Lieferung 27

Karl May

26. Mai 1883

Waldröschen
oder
Die Rächerjagd rund um die Erde.

Großer Enthüllungsroman
über die
Geheimnisse der menschlichen Gesellschaft

von

Capitain Ramon Diaz de la Escosura.


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im Zimmer auf und ab. Er war Sternau gefolgt, um ihn zu erreichen und zu verderben, und sah ihn nun doch nach Deutschland entkommen.

»Aber er ist noch nicht gerettet! Nein, nein! Von uns Beiden kann nur Einer bestehen, denn er weiß bereits zu viel. Er muß fallen. Ich reise ihm nach Deutschland nach!«

Er grübelte eine Zeit lang, und dann murmelte er:

»Ja, ich reise ihm nach. Ich kann ihm getrost begegnen, ich kann mich vor ihm sehen lassen, und er wird mich nicht erkennen. Und diesen Diener, welcher von meiner Maske weiß? Ah pah, den werde ich bald los werden; den führe ich an der Nase bis nach - ja, bis wohin denn? Bis nach Rouen. Von ihm darf ich mir nicht in die Karten sehen lassen.«

Er klingelte und der Diener erschien.

»Warst Du bereits einmal in Rouen?« fragte er ihn.

»Einmal,« antwortete derselbe.

»Welches ist das beste Hotel?«

»Das Hotel zu den »Drei Kronen«.«

»Wo liegt es?«

»Ganz in der Nähe der Kirche St. Ouen.«

»Es erwartet mich ein kleines Abenteuer dort. Ich muß morgen dort sein, muß aber sofort bei meiner Ankunft wissen, ob eine Gräfin Rossey sich in einem der dortigen Hotels befindet.«

»Soll ich voranreisen und mich erkundigen?«

»Allerdings muß ich Dir diesen Auftrag ertheilen. Du magst mit dem ersten Mittagszuge reisen, und mich im Hotel zu den »Drei Kronen« erwarten.«

»Soll ich dort Zimmer bestellen?«

»Nein, denn ich weiß nicht vorher, ob ich wirklich dort bleibe.«

Das war nur eine Finte, den Diener los zu werden. Er gab ihm das nöthige Reisegeld und ließ ihn ohne Gewissensbisse per Bahn nach Rouen reisen.

Nun erst hielt er sich in seiner Verkleidung für sicher. Er ging des Nachmittags spazieren und bemerkte nicht, daß eine Person ihm stets von Weitem folgte. Es war Gerard Mason, der Schmied, der es sich wirklich zur Aufgabe gemacht hatte, ihm seine Baarschaft abzunehmen.

Alfonzo begab sich später in das Theater, nicht der Vorstellung wegen, sondern um zu sehen, ob die an ihm vorgenommenen kosmetischen Manipulationen vielleicht auffällig seien. Es bekümmerte sich Niemand um sein Aeußeres, und das beruhigte ihn. Nach dem Theater besuchte er ein sehr frequentirtes Weinhaus in der Straße Montorgueil, und dann kehrte er nach seinem Hotel zurück.

Es war ziemlich spät geworden, wohl eine Stunde nach Mitternacht. Er bog in die Rue de la Tonnellerie ein und dann in die enge Straße de la Poterie. Er glaubte, hier näher zu kommen, hätte aber besser gethan, durch die Rue du Roule nach dem Quai de l'Ecole zu gehen.

Die enge Gasse war kaum nothdürftig erleuchtet und fast ganz menschenleer. Indem er ihr langsam nachfolgte, bemerkte er wohl, daß Jemand in schnellen Schritten hinter ihm herkam, aber es dünkte ihm das nicht auffällig. Der Betreffende war kein Anderer als Gerard, der Schmied. Er erreichte den Grafen.


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Dieser wollte sich zur Seite halten, um den schnellen Passanten vorüber zu lassen, fühlte sich aber in demselben Augenblicke von hinten an der Kehle gepackt. Sie wurde ihm so fest zusammengeschnürt, daß er keinen Athem holen konnte und die Besinnung verlor. Er stürzte zur Erde.

Der Schmied garottirte diesesmal ohne Gehilfen; er war allein. Er bückte sich über den Ohnmächtigen, nahm ihm Uhr und Kette, Börse und Brieftasche, und zog ihm sogar, nachdem er die Handschuhe herabgerissen hatte, die Ringe vom Finger.

»Das ging leicht!« murmelte er vergnügt. »Nun schnell fort.«

Er eilte durch die Rue de la Poterie und wandte sich dann rechts in die kurzen Gassen Lenoir, Bourdonnais und Bertin Poiree, bis er zum Quai de la Megisserie kam. Da dies aber der Weg war, den auch der Beraubte einzuschlagen hatte, um zum Hotel d'Aigle zu kommen, so drehte sich der Schmied abermals rechts, ging den Quai de l'Ecole und den Quai du Louvre hinab, an Port St. Nicolas vorüber bis an die große Galerie du Musee, schritt links über die Nationalbrücke hinüber und befand sich nun bei den Bateaux à vapeur (Dampfbooten), pour St. Cloud.

An dieser Stelle legten die Dampfschiffe von St. Cloud an. Es gab auch leere Kähne genug, und Gerard suchte sich einen derselben aus, welcher hell von einer der Quailaternen beschienen wurde. Er stieg hinein und setzte sich. Es sah aus, als ob er der Eigenthümer sei. Nun hatte er auch Muse und Beleuchtung genug, um seinen Raub zu betrachten.

Die Uhr war kostbar, und was die Kette betraf, so hatte Terbillon deren Werth heute sicherlich nicht unterschätzt. Die Ringe, deren er fünf hatte, waren sämmtlich mit Brillanten gefaßt; die Börse enthielt mehrere hundert Franken in Gold und wenig Silber, und in dem Portefeuille stacken achtzehnhundert Franken in Staatsscheinen.

»Donnerwetter,« brummte der Schmied, »ist das ein Fang! Wie heißt der Kerl?«

Er schlug das Notizbuch auf, welches in das Portefeuille eingebunden war und las auf der ersten Seite desselben:

»Alfonzo, Graf de Rodriganda y Sevilla.«

Er blätterte weiter und schüttelte den Kopf. Die Notizen waren alle in spanischer Sprache abgefaßt.

»Das verstehe ich nicht; das ist eine fremde Sprache. Soll ich das Portefeuille fortwerfen?«

Er sann einen Augenblick nach und sagte dann:

»Nein. Wer weiß, wozu es nützen kann. Ich werde sehen, ob es italienisch, oder spanisch ist; dann kaufe ich mir ein Wörterbuch und schlage so lange nach, bis ich mir den Inhalt übersetzt habe. Ich brauche mir ja nur eine Zeile abzuschreiben und einen Buchhändler zu fragen, welche Sprache es ist.«

Er steckte Alles zu sich und fragte sich dann:

»Was nun? Gebe ich das Alles wirklich an Papa Terbillon ab? Ah, daß ich ein Thor wäre! Ich habe über zweitausend Franken baar; davon kann ich längere Zeit leben, ohne daß ich diesen alten Terbillon brauche. Und die Uhr und


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die Ringe? Pah, die behalte ich keine Viertelstunde bei mir. Etienne Lecouvert kauft mir sie sofort ab. Also fort, zu ihm!

Er verließ den Kahn, schritt die Quais Voltaire, Malaquais, Conti, des Augustins und St. Michel bis zum Hotel Dieu hinauf und wandt sich dann durch die hier liegenden kleinen Gassen rechts bis zur Rue des Carmes hinüber.

In dieser Straße wohnte zu jener Zeit einer der berüchtigtsten Hehler von Paris. Er nannte sich Etienne Lecouvert und war der Besitzer einer viel besuchten Bier- und Branntweinkneipe. Sein Lokal zerfiel in zwei Theile; der eine war öffentlich und der andere geheim. Zu dem Letzteren hatten nur seine vertrauten Kunden Zutritt, zu denen auch der Schmied gehörte.

Dieser trat in den Flur des Hauses, schritt an der eigentlichen Gaststubenthür vorüber und blieb im Hintergrunde des dunklen Hausganges vor einem alten Schranke stehen, an welchen er auf eigenthümliche Weise klopfte. Es wurde wieder geklopft, und als er eine ähnliche Antwort gab, bewegte sich der Schrank auf unsichtbaren Rollen von seiner Stelle, und es kam nun eine offen stehende Thür zum Vorschein.

Der Schmied trat ein, und sofort rückte der Schrank an seine vorige Stelle zurück.

