhaupt Kranken trugen. Da dieser Theil der Küste unbewohnt ist, fiel mir die Anwesenheit dieser Leute auf und ich sandte sofort ein Boot ab; doch fanden meine Jungens zwar menschliche Spuren aber keine Personen.«

»Sollte es wirklich dem Kapitän gelungen sein, an das Ufer zu kommen?« meinte Sternau. »Dann wäre es besser, einmal dort anzulegen.«

»Warum sollte es grade der Kapitain sein?« fragte der Engländer.

»Weil ich ihn allein verwundet habe, und zwar mit Vorbedacht; die Anderen habe ich erschossen.«

Da meinte Mariano mit finsterer Miene:

»Er ist des Lebens nicht werth, aber dennoch würde ich mich freuen, wenn er lebte, denn dann hätte ich Hoffnung, ihm noch einmal zu begegnen und mit ihm abzurechnen. Er ist wie ein Teufel gegen mich gewesen; ich habe Höllenqualen bei ihm erduldet, und das sollte er mir mit doppelten Qualen entgelten.«

»Gut, verschaffen wir uns Gewißheit!« sagte Sternau. »Die Nachforschung erfordert einen Aufenthalt von höchstens einer Stunde, und es ist besser wir wissen, woran wir sind.«

Die Yacht dampfte dem Punkte der Küste entgegen, welchen der Kapitain bezeichnet hatte, und erreichte denselben binnen einer Viertelstunde. Da Sternau sich von den Andern die Spuren nicht verderben lassen wollte, stieg er zunächst allein aus um den Ort sorgfältig abzusuchen, aber die Küste bestand aus hartem Korallenfelsen, und da gestern, als der Kampf stattgefunden hatte, grad Ebbe gewesen war, so hatte die Fluth inzwischen die vorhandenen Spuren wieder verwaschen. Sie mußten also unverrichteter Sache wieder abfahren.

Die Fahrt nach Vera Cruz war eine sehr schnelle und glückliche. Als man dort anlangte, wurde beschlossen, daß Sternau und Helmers die beiden Liebenden nach Mexiko begleiten sollten. Die Yacht blieb unter der Obhut der Matrosen zurück.


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Da Mariano an so großer Schwäche litt, so war es unmöglich, zu Pferde zu reisen. Es wurde die Postdiligence benutzt, welche zwischen Mexiko und dem Hafen regelmäßig hin und her geht. Die drei Männer bewaffneten sich, versahen sich mit Proviant, da man in jenen Gegenden von unseren wohleingerichteten Gasthäusern und Restaurationen nichts weiß, und dann verließen sie die fieberduftende Hafenstadt.

Eine Fahrt mit der mexikanischen Diligence ist nichts Bequemes und Erfreuliches. Ein solcher Wagen ist für zwölf bis sechzehn Personen eingerichtet und wird von acht halbwilden Maulthieren gezogen. Vorn sind zwei, in der Mitte vier und an der Deichsel wieder zwei angespannt. Diese Thiere weiden Tag und Nacht im Freien und müssen vor dem Gebrauche immer erst mit dem Lasso eingefangen werden. Sie lassen sich das Geschirr nur mit höchster Widerspenstigkeit anlegen, aber einmal im Zuge, sind sie auch kaum aus ihrem rasenden Galoppe heraus zu bringen.

Die Gegend welche man durchfährt, ist beinahe ganz unbevölkert; der Weg geht durch öde Felsenstrecken, tiefe Schluchten, finstre Urwälder, und nur selten bemerkt man einmal eine einsame armselige Indianerhütte, welche von einem herabgekommenen Nachkommen der einstigen Beherrscher des Landes bewohnt wird. Kein Europäer kann sich einen Begriff von den Hindernissen machen, welche der Reisende zu überwinden hat.

Oft ist die Straße weiter nichts als das ausgetrocknete, mit Felsbrocken bedeckte Bette eines im Frühjahre reißenden Bergstromes; oft führt sie an Abgründen vorüber, in welche man beim geringsten Fehltritte stürzt. Und dabei braust die Diligence in einem rasenden Galoppe immer weiter. Der Kutscher sitzt auf dem Bocke, die sechzehn Zügel in der Hand, und neben ihm sein Adjutant, der Mauleselbube.

Dieser hat keine Minute lang Rast und Ruhe. Er springt mitten im Galoppe vom hohen Bocke, um die Thiere zu richten oder den Wagen zu halten; dabei sammelt er sich die tiefen Taschen voller Steine, springt mitten im Lauf wieder auf, ohne daß dem Tempo im Geringsten Einhalt gethan wird und bombardirt nun mit seinen Steinen diejenigen Thiere, weiche sich faul oder unlenksam zeigen.

Dies ist die hohe Schule, durch welche er gehen muß, um später selbst Kutscher werden zu können. Ein guter Diligencekutscher ist eine sehr geschätzte Persönlichkeit, und zwar mit vollem Rechte. Er wird von jedermann »Sennor« genannt. Wenn er die Strecke zwischen Mexiko und Vera Cruz versieht, so bezieht er eine Gage von 120 Pesos pro Monat; das sind nach unserem Gelde ungefähr 500 Mark. Dabei wird er ganz verköstigt und hat am Ende des Jahres, wenn er kein einziges Mal umgeworfen hat, noch Anspruch auf eine Extrabelohnung von 1000 Mark zu machen. Er steht sich also weit besser als ein deutscher Postillon.

Eine große Plage ist die Unsicherheit des Weges. Ein jeder Mexikaner ist mehr oder weniger ein Freibeuter; zuweilen thun sich Mehrere zusammen und so ist es kein Wunder, wenn man eine solche Reise nur sehr wohl bewaffnet unternimmt. Und dennoch kommt es häufig vor, daß die Passagiere ihr Ziel nicht unberaubt, vielleicht auch gar nicht erreichen, weil sie getödtet werden.

Am Abend erreichten unsere Reisenden eine Art von Gehöfte, wo sie gezwungen waren, zu übernachten. Dieses Gehöfte bestand aus einer sehr niedrigen schmutzigen Hütte, an welche eine weite Umzäunung stieß, welche von stacheligen Cactus herge-


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stellt war. Innerhalb dieser Umzäunung weideten einige magere Pferde und Maulthiere. Die Hütte bewohnte der »Postmeister«, ein hagerer Mexikaner, welcher einem Raubmörder ähnlicher sah, als einem ehrlichen Manne.

Er führte neben der »Posthalterei« zugleich einen Pulque-Schank; das heißt, er sammelte den Saft einer Agaven-Art, ließ denselben in schmutzigen Töpfen und Krügen gähren und verkaufte ihn sodann gegen hohes Geld an diejenigen Insassen der Diligence, welche sich nicht ekelten, ihren Durst mit dieser Brühe zu stillen.

Amy behauptete, sich vor diesem Manne zu fürchten; sie scheute sich überdies vor dem gräßlichen Schmutze seiner Wohnung, und so wurde ihr in der Diligence ein Lager zubereitet. Die drei Männer wollten in der Nähe derselben im Freien schlafen.

Der Abend war ein herrlicher. Die Sterne des Aequators leuchteten wie glühende Funken vom Himmel hernieder, und balsamische Lüfte fächelten die ruhende Erde. Amy und Mariano hatten sich von den Andern getrennt und wandelten unter dem Schutze der Umzäunung auf und nieder. Sie führten sich am Arme; das Herz war ihnen voll, und doch fanden sie keine Worte, um die Größe ihres Glückes zu beschreiben. Endlich sagte Amy mit leiser, inniger Stimme:

»Welch eine Zeit zwischen jetzt und Rodriganda!«

»Eine Zeit schwerer Trübsale für mich,« antwortete er.

