Lieferung 26

Karl May

19. Mai 1883

Waldröschen
oder
Die Rächerjagd rund um die Erde.

Großer Enthüllungsroman
über die
Geheimnisse der menschlichen Gesellschaft

von

Capitain Ramon Diaz de la Escosura.


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aber er sah es ihr an, daß sie sich in einer ganz und gar ungewöhnlichen Stimmung befinde.

»Mein Gott, was hast Du, was ist mit Dir?« fragte er, sie besorgt bei der Hand nehmend.

»Ich bin verloren,« rief sie in verzweifeltem Tone. »Es ist aus mit dieser Heirath, denn der Graf tritt zurück, und daran ist Graf Ferdinando schuld! Ich traf in Madrid einen jungen Sennor oder Don - - mit dem ich einige Stunden beisammen war. O, ich hatte ihn wirklich lieb! Wir mußten uns trennen. Jetzt komme ich hierher; heute wurden mir die beiden Söhne des Grafen vorgestellt und da ist - er dabei!«

»Verdammt! Welcher ist es?«

»Ferdinando. Er erkannte mich!«

»Wann war dies interessante Zusammentreffen in Madrid? Vor einigen Jahren?«

»Nein, vor vierzehn Tagen.«

»Da ist es allerdings aus. Da ist Alles verloren. Hm, eigentlich sollte ich mich gar nicht um Dich bekümmern, weil Du es nicht werth bist; dennoch setze Dich her; wir wollen es besprechen.«

Er zog sie auf das Sopha nieder. Als sie den Speisesaal verließ, hatte sie nicht mehr die Absicht gehabt, vor den Gästen zu erscheinen, darum hatte sie ein Negligee angelegt. Bei der Ohnmacht nun hatte sich dies verschoben, und als sie jetzt von Henrico Cortejo umfaßt wurde, da wurde sie noch mehr entblößt. Er hielt sie fest an sich gedrückt und preßte einen Kuß auf ihre Lippen, den sie erwiderte. Da - stießen Beide einen Schrei aus. Vor ihnen stand Graf Manfredo, den Revolver in der Hand.

»Ah!« knirschte er, »den Einen suche ich, und den Andern finde ich. Fahrt hin

Er zielte auf Cortejo und schoß ihm eine Kugel durch die Schläfe.

Er zielte auf Cortejo und schoß ihm eine Kugel gerade durch die Schläfe, so, daß er augenblicklich todt niederstürzte; dann wollte er die Mündung auf die Ballerina richten; diese aber war ihm in den Arm gefallen. Sie ergriff den Revolver und hielt ihn mit der Kraft der Todesangst fest. Er zog; sie wollte ihm die Waffe aus der Hand biegen, da ging der Schuß los, und der Graf sank, mitten in die Brust getroffen, leblos zusammen.

Als der erste Schuß erklang, war der junge Cortejo eben zur Treppe heraufgekommen. Er erschrak und trat sofort ein. Im Vorzimmer war Niemand; er eilte in das Nebenzimmer. Dort stand die Ballerina, den Revolver in der Hand, mitten zwischen zwei Leichen.

»O Gott, mein Vater!« rief er.

»Ja, Ihr Vater,« wiederholte sie tonlos.

»Das ist fürchterlich, das ist -« er wollte niederknieen, aber er faßte sich in die Haare und beherrschte sich mit fast dämonischer Gewalt - »nein, nein, nur die Besinnung nicht verloren; sie ist hier nothwendig.«

»Der Graf kam durch diese Tapetenthür und schoß ihn nieder,« jammerte sie.

Gasparino Cortejo musterte ihre Kleidung und die ganze Situation, und fragte hastig:

»Mein Vater kam zu Ihnen?«


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»Ich ließ ihn holen.«

»Sie saßen mit ihm auf dem Sopha?«

»Ja.«

»Er hat ihn aus Eifersucht erschossen?«

»Ja.«

»O, ein Gedanke, ein Gedanke! Lassen Sie mich machen. Man kommt schon.«

Er drückte dem am Boden liegenden Grafen den Revolver in die Hand und bückte sich zur Erde, um sich mit seinem Vater zu beschäftigen.

»Was geht hier vor? Wer schießt hier?« ließen sich jetzt Stimmen vernehmen.

»Hierher,« rief Cortejo.

In der Zeit von einer Minute war das ganze Zimmer von Menschen erfüllt. Auch die beiden Grafen kamen und waren zunächst ganz untröstlich beim Anblicke des todten Vaters, doch faßten sie sich und begannen mit Cortejo ein Verhör anzustellen, da die Ballerina unter Krämpfen sich auf dem Sopha wand und gar nicht sprechen konnte.

»Wer ist es, der zuerst geschossen hat?« fragte Graf Emanuel.

»Graf Manfredo, Ihr Vater,« antwortete Cortejo.

»Ah, das klingt unwahrscheinlich.«

»Ist aber wahr. Sennora Valdez hatte das Mädchen nach meinem Vater geschickt, um sich Raths zu erholen in der heutigen Angelegenheit. Der Graf hingegen dachte, der Herzog von Olsunna werde wirklich die Zimmer der Ballerina aufsuchen. Er nahm den Revolver und drang durch diese Tapetenthür herein. In der Aufregung und Wuth unterscheidet er nicht genau und schießt meinen unschuldigen Vater nieder. Nun erst merkt er den Irrthum, und richtet in der Verzweiflung, in der gewaltigen Revolution seiner Gefühle die Waffe auf sein eigenes Herz.«

Dies war die Aussage des schlauen Gasparino Cortejo. Auch die Ballerina mußte endlich sprechen, und sie bestätigte die Combinationen Cortejo's.

Es ist nicht viel hinzuzufügen:

Die Tänzerin Hanetta Valdez verschwand. Graf Emanuel trat die Regierung an; Graf Ferdinando aber litt es in Europa nicht; er ging nach Mexiko.

Die beiden Grafenbrüder glaubten immerfort, daß Henrico Cortejo von ihrem Vater unschuldig erschossen worden sei; darum glaubten sie, verpflichtet zu sein, diese That quitt zu machen: Graf Emanuel und Graf Ferdinando theilten sich in die beiden Brüder Gasparino und Pablo Cortejo.

Und diese beiden Cortejo's wieder konnten nicht vergessen, daß ihr Vater durch die Hand eines Rodriganda gefallen sei, und zwar absichtlich erschossen. Sie beschlossen, sich zu rächen. Sie betrieben die Rache wie echte Teufel, wie wir bereits gesehen haben, und der fernere Verlauf wird uns zeigen, ob diese Teufel den Sieg davon tragen.

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Zweite Abtheilung. - Die erste Rachejagd.

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Erstes Kapitel.

Der Auszug der Rächer.

»Das Segel schwellt, es weht der Wind,
   Hinaus drum in die blaue See!
Es winkt die Fluth. Lieb Weib und Kind,
   Es muß geschieden sein, ade!
Ich fürchte nicht des Sturmes Wuth
   Und nicht der Klippe Krallenriff;
Es wächst in der Gefahr mein Muth,
   Und fest im Steuer läuft das Schiff.

Es schwellt die Hoffnung mir das Herz,
   Hinaus treibt es mich ohne Rast.
Es strebt mein Glaube himmelwärts,
   Wie auf dem Decke ragt der Mast.
Es gilt, ein kühnes Werk zu thun
   Mit frohem, ungetrübtem Sinn;
Drum darf des Schiffes Kiel nicht ruhn,
   Bis ich am fernen Ziele bin.«

Geht man in Paris am rechten Ufer der Seine vom Bassin du Canal St. Martin nach dem Boulevard Morland hinab, so kommt man nach den Quais des Célestins, des Ormes, de la Greve, Pelletier, de Gévres und de la Mégisserie. Hinter dem Letzteren zieht sich vom Platze des Louvres nach der Place du Chatelet als Fortsetzung der Rue des Pretres die Straße St. Germain l'Auxerrois, an welcher sich die Mairie des vierten Arrondissements befindet. Gegenüber dieser Mairie, in der Rue des Lavande, Nummer 4, bewohnte Professor Letourbier die erste Etage.

Es war dies derselbe Professor, bei welchem Doctor Karl Sternau assistirt hatte, ehe er nach Rodriganda ging. Er gehörte zu den berühmtesten medizinischen Größen der Metropole und hatte in Sternau ein Talent erkannt, in welchem er einen würdigen Nachfolger finden konnte. Darum hatte er den Deutschen nicht gern nach Spanien gelassen, und deshalb freute er sich herzlich, als er ihn wiedersah.

Wir haben nämlich bereits gesehen, daß Sternau seinen Verfolgern in Spanien glücklich entkommen war; wir haben ihn sogar bereits in Rheinswalden bei dem Oberförster Rodenstein getroffen, wir wissen aber auch, daß er vorher in Paris bei Professor Letourbier war, um diesem seine geisteskranke Geliebte zu zeigen.

Zur Zeit dieses Aufenthaltes in Paris war es, daß er eines Abends ziemlich spät sich von dem Professor verabschiedete, um nach seinem Hotel zurückzukehren. Dieses lag in der Rue de la Barillerie, und er mußte daher durch die Saunerie über den Pont Change gehen.