Der Gast befand sich in einem nicht sehr großen Zimmer, in welchem mehrere Tische mit Stühlen standen. Es gab da kein einziges Fenster, sondern nur ein Loch in der Decke, durch welches die ungesunde Luft abziehen sollte.

Ein Gast war noch nicht anwesend; nur der Wirth saß vor dem Schänktische, und am Eingange stand ein gnomenartiges Geschöpf, welches das Oeffnen und Schließen des Einganges zu besorgen hatte.

»Guten Abend, Etienne Lecouvert!« grüßte Gerard.

»Ah, Gerard l'Allemand!« sagte der Wirth. »Willkommen!«

Er erhob sich von seinem Sitze und reichte dem Eingetretenen die Hand.

»Noch Niemand hier?« fragte dieser.

»Kein Mensch.«

»Ist mir lieb, da ich ein Geschäft habe.«

Der Wirth hatte das Aussehen eines Biedermannes, und Niemand hätte in ihm so leicht einen berüchtigten Hehler vermuthet. Aber bei den letzten Worten des Schmiedes warf er einen Blick auf denselben, der gar nicht habgieriger sein konnte.

»Bringst Du Etwas, das lohnt?« fragte er.

»Ich denke. Sind wir aber wirklich sicher?«

»Wie im Himmel!«

»Da, Etienne, siehe Dir einmal diese Uhr an!«

Er zog die Uhr heraus und reichte sie dem Hehler hin.

»Verdammt!« fluchte dieser, als er einen Blick darauf geworfen hatte. »Diese Uhr hat keinem Lump gehört! Seit wann hast Du sie?«

»Seit zehn Minuten.«

»Alle Teufel, Du gehst sehr schnell zu Werke. Was willst Du haben?«

»Was bietest Du?«

Der Wirth drehte Uhr und Kette nach verschiedenen Richtungen, untersuchte Beides genau und sagte dann:


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»Zweihundert Franken sollst Du haben. Mehr nicht.«

»Dann verkaufe ich die Uhr an einen Anderen,« sagte der Schmied kaltblütig.

»Es wird sie Dir kein Anderer abkaufen,« sagte der Wirth ebenso ruhig, »weil Papa Terbillon allen Collegen heute verboten hat, von Dir zu kaufen. Er schickte seine Alte, welche sagte, daß Du bei ihm in Arbeit stehst.«

»Der Teufel soll ihn holen! Ich werde ihm seinen Tagelohn wiedergeben und mein eigner Herr bleiben. Her mit der Uhr!«

Der Hehler besah sich dieselbe abermals und sagte dann:

»Du weißt, daß ich mir aus dem alten Terbillon nichts mache; die Anderen aber fürchten ihn. Ich bin wirklich der Einzige, der sie kauft.«

»Um dieses Lumpengeld bekommt sie Keiner!«

»Gut, so will ich Dir fünfzig Franken zulegen.«

»Die Uhr sammt Kette kostet dreihundert Franken. Giebst Du sie, so habe ich noch weitere und weit bessere Sachen für Dich; giebst Du sie nicht, so gehe ich sofort wieder!«

»Gemach, gemach!« sagte der Hehler besänftigend. »Du hast noch Anderes?«

»Ja, ich habe noch Juwelen.«

»So hast Du heute eine glückliche Hand gehabt. Zeige her!«

»Nicht eher, als bis die Uhr bezahlt ist!«

»Höre, Gerard, das ist nicht freundschaftlich gehandelt! Zweihundert Franken gebe ich Dir!«

»Gute Nacht!«

Er nahm dem Wirthe schnell die Uhr aus der Hand, steckte sie ein, und wandte sich dem Ausgange zu.

»Halt!« sagte der Wirth, indem er ihn zurückhielt. »Du sollst die dreihundert haben!«

Der Schmied drehte sich kaltblütig wieder um.

»Geld her!« sagte er.

»Aber Du hast auch wirklich Juwelen?«

»Habe ich Dich einmal belogen?«

»Nein, ich glaube Dir. Hier hast Du das Geld.«

Er zog einen Kasten des Schänktisches auf und nahm die Summe heraus, welche der Schmied einsteckte.

»Hier, sieh' Dir diesen Ring an,« sagte dieser dann.

Er zog den unscheinbarsten der Ringe hervor und gab ihn dem Wirth. Dieser ließ den Stein gegen das Licht spielen.

»Aecht!« sagte er nickend. »Ich gebe fünfzig Franken.«

»Gut. Und für diesen?«

Er gab einen zweiten hin.

»Donnerwetter, ein Rubin, und so groß. Ich gebe zweihundert Franken.«

»Und für diesen?«

Er gab den dritten hin. Der Wirth hielt ihn gegen das Licht.

»Ah, das ist ein sibirischer Smaragd, für den ich auch zweihundert Franken biete.«

»Und dieser?«


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»Ein Saphir,« rief der Wirth, indem er den Stein betrachtete. »Du bist ja zu einer förmlichen Sammlung gekommen! Nun, für diesen bekommst Du hundert Franken.«

»Und für diesen letzten?«

Er gab ihm den fünften und kostbarsten Ring hin. Das Auge des Hehlers blitzte auf, als er ihn erblickte, denn er erkannte einen echten, wasserhellen Diamanten.

Ein Brillant! Alle Teufel, hast Du Glück gehabt.

»Ein Brillant! Alle Teufel, hast Du Glück gehabt! Für den sollst Du den höchsten Preis von fünfhundert Franken haben.«

»So erbitte ich mir die Ringe retour.«

»Retour? Warum?« fragte Lecouvert mit gut gespieltem Erstaunen.

»Weil ich sie für diese Preise nicht verkaufe.«

»Es bietet Dir Keiner mehr.«

»Das wollen wir nicht untersuchen, ich verkaufe sie aber anderswo sicher.«

»Hm! Wir sind Freunde, Gerard, Du darfst mich nicht drücken! - Sage, was Du haben willst!«

»Du kennst mich, Etienne, und weißt, daß ich nicht weiche, wenn ich einmal eine Zahl gesagt habe. Du giebst für diese Steine fünfzehnhundert Franken. Willst Du?«

»Kerl, Du prellst mich!« rief der Wirth mit scheinbarem Entsetzen.

»Her damit!«

Er wollte die Steine wieder an sich nehmen, aber Etienne wehrte sich dagegen. Er wußte, daß der Brillant allein den zehnfachen Preis des Geforderten selbst unter Hehlern bringen werde.

»Zwölfhundert gebe ich!« sagte er.

»Fünfzehnhundert!«

»Zwölf - - - ah, Du bist schlecht!«

Gerard hatte nämlich mit einem kräftigen Griffe seine Hand erfaßt und ihm die Ringe aus derselben gewunden.

»Gute Nacht!« sagte er.

»Vierzehnhundert will ich wagen,« erklärte der Wirth.

»Fünfzehnhundert! Keinen Sous weniger!«

»Ah! Na, gut! Weil Du es bist, sollst Du sie haben. Gieb die Ringe her!«

»Erst das Geld; aber noch Eins. - Papa Terbillon darf nichts erfahren.«

»Das versteht sich ganz von selbst.«

»So sind wir einig. Hier sind die Ringe.«

»Und hier ist das Geld!«

Er zählte ihm aus dem Kasten fünfzehnhundert Franken auf den Tisch, so daß der Schmied sich jetzt auf einmal im Besitze von gegen viertausend Franken befand.

»Und nun sage auch, wo Du den Fang gemacht hast!« sagte der Wirth.

»Auf der Rue de la Poterie.«

»Ah, wo Deine Mignon wohnt! Der Besitzer war ein Fremder?«

»Ja.«

»Du garottirtest ihn?«


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»Ja. Es war gerade vor der Wohnung der Mignon; ich kannte den Fremden nicht.«

»So wünsche ich Dir und mir alle Tage einen so guten Fang. Denn ich hoffe, daß er nicht blos die Uhr und die Ringe, sondern auch eine Börse, wohl gar ein Portefeuille bei sich hatte.«

»Es war eine Wenigkeit, und - - -«

Er hielt inne, denn es war am Eingange gepocht worden.

»Oeffne!« sagte der Wirth zum Thürhüter. »Es war das richtige Zeichen.«

Der Mensch schob den Schrank zurück und es erschienen zwei Personen, voran ein Mädchen und hinter ihr ein Herr.

»Donnerwetter, die Mignon!« rief der Wirth beim Anblick des Mädchens erfreut aus.

Auch der Schmied ließ einen Ruf der Freude hören, wurde aber im nächsten Augenblicke leichenblaß, denn der Herr, welcher mit eintrat, war - Alfonzo, der von ihm Garottirte.