»Und für mich eine Zeit bitterer Sorge um Dich, mein Alfred.«

Da ließ er ihren Arm fahren, blieb stehen und sagte:

»Nenne mich nicht mehr Alfred, sondern Mariano, denn so ist mein Name.«

»Mariano?«

»Ja. Alfred de Lautreville war nur ein angenommener Name.«

Sie blickte überrascht zu ihm empor und sagte nach einer kleinen Pause:

»War es das, was Dich so sehr bedrückte?«

»Ja, das war es. Komm, laß uns niedersetzen. Ich muß wahr gegen Dich sein.«

»Hat dies nicht noch Zeit, mein Geliebter?«

»Nein. Es lastet schwer auf meiner Seele, und diesen Druck will ich los werden.«

»Aber Du bist krank. Du wirst Dich aufregen!«

»Trage keine Sorge, Amy. Das Bewußtsein, unredlich zu handeln, schadet mehr als die Erinnerung an eine Zeit, von der ich wünsche, daß sie nicht stattgehabt hätte.«

Ein Felsenblock gab ihnen einen bequemen Sitz. Sie nahmen Platz, und nachdem Mariano einige Zeit lang trüb vor sich hingeblickt hatte, begann er:

»Du hast von Sternau Einiges über meine muthmaßliche Abstammung gehört?«

»Ja; bereits in Rodriganda gab er mir einige Andeutung, und später schrieb er mir.«

»Nun wohl. Ich bin das Opfer eines Verbrechens, welches aufzudecken meine Lebensaufgabe ist. Ich wurde meinen Eltern geraubt und kam in eine Räuberhöhle.«

Amy stieß einen Ruf der Ueberraschung aus.


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»Ists möglich! In eine Räuberhöhle?«

»Ja. Ich bin ein Brigant, ein Räuber.«

Das hatte sie nicht erwartet; das stürmte mit voller Wucht auf sie ein. Sie holte tief Athem, aber sie vermochte nicht, ein Wort zu sprechen.

Er bemerkte das mit unendlichem Schmerz, rückte von ihr fort und sagte:

»Du schweigst. Du verachtest mich. Das war es, was ich fürchtete!«

Da faßte sie ihn bei der Hand und fragte:

»Du konntest nicht dafür, daß Du an diesen schauerlichen Ort kamst?«

»Nein, denn ich war noch ein Kind.«

»Und Du wurdest ohne Deine Schuld als Brigant erzogen?«

»Ich lebte unter den Briganten, aber ich wurde nicht als solcher erzogen. Ich habe nie das Geringste gethan, was mich mit dem Gesetz hätte in Conflikt bringen können.«

»Gott sei Dank!« sagte sie. »Da ist ja Alles gut. Aber wie konntest Du unter den Räubern der Mann werden, der Du geworden bist?«

»Weil der Kapitän höhere Absichten mit mir verfolgt zu haben scheint. Er ließ mich ganz nach dem Stande erziehen, dem ich eigentlich angehöre. Das einzige Unrecht, welches ich beging, war, daß ich in Rodriganda einen falschen Namen trug.«

»Du konntest nicht anders, mein Mariano.«

Es war das erste Mal, daß sie diesen Namen aussprach. Er drückte ihre Hand an sein Herz und sagte:

»Ich danke Dir, mein Leben! Du machst mir das Herz leicht, und nun habe ich auch den Muth, Dir Alles, Alles zu erzählen, was mich so lang und so schwer bedrückte.«

Er zog sie an sich, legte leise ihr Köpfchen an seine Brust und begann zu erzählen. Er berichtete von den Erinnerungen an die ersten Tage seiner Kindheit, von seinem Leben unter den Briganten und von Allem, was später gekommen war. Es dauerte lange, ehe er fertig wurde, aber als er geendet hatte und ihr dann auch all die scharfsinnigen Combinationen Sternau's berichtet hatte, da schlang sie die Arme um seinen Hals, küßte ihn innig und sagte:

»Ich danke Dir für Deine Offenheit! Nun ist Alles, Alles gut, denn nun weiß ich, daß Du meiner würdig bist. Gott wird Alles zum Besten lenken.«

»Aber Dein Vater - -?« fragte er.

»Trage um ihn keine Sorge! Er ist gerecht und mild und liebt mich von ganzem Herzen; er wird thun, was ihm seine Liebe gebietet.«

Sie saßen noch eine ganze Weile bei einander, versunken in Hoffnung und Glück, dann aber kehrten sie zu den Andern zurück, um sich zur Ruhe zu begeben. Amy schlief in dem Wagen, und die Andern lagen, in ihre Decken gehüllt, neben demselben.

Am andern Morgen wurde die Reise fortgesetzt. Das fürchterliche Fahren griff Mariano bei seinem geschwächten Zustande außerordentlich an, und als sie Mexiko erreichten, war er fast noch mehr krank als vorher; aber Sternau beruhigte das besorgte Mädchen. Er sagte Amy, daß einige Wochen der Erholung hinreichen würden, ihm seine Kräfte und seine Gesundheit zurückzugeben.


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Amy wollte, daß ihre drei Begleiter sofort mit nach dem Palazzo ihres Vaters fahren sollten, aber Sternau schlug dies ab.

»Wir bleiben im Hotel,« sagte er. »Ihr Vater kennt uns noch nicht persönlich, und was Sie ihm von uns erzählt haben, das reicht noch nicht hin, so ohne Weiteres seine Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen.«

»Aber Sie haben mir so große Dienste geleistet und mich sicher nach Mexiko gebracht!«

Er lächelte und antwortete:

»Miß Amy, wollen Sie unsern Freund Mariano so ganz ohne alle Einleitung Ihrem Vater als Ihren Verlobten vorstellen?«

Sie erröthete und antwortete dann:

»Sie mögen Recht haben. Steigen Sie einstweilen im Hotel ab; aber versprechen Sie mir auch, daß Sie sich nicht zurückziehen wollen, wenn Vater wünscht, daß Sie bei uns wohnen sollen!«

»Das verspreche ich gern, Miß. Ich bin nach Mexiko auch gekommen, um diesen Cortejo kennen zu lernen, und das wird leichter sein, wenn ich bei Ihnen wohne. Vielleicht finden wir hier den Schlüssel zu dem Räthsel, dessen Lösung unsere Aufgabe ist.«

Die Diligence brachte zunächst die drei Männer nach dem Hotel, wo sie abstiegen, und führte dann Amy nach dem Palaste ihres Vaters.

Dieser hatte keine Ahnung gehabt, daß seine Tochter so schnell zurückkehren werde, und war daher im höchsten Grade erstaunt, sie bei sich eintreten zu sehen.

»Amy!« rief er, sich von seinem Arbeitssessel erhebend. »Ist das möglich!«

»O, Papa, es ist sogar wirklich,« lachte sie. »Wenigstens hoffe ich, daß Du mich nicht als einen Geist ansiehst.«

»Aber Du kannst ja gar nicht in Jamaika gewesen sein!«

»Freilich war ich dort. Ich werde Dir dies beweisen, indem ich Dir die Antwort des Gouverneurs überreiche.«

Sie zog ihr Portefeuille und legte ihm die Scripturen vor.

»Wahrhaftig!« meinte er. »Aber wie ist das zugegangen?

»Das hast Du nur den Herren zu verdanken, welche mich begleiteten, Pa.«

»Welchen Herren?«

»Nun, vor allen Dingen Herrn Sternau.«

»Herrn Sternau?« fragte er, abermals verwundert.

»Ja, Herrn Doctor Sternau.«

»Alle Tausend! Du meinst doch nicht etwa jenen famosen Doctor Sternau, von dem Du mir erzählt hast, und den Du in Rodriganda trafst?«

»Gerade den meine ich!«

»Der hat Dich nach Mexiko gebracht?«

»Erst nach Jamaika und dann zurück nach Mexiko. Er ist in Begleitung zweier Herren hier. Ich werde Dir das erklären, nachdem Du die Antworten des Gouverneurs gelesen hast. Bis dahin habe ich Zeit gefunden, meine Reisetoilette abzulegen.«

Erst jetzt fanden Vater und Tochter Zeit, sich durch eine herzliche Umarmung zu begrüßen; dann verließ sie ihn, um sich von den Spuren der Reise zu befreien.


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Nach einer Stunde befand sie sich abermals bei ihm. Sie saß an seiner Seite und erzählte, wahr und aufrichtig, wie es einer Tochter geziemt. Er hörte ihr mit sehr ernster Miene zu. Das, was er hörte, klang ja noch abenteuerlicher als ein Roman; es machte ihm schwere Sorgen. Amy war seine einzige Tochter; er hatte weitgehende Pläne mit ihr gehabt, und nun theilte sie ihm auf einmal mit, daß sie - - einen spanischen Räuber liebe.