Die Brücke war in Folge eines starken Nebels kaum nothdürftig erleuchtet, so daß man Gesicht und Gehör anstrengen mußte, um Collisionen zu vermeiden. Sie wurde jetzt von nur wenigen Passanten belebt, so daß der Einzelne mehr Auf-


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merksamkeit erregte als zu einer bewegteren Tageszeit. Sternau hatte die Brücke fast überschritten, als er plötzlich vor sich eine halblaute, schluchzende Stimme hörte:

»Jesus, vergieb mir!«

Von einer schnellen Ahnung getrieben, sprang er rasch vorwärts, aber er kam bereits zu spät. Eben als er den Mittelpunkt zwischen zwei Pfeilern erreichte, warf sich eine weibliche Gestalt von dem Geländer, welches sie erstiegen hatte, hinab in die von dichten Nebeln überwallte Fluth.

»Hilfe!« rief er, so laut er vermochte.

Mehrere Stimmen antworteten vom Ufer und von der Brücke her.

»Es ist Jemand von der Brücke gestürzt!« rief er ihnen zu.

Dann hatte er aber auch bereits Hut, Stock, Uhr und Portemonnaie von sich geworfen. Er schwang sich nun seinerseits ebenfalls über das Geländer und sprang hinab.

Er war ein ausgezeichneter Schwimmer. Die Gewalt des Sprunges tauchte ihn tief unter die Oberfläche des Wassers hinab, aber einige Augenblicke später schwamm er bereits oben. Er konnte sich denken, daß die Unglückliche abwärts getrieben werde, daher gab er sich einige Stöße in dieser Richtung hin. Er hatte es gerade ganz außerordentlich gut getroffen, denn vor ihm erschien ein Frauenrock auf den Wogen. Er griff nach ihm und hielt ihn fest, dann warf er sich auf den Rücken, ließ sich treiben und zog den leblos scheinenden Körper an sich, so daß er ihn quer über sich herüber legte.

»Hollah, hier ist ein Kahn,« rief eine Stimme. »Giebt es noch Leben?«

»Hierher!« gebot er.

Am Ufer hatten sich bereits viele Neugierige versammelt. Der Kahn kam näher; es saß nur ein Mann darin.

»Ah,« sagte er, als er den Schwimmenden bemerkte, »das nenne ich Muth und Glück.«

»Bitte, nehmen Sie zunächst die Dame hinein,« bat Sternau.

»Natürlich, her damit!«

Sie wurde in den Kahn gehoben, und während der Ruderer sich auf der anderen Seite bestrebte, das Gleichgewicht zu halten, schwang sich auch Sternau hinein.

»Das ist gelungen!« sagte der Fremde. »Nun schnell an das Ufer!«

»Nein,« sagte Sternau. »Dort sind zu viele Leute!«

»Aber, das ist ja gut, mein Herr!«

»Unter diesen Umständen möchte ich es umgehen, weil es eine Dame ist.«

»Sie sprang absichtlich in das Wasser?«

»Ja.«

»Dann haben Sie vielleicht Recht. Man muß ihr die Beschämung ersparen. Aber die nächste Pflicht wäre es doch, für ihr Leben zu sorgen.«

»Ich bin Arzt!«

»Ach so, dann ist ja Alles in Ordnung. Befehlen Sie also, daß ich abwärts fahre?«

»Ich bitte darum!«

Der Mann war ein Seinematrose. Während die Leute am Ufer auf die Befriedigung ihrer Neugierde warteten, lenkte er das Boot nach der Mitte des Strom-


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armes und ließ es dort abwärts treiben. Unterdessen beschäftigte sich Sternau mit der Untersuchung des Mädchens.

»Ist sie todt?« fragte der Matrose.

»Nein. Sie lebt; sie ist nur ohnmächtig.«

»Grace à dieu! Das arme Kind hätte mir leid gethan.«

»Wissen Sie nicht da abwärts ein Haus, in welches wir sie tragen könnten?«

»Ich weiß eines, mein Herr,« sagte der Matrose. »Da links am Quai Conti gleich am Beginn der Straße Guénégaud wohnt unsere Mutter Merveille, die sicher ein kleines Stübchen zur Verfügung hat.«

»Wer ist diese Mutter Merveille?«

»Sie hat einen Kaffeeschank für ärmere Leute, ist aber eine sehr gute und anständige Frau.«

»So führen Sie uns zu ihr!«

Der Matrose lenkte nach dem linken Ufer des Flusses, wo er sein Boot befestigte. Sternau nahm das Mädchen auf den Arm und ließ sich von ihm führen.

Sie traten in ein Haus in der angegebenen Straße. Eine Parterrehälfte desselben wurde von dem Kaffeelokale eingenommen. Der Matrose bat den Arzt, einen Augenblick zu warten, und ging in die Küche. Bald trat die Wirthin heraus, einen Schlüssel und ein Licht in den Händen.

»Mein Gott!« sagte sie. »Ist es möglich! Eine Ertrunkene!«

»Nein, sie lebt noch, Madame,« sagte Sternau. »Haben Sie nicht ein Bett übrig?«

»Gern, sehr gern, mein Herr!« sagte sie mit der eifrigsten Bereitwilligkeit. »Kommen Sie nach hinten; dort ist das Schlafzimmerchen meiner Tochter.«

Der Matrose wollte sich anschließen, wurde aber von Mutter Merveille abgewiesen.

»Bleib, Gardon!« sagte sie. »Wir sind Manns genug, der Herr Doktor und ich, und Deine Gesellschaft ist bei einer kranken Dame ganz überflüssig.«

Sternau hatte seine Gerettete noch gar nicht genauer betrachtet. Jetzt nun, als er in dem kleinen Zimmer sie zunächst auf das Sopha legte, damit sie von der Wirthin entkleidet werde, konnte er ihre Züge deutlich erkennen.

»Wie schön!« sagte Mutter Merveille. »Gebe Gott, daß sie wirklich noch lebt!«

»Sie lebt; sie wird genesen,« sagte er, ergriffen von dem Ausdruck der sanften, bleichen Züge. »Legen Sie sie in das Bett!«

»Was mag sie veranlaßt haben, in das Wasser zu springen?«

Diese Frage wurde im Tone innigster Theilnahme, aber nicht in dem der Neugierde ausgesprochen.

»Ich vermuthe es,« sagte Sternau. »Vielleicht ist sie vom Vater ihres Kindes verlassen worden.«

»Ah,« sagte die Wirthin mit einem verständnißvollen Nicken. »Sie vermuthen - -? Hm, Sie sind Arzt; Sie werden das wissen. Armes Kind! Was ist jetzt zu thun?«

»Sorgen Sie jetzt für eine Tasse Fliederthee. Ich werde bei ihr bleiben.«

»Aber, Monsieur, Sie sind ja durch und durch naß! Wo haben Sie Ihren Rock?«


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»Ah, daran denke ich jetzt erst! Wie heißt der Matrose, welcher mich zu Ihnen brachte?«

»Gardon.«

»Senden Sie ihn nach dem Pont au Change, von welchem ich in den Fluß sprang. Dort warf ich Rock und Hut ab. Die Uhr und das Portemonnaie steckte ich in eine Tasche des Rockes. lch vermuthe, daß man diese Sachen respektirt hat.«

»Sicher. Er soll eilen!«

Sie ging, und noch war sie kaum eine Minute fort, so begann das Gesicht des Mädchens sich zu röthen. Ihre Hände bewegten sich, und dann öffnete sie auch bald die Augen.

Sie blickte zunächst verwundert um sich.

»Was ist's?« fragte sie leise. »Wo bin ich?«

»Sie sind bei guten Leuten, Mademoiselle,« antwortete Sternau. »Wie befinden Sie sich?«

»Ich? Mich?« fragte sie langsam und sinnend.

Dann schien ihr das Geschehene einzufallen. Sie verbarg das Gesicht in den Händen und weinte. Er ließ sie gewähren; er saß bei ihr, ohne ein Wort zu sagen.

»O, warum bin ich nicht todt!« sagte sie endlich.

»Ist es Ihnen so leicht geworden, in den Tod zu gehen?« fragte er in mildem Tone.

Sie sah ihn mit großen, erschrockenen Augen an.

»Leicht? O, schwer, so schwer!«

»Und dennoch thaten Sie es!«

Wieder legte sie das Gesicht in die Hände, um in ein erschütterndes Schluchzen auszubrechen.

»O, Monsieur, hätten Sie mich doch sterben lassen!« sagte sie dann.

»Der Mensch soll erst dann sterben, wenn Gott ihn ruft. Und Sie, wissen Sie nicht, daß Sie im Begriff standen, nicht nur sich selbst, sondern auch noch ein zweites Leben zu tödten!«

»O, woher wissen Sie das? Sie kennen mich!«

»Nein. Ich bin Arzt. Ich habe Sie im Wasser gehalten und dann nach hier getragen.«

Sie erglühte.

»Mein Herr, ich weiß, daß ich im Begriff gestanden habe, eine große Sünde zu begehen,« sagte sie; »aber mein Muth ist dahin.«

»Fassen Sie Vertrauen! Gott ist gut; er läßt keinen Menschen verloren gehen.«

»Ja, Gott ist gut; aber die Menschen, die Menschen - -«

»Haben Sie bereits so schlimme Erfahrungen gemacht?«

»So schlimme, daß es nur noch den Tod gab!«

»Gab es keine Hilfe, keine Rettung?«

»Keine!« sagte sie dumpf.