Das Haus, vor welchem der Schmied den Grafen gewürgt hatte, gehörte zu jenen dunkelen Häusern, in denen die Liebe für Geld verkauft wird. Es enthielt im Parterre eine Weinkneipe, deren Besitzerin zugleich die Gebieterin von ungefähr zwölf Mädchen war, welche alle zu der beklagenswerthen Klasse der Magdalenen gehörten.

Die Hübscheste unter ihnen führte den Kriegsnamen Mignon, denn keines dieser Mädchen wurde bei ihrem ursprünglichen Namen genannt. Obgleich diese Geschöpfe aus der Liebe ein Gewerbe machen, haben sie in Beziehung auf ihre Anbeter sehr feste Grundsätze. Es giebt selten eins dieser Mädchen, welches nicht einen wirklichen Geliebten hätte, der über ihr Gewerbe hinwegsieht und dafür aus ihren Einnahmen Nutzen zieht.

Mignons Geliebter war Gerard, der Schmied.

Die zwölf Magdalenen saßen heute Abend schön herausgeputzt in der Trinkstube zusammen, welche sie Salon nannten. Es befand sich kein einziger Gast bei ihnen, und darum herrschte eine ungewöhnliche Stille im Gemache.

Doch diese Stille wurde plötzlich unterbrochen. Die Thüre wurde geöffnet und es trat ein junger Mensch ein, welcher zu den gewöhnlichen Gästen des Lokals gehörte. Die Dirnen sprangen sofort alle auf ihn und umringten ihn.

»Ah, der Robert Barlemy!« riefen sie. »Willkommen, willkommen!«

Sie faßten ihn von allen Seiten und wollten ihn zu einem Sitze drängen, er aber wehrte ihnen entschieden ab und sagte:

»Laßt mich, Ihr Mädels! Wir haben Nothwendigeres zu thun.«

»Nothwendigeres? Was?« fragten zwölf Stimmen.

»Kommt, und helft mir. Draußen vor der Thüre liegt ein Toter!«

»Ein Todter! Oh! Ah! Mein Gott!«

So erklangen zwölf Schreckensrufe durcheinander.

»Ist's wahr?« fragte die Wirthin erschrocken.

»Ja,« antwortete der Gast. »Ich fiel beinahe über ihn hinweg.«

»So muß man zur Polizei laufen. Der Todte muß fort!«

»Nein,« sagte der Mann. »Zunächst muß er hier herein geschafft werden.«


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Die Wirthin stieß einen Ruf des Entsetzens aus.

»Sind Sie verrückt!« rief sie. »Ein Todter zu uns? Was sollen wir mit ihm?«

»Es kann ja noch Leben in ihm sein: es schien zwar, daß er todt sei, aber man muß sich doch überzeugen, ob es wirklich so ist. Eine Blutung sah ich nicht; im Uebrigen war er sehr fein gekleidet. Er scheint den höheren Ständen anzugehören.«

»So mag man ihn bringen, aber nicht herein in den Salon, vielmehr nach dem hintern Zimmer!«

»Nein,« sagte Mignon, die ein mitleidiges Herz besaß; »man trage ihn nach meiner Stube!«

Der Gast trat mit dem Hausknechte hinaus auf die Gasse und hob mit Hilfe desselben den Grafen auf. Sie trugen ihn herein und nach dem kleinen Zimmer, welches Mignon bewohnte. Dort fand sich auch die Wirthin mit den Mädchen ein.

»Er ist wirklich nicht verwundet,« sagte sie.

»Wie hübsch,« meinte eins der Mädchen.

»Noch jung,« eine Zweite.

»Und so elegant,« eine Dritte.

»Man muß nach einem Arzte schicken,« sagte die Wirthin.

»Halt, warten Sie!« sagte der Gast. »Er lebt.«

»Er lebt?« riefen Alle zugleich.

»Ja. Er ist warm, und sein Puls geht.«

»Mein Gott, er schlägt die Augen auf,« sagte Mignon.

Alfonzo kam allerdings jetzt zu sich und öffnete die Augen.

»Ja, er lebt! Er ist gerettet! Er sieht uns!« rief es rundum im Kreise der Mädchen.

Alfonzo mußte sich erst besinnen, was mit ihm geschehen war, dann fragte er:

»Wo bin ich?«

Seine Stimme klang ganz rauh von dem Würgen.

»Sie sind in sehr guten Händen, Monsieur,« antwortete die Wirthin. »Wünschen Sie Etwas?«

»Um einen Schluck Wein bitte ich.«

»Den sollen Sie sofort haben. Aber darf ich fragen, wer Sie sind?«

»Ich bin der Marchese Acrozza.«

»Ein Marchese? O mein Gott, holt schnell ein Glas Wein, ein Glas vom Besten, oder vielmehr eine ganze Flasche! Schnell, schnell!« gebot die Wirthin. »Aber, Monsieur le Marchese, wie kommen Sie in eine solche Lage?«

»Man hat mich gewürgt und niedergerissen.«

»Und niedergerissen! Vielleicht gar garottirt?«

»Was ist das?« fragte er.

»Man würgt die Passanten, um sie zu berauben.«

»Berauben, ah!« sagte er.

Erst jetzt bemerkte er, daß ihm die Handschuhe abgezogen seien. Er griff in die Taschen und erschrak.

»Sie erschrecken,« sagte die Wirthin. »Fehlt Ihnen Etwas, Monsieur?«


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»O, ja, leider!« stöhnte er. »Es fehlt mir Alles. Meine Brillantringe, Uhr mit Kette, sowie meine Börse mit einigen hundert Franken; dann auch mein Portefeuille, das achtzehnhundert Franken enthielt.«

»Das ist ja ein ganzes Vermögen,« jammerten die Anwesenden.

»Ich möchte dies gern verschmerzen,« sagte er; »aber es enthielt auch ein Notizbuch mit sehr kostbaren Bemerkungen, die mir ganz unersetzlich sind.«

»Welch' ein Unglück! Aber da kommt der Wein. Trinken Sie, Monsieur.«

Er nahm das Glas, und nun erst während des Trinkens ließ er sein Auge forschend über die Umgebung schweifen. Er bemerkte, in welch' einem Hause er sich befand und fragte:

»Wie komme ich zu Ihnen, Madame?«

»Sie lagen vor unserer Thür.«

»Und Sie haben sich meiner angenommen?«

»Ja. Dieser Herr fand Sie.«

»Ich danke Ihnen. Wem gehört dieses Zimmer?«

»Mir,« antwortete Mignon.

»So bleiben Sie hier, während ich mich ein Wenig erhole. Die Andern aber bitte ich, sich nicht länger zu bemühen.«

Die Mädchen verschwanden sofort mit der Wirthin und dem ersten Gaste, und Alfonzo befand sich nun mit Mignon allein, welche ihm gegenüber saß. Er verfiel in ein finsteres Nachdenken. Die Bemerkungen seines Notizbuches waren nicht so unersetzlich, wie er gesagt hatte, aber sie enthielten gewisse Enthüllungen, die er unter Umständen zu fürchten hatte.

»Grämen Sie sich nicht, mein Herr,« bat das Mädchen nach einer Weile. »Vielleicht ist es möglich, den Thäter zu entdecken.«

»Wer sollte ihn entdecken?«

»Die Polizei. O, wir haben hier in Paris eine sehr schlaue Polizei.«

»Wohin müßte man sich da wenden?«

»An die Mairie des Arrondissements; sie liegt zugleich hier an der Straße St. Honoré zwischen der Straße de l'Arbre Sec und der Rue du Roule.«

»So werde ich dort Anzeige machen. Aber ich glaube nicht, daß es Etwas hilft. Dieser Garotteur wird sich nicht fangen lassen.«

»So lassen Sie sich einen Vorschlag machen, Monsieur. Sie sagen, daß es Ihnen meist um das Notizbuch zu thun ist und machen in einigen Blättern bekannt, daß Sie den Diebstahl nicht verfolgen werden, wenn der Dieb wenigstens das für ihn nutzlose Taschenbuch an Ihre Adresse sendet.«

»Ah,« sagte er, »der Gedanke ist gut!«

»Ich glaube, daß Sie auf diese Weise Erfolg haben werden, denn diese Garotteurs sind zwar sehr gewaltthätige aber oft sonst gute Menschen.«

»Meinen Sie?«

»Ja,« sagte sie. »Ein Garotteur ist ehrenhafter als ein Taschendieb oder Einbrecher.«

Das war nun allerdings eine eigenthümliche Ansicht, und darum sagte Alfonzo mit einem leichten Lächeln:

»Das dürfte schwer zu beweisen sein.«


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»Nein, das ist leicht, wenn ich nur wollte.«

»Ah! Erklären Sie sich, Mademoiselle!«

»Nun,« sagte sie, leicht erröthend, »Sie wissen vielleicht nicht, in welch' einem Hause Sie sich gegenwärtig befinden.«

»Ich ahne es,« antwortete er.