Als sie geendigt hatte, wartete sie vergebens auf eine Antwort. Er erhob sich und schritt wortlos im Zimmer auf und ab. Endlich aber blieb er vor ihr stehen und sagte mit mildernster Stimme:

»Amy, mein Kind, ich habe immer nur Freude an Dir erlebt, heute aber ist es das erste Mal, daß Du mich betrübst.«

Da sprang sie empor und schlug die Arme um seinen Hals.

»Verzeihe mir! Ich will Dich nicht betrüben,« sagte sie, »aber Gott hat diese Liebe in mein Herz gelegt, und nun kann ich nicht anders.«

Er schob sie leise von sich ab und fragte:

»Und Du glaubst an Alles das, was Du mir jetzt von diesem Mariano erzählt hast?«

»Ja; ich glaube es sicher und fest.«

»Und Du liebst wirklich diesen - - diesen Zögling eines Räuberhauptmannes?«

»Ich liebe ihn,« sagte sie, indem sie den Vater offen anblickte; »ich liebe ihn so, daß ich ohne ihn nie glücklich werden kann!«

»Und an mich, an Deinen Vater denkst Du nicht?« fragte er, beinahe traurig.

»Doch, Pa, ich denke auch an Dich.«

»Und dennoch sprichst Du von dieser abenteuerlichen Liebe!«

Da trat sie einen Schritt auf ihn zu und fragte:

»Vater, Du gönnst es mir glücklich zu sein?«

»Gewiß! Und eben weil ich wünsche, daß Du glücklich seist, thut es mir so wehe, Dein Herz in diesen Fesseln zu wissen.«

»Prüfe Mariano, Pa, prüfe ihn! Und wenn Du dann noch sagst, daß er meiner unwürdig sei, so werde ich Dir gehorchen und ihn nie wiedersehen.«

Es lag ein großes Kindesvertrauen in diesen Worten; der Lord wußte das, und daher klärten sich seine Züge auf.

»Ich danke Dir für dieses Wort, Amy!« sagte er. »Du sollst Dich in Deinem Vater nicht täuschen. Gehe jetzt, und ruhe von Deiner Reise aus; ich werde unterdessen nachdenken, was ich thun kann, um Dich glücklich zu sehen.«

Er küßte sie mit väterlicher Zärtlichkeit, und dann wandte er sich seiner Arbeit zu, aber nur scheinbar. Als sie ihn verlassen hatte, erhob er sich wieder von seinem Sessel und wanderte ruhelos im Zimmer auf und ab. Endlich schien er einen Entschluß gefaßt zu haben.

»Es giebt nur Einen, an den ich mich in dieser schlimmen Angelegenheit wenden kann,« sagte er zu sich selbst. »Das ist kein Anderer, als jener Sternau, der ein wahrer Held an Geist und Körper zu sein scheint. Ich kenne ihn zwar persönlich nicht, aber was ich von ihm gehört habe, das ist genug, um ihm mein volles Vertrauen zu schenken.«


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Er klingelte seinem Diener und ließ sich zum Ausgehen ankleiden. Heute aber machte er von seiner Equipage keinen Gebrauch. Zwar ist es in Mexiko fast eine Schande, sich als Fußgänger auf der Straße sehen zu lassen, aber der Lord zog es dennoch vor, nach dem Hotel zu gehen, welches ihm als Absteigequartier der drei Herren von seiner Tochter bezeichnet worden war.

Als er dort angekommen war, erkundigte er sich bei dem Wirthe nach Sennor Sternau.

»Er ist in seinem Zimmer,« lautete die Antwort. »Wollen Sie ihn sprechen?«

»Ja.«

»Wen soll ich melden?«

»Einen Herrn, der ihn unter vier Augen zu sprechen verlangt.«

Sternau wunderte sich allerdings, als er so kurze Zeit nach seiner Ankunft hörte, daß ihn bereits ein Fremder zu sprechen wünsche, noch dazu unter vier Augen; doch gewährte er sofort diese Bitte. Als der Lord eintrat und nun die beiden sich gegenüber standen, maßen sie sich zunächst mit forschenden Blicken. Sternau erkannte sofort, daß er keinen gewöhnlichen Mann vor sich habe, und das Auge des Lord's wiederum hing mit sichtbarem Wohlgefallen an der Riesengestalt und dem offenen Angesichte des Deutschen.

»Sie haben mich zu sprechen verlangt?« sagte der Letztere im wohlklingenden Spanisch.

»Allerdings,« antwortete der Erstere. »Vielleicht ist es Ihnen lieber, wenn wir uns der deutschen Sprache bedienen?«

»Ah, Sie sind ein Deutscher?«

»Nein, ein Engländer. Mein Name ist Lindsay.«

Sternau machte eine Geberde der Ueberraschung.

»Lindsay, Sir? Sie sind vielleicht gar Lord Lindsay, der Vater von - -?«

»Allerdings bin ich der, mein Herr.«

»Dann bitte ich dringend, Platz zu nehmen, Sir! Ich konnte allerdings nicht ahnen, daß ich einen so unerwarteten Besuch bei mir sehen würde.«

»Unerwartet ist dieser Besuch,« sagte Lindsay, indem er sich setzte. »Aber Sie werden dennoch den Grund desselben ahnen.«

»Vielleicht,« antwortete Sternau mit einer ernsten Neigung seines Hauptes.

»Lassen Sie sich zunächst Dank sagen, Herr Doctor, für die Freundlichkeit und Aufmerksamkeit, welche Sie meiner Tochter erwiesen haben!«

»O bitte! Ich that nichts Anderes, als was jeder gebildete Mann thun würde!«

»Und sodann erlauben Sie mir, mich in einer etwas schwierigen Sache mit Ihnen zu unterreden!«

Sternau hielt es für seine Pflicht, dem Lord entgegen zu kommen.

»Sie meinen den Freund, welcher bei mir ist?« fragte er.

»Ja. Ich meine das Verhältniß dieses Herrn zu meiner Tochter.«

»So hat Miß Amy Ihnen sofort erzählt - -?«

»Sofort! Ich konnte das auch gar nicht anders von ihr erwarten. Sie ist gewöhnt, ihrem Vater zu vertrauen. Sie kennen diesen Freund genau, Herr Sternau?«


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»Ja.«

»Und auch seine Verhältnisse?«

»Ja.«

»So sind Ihnen diese Verhältnisse also kein Räthsel?«

»Nein.«

»Aber Amy sagte doch, daß er sich unter Umständen befinde, welche eine geradezu abenteuerliche Entwickelung erwarten lassen.«

»Wollen Sie mich nicht falsch verstehen, Sir!« bat Sternau. »Sie fragten mich, ob ich die Verhältnisse meines Freundes kenne, und ich bejahete diese Frage, weil ich die Verhältnisse meinte, in denen er sich gegenwärtig befindet. Er ist - um kurz zu sein - ein entsprungener Räuberzögling, der auf Gottes weiter Welt nichts, gar nichts sein Eigen nennt. Das sind die Verhältnisse, welche ich meine.«

Der Lord sah den Sprecher fragend und ungewiß an. Dann sagte er:

»Aber dieser Zögling der Räuber hat wohl eine Zukunft?«

»Höchst wahrscheinlich.«

»Und welche?«

Sternau zuckte die Achseln. Er kannte den Lord nicht; er wußte nicht, mit welchem Hintergedanken derselbe gekommen sei, und verhielt sich daher zurückhaltend.