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»Mein Kind, das ist ja eine wirkliche Verzweiflung, zu welcher Sie jedenfalls das Recht nicht haben!«

»Nicht? O, wenn Sie wüßten!«

»So theilen Sie mir Ihren Kummer mit! Ich zweifle nicht, daß ich im Stande sein werde, Ihnen, wenn nicht Hilfe, so doch Rath und Trost zu bringen.«

»Unmöglich, mein Herr!«

»Warum unmöglich? Sie dürfen an meiner Bereitwilligkeit, Ihnen zu nützen, nicht zweifeln.«

»Ich zweifle nicht; ich sehe es Ihnen an, daß es Ihr Ernst ist, daß Sie ein Herz besitzen, welches mild von einer Unglücklichen denkt; aber ich kann Ihnen nicht erzählen, was ich ihnen erzählen soll.«

»Warum nicht?«

Sie erröthete abermals tief und schwieg.

»Stehen Sie allein?« fragte er, um ihr die Mittheilung zu erleichtern. »Sie haben doch noch Eltern und Geschwister?«

»Nur den Vater, und einen Bruder. Jener ist eigentlich Fischer, aber, ach, es ist lange her, seit er seinen Beruf nicht mehr betreibt.«

»So hat er einen anderen Beruf erwählt?«

Sie schüttelte den Kopf und sagte nach einer Pause:

»Einen anderen? O nein, leider nicht! Ach, mein Herr, wie bin ich doch so unglücklich!«

Sie hüllte ihr Gesicht in die Decke des Bettes und weinte. Er bat sie, aufrichtig zu sein, und seinem freundlichen Zureden gelang es endlich, sie zu beruhigen und dann zur Mittheilung zu bewegen.

»Mein Vater war ein so guter und nüchterner Mann,« sagte sie. »Ja, das war er - bis meine gute, gute Mutter starb. Er hatte sie lieb gehabt; er grämte sich, und er suchte Trost im Branntwein. Ich war ein Mädchen von neun Jahren, und mein Bruder war nur drei Jahre älter als ich. Der Vater gewann den bösen Trank immer lieber, denn er kam in schlimme Gesellschaft. Er verkehrte bald mit Männern, die er früher verachtet hatte. Er verlernte die Arbeit; er verkaufte nach und nach Alles, was er hatte, und wir begannen, zu hungern.«

Sie hielt inne. Es wurde ihr sichtlich schwer, diese Geständnisse zu machen. Dann fuhr sie fort:

»Mein Bruder war ein starker Knabe; er wurde ein Schmied. Die Schmiede sind sehr oft rohe und gewaltthätige Leute; er wurde es auch, aber er hat mich immer lieb behalten, obgleich er bald in die Fußtapfen des Vaters trat. Er gab bald seine lohnende Arbeit auf und ging des Abends mit dem Vater aus. Wenn sie dann des Nachts nach Hause kamen, so waren sie oft reich, oft auch arm, und ich durfte niemals fragen, woher sie die Dinge brachten, von deren heimlichem Verkaufe sie lebten.«

»Armes Kind!« sagte Sternau.

Sie nickte traurig und fuhr dann fort:

»Einst kehrten sie nicht zurück, und ich wurde des anderen Tages zur Mairie citirt. Dort erfuhr ich, daß Beide gefangen seien; man hatte sie bei einem Einbruche ertappt. O, mein Herr, das war ein trauriger Tag! Ich habe damals viel


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geweint, aber ich ließ den Muth nicht sinken. Während der Vater und der Bruder viele Monate lang im Gefängnisse saßen, arbeitete ich bei einer Näherin; ich hatte keine Noth und legte mir ein Ersparniß zurück, damit die Meinen nicht hungern sollten, wenn sie wieder frei würden. Sie kamen; sie nahmen mein Erspartes und vertranken es. Ich mußte zu ihnen ziehen und das alte Leben begann von Neuem. Sie wurden wiederholt bestraft; ich bat und flehte, aber sie besserten sich nicht. Nun war ich groß geworden, und Vater sagte, daß ich hübsch sei. Er meinte, jetzt sei die Zeit gekommen, in welcher er sich nicht mehr zu plagen und zu sorgen brauche. Er brachte junge Männer zu mir, Männer, vor denen mir graute. Ich widerstand lange, aber ich erhielt Schläge. Ich wollte gehen, fliehen, aber ich wurde eingeschlossen. Endlich zwang man mich eines Abends, starken Wein zu trinken; ich wurde sehr betrunken und war nun zum Widerstande zu schwach.«

Sie hielt abermals inne. Die Erinnerung an jene Zeit entlockte ihr ein Meer von Thränen.

»Nahm Ihr Bruder Sie nicht in Schutz?« fragte Sternau. »Sie sagten doch, daß er Sie immer lieb gehabt habe.«

»Ja, er hatte mich lieb, aber er war nun auch dem Trunke ergeben; er hielt das, was der Vater von mir verlangte für ein Vergnügen, aber nicht für eine Schande, und darum hatte ich von ihm keine Hilfe zu erwarten. Ich gehorchte ihnen jetzt. Und dann - dann fühlte ich, daß ich, daß ich - ein Kind haben würde. Der Vater gab mir eine Arznei, es zu tödten, aber ich gehorchte nicht. Da erhielt ich abermals viel Schläge von ihm, meist, wenn der Bruder nicht daheim war. Heute war es wieder so, und darum schlich ich mich fort, um zu sterben.«

Sie schwieg. Sie hatte eine Biographie gegeben, wie sie in Paris auf Tausende junger Mädchen paßt, denen die Ehrlosigkeit und Pflichtvergessenheit der Eltern zum Fluche wird.

»Haben Sie nie einen Schritt gethan, um sich von der Behörde Hilfe zu verschaffen?« fragte Sternau.

»Nein,« antwortete sie. »Es war ja mein Vater und mein Bruder,« sagte sie einfach.

»Und nun? Was gedenken Sie nun zu thun, mein Kind?«

»O,« klagte sie, »ich weiß, daß ich dennoch in die Seine gehen muß.«

»Nein, das sollen Sie nicht. Ich werde dafür sorgen, daß Sie es nicht nöthig haben.«

Ihr trauriges Angesicht klärte sich auf, und mit einem hoffnungsvollen Leuchten ihrer Augen fragte sie:

»Mein Gott, ist dies Wahrheit? Sie wollen mir wirklich helfen, ohne daß es dem Vater und dem Bruder Schaden bringt?«

»Ja, ich werde helfen, und wenn es zu umgehen ist, jeden Schaden vermeiden.«

»O, Monsieur, wie dankbar wollte ich Ihnen sein,« rief sie entzückt. »Man hat mich zu den Verachteten gezählt, aber ich bin nicht schuld daran. Ich will ja gern arbeiten; ich will gern Alles thun, um Ihre Zufriedenheit zu erlangen. Glauben Sie es mir!«

»Ich glaube es Ihnen,« sagte er. »Wo wohnen Sie?«


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»Wir wohnen in einem Hinterhause der Rue St. Cloy.«

»Das ist allerdings ein schlimmes Quartier. Zu einer in dieser Winkelstraße liegenden Hinterwohnung kann man kein Vertrauen haben -«

Da öffnete sich die Thür, und die Wirthin trat ein, mit einem Theebrette in der Hand.

»Hier ist der Fliederthee,« sagte sie. »Ah, Sie sind wieder zu sich gekommen, mein Kind?«

»Ja,« antwortete das Mädchen. »O, Madonna, wie dankbar bin ich Ihnen, daß Sie sich meiner so freundlich angenommen haben.«

»Ich that es gern; Sie haben nur diesem Herrn zu danken. Wie befinden Sie sich?«

»So trinken Sie schnell den Thee, damit die Schmerzen aufhören. Ah, da kommt ja unser braver Gardon wieder.«

Wirklich trat der Matrose wieder ein. Hinter ihm befanden sich zwei Männer, welche mit hereinwollten, von ihm aber bedeutet wurden, einstweilen zurückzubleiben.

»Hier, mein Herr, sind Ihre Sachen,« sagte er.

»Ah, sie sind nicht verloren gegangen?« fragte Sternau.

»Nein; ein Polizist hatte sie an sich genommen.«

»Und er gab sie Ihnen ohne Weigerung?«

»Wie Sie sehen! Er kannte mich. Ja, Monsieur, der Matrose Gardon ist hier als ein ehrlicher Mann bekannt; man darf ihm schon Etwas anvertrauen.«

»Wie fanden Sie es an der Brücke?«

»Es standen viele Menschen da, welche auf die Rückkehr unsers Bootes warteten. Zwei von ihnen sind mitgekommen.«

»Was wollen sie?«

»Sie wollen diese Demoiselle sehen; sie vermuthen, daß es eine Anverwandte von ihnen sei.«

»Wie heißen sie?« fragte das Mädchen.

»Sie nannten sich Mason, Vater und Sohn.«

»Sie sind es,« sagte sie. »Mein Name ist Annette Mason.«

»Wünschen Sie, sie zu sehen?« fragte Sternau.

»Darf ich, mein Herr?«

»Ja. Wir werden uns einstweilen entfernen.«

»Die Andern mögen gehen, Sie aber bitte ich, zu bleiben, Monsieur. Ich fürchte mich vor dem Vater.«

»Gut,« sagte Sternau zur Mutter Merveille. »Lassen Sie die Beiden eintreten!«

Sie entfernte sich mit dem Matrosen, und die beiden Mason's kamen herein.