»So werden Sie auch glauben, daß hier Männer aller Stände verkehren, sogar Verbrecher, auch Garotteurs.«

Sie dachte dabei an Gerard, ihren Geliebten, von welchem sie ganz genau wußte, daß er sich durch die Garotte seinen Unterhalt erwarb.

»Und das sind gute Menschen?« lächelte er.

»Wenigstens Einer von ihnen. Er ist gut und treu und tapfer und verschwiegen. Er ist ein braver Kamerad, der zwar weiß, wie man einen festen Griff oder einen guten Hieb anzubringen hat, aber der Freund kann sich auf ihn verlassen.«

Alfonzo horchte auf. Bei den Worten des Mädchens kam ihm ein Gedanke. Dieser Mensch war vielleicht mit andern Garotteurs bekannt und konnte ihm zu seinem Notizbuch verhelfen. Ja, noch weiter: Dieser Mensch war vielleicht auch später zu gebrauchen.

»Kennen sich die Verbrecher unter einander?« fragte er.

»Meist, und die Garotteurs sicher. Eine jede Abtheilung kennt ihre Angehörigen genau.«

»Vielleicht könnte der, den Sie meinen, mir behilflich sein, mein Notizbuch wieder zu erlangen?«

»Ah, Monsieur, das ist sehr leicht möglich.«

»Wenn ich ihn nur einmal sprechen könnte! Kommt er öfters zu Ihnen?«

»Ja, aber heute nicht, denn er war erst gestern da.«

Alfonzo blickte sie schweigend an. Dann sagte er:

»Aber, Mademoiselle, Sie sind unvorsichtig!«

»In wiefern, Monsieur?«

»Weil Sie mir solche Geheimnisse anvertrauen. Wie leicht könnten Sie sich selbst, Ihrem Hause und auch dem betreffenden Menschen schaden.«

Sie lächelte unbesorgt.

»Sie irren sich, mein Herr,« sagte sie. »Auch die Polizei kennt diese Leute, aber sie weiß, daß ein Garotteur nur bestraft werden kann, wenn er ertappt oder überführt wird.«

»Wann wird dieser Mann wieder zu Ihnen kommen?«

»Das ist unbestimmt.«

»Ah, wenn ich wüßte, wo er zu treffen ist.«

»Hm! Werden Sie ihn für seine Mühe belohnen?«

»Ja. Ich gebe ihm hundert Franken für das Portefeuille, und ihnen gebe ich fünfzig, wenn Sie mich zu ihm bringen.«

»Monsieur, soll ich Sie führen?«

»Ja, jedoch sogleich?«

»Das ginge wohl, aber es ist mit Schwierigkeiten verknüpft, denn Madame läßt so spät kein Mädchen fort.«

»Auch nicht gegen eine Belohnung?«


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»Dann vielleicht.«

»So rufen Sie sie!«

Das Mädchen ging und brachte die Wirthin mit.

»Was wünschen Sie, Monsieur?« fragte diese.

»Würden Sie mir diese junge Dame für eine kurze Zeit anvertrauen? Sie soll mich zu einer Person bringen, welche ich noch heute kennen zu lernen wünsche.«

»Zu wem?«

»Zu Gerard l'Allemand,« antwortete Mignon.

»Ah,« sagte die Wirthin. »Du weißt ja, wo er zu finden ist. Ich werde es erlauben, Monsieur, wenn Sie dreißig Franken zahlen.«

»Ich zahle sie.«

»Aber Sie sind ja ausgeraubt worden!«

»Ich habe meine Hauptkasse im Hotel. Ich werde mit dieser Demoiselle zunächst nach meinem Hotel fahren, um mich mit Geld zu versehen.«

»Welches Hotel ist es?«

»Hotel d'Aigle in der Rue de la Barillerie.«

»Gut, ich vertraue Ihnen und gebe meine Erlaubniß.«

Sie ging. Mignon fragte:

»Aber wie steht es mit der Anzeige auf der Mairie?«

»Diese werde ich unterlassen in der Hoffnung, daß Ihr Freund mir nützlich sein wird. Wie nannten Sie ihn?«

»Gerard. d'Allemand.«

»L'Allemand? Ist er denn ein Deutscher?«

»Nein, sondern er spricht deutsch. Seine Mutter war eine Deutsche.«

Er horchte auf. Ein Garotteur war ein sehr brauchbarer Mann für ihn, und da dieser Garotteur des Deutschen mächtig war, so hielt er es für mehr als einen Zufall, mit ihm bekannt zu werden. Von der Anzeige auf der Polizei sah er ab, denn die Werthsachen konnte er verschmerzen, und es wäre ihm sehr peinlich gewesen, seine Notizen in den Händen der Behörde zu sehen. Dort hätten sie ihm leicht gefährlich werden können.

»Sind Sie bereit, mit mir zu gehen?« fragte er.

»Ja. Ich brauche nur einen Mantel überzuwerfen.«

»So bitte ich Sie, eine Droschke holen zu lassen.«

Sie that es, und bald rollten sie der Straße de la Barillerie zu, wo die Droschke vor dem Hotel d'Aigle halten mußte. Dort stieg Alfonzo aus, um sich nach seinem Zimmer zu begeben. Er öffnete den Koffer, um ihm neuen Geldvorrath zu entnehmen, zugleich aber auch einen Revolver für den Fall, daß er abermals in Gefahr gerathen könne.

Hierauf setzte er mit Mignon seine Fahrt nach der Rue des Carmes fort.

»Wo werden wir Ihren Freund finden?« erkundigte er sich.

»In einer Schänke.«

»Da wird man aber gar nicht ungestört mit ihm sprechen können!«

»Kein Sorge, Monsieur. Es ist dafür gesorgt, daß Sie nicht beobachtet werden!«

Sie ließ den Wagen an der Ecke der Straße des Noyers halten und führte ihn dann


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zu Fuße nach der Branntweinschänke. Sie war hier bekannt, denn ihr Geliebter hatte sie oft mit hierher genommen. Darum klopfte sie an den Schrank, und trat, als derselbe sich bewegte, in die verborgene Stube.

»Donnerwetter, die Mignon!« rief der Wirth, als er sie erblickte.

»Weiß Gott, die Mignon!« stimmte Gerard bei.

Doch im nächsten Augenblicke erbleichte er, denn er erkannte Alfonzo, den von ihm Garottirten, und sein erster Gedanke war natürlich, daß dieser auf irgend welche Weise erfahren habe, wer der Thäter sei und wo man denselben finden werde.

»Alle Teufel, woher noch so spät?« fragte der Wirth.

»Direkt von zu Hause.«

»Und mit - mit einem Fremden?«

In seinem Tone und Blicke lag ein Vorwurf, sie aber sagte rasch:

»Keine Sorge, Etienne Lecouvert! Dieser Monsieur sucht meinen Gerard d'Allemagne.«

»Was will er von mir?« fragte Gerard.

Sein Auge glänzte halb besorgt, halb drohend.

»Das sollst Du sofort erfahren. Setze Dich zu uns. Dieser Monsieur, welcher ein Marchese d'Acrozza ist, wird dafür sorgen, daß wir nicht dürsten.«

»Ja,« meinte Alfonzo mit einem verbindlichen Lächeln. »Sie erlauben, daß ich dies thue.«

Gerard nickte stumm. Er konnte noch nicht klug werden. Dieser Marchese that allerdings nicht so, als ob er wisse, wer ihn beraubt habe.

»Haben Sie Wein?« fragte Alfonzo den Wirth.

»Nein,« sagte dieser. »Bei mir trinkt man Absynth oder ein Glas Bier aus dem Elsaß. Aber wenn dem Herrn Marchese der Wein lieber ist, so werde ich welchen besorgen.«

Er hatte Wein im Keller, verleugnete dies aber, um ihn theurer anzubringen.

»Wird dies nicht zu schwierig sein?« fragte Alfonzo.

»Nein. Wir haben eine Weinstube in der Nähe, welche wohl noch offen ist. Welche Sorte wünschen Sie, mein Herr?«

»Was giebt es?«

»Am liebsten trinkt man dort einen rothen Roussillon.«

»Nun gut, so lassen Sie ein Dutzend holen. Was wir nicht trinken, wird trotzdem nicht verderben. Hier sind fünfzig Franks!«

Er zog die Börse und entnahm ihr die angegebene Summe.