»Sie sind sehr reservirt, Herr Sternau,« sagte Lindsay. »Lassen Sie sich sagen, daß ich nichts so sehnlich wünsche, als daß mein Kind glücklich sei. Sie werden aber einsehen, daß ein vorsichtiger Vater keineswegs das Glück seines Kindes in einer Verbindung mit einem Manne gesichert sieht, von welchem er nichts Anderes weiß, als daß dieser ein Räuber war.«

»O bitte, Mariano war nicht Räuber, Sir!«

»Gut, ich will das zugeben. Sie werden jedoch meinen Wunsch begreifen, etwas Näheres über diesen Mariano zu erfahren. Und da Sie mir als ein Ehrenmann geschildert worden sind, so hielt ich es für das Einfachste, Sie um eine kleine Aufrichtigkeit zu bitten. Wird diese Bitte eine Fehlbitte sein?«

Diese Worte waren in einem so offenen und herzlichen Tone gesprochen, daß Sternau sich besiegt fühlte. Er antwortete:

»Mylord, was ich weiß, das sollen Sie erfahren. Fragen Sie!«

»Man vermuthet, daß Mariano das geraubte Kind des Grafen Emanuel de Rodriganda sei?«

»Ja.«

»Und was halten Sie selbst von dieser Vermuthung?«

»Ich halte sie für sehr begründet. Ja, ich bin sogar Derjenige, dem diese Vermuthung zuerst gekommen ist.«

»Darf ich Sie um die Gründe bitten, welche Sie auf einen ebenso seltsamen wie kühnen Gedanken gebracht haben?«

»Gewiß! Wenn es Ihnen Ihre Zeit erlaubt, werde ich Ihnen meine Erlebnisse Alle erzählen.«

»Ich ersuche Sie darum. Zwar hat mir meine Tochter bereits einige Mittheilungen gemacht, doch sind diese noch so lückenhaft, daß ich auf Ihre Mittheilungen förmlich gespannt sein muß.«


// 877 //

»So hören Sie!«

Sternau erzählte nun auf das Ausführlichste alle seine Erlebnisse und Gedanken, von seiner Ankunft in Spanien an bis auf die gegenwärtige Stunde. Der Lord hörte mit immer wachsender Spannung zu. Sternau's Worte trugen das Gepräge der nüchternsten Wahrheit, und seine Schlüsse, welche er zog, ruhten auf so sicheren Gründen und Voraussetzungen, daß der Lord sich schließlich ganz überzeugt fühlte.

»Aber das ist ja etwas ganz und gar Außerordentliches!« rief er. »Das liest man ja auf diese Weise kaum in einem Roman!«

»Ich gebe das zu, Mylord,« sagte Sternau. »Aber Sie werden nicht glauben, daß ich Ihnen Unwahrheiten erzählte!«

»Keineswegs!« sagte Lindsay schnell.

»Und ebensowenig werden Sie sagen, daß meine Berechnungen in der Luft ruhen!«

»Auch das nicht. Ich fühle mich hingegen von der Schärfe Ihrer Schlüsse ganz fortgerissen und überzeugt. Also lassen Sie uns einmal die Summe ziehen: Dem Grafen Emanuel de Rodriganda wurde der einzige noch lebende Sohn geraubt - -«

»So ist es.«

»Der Raub geschah mit Hilfe von Briganten, die den Knaben in ihre Höhle verbargen. Der eigentliche Räuber aber ist jener Gasparino Cortejo.«

»Ich bin vollständig überzeugt davon.«

»Aber in welcher Absicht geschah der Raub? Das ist eine hochwichtige Frage!«

»Um einen Sohn dieses Gasparino Cortejo zum Grafen Rodriganda zu machen.«

»Und die Mutter dieses Kindes ist jene fromme Schwester Clarissa?«

»Ja.«

»Gut, so wollen wir weiter summiren: Der Pater Dominikaner kannte das Geheimniß und verrieth es auf Veranlassung jenes Bettlers Petro so ziemlich an den geraubten Knaben. Dieser erhielt dadurch eine Ahnung von seiner Abstammung. Er kam nach Rodriganda und wurde von Cortejo erkannt. In Folge dessen übergab dieser ihn dem Piratenkapitän, der ihn unschädlich machen sollte. Sie retteten ihn und bringen ihn nach Mexiko. Ist es so?«

»Vollständig!«

»Was aber beabsichtigen Sie mit Ihrer gegenwärtigen Reise nach Mexiko?«

»Zunächst will ich sehen, ob jene Maria Hermoyes, welche das untergeschobene Kind nach Mexiko brachte, noch lebt, und ebenso jener Petro Arbellez, welcher zur damaligen Zeit Inspector des Grafen Ferdinando hier war.«

»Das werden Sie sehr leicht erfahren!«

»Und ferner dürfen Sie nicht vergessen, Mylord, daß ich vermuthe, daß Graf Ferdinando damals gar nicht gestorben ist. Jener Steuermann, welcher im Gefängnisse von Barcelona starb, erzählte von einem Gefangenen, welcher nach Harrar verkauft worden ist.«

»Und Sie vermuthen in jenem Gefangenen den Grafen Ferdinando?«

»Ja. Diese Vermuthung mag Ihnen außerordentlich kühn erscheinen, aber


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wenn Sie nachdenken, mit welchen Mitteln Cortejo operirt, so werden Sie keine Unwahrscheinlichkeit darin erblicken. Ich bin fest entschlossen, das Erbbegräbniß der Rodriganda hier in Mexiko zu öffnen, um zu sehen, ob sich die Leiche im Sarge befindet.«

»Ich werde Ihnen behilflich sein, die Erlaubniß der Behörde dazu zu erhalten.«

Sternau machte eine geringschätzige, verneinende Handbewegung und sagte:

»Ich danke ihnen, Mylord. Ich sehe von aller behördlichen Hilfe ab.«

»Aber Sie begeben sich da in eine große Gefahr, Herr Sternau!«

»Pahl diese Gefahr fürchte ich nicht. Wenn ich Sie um etwas bitte, so ist es ein Anderes.«

»Was?«

»Vielleicht ist es Ihnen möglich, mir die Bekanntschaft mit Pablo Cortejo zu erleichtern.«

»Das will ich Ihnen sehr gern zu Gefallen thun. Sie wollen ihn kennen lernen?«

»Ja; es ist dies durchaus nothwendig.«

»Gut! Ich verkehre in Kreisen, in denen auch er zuweilen anwesend ist. Uebrigens bin ich überzeugt, daß er ein Schurke ist. Er wollte mich kürzlich - - - ah, da fällt mir ja gleich ein - - Sie suchten den Aufenthalt des Petro Arbellez?«

»Ja; ich sagte dies bereits vorhin.«

»Nun, da kann ich Ihnen Auskunft geben. Er ist jetzt der Besitzer der Hazienda del Erina im Norden des Landes. Cortejo wollte mich betrügen. Ich sollte diese Hazienda von ihm kaufen, obgleich sie Eigenthum dieses Arbellez ist.«

»So bin ich vielleicht gezwungen, diese Hazienda aufzusuchen.«

»Aber, Herr Sternau, warum geben grad Sie sich so große Mühe in dieser Sache?«

»Ich bitte, daran zu denken, daß Contezza Rosa de Rodriganda jetzt meine Gattin ist. Mariano ist ihr Bruder, folglich mein Schwager.«

»Weiß er das?«

»Nein. Ich habe es vorgezogen, ihm dies noch zu verschweigen. Miß Amy und meinen Begleiter Helmers bat ich, nicht davon zu sprechen. Er soll es erst erfahren, sobald wir vor sicheren Thatsachen stehen. Auf welche Weise kann man wohl ohne Auffälligkeit erfahren, wo das Erbbegräbniß de Rodriganda sich befindet?«

»Das will ich Ihnen besorgen, mein Lieber. Eine Frage meinerseits wird kein Befremden erregen.«

»Ich danke Ihnen, Mylord, und bitte, etwas schleunig dabei zu verfahren, denn - - -«

Er wurde unterbrochen. Die Thür öffnete sich, und Mariano trat herein. Als er einen Fremden erblickte, wollte er wieder zurücktreten, aber Sternau erhob sich schnell und winkte ihm, herbei zu kommen.

»Immer treten Sie näher, mein Freund!« sagte er. »Sie stören uns nicht.«

Er wandte sich zu dem Lord und erklärte ihm:


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»Dieser Herr ist mein Freund Mariano.« Und sich zu dem Letzteren wendend, sagte er: »Und hier sehen Sie Lord Lindsay, den Vater der Dame, welche zu begleiten wir die Ehre und das Vergnügen hatten.«

Als Mariano den Namen des Vaters seiner Geliebten hörte, erröthete er, aber er kämpfte die ihm aufsteigende Verlegenheit schnell nieder und verbeugte sich mit edlem Anstande vor dem Lord.