Der Vater hatte ein wüstes, versoffenes Aussehen; es war gar nicht zu verkennen, daß er der Sünde und dem Verbrechen ohne Rettung verfallen sei. Der Sohn war eine kräftige, robuste Gestalt und ganz sicher ein ungeschlachter, gewaltthätiger und gewissenloser Mensch, aber in seinem Auge glänzte doch so etwas wie ein Freudenschimmer, als er seine Schwester erblickte. Der Vater eilte sofort auf sie zu.


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»Endlich habe ich Dich!« rief er. »Heraus aus dem Bette, und folge mir!«

»Ich bin krank, Vater,« sagte sie bittend.

»Krank?« fragte er. »Du bist ja wach; Du kannst ja sprechen. Heraus und fort mit Dir!«

Da trat ihr Bruder zu ihr heran und fragte:

»Du bist wirklich in die Seine gesprungen, wie Du uns drohtest, Annette?«

»Ja,« gestand sie leise.

»Welch' eine Dummheit.«

»Dummheit?« rief der Vater. »Nein, eine Schlechtigkeit war es! Sie wollte uns blamiren; sie wollte uns um das Geld bringen, was sie uns zu verdienen hat. Sie mag uns jetzt folgen, und daheim soll sie sehen, was ihrer wartet.«

»Du wirst ihr nichts thun,« sagte der Sohn.

»Nichts? O nein, nichts, gar nichts?« antwortete der Vater höhnisch.

»Nein, ich verbiete es Dir!«

»Was hättest Du mir zu befehlen! Sie soll gehorchen lernen!«

»Das wird sie, aber auch ohne, daß Du sie schlägst. Sie hat eine Dummheit begangen und wird sie bereuen. Komm, Annette!«

Das Mädchen blickte Sternau Hilfe suchend an. Die beiden Männer hatten sich bisher gar nicht um ihn gekümmert. Er sagte nun mit ruhiger aber fester Stimme:

»Die Demoiselle wird hier bleiben!«

»Ah,« sagte der Vater. »Wer sind Sie?«

»Ich habe Ihre Tochter aus der Seine geholt und hierher gebracht und glaube mir dadurch das Recht erworben zu haben, an Ihrer Unterhaltung mit Theil nehmen zu können.«

Der Alte blickte ihn giftig an und sagte:

»Meinetwegen! Aber unsere Unterhaltung ist leider bereits vorüber.«

»Wohl schwerlich,« meinte Sternau. »Sie verlangen, daß Ihre Tochter Ihnen folgt, und ich verbiete es ihr.«

»Ah! Wirklich?« fragte Mason höhnisch. »Mit welchem Rechte?«

»Zunächst mit dem Rechte des Arztes.«

»O, Sie sind Arzt? Sie holen sich Ihre Patienten selbst aus dem Wasser? Das ist außerordentlich praktisch. Leider aber steht es hier nur allein mir zu, von welchem Arzte meine Tochter behandelt werden soll.«

»Schweig, Alter!« gebot der Sohn. »Dieser Herr hat Annette gerettet; er ist ihr nachgesprungen und hat sein Leben gewagt; seine Kleider triefen noch jetzt von dem Wasser des Flusses. Du bist ihm Dank schuldig und wirst höflich mit ihm sein. Wenn er Arzt ist, werden wir seine Meinung anhören.«

»Den Teufel werde ich anhören,« entgegnete der Alte. »Das Mädchen will ich haben, weiter nichts. Vorwärts!«

Er faßte Annette bei der Hand, um sie aus dem Bette zu ziehen; da aber schob ihn Sternau zur Seite.

»Halt,« sagte er, »Sie haben diese Patientin nicht zu berühren. Ich als Arzt muß wissen, ob sie bereits jetzt das Bett verlassen darf. Sie wird bleiben; sie wird Ihnen nicht folgen, jetzt nicht und vielleicht auch später nicht.«


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»Ah, wirklich?« frug der Alte ganz erstaunt.

»Ja, wirklich!«

»Und das sagen Sie mir, mir, dem Vater?«

»Wie Sie hören! Zunächst ist Ihre Tochter krank; sie bleibt heute hier liegen. Und sodann weiß ich ganz genau, was für ein Schicksal ihrer daheim wartet; sie wird nicht nach Hause zurückkehren.«

»Nicht? Gewiß nicht?« fragte der Alte zwischen maßlosem Erstaunen und aufkeimendem Zorn.

»Nein, gewiß nicht. Sie haben nicht als Vater an ihr gehandelt; Sie haben Ihre Vaterrechte verloren; es wird anderweit für sie gesorgt werden.«

»Nicht als Vater an ihr gehandelt? Nicht, nicht? Wer hat dies gesagt? Sie selbst, keine Andere, als sie selbst. Und das soll sie mir büßen.«

Er erhob den Arm, um nach seiner Tochter zu schlagen; Sternau aber gab ihm einen Stoß, daß er zurückfuhr und an die Wand taumelte. Da trat der Sohn, welcher sich bisher nur beobachtend verhalten hatte, vor.

»Mein Herr,« sagte er, »Sie haben meine Schwester gerettet, aber das giebt Ihnen noch kein Recht, meinen Vater zu schlagen.«

Da erhob sich Sternau von dem Stuhle, auf welchem er saß und stellte sich mit seiner Herkulesgestalt dem Schmiede gegenüber, der nun erst jetzt merkte, welch' einen Mann er vor sich hatte.

»Monsieur Mason,« sagte er, »es ist gar nicht meine Absicht, Ihren Vater zu schlagen; ich beabsichtige nur, mich dieses Mädchens anzunehmen. Ich sage Ihnen aufrichtig, daß sie Ihnen nicht folgen wird, sondern daß ich sie in die Familie braver, rechtlicher Leute bringen werde, wo sie sich glücklich fühlen wird. Das werde ich thun, und wer mich daran zu hindern versucht, der hat es sich selbst zuzuschreiben, wenn ich Gewalt anwende.«

»Wie schön das klingt,« höhnte der Alte. »Er will sie für sich selbst behalten.«

»Pah,« antwortete Sternau, »ich bin fremd; ich verlasse sehr bald diese Stadt; meine Absicht ist eine reine und ehrliche.«

»Ich glaube es Ihnen,« sagte der Sohn. »Sie sehen wie ein ehrlicher Mann aus. Aber was wollen sie thun, wenn wir Ihnen die Schwester nicht lassen?«

Sternau lächelte überlegen und sagte:

»Glauben Sie, daß Sie mir dieselbe vorenthalten können?«

»Gewiß!«

»Sie irren sich. Ich brauche nur zu beweisen, daß Sie ohne Existenzmittel sind und daß Sie es Ihrer Tochter und Schwester zumuthen, Sie auf eine Weise zu ernähren, welche gegen alle sittlichen Gesetze verstößt, so wird sich die Polizei sofort Ihrer Schwester annehmen und auch auf Sie ein wachsameres Auge haben, als bisher.«

»Donnerwetter, Sie drohen uns?«

»Allerdings!«

»Und Sie glauben, daß wir uns fürchten?«

»Ich vermuthe es!«

»Ah, das hat mir noch Keiner gesagt.«


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»Das ist möglich, also sage ich es. Ich rathe Ihnen sehr, sich den gegenwärtigen Umständen gutwillig zu fügen. Ihr Widerstand würde nicht nur nutzlos, sondern Ihnen sogar schädlich sein.«

»Das wollen wir sehen,« meinte der Vater. »Fasse an, Junge! Sie muß mit!«

Aber sein Sohn folgte diesem Rufe nicht. Er sah den hohen stolzen Deutschen vor sich stehen; er blickte in dessen mildes und doch so ernstes Auge und fühlte sich durch den Blick desselben besiegt und entwaffnet. Es war der Eindruck einer reinen, festen Männlichkeit auf einen moralisch haltlosen Charakter.

»Schweige!« gebot er seinem Vater. Und dann fragte er den Arzt: »Sie meinen es mit meiner Schwester wirklich ehrlich, und werden dafür sorgen, daß sie einen guten Weg durch das Leben findet, dadurch, daß Sie ihr eine Stellung in einer hiesigen Familie geben?«

»Ja, gewiß werde ich dies thun.«

»Und sie nicht veranlassen, ihren Vater und Bruder zu verleugnen und zu verachten?«

»Es wird das auf sie selbst ankommen; ich werde sie in dieser Beziehung nicht im Mindesten beeinflussen. Ich bahne ihr den Lebensweg, ob und wie sie ihn wandeln wird, das ist ganz allein nur ihre eigene Sache.«

»Werden wir erfahren, wo sie sich befindet?«

»Sie wird es Ihnen mittheilen.«

»Gut, mein Herr, so sind wir einig. Ich überlasse Ihnen meine Schwester gerne.«

»Aber ich überlasse ihm meine Tochter nicht,« rief der Vater. »Ich brauche sie; ich bin alt und schwach; ich kann nicht mehr arbeiten.«

»Sie haben einen Sohn,« sagte Sternau, »einen starken, kräftigen Sohn, der gewiß gern für Sie sorgen wird.«

»Ja,« sagte der Sohn. »Komm, Vater, wir gehen unsern Weg weiter, aber wir wollen uns dabei von dem Vorwurfe freihalten, daß wir Annette mit uns fortgerissen haben.«

»Nein, ich gehe nicht, ich bleibe, bis das Mädchen gehorcht,« behauptete der Mann.