Gerard Mason erstaunte. Woher hatte dieser Mann das Geld? Hatte er zwei Börsen einstecken gehabt? Der Wirth gab das Geld seinem Thürsteher, welcher dabei einen heimlichen Wink bekam, was er zu thun habe. Der Mensch begab sich in den eigenen Keller und setzte in einen Korb zwölf Flaschen eines Rothweines, welchen Etienne Lecouvert gewöhnlich für achtzig Centimes verkaufte.

Unterdessen hatten sich die Gäste an einen der Tische gesetzt, und auch der Wirth nahm bei ihm Platz.

»Also Du suchtest mich?« fragte Gerard, welchen es drängte, so bald wie möglich Klarheit zu erhalten.


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»Ja,« sagte sie. »Dieser Grundbesitzer will mit Dir sprechen, über ein Geschäft. Willst Du Dir hundert Franken verdienen, Schatz?«

Gerard zeigte lachend seine weißen Zähne.

»O, tausend, wenn es sein kann,« sagte er.

»Einstweilen nur hundert. Dieser Herr wird sie Dir zahlen. Uebrigens giebt er mir bereits fünfzig Franken dafür, daß ich ihn zu Dir gebracht habe.«

Sie blickte Alfonzo dabei schalkhaft aber erwartungsvoll an, so daß dieser schnell in die Tasche griff.

»Ah, Mademoiselle, ich hatte das fast vergessen,« sagte er. »Hier nehmen Sie!«

Er legte ihr die Summe auf den Tisch.

»Ich danke Ihnen!« sagte sie. »Ein prompter Zahler wird auch gut bedient. Sie werden sich auf Gerard l'Allemand verlassen können.«

»Das sage ich selbst auch,« meinte der Schmied. »Aber darf ich erfahren, um was es sich handelt? Es naht bald die Stunde, in welcher die Stammgäste kommen, und dann sind wir nicht mehr ungestört.«

»Die Sache ist nämlich die, daß dieser Herr garottirt worden ist,« sagte Mignon. »Vor vielleicht einer Stunde geschah es in der Rue de la Poterie.«

»Das ist ja dort, wo Du wohnst, Mignon!«

»Allerdings. Es ist sogar gerade vor unserer Thüre geschehen.«

»Nicht möglich!«

Er spielte den Erstaunten sehr gut. Der Wirth zog die Brauen zusammen und warf ihm einen unbemerkten Blick zu, welcher gar nicht sprechender sein konnte.

»Nicht möglich, sondern sogar wirklich,« sagte sie. »Er lag ohne Leben vor der Thür, und wir haben ihn nach meinem Zimmer geschafft.«

»Welche Barmherzigkeit!« meinte der Wirth ironisch.

»Und man hat ihn unbarmherzig bestohlen!«

»Das muß man anzeigen!« meinte der Wirth.

Gerard aber wandte sich zu Alfonzo:

»Aber, mein Herr, wie kam es, daß man Sie überfiel?«

»Es war kein Mensch auf der Straße,« antwortete der Gefragte, »und ich bin hier fremd. Ich hatte keine Ahnung, daß mir Gefahr drohen könne.«

»Des Nachts muß Jedermann vorsichtig sein; das müssen Sie sich merken. Sie wurden plötzlich überfallen?«

»Nein. Es kam ein Passant hinter mir her, ich hörte ihn kommen; also eigentlich plötzlich ist es nicht geschehen.«

»So waren Sie sehr unvorsichtig. Des Nachts blickt man sich um, wenn man von Jemandem verfolgt wird. Was geschah weiter?«

»Ich ging zur Seite, um ihn vorüber zu lassen, aber er faßte mich bei der Gurgel und drückte sie so zusammen, daß ich den Athem und die Besinnung verlor.«

»Alle Teufel!« sagte der Wirth. »Das ist ein kräftiger, resoluter Kerl gewesen!«


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»Ja, Kraft hatte er,« nickte Alfonzo. »Als ich erwachte, befand ich mich in dem Zimmer dieser Demoiselle und bemerkte, daß ich beraubt worden sei.«

»Was hat man Ihnen genommen?« fragte der Wirth lauernd.

»Meine fünf Ringe, dann die Uhr mit Kette, die Börse, welche über zweihundert Franken enthielt, und endlich das Portefeuille, das achtzehnhundert Franken in Staatsscheinen barg.«

Der Wirth sperrte vor Erstaunen den Mund auf.

»Dieser Hallunke!« rief er. »Zweitausend Franken in Geld! Und wer weiß, wie er den armen Teufel, an den er die Pretiosen verkauft, drückt und schindet! Der Teufel soll ihn holen!«

Er warf einen ärgerlichen Blick auf den Schmied, den aber zum Glück weder Alfonzo noch das Mädchen bemerkte.

»Aber, was hat dies mit mir zu thun?« fragte Gerard gespannt.

»Ich wollte erst Anzeige machen -« meinte Alfonzo.

»Ganz recht! Wird nur nicht viel nützen.«

»Das dachte ich auch. Uebrigens kann ich das Geld verschmerzen, aber um das Portefeuille ist es mir zu thun. Es enthält sehr werthvolle Notizen. Darum werde ich in einigen Blättern den Garotteur auffordern, mir wenigstens das Portefeuille zuzustellen. Er kann dies ja ganz ohne Gefahr für sich thun, und das Uebrige mag er behalten.«

»Hm!« brummte der Wirth. »Ohne Gefahr es thun zu können, daran glaube ich nicht. Wie sollte dies möglich sein?«

»Er braucht es ja nur zur Post zu geben!«

»Ja. Und die Postbeamten haben Ihre Annonce auch gelesen, und werden, sobald sie die Adresse lesen, den Ueberbringer festhalten. Denn in Briefform könnte die Tasche doch nicht in den Kasten geworfen werden.«

»Das ist richtig!« meinte Alfonzo nachdenklich. »Aber er könnte sie mir doch direkt senden.«

»Durch einen Boten, den Sie vielleicht festhalten?«

»Das werde ich nicht thun.«

»Das wird er nicht glauben. Solche Leute pflegen sehr mißtrauisch und vorsichtig zu sein.«

»Er kann ja einen Boten wählen, der ihn gar nicht kennt!«

»Der ihn aber möglicher Weise wieder erkennen wird! Nein, ich glaube nicht, daß er so unvorsichtig sein wird.«

»Ich glaube es auch nicht,« stimmte der Schmied bei. »Er wird sich den Teufel daraus machen, ob Sie das Portefeuille brauchen oder nicht.«

»Nun, so bleibt mir noch ein letzter Weg, Mademoiselle hat mir gesagt, daß Sie vielleicht im Stande seien, gewisse Erkundigungen einzuziehen - -«

»Ah!« machte es der Schmied mit einem finsteren Blick auf das Mädchen.

»Ja, daß Sie vielleicht besser als ein Polizist im Stande seien, den Thäter zu erfahren.«

»Und Ihnen anzuzeigen?« fragte Gerard rasch.

»Nein, das verlange ich nicht. Vielleicht aber könnten Sie mein Portefeuille verschaffen.«


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»Hm! Wie viel ist es Ihnen werth?«

»Hundert Franks.«

»Das ist zu wenig. Wenn ich den Mann ja finden sollte, so wird er also erfahren, daß das Buch einen Werth für den Besitzer hat. Er wird mehr als hundert Franken von mir fordern. Was bleibt mir dann für meine Mühe?«

»Gut, so wollen wir zweihundert sagen!«

»Das mag eher sein, obgleich ich meine gewissen Gründe habe, anzunehmen, daß ich den Mann nicht entdecken werde.«

»Darf man diese Gründe erfahren?«

»Ja. Der Hauptgrund ist, daß ich nicht nachforschen kann.«

»Warum nicht?«

»Ich muß arbeiten, um zu leben; zum Nachforschen aber gehört Zeit und Geld, und ich habe keines von Beiden.«

»So werde ich Ihnen hundert Franken auf Abschlag zahlen.«

»Das läßt sich hören!« lachte Gerard.

»Hier sind sie.«

Der Schmied steckte das Geld gleichmüthig ein und sagte:

»So werde ich bereits morgen früh sehen, was sich thun läßt. Wohin habe ich meine Nachrichten zu bringen?«

»Nach dem Hotel d'Aigle, Rue de la Barillerie.«

»Schön! Versprechen kann ich Ihnen nichts, aber Mühe werde ich mir geben.«

Damit war die Angelegenheit genügend besprochen, und man begann nun, dem Wein sein Recht zu geben. Es war auch Zeit gewesen, da sie nicht länger allein blieben.