»Soeben haben wir von Ihnen gesprochen,« sagte dieser mit voller Aufrichtigkeit. »Ich wünschte Sie in Folge dessen zu sehen, und Ihr Erscheinen erspart es mir, mich bei Ihnen melden zu lassen. Sie sind während der Rückreise meiner Tochter ihr ein treuer Beschützer gewesen. Nehmen Sie meinen herzlichen Dank entgegen!«

Er reichte dem jungen Manne die Hand. Dieser ergriff sie und sagte:

»O, Mylord, mein Schutz hätte Miß Amy wohl von keiner Gefahr befreien können. Ich bin Patient und als solcher unvermögend, der tapfere Ritter einer Dame zu sein.«

Sein müdes Auge hatte sich belebt, und über seine bleichen Züge flog eine leichte Röthe. Man sah es ihm an, welch ein schöner Mann er in den Tagen seiner Kraft und Gesundheit gewesen sein müsse. Hatten die Auseinandersetzungen Sternaus dazu beigetragen, die Bedenken des Lord abzuschwächen, so war es jetzt das leidende Aussehen Mariano's, welches das Mitgefühl des Engländers erweckte. Er behielt die abgemagerte Hand des Armen in der seinigen und sagte mild und freundlich:

»Sie bedürfen sehr dringend der Pflege und Erholung. Werden Sie diese hier im Hotel bei fremden Leuten finden?«

»Ich hoffe es, Mylord.«

»Ja, Sie hoffen es, aber diese Hoffnung wird eine vergebliche sein. Ein mexikanisches Gasthaus ist kein Aufenthalt für einen Kranken. Ich bitte Sie daher, mit mir für lieb zu nehmen!«

Mariano blickte schnell auf. Es leuchtete ein Blitz des Glückes aus seinen Augen.

»Mylord,« sagte er, »ich bin ein armer, ausgestoßener Mann; ich darf es nicht wagen, von Ihrer Güte Gebrauch zu machen.«

»Thun Sie das immerhin, mein Freund. Herr Sternau hat mir von Ihren Schicksalen Einiges mitgetheilt, und das veranlaßt mich grad erst recht, ihnen zu beweisen, daß Sie zwar arm, aber doch nicht ausgestoßen sind. Wollen Sie?«

Mariano blickte überlegend nach Sternau hin und sagte dann:

»Ich möchte mich nicht gern von meinem Freunde trennen, Mylord.«

Der Engländer antwortete mit einem Lächeln und sagte dabei:

»Was das betrifft, so versteht es sich ja ganz von selbst, daß Herr Sternau mit Ihnen kommt. Auch Herr Helmers, welcher bei Ihnen ist, wird sich vielleicht bereit finden lassen, das Hotel mit meiner Wohnung zu vertauschen. Nicht?«

Diese Frage war an Sternau gerichtet. Dieser trat erfreut zu dem Lord heran, streckte ihm beide Hände entgegen und sagte mit einem Leuchten seiner treuen Augen:

»Mylord, das ist mehr als Gastlichkeit. Gott vergelte es Ihnen! Wir kommen.«


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»Aber so bald wie möglich, meine Herren! Ich verlasse Sie jetzt, um Ihnen einen Wagen zu senden. Adieu!«

Er ging, und der Arzt begleitete ihn bis vor die Thür. Als Sternau sein Zimmer wieder betrat, fand er Mariano auf das Sopha gesunken und mit Thränen in den Augen.

»Was ist Ihnen?« fragte er besorgt.

»Nichts, mein Freund,« antwortete der Spanier. »Es sind Thränen des Glückes. Ich hatte eine solche Bangigkeit über die Art und Weise, wie er Amy's Eröffnung aufnehmen werde.«

»Nun, Sie sehen, daß er Ihnen wenigstens nicht zürnt, mein Lieber.«

»Ja, und das habe ich Ihnen zu verdanken. Ich ahnte ja, daß er zu Ihnen kam, um sich nach mir zu erkundigen. Zürnen Sie mir ob meiner Thränen nicht. Ein Kranker giebt sich sowohl dem Schmerze, als auch der Freude leichter hin als ein Gesunder. Und Freude habe ich, nein noch mehr: ich fühle mich entzückt und selig darüber, daß dieser Mann mir nicht zürnt, daß er so lieb und mild zu mir gesprochen hat.«

Nach einiger Zeit fuhr eine glänzende Equipage vor, um sie nach dem Palaste des Lords zu bringen. Dieser war einer der prächtigsten Palazzo's der Stadt und hatte eine Menge der herrlichsten Zimmer. Die drei Gäste erhielten Wohnungen, mit denen der König hätte zufrieden sein können, und die Bedienung war bemüht, jeden ihrer Wünsche auf das Beste und Schnellste zu erfüllen.

Mariano konnte nicht ausreiten, und der brave Helmers war kein bedeutender Pferdebändiger; er hatte während seines Lebens kaum zehn mal auf einem Pferde gesessen. Aber der Deutsche mußte bereits am nächsten Tage mit dem Lord auf die Alameda reiten, und dort erregte er nicht geringes Aufsehen.

Der Lord hatte ihm das beste Pferd seines Marstalles anvertraut. Seine hohe, imposante Gestalt zog die Augen Aller auf sich, und als er sich, von so vielen Blicken geradezu dazu aufgefordert, nun auch als Reiter kühn und gewandt zeigte, da lächelte Lindsay sehr zufrieden und sagte zu ihm:

»Ich mache Effekt mit Ihnen. Sehen Sie das Fächerspiel der Damen, Herr Sternau?«

»Ich habe meine Dame, Mylord,« antwortete Sternau ernst.

»O, man nimmt es hier nicht so genau!«

»Desto genauer nehme ich es!«

»So beabsichtigen Sie nicht, einen dieser Mexikaner eifersüchtig zu machen?«

»Ich verzichte darauf!«

»Nun, wollen sehen, ob Sie wirklich so hieb- und stichfest sind. Jetzt aber wollen wir die Gelegenheit benutzen. Ich werde Sie einigen dieser eleganten Reiter und Reiterinnen vorstellen.«

Dies geschah, und es war den Mexikanern anzusehen, daß sie sich wunderten, daß ein deutscher Arzt eine so noble Tournure besitzen könne. Als die Beiden heimkehrten, brachten sie eine ganze Menge Einladungen mit, und in Zeit von nur einigen Tagen sprachen alle Damen der Haute-volée mit Vorliebe von dem ritterlichen Deutschen, der alle Mexikaner tief in den Schatten stellte.


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Um diese Zeit war es, als Josefa Cortejo in ihrem Zimmer auf der Hängematte lag. Sie rauchte eine jener Cigaretten, welche die Mexikanerinnen so außerordentlich lieben, und hatte ein Buch in der Hand, in welchem sie aber nicht las. Ihre Eulenaugen ruhten nicht auf den Buchstaben, sondern sie blickte wie abwesend in eine weite Ferne. Sie dachte an Graf Alfonzo, den Geliebten, der ihr vor seiner Abreise die Ehe versprochen hatte, ohne sie doch zu lieben. Sie dachte ferner der schönen feurigen Spanierinnen und wie leicht es sei, daß er eine finden könne, die im Stande sei, ihn zu fesseln.

Da trat ihr Vater ein, mit Falten auf der Stirn, und einen Brief in der Hand.

»Hast Du Zeit?« fragte er.

»Für Wichtiges immer,« antwortete sie.

»Es ist wichtig.«

»Für Dich?«

»Auch für Dich. Die Post ist angekommen, und unter den übrigen Sachen finde ich einen Brief meines Bruders.«

Im Nu sprang Josefa aus der Hängematte und streckte die Hand nach dem Briefe aus.

»Gieb her! Wie steht es drüben?«

»Hm! Schlecht und gut. Alfonzo ist in Paris und auch in Deutschland gewesen.«

»Ah! Was wollte er dort?«

»Dieses schlimmen Doktor Sternau wegen. Dieser Mensch ist doch nur unserem Unheile wegen nach Spanien gekommen, er ist unser ärgster Feind und schlimmster Gegner.«

Ihre Augen zogen sich verächtlich zusammen.

»Pah, ein Doctor! Wer soll ihn fürchten!« sagte sie mit geringschätzigem Tone.