»Pah! Ich will es, und so wirst Du es auch wollen!« meinte sein Sohn. »Ich werde morgen wieder hier nachfragen; jetzt aber gehen wir. Vorwärts, Alter!«

Der Vater wollte sich sträuben, der Sohn aber faßte ihn und schob ihn zur Thür hinaus.

Annette hatte während des letzten Verlaufes des Gespräches wortlos im Bette gelegen, jetzt aber streckte sie dem Arzte ihre Hand entgegen.

»Mein Herr, o, wie danke ich Ihnen!« sagte sie. »Sie sind mein doppelter Retter. Sie haben mich zweimal gerettet, erst aus dem Wasser der Seine und nun aus dem Schlamme des Elendes, in welches man mich zurückziehen wollte.«

Er bemerkte, daß ihr große Schweißtropfen auf der Stirn standen.

»Was ist Ihnen?« fragte er. »Sie schwitzen in Folge des Thees?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe so große Schmerzen.«

»Plötzlich?«


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»Ja, ich kann sie kaum ertragen.«

»Ach, ich ahnte es. Ich werde Ihnen Jemand schicken. Haben Sie nur kurze Zeit Geduld.«

Er zog seinen Rock an und setzte seinen Hut auf, um zu gehen. Draußen trat ihm bereits die Wirthin entgegen.

»Ich hörte die beiden Menschen gehen. Mein Gott, waren dies rohe Leute!«

»Sind Sie bereit, Madame, das Mädchen bis zu ihrer Genesung bei sich zu behalten?«

»Von Herzen gern, mein Herr!«

»Aber Sie werden viel Störung von ihr haben.«

»Das scheue ich nicht. Das Mädchen ist nicht schuld an seinem Elende.«

»Gewiß nicht! Und was Sie an ihr thun, wird Gott Ihnen lohnen. Uebrigens versteht es sich von selbst, daß ich die auflaufende Rechnung auf mich nehme.«

»Das ist sehr edel von Ihnen, mein Herr, obgleich ich darnach nicht fragen würde, trotzdem ich selbst arm bin.«

»Nun, dann nehmen Sie hier diese Börse, Madame. Der Fall in den Strom und der Einfluß des kalten Wassers haben auf unsere Patientin eine Wirkung hervorgebracht, welche mich zu der Bitte veranlassen, doch schleunigst nach einer Hebamme zu schicken. Ich werde jetzt gehen, morgen früh aber wieder hier sein. Gute Nacht!«

»Ihr Befehl soll erfüllt werden, mein Herr. Aber wie nun, wenn die Verwandten der Patientin wiederkommen?«

»Sie werden nicht zu ihr gelassen.«

Er ging.

Als er sein Hotel in der Rue de la Barillerie erreichte, war es bereits Mitternacht. Er besuchte zunächst seine kranke Braut, welche sich in abgeschiedenen Räumen unter der Aufsicht der guten Elvira und einer barmherzigen Schwester befand, und ging dann schlafen.

Als er am anderen Morgen seine Gerettete bei Mutter Merveille wieder besuchte, ergab es sich, daß er gestern Abend ganz richtig vermuthet hatte: es hatte eine Frühgeburt stattgefunden, und Annette lag in großer Schwäche darnieder. Das Kind war todt.

Dieser letztere Fall konnte wohl kaum ein Unglück für sie genannt werden, da sie den neuen Lebensweg nun frei und ungehindert gehen konnte.

Sternau begab sich von ihr weg zu Professor Letourbier, bei welchem er zum Frühstücke geladen war. Im Laufe des Letzteren erzählte er sein gestriges Abenteuer und erregte dadurch die Theilnahme der Frau Professorin in einer solchen Weise, daß sie sich erbot, das Mädchen zu sich zu nehmen. Dies hatte er beabsichtigt.

Besonders erfreut war er, als die Professorin bei seinem Fortgange sich erbot, ihn zu seiner Patientin zu begleiten.

Sie fanden dieselbe jetzt einigermaßen kräftiger. Sie weinte Thränen der Freude, als sie hörte, daß sie eine solche Beschützerin erhalten solle, und wurde von Sternau auch sofort der Professorin definitiv übergeben.

Zwei Tage später reiste er mit Rosa, Alimpo und Elvira ab, um seine Mutter


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und Schwester in Rheinswalden aufzusuchen. Der geehrte Leser weiß bereits, daß es ihm dort gelang, die Geliebte von ihrem Irrsinne zu heilen. -

Es war nur einen Tag nach seiner Abreise von Paris, als auf dem Perron der Bahn von Orleans ein junger Herr aus einem Wagen erster Klasse stieg. Ein schwarz gekleideter Diener, welcher in einem Wagen zweiter Klasse gesessen hatte, eilte herbei, um ihm behilflich zu sein.

»Das Gepäck bleibt hier. Ein Wagen nach irgend einem Hotel!«

Der Diener gehorchte, und bald rollten Beide einem auf dem nahen Platze Walhubert liegenden Hotel zu. Dort verlangte der Fremde neben einer Flasche Wein das Adreßbuch der gesammten Stadt Paris und schlug da die Abtheilung »L« auf. Hier glitt er mit dem Finger von Zeile zu Zeile, bis er auf den Namen »Letourbier, Charles Francois, Professeur de medecin« stieß.

»Dort ist seine Adresse ganz sicher zu erfahren,« murmelte er. »Bei diesem Professor war er, ehe er nach Rodriganda kam, und bei ihm wird er jedenfalls auch wieder vorgesprochen haben. Also Rue des Lavande 4.«

Er gab seinem Diener einen Wink und sagte ihm dann mit gedämpfter Stimme:

»Du sagtest, als ich Dich in Orleans engagirte, daß Du Paris kennst.«

»Allerdings, gnädiger Herr.«

»Weißt Du, wo die Rue des Lavande liegt?«

»Ganz genau. Sie verbindet die große Rue de Rivoli mit dem Quai de la Megisserie.«

»Gut. Du nimmst jetzt eine Droschke und suchst Nummer Vier dieser Straße. Dort wohnt ein Professor Namens Letourbier, bei welchem erfahren werden kann, wo ein gewisser Doktor Karl Sternau zu finden ist, welcher vor kurzer Zeit aus Spanien zurückkehrte.«

»Darf ich direkt beim Professor nachfragen?«

»Es würde mir das nicht angenehm sein, ist es aber nicht zu umgehen, so mußt Du es thun.«

»Darf man es wissen, wer die Adresse dieses Arztes haben will?«

»Nein, auf keinen Fall.«

»Ich werde bald wieder zurück sein.«

Er ging und setzte sich in eine Droschke; da, wo die Rue des Lavande an die Straße St. Germain l'Auxerrois stößt, stieg er aus und trat in das Portal der Mairie, welcher die Nummer Vier gegenüber lag. Er sah da drüben zahlreiche Leute ein- und ausgehen und bemerkte endlich auch ein Mädchen, welches begann, mit einem Besen den Flur zu reinigen. Er begab sich hinüber zu ihr und grüßte höflich:

»Guten Morgen, Mademoiselle! Verzeihen Sie! Serviren Sie in diesem Hause?«

»Ja,« antwortete sie, sichtlich geschmeichelt von dem höflichen Tone seiner Anrede.

An welcher Abtheilung des Hauses?«

»Im Parterre.«


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»Ah, wie schade, weil ich gern in der ersten Etage eine kleine Erkundigung eingezogen hätte.«

»Darf ich es Marion sagen?«

»Wer ist Marion?«

»Das Stubenmädchen des Professors, welcher da oben wohnt.«

»Ja, bitte, Mademoiselle! Aber es wird doch nicht auffallen?«

»Nein, mein Herr.«

Sie hüpfte davon und die Treppe empor. In kurzer Zeit kehrte sie mit einem Mädchen zurück, welches die eigenthümliche Tracht der Bretagne trug.

»Das ist der Herr, Marion,« sagte sie.

»Was wünschen Sie zu wissen, Monsieur?« fragte Marion in dem harten Dialecte, welcher der Bretagne eigen ist.

»Eine kleine Auskunft, mein Fräulein.«

Dabei griff er in die Tasche und offerirte einer jeden der beiden Mädchen ein blankes Frankstück.

»Sie soll Ihnen werden, mein Herr,« sagte Marion. »Ich sehe, daß Sie in einem gebildeten Hause serviren.«

»Das ist allerdings wahr,« sagte er. »Mein Herr ist der Vicomte de Rallineux, der leider bereits längere Zeit krank darnieder liegt.«

»Ah, ich bedaure!« sagte das Mädchen des Parterres höflich.

»Ich ebenso,« fügte Marion hinzu.

»Danke, meine Damen. Der Herr Vicomte bedienten sich früher eines Doktors Sternau, dessen Geschicklichkeit er fast seine Heilung zu verdanken hatte, als dieser Arzt leider plötzlich nach Spanien verreiste.«

»Ich weiß das,« beeilte Marion sich, zu bemerken. »Monsieur Sternau erhielt einen Ruf zu dem berühmten Grafen de Rodriganda.«

»Das war schlimm für den Herrn Vicomte, denn sein Uebel wurde sofort größer, und kein Arzt brachte Hilfe. Jetzt nun erfährt mein Herr zufällig, daß Monsieur Sternau von Spanien zurückgekehrt sei - -«

»Das stimmt,« sagte Marion.