Es begann jetzt die Zeit, in welcher die Industrieritter verschiedenster Art zu Etienne Lecouvert kamen, um ihre nächtliche Beute zu verwerthen. Alfonzo sah sie kommen, Einen nach dem Anderen, und wußte nun, in welch' ein Lokal er gerathen sei. Es wollte ihm in dieser Gesellschaft etwas ängstlich werden, und darum brach er bald auf, mußte aber dem Wirth versprechen, das Geheimniß seines Lokales nicht zu verrathen.

Als er fort war, wandte sich der Schmied an sein Mädchen:

»Dummkopf, was fällt Dir ein, diesen Kerl hierher zu bringen!«

»Er dauerte mich,« sagte sie.

»Der - - -?«

»Ja. Er sieht so vornehm und anständig aus.«

»Vornehm und anständig? Hahaha! Ich sage Dir, daß er ein Spitzbube ist, zehnmal gefährlicher als ich und hundert Andere.«

»Das ist nicht zu glauben!«

»O doch! Ich habe ihn bei Papa Terbillon gesehen.«

»Unmöglich! Bei Terbillon verkehren ja nur -« Sie stockte.

»Nur Spitzbuben - - -, willst Du sagen?« lachte er. »Du hast Recht, und dieser sogenannte Marchese d'Acrozza ist auch einer, weil er falsche Haare, falschen Bart und falschen Teint trägt. Sogar seine Züge sind verändert worden. Er ist ursprünglich nicht schwarz, sondern dunkelblond.«


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»Das hat ihm Papa Terbillon gemacht?«

»Ja, und diesen Menschen führst Du zu mir!«

»O, ich ahnte doch nicht - -«

»Sei still. Du hast ihm sogar gesagt, daß ich ein Garotteur bin.«

»Gerard - -!«

»Gestehe es! Du hast ihm gesagt, daß ich den Thäter entdecken werde, weil ich als ein Garotteur sämmtliche Kameraden kenne.«

»Vergieb mir! Ich wollte mir gern die fünfzig Franks verdienen und wollte auch haben, daß Du die hundert bekommst. Ah, da fällt mir ein, daß er mir die dreißig Franks für Madame nicht gegeben hat!«

»Madame forderte dreißig?«

»Ja. Was thue ich, um sie zu erhalten?«

»Ich werde sie Dir geben und sie morgen von ihm zurück verlangen.«

»Ich danke Dir! Wird es Dir Schaden machen, daß ich ihn zu Dir geführt habe?«

»Hm, das muß erst noch abgewartet werden.«

In diesem Augenblicke winkte der Wirth ihn zu sich hin an den Schänktisch.

»Weiß Mignon Alles?« fragte er ihn.

»Nein.«

»Also Du selbst bist es gewesen, Hallunke! Was dachtest Du, als er eintrat?«

»Hm, ich glaube fast, daß ich für den ersten Augenblick erschrocken war, dann aber stand es fest: ich hätte ihn kalt gemacht, wenn er gewußt hätte, daß ich es war, der ihn erleichterte.«

»Ich traue es Dir zu. Ich traue Dir überhaupt seit heute Abend Alles, jede Schlechtigkeit, ja, jeden Verrath gegen Freunde zu!«

»Habe ich Dich verrathen?«

»Nein, aber betrogen im höchsten Grade!«

»Du willst doch nicht sagen, daß Du mir für die Sachen zu viel bezahlt hast?«

»Ja, gerade dies will ich sagen!«

»So gieb sie mir wieder heraus; Du erhältst Dein Geld sofort retour!«

»Das will ich nicht an Dir thun!« sagte der Wirth verlegen.

»O bitte, thue es getrost an mir!« antwortete der Schmied. »Es wird mein Schade ganz und gar nicht sein.«

»Du solltest mit tausend Franks zufrieden sein!«

»Fällt mir gar nicht ein!«

»Du hast ihm ja über zweitausend Franks baar abgenommen!«

»Das hat mich Arbeit gekostet!«

»So gieb wenigstens die hundert Franks, welche er Dir vorhin auszahlte.«

»Welches Recht hast Du daran?«

»Ich bin der Eingeweihte; ein Wort von mir hätte Dich verrathen.«

»Und Dich mit, Alter! Nein, nein, von mir bekommst Du keine Centime heraus. Ich liebe die glatten Geschäfte. Uebrigens hast Du an Deinem Wein vierzig Franks verdient, abgerechnet auch, daß wir nur drei Flaschen getrunken haben


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und Du also, den heutigen Preis gerechnet, für fast vierzig Franks übrig behältst. Gute Nacht! Ich muß Mignon nach Hause bringen.«

»Wann kommst Du wieder?«

»Vielleicht morgen.«

»Dann gute Nacht, Geizhals!«

Der Schmied verließ mit seiner Geliebten das Lokal. Unterwegs fragte er sie:

»Mignon, wie viel bist Du Deiner Madame schuldig?«

»Gegen vierhundert Franks.«

»Wenn Du die bezahlst, so bist Du frei?«

Sie blieb vor Erstaunen stehen und blickte ihn an.

»Wie kannst Du so fragen!« sagte sie. »Du weißt ja, daß ich Dich sehr lieb habe!«

»Und daß Du Dich sehnest, ein braves Mädchen werden zu können?«

»Ja. Ich gebe viel, sehr viel darum, wenn ich von Madame fort könnte. Ich kann nähen, häckeln und sticken; ich kann waschen und bügeln; ich würde nicht Hunger zu leiden brauchen. Ich würde Tag und Nacht arbeiten, damit auch Du die gefährliche Garotte nicht mehr brauchtest. Aber woher diese vierhundert Franks nehmen!«

»Und Du würdest mich wirklich lieb behalten und mir nicht nachtragen, daß ich ein Garotteur gewesen bin?«

»Ich würde nicht daran denken, denn Du sollst ja auch vergessen, was ich war.«

»Nun wohl, Mignon: ich habe die vierhundert Franks.«

»Ist's wahr, ist's möglich?« fragte sie ungläubig. »Aber von wem?«

»Von diesem Marchese Acrozza.«

»Du scherzest! Er hat Dir ja nur hundert gegeben.«

»Nein, er hat mir viertausend gegeben.«

Sie blieb abermals stehen, beinahe starr vor Erstaunen.

»Das begreife ich nicht,« sagte sie.

»Habe ich Dir nicht erzählt, daß ich ihn bei Papa Terbillon gesehen habe?«

»Allerdings.«

»Nun, dort sah ich seine Kette, seine Ringe und die Banknoten, welche er bei sich trug.«

»Weiter, Gerard, weiter,« sagte sie dringend.

»Papa Terbillon hatte mich als Garotteur engagirt für täglich zehn Franken; er gebot mir, diesen Marquis oder Marchese nicht aus den Augen zu lassen -«

»O, nun ahne ich Alles. Du selbst hast ihn vor unserm Hause niedergeschlagen. Hätte ich das gewußt.«

»Ich habe ihm sein Geld abgenommen und seine Pretiosen bei Etienne Lecouvert verkauft; ich bin im Besitz von viertausend Franks.«

»Mein Gott, welch' ein Glück!«

Das Mädchen dachte nicht daran, daß dieses Glück eine sehr verbrecherische Grundlage habe.

»Ich werde morgen kommen, und Dich loskaufen.«

Sie fiel ihm entzückt um den Hals.

»Gerard, ich schwöre Dir, daß Du es nie bereuen sollst,« sagte sie.


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»Auch ich werde nichts Böses mehr thun,« gelobte er.