»Wir müssen ihn fürchten,« sagte er ernst. »Er hat seit dem ersten Tage seiner Anwesenheit in Rodriganda unsere Pläne durchschaut und durchkreuzt. Er besitzt einen Scharfsinn, der ganz erstaunlich ist, und hat dabei ein Glück, daß man ihn für einen Liebling des Teufels halten könnte.«

»Nun, vielleicht ist er es auch, und der Teufel kommt seiner Zeit, um ihn zu holen. Ich dachte vorhin zufällig an ihn.«

»Zufällig?«

»Ja. Hast Du nicht von dem Deutschen gehört, der jetzt hier unsere Salons so unsicher macht?«

»Ja. Er ist ein Arzt, und Aerzte sind den Frauen ja immer sympathisch.«

»Hast Du seinen Namen gehört?«

»Nein.«

»Er heißt Sternau, Sennor Sternau. Er ist Gast des englischen Gesandten und wurde von diesem den höchsten Aristokraten vorgestellt. Sogar beim Präsidenten war er gestern geladen. Ein Arzt, ein einfacher Arzt. Es ist lächerlich!«

»Sternau heißt er? Caramba! Es wird doch nicht etwa derselbe sein!«

»So habe ich mich auch gefragt, aber Name und Stand sind jedenfalls nur ein


// 882 //

Spiel des Zufalles. Jener famose Karl Sternau, vor dem Du Dich so fürchtest, ist ja gegenwärtig in Deutschland; da kann er füglich doch nicht in Mexiko sein.«

Das Gesicht Cortejo's verfinsterte sich.

»Meinst Du?« fragte er. »Wer sagt Dir, daß er jetzt in Deutschland ist?«

»Nun, der Oheim schrieb es ja in seinem vorletzten Briefe.«

»Allerdings; aber seit jenem Briefe ist eine geraume, eine lange Zeit vergangen.«

»Du meinst doch nicht etwa - - -?« fragte sie gedehnt.

»Ich meine, daß Du diesen Brief lesen sollst,« antwortete er kurz.

Er reichte ihr das Schreiben. Sie nahm es, öffnete und las:

            »Lieber Bruder!
Dieses Mal habe ich Dir Wichtiges mitzutheilen. Wie Du weißt, ist uns Doctor Sternau entgangen; die Briganden halfen ihm, so daß er über die Grenze kam. Ich ließ ihn heimlich verfolgen und erfuhr, daß er nach Paris zu gehen beabsichtige. Natürlich lag mir daran, ihn unschädlich zu machen und so schickte ich ihm unseren Alfonzo nach.
   Leider kam Alfonzo zu spät. Sternau war bereits nach Deutschland abgereist. Alfonzo ging ihm nach, erlitt aber während eines Bahnunglücks eine Verletzung, so daß er liegen blieb. Darüber verging eine wichtige Zeit, und unterdessen wurde dieser Sternau mit Rosa - - vermählt.
   Es geschah das in einer deutschen Ortschaft, welche Rheinswalden heißt. Alfonzo kam zu spät. Die Trauung war vorüber, und Sternau hatte sich bereits auf eine Reise begeben. Wißt Ihr, was er beabsichtigt? Dieser verwegene Mensch will den Kapitän Landola aufsuchen, um ihm jenen Mariano, der sich auf Rodriganda Alfred de Lautreville nannte, abzujagen. Diesem Menschen ist das Aeußerste zuzutrauen, ich hoffe aber, daß seine Pläne zu Schanden werden.
   Ich habe sogleich an alle Häfen, in denen Landola zu verkehren pflegt, theils telegraphirt, theils auch geschrieben, und da es immerhin eine Möglichkeit ist, daß er seinen Curs auf Mexiko nimmt, so ertheile ich auch Dir Nachricht. Dieser Sternau muß unschädlich gemacht werden, sonst sind wir verloren.
   Nun zu etwas Besseren und Angenehmeren. Alfonzo steht jetzt an der Spitze des Hauses Rodriganda; er hat die Interessen desselben zu vertreten und auch dafür zu sorgen, daß die Traditionen desselben nicht verlöschen; mit einem Wort: er muß sich vermählen.
   Ich habe an seiner Stelle Umschau gehalten und es ist mir auch geglückt, sein Auge auf eine Dame zu richten, welche alle Erfordernisse besitzt, den Namen Rodriganda zu noch höheren Ehren zu bringen.
   Du weißt, daß ich einst Haushofmeister des Herzogs von Olsunna war. Ich habe Dir auch von seinem Verhältnisse zu jener deutschen Gouvernante erzählt, welche ihm dann entfloh. Diese Liaison hat ihn in meine Hand gegeben, so daß ich ihm vorschreiben kann, was mir beliebt. Er besitzt ein einziges Kind, eine Tochter. Sie ist zwar um ein Weniges älter als Alfonzo, aber sie ist schön, unermeßlich reich und von einem höheren Grade noch als die Rodriganda's. Alfonzo hat sie gesehen und schwärmt für sie. Ich hoffe, daß es meinem Einflusse


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auf den Herzog gelingt, diese glanzvolle Verbindung zu Stande zu bringen und werde Dir, sobald ein Resultat erzielt ist, das Weitere mittheilen.
            Dein Bruder
                        Gasparino Cortejo.«

Diese Worte las Josefa. Während der letzten Hälfte des Briefes hatte sie sich entfärbt. Sie war blaß geworden, und als sie jetzt zu Ende war, knirrschte sie wild die Zähne zusammen, ballte das Papier zu einem Knäuel, warf diesen auf den Boden und stampfte mit dem Fuß darauf.

»So wie diesem Papiere soll es ihnen gehen, wenn Alfonzo nicht Wort hält!« rief sie voller Wuth. »Ich zertrete, ich zermalme sie!«

Sie bildete in ihrem Grimme einen Anblick, der nichts weniger als schön genannt werden konnte. Ihr Vater aber legte beruhigend die Hand auf die Schulter.

»Nur ruhig; noch ist es nicht so weit!« sagte er.

Sie warf den Kopf stolz in den Nacken und antwortete:

»Ja, noch ist's nicht so weit, und es soll auch nie so weit kommen! Aber schon, daß sie einen solchen Gedanken hegen können, das ist ein schmählicher Verrath an mir!«

»Auch das nicht!«

»Wieso? Willst Du sie etwa in Schutz nehmen?«

»Den Bruder, ja, nicht aber Alfonzo. Gasparino wird gar nichts davon wissen, daß Alfonzo uns sein Wort gegeben hat; gegen ihn also darf sich Dein Zorn nicht richten.«

»Aber desto mehr gegen den Treulosen. Ich gebe ihn nicht los. Er ist mein; er ist mein Eigenthum, und keine Andre soll ihn haben. Ich will Gräfin von Rodriganda sein und was ich will, das weiß ich auch durchzusetzen, mit allen Mitteln, verstehst Du?«

Sie stand wie eine Furie vor dem Vater. Dieser sagte mit möglichster Ruhe:

»Ich werde Gasparino schreiben.«

»Ja, schreibe ihm, und verlange sofortige Antwort!«

»Und wenn er »Nein« sagt?«

»So ist er verloren; das schwöre ich Dir!«

»Josefa, er ist mein Bruder!«

»Eben deshalb soll er desto eher auf unsern Willen eingehen, und desto strafbarer ist er, wenn er es nicht thut. Du weißt, daß ich das Testament in der Hand habe.«

»Du wirst es nicht gegen ihn gebrauchen!«

Sie stieß eine höhnische Lache auf, trat frech auf den Vater zu und sagte:

»Wie kommst Du mir vor? Dein Bruder hat einen Sohn, und Du hast eine Tochter. Wir Alle sind Diebe, Betrüger, ja auch Mörder geworden, um Rodriganda zu erlangen. Soll es sein Sohn allein besitzen; soll Deine Tochter leer ausgehen? Nein; es gehört ihm und mir. Wenn er Graf wird, so werde ich Gräfin; das ist die einzig richtige Lösung der Frage; und davon gehe ich nicht ab.«

Cortejo hielt es für gerathen, einzulenken.

»Ich gebe Dir ja recht,« sagte er; »nur halte ich es nicht hier am Platze,


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Dich unnöthig zu ereifern. Wir haben ja genug Veranlassung, zunächst an das Nähere zu denken!«

»So? Und was ist denn wohl jetzt das Nähere?« fragte sie erbost.