»Und da er nun weiß, daß beim Herrn Professor die Adresse dieses Arztes jedenfalls bekannt ist - -«

»Allerdings, mein Herr!«

»So ertheilte er mir den Auftrag, mich hier zu erkundigen, natürlich aber, ohne den Herrn Professor selbst zu incommodiren.«

»So wollen Sie also wissen, wo Monsieur Sternau wohnt? Das kann ich Ihnen ganz genau sagen. Sie gehen von hier aus durch die Saunerie und über den Pont Change -«

»Ja, Mademoiselle.«

»Da kommen Sie zwischen dem Quai de l'Horloge und dem Quai aux fleurs hindurch in die Straße de la Barillerie - -«

»Ich kenne sie,« nickte er.

»Auf der rechten Seite dieser Straße liegt der Justizpalast und die kleine Straße St. Chapelle, und an der Ecke dieser Straße steht das Hotel d'Aigle. In demselben bewohnt Monsieur Sternau einige Zimmer der ersten Etage.«


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Sie hatte das in sehr umständlicher Weise gesagt, dennoch aber machte der höfliche Diener eine tiefe Verbeugung und sagte:

»Ich danke Ihnen, Mademoiselle! Wird Monsieur Sternau um diese Zeit zu sprechen sein?«

»Ich weiß es nicht. Ah, da fällt mir ein, daß ich glaube gehört zu haben, daß vorgestern von seiner Abreise die Rede war.«

»Sie meinen also, daß ich mich beeilen muß?«

»Gewiß, mein Herr. Ich hörte zwar nur im Vorübergehen eine Silbe fallen, aber es ist doch besser, Sie gehen sicher.«

»Dann darf ich Ihnen nicht länger mißfällig sein. Adieu, meine Damen!«

Er verabschiedete sich mit einem Complimente, als ob er zwei Herzoginnen vor sich habe. Sie blickten ihm nach, und dann meinte Marion:

»Ein sehr feiner Herr!«

»Sehr fein,« nickte die Andere.

»Ich wollte, er fände den Doktor nicht. Dann käme er vielleicht wieder.«

»Hm, ja! Ich werde den Flur ein wenig langsam kehren, damit ich noch da bin, wenn er zurückkommt.«

»Aber Du wirst mich sofort rufen!«

»Gewiß! Dieser Vicomte de Rallineux muß ein sehr, sehr feiner Herr sein!«

»Sicherlich, denn einen Herrn erkennt man an seinem Diener. Ein Diener ist nicht immer in der Lage, Douceurs von zwei Franken zu geben.«

Die Erwartung der beiden Mädchen erfüllte sich nicht. Der Diener kehrte zu seinem Herrn zurück und theilte ihm mit, was er erfahren hatte.

»Hotel d'Aigle sagst Du?« fragte dieser.

»Ja, Rue de la Barillerie.«

»So werden wir dort wohnen.«

»Soll ich einen Wagen besorgen, gnädiger Herr?«

»Nein.«

Er starrte eine Weile in das Leere und drehte sich, wie in einiger Verlegenheit, die Spitzen seines Schnurrbartes; dann sagte er:

»Du bist wirklich gut in Paris orientirt?«

»Sehr genau.«

»Hm, es gilt nämlich einen Scherz.«

Der Diener verbeugte sich.

»Dieser Doktor Sternau ist ein Freund von mir, soll mich aber nicht erkennen.«

»Ah, ich verstehe, gnädiger Herr! Sie wünschen, sich zu verkleiden, und bedürfen einen falschen Bart und so weiter?«

»Ja, aber Alles sehr fein gearbeitet. Kennst Du einen Ort, wohin man sich in dieser Angelegenheit mit Vertrauen wenden könnte?«

»Hm, es ist bedenklich. Der gnädige Herr verzeihen; aber das Verlangen nach einer solchen Veränderung des Aeußeren ist leicht verdächtig - -«

»Ich weiß das.«

»Wollten Sie sich an einen bekannten Friseur oder Kosmetiker wenden, so würde dieser verlangen, daß Sie sich legitimiren.«

»Das wäre mir allerdings unbequem.«


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»Darum gestatte ich mir einen Vorschlag, der allerdings kühn ist. Es giebt hier Leute, welche sehr oft ihr Aeußeres verändern, doch nicht eines Scherzes halber -«

»Ah, die Ritter des Verborgenen!«

»Ja. Ihnen stehen Künstler zu Diensten, denen selbst der gewandteste Theaterfriseur das Wasser nicht zu reichen vermag. Diese Künstler wohnen freilich nur im Dunklen, im Schmutze, und ich weiß nicht -«

»Pah! Kennst Du einen solchen Menschen?«

»Ja, es ist der alte Papa Terbillon; er wohnt im Keller eines Hauses der Rue de l'Odeon.«

»Du meinst, daß er im Stande sein wird, mich so zu verändern, daß mich selbst mein bester Freund nicht erkennt?«

»Ganz gewiß.«

»Ist man bei ihm vor Verrath sicher?«

»Er ist stumm in solchen Dingen.«

»Schlingel! Hätte ich doch nicht gedacht, einen Diener zu bekommen, der in solchen Dingen diese Erfahrung besitzt.«

»Verzeihung, gnädiger Herr! Die Herren, denen ich servirte, zwangen mich, mir Kenntnisse solcher Art anzueignen.«

»So führe mich! Ist es weit?«

»Ziemlich. Es ist am Ende der Rue de Vaugirard in der Nähe von St. Sulpice.«

Sie verließen das Hotel und bestiegen eine Droschke, mit welcher sie sich bis zur Straße Monsieur le Prince fahren ließen. Dort stiegen sie aus und begaben sich zu Fuße nach der Odeonstraße.

»Kennt der Alte Dich?« fragte der Herr.

»Ja.«

»So magst Du mit eintreten.«

Als sie das Haus erreichten, schritten sie durch den weiten Thorweg desselben nach dem Hofe und gelangten dort an eine Art Kellerthür, neben welcher ein hölzerner Klingelgriff befestigt war. Der Diener klingelte, und es dauerte eine geraume Zeit, bis geöffnet wurde. Ein altes Weib erschien.

»Was wollt Ihr?« frug sie.

»Ist Papa Terbillon daheim?« fragte der Diener.

»Ja.«

»So laßt uns ein! Wir sind Freunde. Sagt es ihm!«

»So wartet!«

Sie verschwand und schloß die Thür hinter sich zu, und die Beiden mußten abermals eine längere Weile warten.

Dies hatte seinen guten Grund. Papa Terbillon nämlich war nicht allein, sondern er hatte Besuch. Es befand sich bei ihm ein junger, ungewöhnlich stark gebauter Mensch, in welchem wir den Schmied Gerard Mason, den Bruder Annettens, wieder erkennen.

Der alte Terbillon war ein vorn und hinten ausgewachsenes Männchen mit einem vollständig kahlen Kopfe. Er trug eine große Hornbrille auf der großen


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Nase und stak in einem alten Schlafrocke, welcher aus lauter Flicken und Flecken bestand.

Das Zimmer, in welchem die Beiden saßen, war nur ein Loch zu nennen. Es enthielt einen alten Tisch, drei Stühle, ein Bänkchen, einen kleinen Windofen, einen alten Spiegel und eine Petroleumlampe, welche immer brennen mußte, da der Raum kein Fenster besaß.

Aus diesem Ameublement hätte man sicher nicht auf den Stand und die Beschäftigung des Alten zu schließen vermocht. Er hockte auf dem Schemel, hatte die Arme um die empor gezogenen Kniee gelegt und hörte dem zu, was ihm der Schmied mittheilte.

»Und sie rannte wirklich fort?« fragte er.

»Ja.«

»Und in das Wasser?«

»Geradewegs!«

»Welch' eine Dummheit! So ein hübsches Mädchen, welches sich täglich zwanzig bis dreißig Franken verdienen könnte, wenn es nicht so sehr lieblos gegen die Herren sein wollte. Sie ist natürlich ertrunken?«

»Nein.«

»Nicht? Bei Gott, was denn?«

»Sie wurde von einem Herrn gesehen; der sprang ihr nach und zog sie wieder heraus.«

»Wieder heraus? Welch' eine Albernheit. Einen Menschen, der sich ersäufen will, den läßt man im Wasser; das versteht sich ja ganz von selbst. Wer war der Kerl?«

»Ich weiß es nicht.«

»Hast Du ihn nicht gesehen?«

»Doch, sogar gesprochen habe ich ihn.«

»Und weißt nicht, wer er war! Welch' eine Dummheit!«

»Ja, ich habe ihn gesehen, ich habe ihn gesprochen, aber ich habe ihn nicht gefragt, wer er ist. Er hatte Etwas an sich, was mir den Muth zur Frage nahm.«

»Dummheit!«

»Und zudem glaubte ich, daß Annette ihn fragen würde.«

»Und sie hat es wohl auch nicht gethan? Welch' eine Albernheit!«

Der alte Terbillon schien die Worte Dummheit und Albernheit vorzugsweise gern zu gebrauchen. Sein Gesicht hatte Affenzüge, und seine ganze Gestalt zeigte etwas Meerkatzenähnliches.