»O mein Gott, wie gut das ist!«

»Ja. Auf diesen Gedanken hat meine Schwester Annette mich gebracht. Ich habe Dir bereits erzählt, daß sie in den Fluß sprang. Jetzt ist sie wieder gesund. Heute war ich bei ihr. Sie wohnt bereits bei Professor Letourbier, und ich habe eingesehen, daß es viel besser und vortheilhafter ist, dem Laster adieu zu sagen.«

»Das habe ich längst gedacht. Aber - Papa Terbillon gehören doch eigentlich die Viertausend.«

»Hm, er mag sie sich holen.«

»Er wird sich rächen.«

»Vielleicht erfährt er gar nicht, daß mir der Ueberfall gelungen ist.«

»O, er ist schlau; er erfährt Alles.«

»Nun, ich fürchte ihn dennoch nicht. Er wird mich allerdings verfolgen, aber ich werde Paris verlassen, so daß er mich nicht findet. Du gehst mit mir.«

»O Gerard, welche Seligkeit! Wohin wirst Du gehen?«

»In die Provinz. Du wirst dort meine kleine Frau sein. Du wirst für die Leute nähen und sticken, und ich werde als Schmied in die Fabrik gehen. Annette soll nicht sagen, daß sie einen Bruder habe, dessen sie sich schämen muß.«

»Und Dein Vater?«

»Der geht mit uns.«

»Gerard, werden wir dies wagen dürfen?«

»Ja. Mein Vater war ursprünglich gut. Der Gram um den Tod der Mutter hat ihn haltlos gemacht, und der Schnaps trug das Uebrige dazu bei. Ich werde streng mit ihm sein, und so wird er thun müssen, was ich will.«

»Ich füge mich in Alles, mein Gerard: nur bitte ich Dich, mich wirklich aus diesem Hause zu holen; ich halte es da nicht länger aus.«

»Habe keine Sorge; ich komme noch am Vormittage.«

Während dieses Gespräches waren sie bereits über die Ile de la Cité hinübergekommen, und bald standen sie vor der Wohnung des Mädchens. Es war noch Licht im Salon, denn in diesen Häusern pflegt man erst spät schlafen zu gehen.

»Gehst Du mit herein?« fragte sie.

»Nein. Ich sehne mich nach Ruhe.«

»Ich werde nicht ruhen können. Ich gehe sogleich auf mein Zimmer und schließe mich ein, um ungestört an unser Glück denken zu können.«

Sie nahmen Abschied.

Gerard hatte einen weiten Weg, um seine Wohnung zu erreichen. Er fand dort seinen Vater vollständig betrunken auf der Matratze liegen und legte sich neben ihn, ohne ihn zu wecken. Er war bereits früh wieder munter und ging vor allen Dingen, um der Geliebten sein Wort zu halten.

Sie hatte wirklich gar nicht geschlafen und empfing ihn mit großer Freude.

»Ist's denn wirklich wahr, daß ich frei sein soll?« fragte sie.

»Ich komme ja deshalb.«

Sie fiel ihm um den Hals, und dabei hatte sie ein ganz anderes Aussehen als früher. Sie erschien ihm so lieblich, so züchtig, daß er sich ganz glücklich zu fühlen begann.


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»Wo ist Madame?« fragte er.

»Sie schläft noch, sie wecken darf man aber nicht; sie wird sehr zornig.«

»So warten wir!« erklärte er.

Sie setzten sich neben einander und begannen von ihrer Zukunft zu sprechen.

»Du wirst gleich jetzt das Geld bezahlen, und mich auch sofort mitnehmen?« fragte sie ihn.

»Natürlich! Wirst Du überall hingehen, wohin ich Dich führe?«

»Ja, gewiß!«

»So höre, was ich mir ausgesonnen habe: Wir können noch nicht zusammen wohnen.«

»Nein,« sagte sie verschämt.

»Einestheils weil es sich nicht schickt und sodann auch aus Vorsicht vor Papa Terbillon.«

»Ja, er wird Dich suchen.«

»Und wenn er bemerkt, daß wir zusammenziehen, so wird er wissen, daß ich den Marchese garottirt habe. Uebrigens wollen wir ja nach der Provinz gehen, und da muß ich vorher hin, um mir Wohnung und Arbeit auszumachen. Da muß ich Dich an einem Orte unterbringen, wo ich Dich sicher weiß; doch denke ich, daß Du nicht gern hingehst!«

»Ist der Ort schlimm?«

»Nein, gut. Nur für die Bösen ist er schlimm.«

»So sage es; ich fürchte mich nicht!«

»Hast Du einmal von Häusern gehört, in denen Mädchen aufgenommen werden, welche von der Sünde nichts mehr wissen wollen?«

»Ja. Man nennt sie Magdalenenhäuser.«

»Und weißt Du, wie das Leben in diesen Häusern ist?«

»Es soll ernst sein. Die Zöglinge arbeiten und beten.«

»Ja, aber sie sind dort sicher vor allen Verfolgungen und Versuchungen. Würdest Du Dich vor einem solchen Hause fürchten?«

»Nein. Wer es ernst mit seiner Besserung meint, der braucht sich doch nicht zu fürchten.«

»Nun wohl, in einem solchen Hause solltest Du wohnen, bis ich eine Heimath für uns gefunden habe. Willst Du?«

»Gerard, ich will. Ich freue mich auf so ein stilles Leben.«

Sie sah ihn so aufrichtig und gut an, daß er sie an sich zog und herzlich küßte.

»Wir werden sehr glücklich sein, denn wir werden uns viel vergeben,« sagte er.

In dieser Weise unterhielten sie sich fort, bis die Madame kam. Sie wunderte sich, den Schmied schon bei sich zu finden.

»Mignon ist gestern gar nicht in den Salon gekommen, sondern gleich schlafen gegangen,« sagte sie. »Wie steht es mit meinen dreißig Franks?«

»Hier sind sie,« sagte das Mädchen, indem sie das Geld auf den Tisch legte.

»Hast Du Dir auch Etwas verdient?« fragte sie die Wirthin.

»Ja, einen Führerlohn von fünfzig Franks.«

»Teufel! Das ist viel!«


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»Ja, und Gerard hat gar hundert bekommen dafür, daß er den Garotteur entdecken helfen soll.«

»Wenn das so fort geht, so werdet Ihr reich, und Du wirst nicht mehr bei mir bleiben wollen.«

»Das kann möglich sein.«

»Ah, Du sehnst Dich fort?« fragte die Madame, einigermaßen beleidigt.

»Wir möchten gern Mann und Frau werden.«

»Das hat gute Weile. Verdient Euch erst das Geld dazu. Heirathen ist theuer. Mir allein hast Du dreihundertachtzig Franks zu zahlen, ehe Du von mir fort darfst.«

»Dreihundertachtzig?« fragte Gerard rasch.

Er wußte, daß er sie jetzt schnell beim Wort halten müsse, da später die Rechnung jedenfalls eine weit höhere geworden wäre. So aber ahnte die Wirthin nicht, daß das Mädchen wirklich schon im Begriffe stehe, fortzugehen, und darum antwortete sie:

»Ja, dreihundertundachtzig.«

»Das ist wohl zu viel, Madame!« sagte der schlaue Schmied. »Ich bitte, mir es vorzurechnen.«

»Ah, Sie glauben, daß ich meine Mädchen übervortheile?«

»Nein, aber ich möchte gern wissen, wie eine solche Summe zusammenkommen kann.«

»Sie werden es gleich erfahren!«

Sie holte ein Buch herbei und zog aus demselben alle das Mädchen betreffenden Posten aus.

»Nun addiren Sie selbst!« sagte sie.

Der Schmied rechnete genau nach und sagte dann:

»Wirklich, es stimmt, genau dreihundertachtzig Franks!«

»Nicht wahr?« sagte die Wirthin triumphirend. »Glauben Sie nun, daß ich ehrlich bin?«

»O, Madame, das habe ich stets geglaubt. Also sobald Mignon diese Summe bezahlen könnte, wäre sie frei und könnte sofort gehen?«

»Gewiß!«

Da griff er in die Tasche, zog ein Portemonnaie hervor und sagte:

»Nun gut, so wollen wir sogleich bezahlen.«

Die Wirthin riß die Augen vor unendlichem Erstaunen weit auf.

»Bezahlen?« rief sie, als ob sie ein Wunder sähe. »Aber das ist ja gar nicht möglich, denn woher wollen Sie das viele Geld haben?«

»O, wir haben es; das ist genug.«

»Aber, ich begreife nicht -«

»Es ist genug, wenn ich es begreife, Madame! Ich hatte bereits Etwas gespart, dann bekam ich gestern hundert und Mignon bekam fünfzig Franks; das machte die Summe voll. Hier ist sie!«

Er zählte das Geld auf den Tisch.

»Mein Gott,« rief sie. »Sie will also fort, wirklich fort? Mein liebstes, mein hübschestes Mädchen!«


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»Eben deshalb heirathe ich sie, weil sie hübsch ist.«

»Das kann ich nicht zugeben,« zürnte sie, »denn Sie haben mich überrascht, überrumpelt. Sie haben mich überlistet. Ich hatte keine Ahnung davon, daß sie fort wollte!«

»So wissen Sie es nun jetzt!«

»Ja, aber die Rechnung wird anders, und zwar höher. Ich habe hier viel zu wenig angerechnet.«

»Sie werden es aber doch gelten lassen müssen,« sagte der Schmied bestimmt.

»Wer will mich zwingen?« fragte sie, indem sie sich drohend erhob.

»Ich, Madame!« antwortete er ruhig.