»Ich meine diesen Doktor Sternau.«

»Ach so!« sagte sie, nun endlich auch an den ersten Theil des Briefes denkend. »Ja, was sagst Du dazu? Also dieser Mensch hatte Deutschland verlassen, um den Kapitän Landola zu finden? Pah, ein Arzt, eine Landratte! Macht Euch nicht lächerlich!«

»Beurtheile die Deutschen nicht falsch. Sie haben harte Köpfe. Sie sind lange Zeit still und geduldig; aber wenn sie einmal einen Entschluß gefaßt haben, so führen sie ihn auch aus.«

»Und Du meinst, daß der Sternau, welcher sich jetzt hier befindet, und jener Sternau eine und dieselbe Person sei?«

»Ich halte es für möglich.«

»So muß man dies untersuchen!«

»Aber wie? Man kann doch nicht bei Lord Lindsay anfragen lassen!«

»Nein,« lachte sie. »Laß mich machen! Ich werde dafür sorgen, daß wir eine Einladung bekommen und ihn sehen.«

»Ist er Dir beschrieben worden?«

»Ja.«

»Nun?«

»Er ist ganz ungewöhnlich hoch und stark gebaut, ein Riese unter allen Uebrigen.«

»Er ist es. Gasparino schrieb uns ja, daß dieser Mensch ein wahrer Goliath sei.«

»Das beweist noch nichts. Sie können ja Brüder oder sonstige Verwandte sein. Ich habe übrigens gehört, daß es in diesen nördlichen Gegenden viele Menschen geben solle, die zum Geschlechte der Riesen gerechnet werden könnten. Es bleibt dabei; ich versorge uns eine Einladung, und das Uebrige wird sich finden.« -

Sternau war auf ein solches Zusammentreffen gefaßt. Er konnte sich denken, daß er dem Namen nach Pablo Cortejo bekannt sei, er wußte, daß er der Gegenstand der Unterhaltung sei und daß also auch Cortejo von ihm hören werde, und so war das Verlangen des Letzteren, ihn zu sehen, ja vorauszusetzen.

So erwartete er bei jedem Besuche, den er machte, Cortejo zu treffen. Er hatte sich erkundigt und erfahren, daß Cortejo als Vertreter des Grafen Rodriganda auch in höheren Kreisen angenommen werde. Sich ausfragen zu lassen, war seine Absicht nicht.

Es war bereits eine Woche seit ihrer Ankunft vergangen, als Lindsay den Arzt zu einem ihrer gewöhnlichen Spazierritte aufforderte. Sie verließen die Stadt und tummelten ihre Pferde draußen zwischen den Höhen herum. Bei der Rückkehr kamen sie an einer Mauer vorüber, wobei der Engländer sagte:

»Endlich kann ich Ihnen heute mein Wort halten!«

»Wegen des Erbbegräbnisses, Mylord?«

»Ja.« Er erhob sich im Sattel und zeigte über die Mauer hinüber. »Sehen Sie da drüben das Mausoleum?«

»Das mit den korinthischen Säulen?«


// 885 //

»Ja. Es ist das Erbbegräbniß, in welchem Ferdinando Rodriganda begraben liegt.«

»Darf man eintreten?«

»Warum nicht? Die Pforte des Friedhofes ist bei Tage stets geöffnet.«

Sie stiegen von ihren Pferden und traten ein. Da mehrere Besucher vorhanden waren, so thaten sie, als ob ein anderer Zweck sie herbeigeführt habe und näherten sich erst später wie zufällig dem Mausoleum. Der Eingang zu demselben war durch eine Gitterthür verschlossen, doch reichte das Gitter nicht hoch empor. Es ließ oben einen offenen Raum, so daß man übersteigen konnte.

»Wissen Sie gewiß, daß dies das Gesuchte ist, Mylord?« fragte Sternau.

»Ja; ich habe es mir genau beschreiben lassen.«

»So ist es uns nicht schwer gemacht, hier einzudringen. Gehen wir wieder fort!« -

»Wann werden Sie es thun?«

»Gleich heute Abend. Wollen Sie beiwohnen?«

»Ich danke. Ich bin der Vertreter einer Nation und muß sehr vorsichtig sein!« -

Am Abende, kurz vor Mitternacht, schritten drei Männer diesem Friedhofe zu. Es war zwei Tage nach Neumond und also nicht sehr hell. Bei der Mauer angekommen, stiegen sie über dieselbe hinweg. Es waren Sternau, Mariano und Helmers. Mariano hatte sich während der acht Tage so weit erholt, daß er dieses Abenteuer mitmachen konnte.

»Bleiben Sie hier stehen!« flüsterte Sternau. »Ich will erst sehen, ob wir sicher sind.«

Er suchte den Friedhof sorgfältig ab und kehrte erst dann zu den Gefährten zurück, als er sich überzeugt hatte, daß keine Gefahr der Entdeckung vorhanden sei.

»Jetzt kommen Sie hinter mir her, aber leise!«

Auf diese seine Worte setzten sie sich in Bewegung. Bei dem Mausoleum angelangt, schwang er sich zuerst über die Gitterpforte, und dann folgten die Anderen. Nun standen sie vor einem starken Zinndeckel, welcher die Oeffnung des Gewölbes bedeckte.

»Dieser Deckel muß aufgeschraubt werden!« sagte Sternau.

Er hatte sich am Tage Alles genau angesehen und in Folge dessen für drei Schraubenschlüssel gesorgt. Die drei Männer arbeiteten eine Zeit lang leise und unhörbar, dann gab der Deckel nach und ließ sich abnehmen. Eine schmale, eingemauerte Treppe führte hinab. Sie stiegen hinunter, Einer hinter dem Anderen. Sternau war der Vorderste und tastete umher, bis er an einen Sarg stieß.

»Hier steht der Sarg,« meldete er. »Helmers, brennen Sie die Blendlaterne an; aber vorsichtig, daß kein Lichtschein in die Höhe dringt!«

Helmers folgte dem Gebote, und nun sahen sie bei dem kleinen Strahle der Laterne den Sarg vor sich. Es war der einzige, welcher in dem Gewölbe stand.

»Was werden wir sehen?« flüsterte Mariano.

»Entweder Nichts oder die Ueberreste Ihres Oheims Ferdinando,« antwortete Sternau.

»Mir graust!«


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»Fürchten Sie sich?«

»Nein,« antwortete Mariano. »Aber bedenken Sie meine Lage! Der geraubte Neffe steht vor dem Sarge seines Onkels!«

»So fassen Sie sich. Es ist kein Leichenraub, keine Grabesschändung, welche wir begehen. Wir stehen hier als Vertreter des forschenden Gerichtes und was wir thun, das können wir vor Gott und unserem Gewissen verantworten.«

»Es ist ein Eichensarg,« meinte Helmers.

»In welchem der eigentliche Zinksarg stehen wird,« fügte Sternau hinzu. »Er ist zugeschraubt. Oeffnen wir!«

Sie setzten abermals die Schraubenschlüssel an. Die Schrauben knirrschten in dem Holze; sie gaben nach und wurden herausgezogen. Nun konnte der Deckel abgenommen werden, und es kam wirklich der Zinksarg zum Vorschein. Auch er war mittelst Schrauben verschlossen, welche herausgedreht werden mußten. Als dies geschehen war, blickten sich die drei Männer gespannt an. Sie standen vor der Enthüllung eines Geheimnisses und das erweckte in jedem ein Gefühl, welches erst bemeistert werden mußte.

»Nun in Gottes Namen fort mit dem Deckel!« sagte Sternau.

Er griff zu und hob die Decke in die Höhe; sie entschlüpfte seiner Hand und fiel wieder nieder. Das gab einen dumpfen, grausigen Ton in dem tiefen Gewölbe, dessen Finsterniß durch das kleine Licht der Laterne nur noch mehr hervorgehoben wurde. -

»Es ist als wehre sich der Todte gegen die Störung seiner Ruhe,« flüsterte Mariano.

»Er wird uns nicht zürnen, wenn wir uns überzeugen, daß mit ihm kein Frevel getrieben worden ist,« antwortete Sternau.