»Sie hat geglaubt, ihn öfters zu sehen, aber er ist nicht wieder gekommen,« entschuldigte sich der Schmied. »Er ist abgereist.«

»So war er ein Fremder?«

»Jedenfalls. Er ging über die Brücke, als Annette in das Wasser sprang; er stürzte sich ihr nach und rettete sie; er trug sie zur Mutter Merveille, wo sie verpflegt wurde, und nun soll sie in die Familie des großen Letourbier kommen.«

»Des Professors! Wie kommt sie zu diesem?«

»Ihr Retter hatte sie empfohlen.«


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»Und das laßt Ihr Euch gefallen? Welch' eine Dummheit wieder! Wißt Ihr, daß sie Euch eine sehr gute Revenue einbrachte? Daß Ihr also gar nicht zu arbeiten brauchtet?«

»Richtig! Das ist wahr.«

»Und daß Ihr nun arbeiten müßt?«

»Das wollen wir; deshalb komme ich zu Dir, Papa Terbillon. Du wirst mir Arbeit geben.«

»Ich? Hm! Du hast bisher für den alten Gambreully gearbeitet?«

»Ja, an der Garotte.« 

An der Garotte arbeiten heißt nämlich, einsame Spaziergänger überfallen, ihnen die Kehle zudrücken oder zuschnüren, um ihnen die Baarschaft abzunehmen. Hierzu gehören sehr kräftige Leute, und gewöhnlich arbeiten Zwei mit einander. Diese Arbeit wird förmlich geschäftsmäßig betrieben. Es giebt wirkliche Entrepreneurs, welche fünfzig und mehrere Arbeiter in verschiedenen Fächern beschäftigen.

»Was hast Du Dir verdient?«

»Verdammt wenig. Sechs Franken pro Tag.«

»Hm, ich würde Dir acht Franken geben, denn Du bist ein kräftiger Bursche Wie oft bist Du bereits gefangen gewesen?«

»Erst fünfmal.«

»Und Dein Vater?«

»Zwölfmal.«

»Welche Dummheit! Zwölfmal! Du scheinst klüger zu sein, als Dein Alter. Willst Du für acht Franken, so schlage ein.«

»Ich möchte doch nicht bei der Garotte stehen bleiben, vielmehr avanciren. Was giebst Du einem guten Einbrecher?«

»Das ist verschieden. Bis hundert Franken pro Tag; nämlich pro Arbeitstag!«

»Ach so. Hast Du schon genug Kräfte?«

»So ziemlich, obgleich ein tüchtiger Kerl allezeit zu gebrauchen ist. Laß Dir also Etwas sagen: Ich werde Dich einmal auf Probe nehmen, zunächst für zehn Franken an die Garotte. Ist's Dir recht?«

»Gut, ich thue mit; habe aber kein Geld.«

»So beginnen wir gleich heut. Ich werde Dir den heutigen Tag bezahlen.«

Er griff in die Seitentasche seines alten Schlafrockes und zog einen ledernen Beutel heraus; diesem entnahm er ein goldenes Zehnfranksstück und gab es dem Schmied.

»Hier hast Du Deinen ersten Tageslohn. Bin ich mit Dir zufrieden, so gehst Du bald zu den Einbrechern über. Aber, Du kennst unsere Gesetze, und weißt, daß für den Lohn, den ich Dir zahle, Alles mir gehört, was Du erbeutest.«

»Ja, dies ist mir vollständig bekannt.«

»Denke daran, daß man seine Arbeiter zu kontroliren versteht! Es hat mich schon Mancher betrügen wollen; für kurze Zeit ist ihm dies gelungen, dann aber -«

»Nun, dann?«

»Dann sind sie zur Strafe stets in das Zuchthaus gewandert. Ich bezahle meine Leute gut, sind sie aber unehrlich gegen mich, so weiß ich ihnen stets die Polizei auf den Hals zu schicken. Aber, da fällt mir ein, Du hast einen Spitznamen?«


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»Ja.«

»Man nennt Dich Gerard l'Allemand, den Deutschen?«

»Ja.«

»Warum?«

»Weil ich deutsch spreche und verstehe.«

»Wo hast Du es gelernt?«

»Von meiner Mutter; sie war eine Deutsche. Und vor drei Jahren habe ich das ganze Elsaß und Baden durchwandert.«

»Das ist mir lieb; Du wirst gut zu gebrauchen sein.«

In diesem Augenblicke ertönte eine Klingel, und einige Zeit später trat die Alte ein.

»Was giebt es?« fragte Papa Terbillon.

»Es sind zwei Männer draußen. Sie seien Freunde, sagte der Eine; ich kenne sie aber nicht.«

»Ich werde sie ansehen.«

Er erhob sich und verließ den Raum. Draußen gab es vor der Kellerthür einige finstere Stufen, welche er emporstieg. In der Thüre waren einige feine Löcher eingebohrt, durch welche man blicken konnte, und so sah sich der Alte die beiden Kommenden an. Er kehrte in seine Wohnung zurück und sagte zu dem Schmiede:

»Vielleicht giebt es sogleich Arbeit für Dich.«

»Ah, das sollte mich freuen!«

»Ja. Den Einen kenne ich; er ist ein Diener, der mir bereits schon manchen Herrn gebracht hat. Der Andere scheint sein gegenwärtiger Herr zu sein, ein feiner Mann mit Ringen unter dem Handschuh und einer Fünfhundertfrankenkette an der Uhr.«

»Donnerwetter!«

Der Alte zeigte auf eine niedrige Thür, welche neben dem Ofen angebracht war.

»Gehe hier heraus. Du kannst Dir ihn durch das Glasfenster betrachten, das Uebrige wird sich dann später finden.«

Gerard verschwand hinter der Thür. Er befand sich jetzt in einer Art von Kammer, welche allerlei Raub zu enthalten schien. Es war vollständig dunkel in ihr, aber er fühlte verschiedene Gegenstände, darunter auch einen Sack, der mit weichen Stoffen gefüllt war und gerade hinter der Thür lag, so daß er sich auf ihn setzen und dabei ganz bequem durch das Fensterchen in die Stube blicken konnte.

Eben jetzt traten die beiden Fremden ein.

»Guten Tag, Papa Terbillon!« grüßte der Diener.

»Guten Tag,« dankte der Alte mürrisch, ohne sich von seinem Sitze, auf dem er wieder Platz genommen hatte, zu erheben.

»Nun, stehe auf, Papa Terbillon, wenn feine Leute zu Dir kommen!« sagte der Diener.

»Das thue ich, wie ich will. Es sagt Mancher hier, er sei fein, und wenn man ihm gefällig ist, erfährt man das Gegentheil.«

»Aber hier wirst Du es nicht erfahren. Dieser Grundherr ist ein Edelmann.«

Der Alte machte ein sehr verwundertes Gesicht und sagte:


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»Woher?«

»Das ist Nebensache.«

»Für mich aber Hauptsache! Ich muß die Leute kennen, welche zu mir kommen. Was wollt Ihr?«

»Dieser Herr hat einen kleinen Maskenscherz vor -«

»Es ist nicht Fastnacht!«

»Du bist bei schlechter Laune. Es handelt sich um einen Masken-, aber nicht um einen Fastnachtsscherz.«

»Ich bin kein Maskenverleiher.«

»Das weiß ich. Aber dieser Herr wünscht, unkenntlich gemacht zu werden; willst Du dies übernehmen? Es wird gut bezahlt!«

»Ich thue es dennoch nicht, da es verboten ist. Es kommen oft Spitzbuben nach falschen Haaren; wenn ich ihnen den Willen thäte, käme ich nicht aus dem Gefängniß heraus.«

»Aber hier handelt es sich doch nicht um einen Spitzbuben!«

»Weiß ich es?«

Da nahm auch der Herr das Wort:

»Papa Terbillon, wollt Ihr, oder wollt Ihr nicht? Ich bin nicht gewohnt, so lange Zeit gute Worte zu geben!«

Erst jetzt erhob sich der Alte und machte eine Art von Verbeugung.

»Ah, das klingt wirklich, als ob Sie ein echter Edelmann seien. Werden Sie gut zahlen, wenn ich Ihnen diene?«

»Was Du verlangst!«

»Das richtet sich ganz nach der Arbeit. Was wünschen Sie also?«

»Ich wünsche, vollständig unkenntlich gemacht zu werden. Wie Du das anfängst und wie Du es fertig bringst, das ist Deine Sache.«

»Unkenntlich für welche Zeit?«

»Hm,« sagte der Fremde nachdenklich. »Wenn ich es für längere Zeit sein will, und ich hätte Veranlassung, mein echtes Gesicht wieder zu zeigen, ehe diese Zeit verflossen ist, kann man dann die Imitation entfernen?«

»Sofort.«

»Und welches ist die längste Zeit?«

»Fünf bis sechs Wochen. Später wird der Bart zum Verräther.«

»So wollen wir es für diese Zeit versuchen. Was verlangst Du?«

»Zweihundert Franks.«

»Alle Teufel, das ist viel!« meinte der Fremde.

»So gehen Sie zu einem Andern!«

»Pah, ich bleibe! Ich werde sie Dir zahlen, aber nach beendigter Arbeit.«

»Und ich beginne die Arbeit nicht vorher. Es kommt Mancher zu mir, der mich betrügt.«

Der Fremde machte eine verächtliche Handbewegung und sagte:

»Es handelt sich nur darum, ob Deine Arbeit zweihundert Franks werth ist.«

»Tausend Franken ist sie werth!« betheuerte der Alte.

»Nun gut, so zahle ich Dir jetzt die Hälfte und die andere Hälfte dann, wenn ich mit Dir zufrieden bin.«


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»Ich will es gelten lassen, Monsieur.«

»So nimm, hier!«

Er zog sein Portefeuille hervor, öffnete es und nahm eine der darin liegenden Hundertfrankennoten hervor, die er dem Alten gab.

Dieser that gar nicht, als ob er das Portefeuille beachte, aber es war doch ein blitzesschneller, scharfer Blick gewesen, den er darauf geworfen hatte.

»Ich danke,« sagte er, indem er die Note in die Tasche seines Schlafrockes schob. »Setzen Sie sich gefälligst auf diesen Stuhl.«

Während der Fremde Platz nahm, verschwand der Alte hinter einer dritten Thür und kehrte bald mit einem großen Kasten zurück, welcher Messer, Scheeren, Kämme, Haare, Bartwolle, Farben und Beitzen und verschiedene Flaschen, Schachteln und Büchsen enthielt.

»Sie sind dunkelblond,« sagte er. »Soll ich Sie brünett oder schwarz machen?«

»So, daß man mich nicht erkennt; weiter verlange ich nichts.«

»Also schwarz.«

»Aber daß keine nachträglichen Spuren bleiben.«

»Keine Sorge, Monsieur!«

Papa Terbillon begann nun sein Werk. Es ging höchst langsam vorwärts, aber es gelang ihm ausgezeichnet; er mußte eine ganz besondere Uebung besitzen. Endlich trat er auf einen Augenblick in den Raum, in welchem der Schmied saß.

»Hast Du Dir ihn genau angesehen?« flüsterte er ihm zu.

»Ja,« antwortete Gerard ebenso leise.

»Er hat Geld, viel Geld!«

»Ich habe es gesehen.«

»Ich muß es haben, und zwar durch die Garotte. Wenn Du es mir bringst, erhältst Du zweihundert Franken Gratifikation.«

»Ich werde es versuchen und ehrlich sein.«

»Du hast Dein Tagelohn; Du hast den Mann bei mir kennen gelernt, folglich gehört sein Geld nun nur mir allein.«

»Mache Dir keine Sorge, Papa Terbillon!«

»Gut, so verlaß jetzt das Haus und warte draußen auf ihn. Dann folgst Du ihm und läßt ihn heut nicht wieder aus den Augen.«

»Wie kann ich das Haus verlassen, ohne daß er mich sieht?«

»Komm!«

Er zog ihn weiter in das Dunkel hinein, bis an eine Treppe, welche nach oben ging. Diese stieß an eine Thür, und als der Alte diese öffnete, stand Gerard auf dem Flur des Hinterhauses.

»So, nun gehe! Ich werde heute warten, bis Du kommst,« sagte Terbillon.

»Und wenn er mir nun erst spät in die Hände kommt?«

»So kommst Du morgen früh.«

»Und wenn er heute vorsichtig ist?«

»So wird er morgen unvorsichtig sein. Adieu.«

Er schloß hinter dem jungen Manne wieder zu und kehrte dann nach seinem


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Atelier zurück. Hier that er, als habe er noch Einiges hinzuzufügen, und dann endlich sagte er:

»Fertig! Das war eine tüchtige Geduldsprobe.«

»Allerdings,« sagte der Fremde. »Ich hoffe, daß Dein Werk desto besser gerathen ist!«

»Ich bin zufrieden,« sagte der alte Terbillon wohlgefällig.

»Wie steht es?« fragte der Fremde seinen Diener.

»Ausgezeichnet!« sagte dieser. »Der gnädige Herr sind unmöglich zu erkennen.«

»So wollen wir sehen!«

Er trat an den Spiegel und fuhr um einen Schritt zurück.

»Verdammt!« rief er. »Es ist wahr. Ich kenne mich selbst nicht!«

»Und welch' noble Maske!« sagte der Diener.

»Alter, Du bist ein Virtuos!« sagte der Fremde zu Terbillon. »Hier hast Du die zweiten hundert Franks. Wie lange wird das Zeug halten?«

»Sechs Wochen.«

»Und wie habe ich mich zu verhalten?«

Terbillon belehrte ihn, und dann gingen die beiden Fremden fort. Draußen auf der Straße blieb der Herr stehen und sagte zum Diener:

»Jetzt gehst Du nach dem Bahnhofe und holst meine Effekten nach dem Hotel d'Aigle. Ich komme dann nach.«

»Als was soll ich Sie ankündigen, gnädiger Herr?«

»Als das, was ich bin, der Marchese Acrozza.«

Der Diener eilte die Rue Racine hinab, um zum Bahnhof von Orleans zu gelangen, während der Herr langsam die Rue Mazarine hinaufschlenderte und sein Bild in den großen Ladenfenstern spiegelte.

An einem derselben blieb er stehen. Er sah sich in Lebensgröße und erkannte erst jetzt, welch' ein Meisterwerk Papa Terbillon geliefert hatte.

»Bei Gott, es kann mich kein Mensch erkennen,« dachte er. »Nicht einmal dieser scharfsinnige Vater, dieser Gasparino Cortejo würde in mir seinen unehelichen Sohn, den Grafen Alfonzo de Rodriganda vermuthen.«

Er ging weiter, und dabei setzte er seinen Gedankengang fort:

»Wie gut ist es, daß auch dieser französische Diener meinen eigentlichen Namen nicht weiß! Er hält mich für den Marchese Acrozza. Man kann nicht vorsichtig genug sein.«

Er trat in ein Kaffee und blieb darin, bis er glaubte, daß sein Diener sich bereits eingerichtet habe. Dann bestieg er eine Droschke und fuhr ebenfalls nach de la Barillerie.

Vor dem Hotel d'Aigle angekommen, wurde er mit Auszeichnung empfangen und von dem Wirth selbst auf seine Zimmer begleitet. Dort fragte der Letztere nach den Wünschen des Gastes.

»Diese Wünsche wird Ihnen mein Diener melden,« sagte Alfonzo de Rodriganda. »Für jetzt habe ich nur eine Frage: Wohnt hier vielleicht in der Nähe ein tüchtiger Arzt?«


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»Mein Hausarzt, welcher der tüchtigste des ganzen Arrondissements ist, wohnt nicht weit von hier, in der Rue de la Calaudel.«

»Weiter giebt es keine? - Auch in Ihrem Hause zufällig nicht?«

»Nein.«

»So bin ich falsch berichtet. Ich hörte, daß ein Doktor Sternau bei Ihnen wohne.«

»Ah, das war bis gestern richtig.«

»So ist er gestern ausgezogen?« fragte Alfonzo enttäuscht.

»Ausgezogen nicht, sondern abgereist nach Deutschland.«

»Wo ist er abgefahren?«

»Vom Nordbahnhof. Er ließ sich sein Gepäck nach dem Bahnhof an der Barre St. Denis schaffen.«

»Welche Stadt war das Ziel seiner Reise?«

»Ich glaube, daß er von Mainz gesprochen hat; er stammte ja wohl aus jener Gegend. Er erzählte beiläufig, daß er dort Mutter und Schwester hat, und zwar auf einem Dorfe oder Schlosse der Umgegend.«

»Haben Sie den Namen desselben nicht gehört?«

»Ich glaube, er nannte ihn Rheinswalden.«

»Ich danke Ihnen. Wohnte er allein hier?«

»Nein. Er hatte einen Herrn und zwei Damen bei sich, die Spanier waren.«

»In welchem Verhältnisse standen sie zu ihm?«

»Die jüngere Dame war krank. Er behandelte sie mit außerordentlicher Aufmerksamkeit, so daß man vermuthen konnte, daß sie seine Gemahlin sei. Die beiden anderen Personen waren Diener.«

»Wurden sie nicht eingetragen?«

»Nein.«

»Ich denke, Sie haben jeden Gast einzutragen!«

»Monsieur Sternau war nicht mein Gast. Er wohnte bei mir bereits, ehe er nach Spanien reiste. Er hatte seine Zimmer von mir gemiethet, und ich nahm mir also nicht das Recht, diejenigen Personen zu controlliren, welche er bei sich hatte.«

»So wissen Sie wohl auch keine Namen?«

»Nein.«

»Beschreiben Sie mir den Diener!«

»Er war klein und trug ein sehr eigenthümliches Bärtchen. Die Dienerin war auch klein, aber sehr dick. Beide schienen recht gute Menschen zu sein.«

»Und die jüngere Dame?«

»Sie war von einer außerordentlichen Schönheit und - ah, ich hörte einst, daß sie von Monsieur Sternau »Rosa« genannt wurde.«

»Sie sagten, daß sie leidend gewesen sei. Welcher Art war ihr Leiden?«

»Sie war geisteskrank. Ich sah sie nur dreimal, dann aber auch stets betend. Es war das wohl eine Monomanie.«

»Ich danke Ihnen, Monsieur. Diese Auskunft genügt. Ich werde leider morgen Paris wieder verlassen, um nach Lyon zu gehen.«

Der Wirth entfernte sich, und nun sah sich Alfonzo allein. Er schritt erzürnt


Ende der sechsundzwanzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Waldröschen

Karl May – Forschung und Werk