Er faßte den Deckel jetzt mit mehr Vorsicht an, nahm ihn ab und legte ihn bei Seite. Nun leuchtete Helmers in den offenen Sarg - - die drei Männer blickten wie auf ein Kommando empor und sich einander in das Angesicht.

»Der Sarg ist leer!« sagte Mariano.

»Ganz wie ich es dachte!« bemerkte Sternau.

»Es hat gar kein Todter drin gelegen!« fügte Helmers hinzu.

»O doch!« meinte Sternau, indem er Helmers die Laterne abnahm und auf die weißen Atlaskissen leuchtete, welche das Innere des Sarges füllten. »Hier sehen Sie ganz deutlich die Eindrücke, welche der Körper gemacht hat.«

»So ist der Onkel also doch gestorben gewesen!« sagte Mariano. »Aber warum hat man seine Leiche entfernt?«

»Man hat keine Leiche entfernt, sondern einen Lebenden,« behauptete Sternau. »Die Leiche zu entfernen, hätte keinen Zweck gehabt. Giebt es Gift, um den Wahnsinn hervorzubringen, so giebt es auch Medicamente, einen Menschen scheintodt zu machen.«

»So wäre also der Mann, welcher in Vera Cruz eingeschifft und nach Härrär verkauft wurde, wirklich Ferdinando de Rodriganda gewesen?«

»Ich bin jetzt überzeugt davon. Verschließen wir die beiden Särge wieder; aber so genau und sorgfältig, daß keine Spur unserer Anwesenheit zu bemerken ist!«

Dies geschah, und dann wurde die Laterne wieder ausgelöscht. Die drei Männer


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stiegen nun empor und schraubten die Zinkdecke wieder fest; darauf schwangen sie sich über das Gitter hinaus und verließen den Friedhof so leise, wie sie gekommen waren. Kein Mensch hatte von ihrem Thun eine Ahnung.

Zu Hause wartete Lord Lindsay in großer Spannung auf das Ergebniß ihrer Nachforschung. Er hatte Sternau und Mariano gesagt, daß sie sofort zu ihm kommen sollten. Als sie ihn aufsuchten und ihm das Resultat berichteten, sagte er entsetzt:

»Ich wollte es nicht glauben. Welch' ein Verbrechen! Man muß Anzeige machen.«

»Das würde zu nichts führen.«

»Warum nicht?«

»Ich habe kein Vertrauen zu der mexikanischen Gerechtigkeit.«

»Man wird sie zwingen, ihre Pflicht zu thun!«

»Wer will sie zwingen, Mylord?« fragte Sternau.

»Ich!« antwortete Lindsay sehr energisch.

»Es würde vergeblich sein.«

»Oho! Ich werde Ihnen das Gegentheil beweisen!«

»Sie würden nur beweisen können, daß die Leiche fehlt. Wohin sie gekommen ist, ob Der, welcher begraben wurde, todt oder lebendig war, und wer der Urheber des Verbrechens ist, das würde unentdeckt bleiben. Durch eine Anzeige machen wir unsere Feinde ganz unnützer Weise darauf aufmerksam, in welcher Gefahr sie schweben.«

»Aber, Herr Sternau, soll ein solcher Betrug unbestraft bleiben?«

»Nein. Er wird bestraft werden, aber erst dann, wenn wir den Grafen Ferdinando gefunden haben. Dann werden wir die Thäter nach dem Friedhofe führen und die Leiche des Vermißten von ihnen fordern lassen; eher nicht.«

»So wollen Sie wohl gar nach Härrär?«

»Allerdings.«

»Wann?«

»Wenn wir zuvor auf der Hazienda del Erina gewesen sind. Mit Petro Arbellez müssen wir sprechen, und zunächst hier auch mit Maria Hermoyes.«

»Mit dieser können Sie hier nicht sprechen, denn auch sie befindet sich auf der Hazienda del Erina.«

»Sie lebt also noch?

»Ja.«

»Und warum ging sie fort?«

»Man weiß es nicht. Sie scheint Verdacht gefaßt zu haben. Weil Sie mir die größte Vorsicht anriethen, haben meine Erkundigungen eine längere Zeit in Anspruch genommen. Eine direkte Anfrage hätte uns gleich am ersten Tage eine Antwort gebracht!«

»Das hätte unsere Absicht verrathen können.«

»Ich gebe das zu. Darum gab ich einem meiner Diener den Auftrag, eine Liebschaft im Hause der Rodriganda anzuknüpfen. Es ist ihm dies gelungen. Heute Abend hat er nun zum ersten Male Gelegenheit gehabt, seine Fragen anzubringen, und er brachte mir die Antwort, als Sie bereits nach dem Kirchhofe waren.«

»So bin ich begierig, das Nähere zu hören.«


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»Es ist nicht viel. Die alte Maria Hermoyes hat bei Pablo Cortejo und seiner Tochter nicht gut gestanden, auch beim jungen Grafen Alfonzo nicht. Sie scheint Verdacht gefaßt zu haben und ist vielleicht so unklug gewesen, es sich merken zu lassen. Eines Abends nun sind zwei Indianer in den Stall gekommen, haben den Knecht geknebelt und die besten Pferde weggenommen. Mit diesen Indianern ist Maria Hermoyes nach der Hazienda del Erina entflohen.«

»Wunderbar!«

»Ja, und eben weil es so sonderbar ist, muß es Verdacht erregen. Der junge Graf Alfonzo ist dann mit Militär nach der Hazienda geritten, aber als Flüchtling wiedergekommen. Das sind Nachrichten, welche mich glauben lassen, daß Sie mit Ihren Vermuthungen recht haben, Herr Sternau.«

»Ich ahne irgend ein Unheil,« sagte der Letztere. »Am Besten wäre es wohl, wenn wir baldigst aufbrechen könnten, aber Freund Mariano ist noch zu schwach dazu. Eine Woche Zeit müssen wir ihm gestatten, ehe er stark genug für die Anstrengungen eines solchen Rittes ist.«

»Und,« fügte der Lord hinzu, indem er leise lächelte, »eine Woche wenigstens müssen Sie auch Herrn Helmers gestatten, um sich die nöthige Fertigkeit im Reiten anzueignen.«

»Es ist nichts kleines als ungeübter Cavalerist an die Grenze der Indianer zu gehen.«

Was Mariano betraf, so hatte er den besten Arzt in Amy, und die beste Arznei in dem Glücke, welches er an ihrer Seite genoß. Sie waren fast stündlich zusammen, und Lord Lindsay that, als ob er dies nicht bemerke. Er glaubte, dies sei das Beste, was er thun könne.

Zwei Tage nach der Untersuchung des Grabes war Lord Lindsay nebst Sternau zu einem kleinen Feste geladen, und der Diener des Ersteren hatte von seiner Geliebten erfahren, daß Cortejo mit Sennorita Josefa auch erscheinen werde. Sternau war in Folge dessen auf das Erscheinen der Beiden vorbereitet. Er begab sich zeitig mit dem Lord dahin, um noch vor Cortejo anzukommen.

Das Fest fand bei einer reich begüterten Familie statt, und es standen den Geladenen mehrere Räume zur Verfügung, in denen sie sich nach Belieben zerstreuen und ergehen konnten. Nach ihrer Ankunft, als sie der Dame des Hauses ihr Honneur gemacht hatten, trennte sich Sternau von Lindsay und sagte ihm, daß er in der Orangerie zu finden sein werde. Dort wartete er, bis Lindsay erschien und ihn benachrichtigte, daß Cortejo gekommen sei.

»Wollen Sie mich vorstellen, Mylord?« fragte er.

»Wünschen Sie es?«

»Ja, sehr.«

»So kommen Sie!«

Sie kehrten nach den vordern Gemächern zurück und sahen Cortejo nebst seiner Tochter bei einer Gruppe von soeben angekommenen Gästen stehen.

»Der lange, hagere Sennor ist Cortejo,« bemerkte der Lord.

»Ah, er sieht seinem Bruder außerordentlich ähnlich,« sagte Sternau.

»Und die Sennora zu seiner Rechten ist seine Tochter.«

»Die mit dem Uhugesichte?«


Ende der siebenunddreißigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Waldröschen

Karl May – Foschung und Werk