»Und wie? wenn ich fragen darf!«

»Das will ich Ihnen erklären: Sie betreiben ein verbotenes oder höchstens sehr ungern geduldetes Gewerbe. Ein jedes Mädchen, welches wünscht, Sie zu verlassen, steht unter dem Schutze der Polizei. Sie müssen ein jedes Mädchen trotz aller Schulden sofort entlassen. Ich nun aber will ehrlich sein und Sie bezahlen. Nehmen Sie das Geld nicht, so zwingen Sie mich, unter zwei Wegen denjenigen zu wählen, welcher mir der vortheilhafteste zu sein scheint!«

»Ah! Welche wären diese Wege?«

»Entweder lasse ich Ihre Rechnungen gerichtlich prüfen, und das würde nur von großem Nachtheile für Sie sein, da die Herren vom Gerichte manche Angabe streichen, oder wenigstens reduziren würden -«

»Und der andere Weg?«

»Ich zahle Ihnen gar nichts, nehme aber Mignon mit und stelle sie unter polizeilichen Schutz. Sie erhalten dann keinen Centime. Wählen Sie!«

Sie sah ein, daß er Recht hatte, aber sie ergab sich doch noch nicht.

»Sie sind schlecht!« rief sie grollend.

»Und Sie unklug!«

»Ich werde mich rächen! Ich werde ihnen bei der Polizei zuvorkommen!«

»Womit?« fragte er lächelnd.

»Ich werde verrathen, daß Sie ein Garotteur sind!«

»O, Madame, das weiß die Polizei bereits sehr gut. Man wird sich freuen, daß ich im Begriffe stehe, ein ehrlicher Mann zu werden und auch meine Geliebte zu einer ehrlichen, braven Frau zu machen. Nehmen Sie das Geld, oder nicht?«

»Ich nehme es nicht,« trotzte sie.

»So stecke ich es wieder ein und nehme trotzdem Mignon mit!«

Er that, als wolle er die Summe wieder einziehen; da aber griff sie schnell zu und strich das Geld in ihre Tasche.

»Halt!« sagte sie. »Ich sehe, daß Sie keinen Verstand annehmen, und darum werde ich großmüthig sein. Aber Eines müssen Sie noch zahlen. Der Marchese hat gestern seine Flasche Wein nicht bezahlt, die kostet zehn Franks.«

»Ich gebe fünf.«

»Zehn!«

»Gut, so gehen Sie selbst zu ihm. Mich geht das nichts an!«

»Gerard Mason, Sie haben keine Bildung!« rief sie. »Wissen Sie nicht, wie man eine Dame behandelt?«


// 645 //

»Man giebt ihr, was sie verlangt; dennoch handle ich in diesem Falle aber lieber ohne Bildung.«

»Gut, so zahlen Sie fünf!«

»Hier sind sie. Mignon, packe ein!«

Er legte das Fünffrankenstück auf den Tisch, und das Mädchen ging, um ihre Effekten in den Koffer zu legen.

»Wo werden Sie mit ihr hingehen?« fragte ihn die Wirthin.

Er zuckte die Achseln.

»Das werde ich Ihnen nicht sagen,« antwortete er.

»Warum nicht?«

»Mignon geht von hier fort, und mit diesem Schritte hat sie mit der Vergangenheit gebrochen und ein neues Leben begonnen. Es sollen alle Fäden zerrissen sein.«

»So wird man sie niemals wiedersehen, und Sie auch nicht?«

»Nein.«

»So sind Sie ein Undankbarer, und ich werde Sie ganz und gar zu vergessen suchen!«

»Thun Sie das; ich bitte darum!«

Er ging, um eine Droschke zu holen. Als diese kam, war Mignon fertig. Sie luden den Koffer auf und stiegen ein. Sie fuhren fort, ohne dem Hause der Sünde einen einzigen Blick zuzuwerfen. - -

Es war am Nachmittage desselben Tages, als Alfonzo de Rodriganda, welcher sich hier Marchese d'Acrozza nannte, in seinem Zimmer saß und in banger Sorge an seine Brieftasche dachte. Da wurde ihm vom Kellner ein Schmied, Namens Gerard gemeldet.

»Lassen Sie ihn eintreten!« sagte er schnell.

Der Garotteur kam herein und verbeugte sich sehr höflich.

»Ah, endlich!« sagte Alfonzo. »Haben Sie geforscht und gefunden?«

»Ah, das geht nicht so schnell, mein Herr. Diese Art Leute gehen sehr vorsichtig zu Werke.«

»Also noch gar nichts?«

»Ich habe Gelegenheit gehabt, einem der Garotteurs einen kleinen Dienst zu erweisen, und da er sich mir da zum Gegendienst verpflichtet fühlt und diese Leute einander Alle kennen, so glaubte ich Hoffnung zu haben -«

»Papperlapapp!« unterbrach ihn der Graf. »Machen Sie mir nichts weiß! Ich weiß genau, daß Sie selbst Garotteur sind.«

»Wirklich?«   f ragte der Schmied. »Von wem wissen Sie es?«

»Von Ihrem Mädchen.«

»Schön, ich gebe es zu, Monsieur. Zugleich aber erkenne ich auch, daß man sich auf Sie nicht verlassen kann, denn Sie sind unvorsichtig und plauderhaft.«

Der Graf trat stolz einen Schritt zurück.

»Was wagen Sie!« rief er. »Ich bin ein Marchese!«

»Und ich ein Garotteur!«

Diese vier Worte waren in einem Tone gesprochen, welcher dem Grafen Respekt einflößte.


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»Was wollen Sie damit sagen?« fragte er.

»Daß ich Jedem die Wahrheit sage, er mag sein, wer er will. Warum mußten Sie mir sagen, daß ich ein Garotteur bin? Warum mußten Sie es mich wissen lassen, daß mein Mädchen so unvorsichtig gewesen ist, mich Ihnen zu verrathen? Kein Mensch hat Sie gezwungen, und irgend einen Nutzen haben Sie auch nicht davon!«

Alfonzo begann, Respekt vor diesem Mann zu bekommen.

»Er paßt für Dich; er ist kühn, rücksichtslos und verschwiegen!« dachte er, und laut fügte er hinzu:

»Sie haben Recht, Gerard; ich war unvorsichtig. Also, was haben Sie erfahren?«

»Ich will offen gestehen, daß ich alle Garotteurs der Hauptstadt kenne. Ein Jeder hat seinen bestimmten Bezirk, in welchen ein Anderer nur ausnahmsweise einmal kommt; daher wissen wir stets mit ziemlicher Gewißheit zu sagen, wer diese oder jene Garotte unternommen hat. Ich habe nun heute früh den Inhaber des Bezirks, in welchem Sie beraubt wurden, aufgesucht; aber er ist es nicht gewesen, er liegt krank. Ich bin nun weiter forschen gegangen und glaube, den Richtigen gefunden zu haben.«

»Ah, welch ein Glück!«

»Bitte, nicht sanguinisch sein! Ich sagte, ich glaube, den Richtigen gefunden zu haben. Ich muß mich zunächst überzeugen. Darf ich die Frage aussprechen: Sie waren gestern Abend im Theater, und besuchten dann ein Weinhaus in der Rue Montorgueil, von der Sie durch die Rue de la Tonnellerie gingen?«

»Ja, es ist so, wie Sie sagten.«

»Und bogen von da in die verhängnißvolle Straße de la Poterie ein?«

»Das stimmt! Woher wissen Sie das?« fragte der Graf schnell.

»Derjenige, den ich im Verdacht habe, der Thäter zu sein, war auch im Theater, auch in demselben Weinhause und ist dann denselben Weg gegangen. Er theilte es mir mit, ohne zu ahnen, was ich eigentlich bei ihm wollte.«

»Ah, er ist es, er ist es! Haben Sie ihn gefragt?«

»Nein; das wäre sehr unvorsichtig!«

»Aber, was kann mir das Uebrige nützen?«

»Sorgen Sie sich nicht! Ich habe ihm von Ihrem Ueberfalle erzählt. Er that natürlich so, als ob er gar nichts davon wisse.«

»Sagten Sie, daß ich keine Anzeige gemacht habe, und ihn nicht bestrafen lassen will; vielmehr daß er die Werthsachen behalten kann, da es mir nur auf die Brieftasche ankommt?«

»Ja.«

»Und was antwortete er?«

»Ich erzählte natürlich, daß ich Sie getroffen hätte, Monsieur, und daß ich dies Alles aus Ihrem eigenen Munde erfahren hätte. Er wußte natürlich sofort, daß ich ihn für den Thäter hielt und daß ich die Absicht hatte, ihn zur Herausgabe des Portefeuilles zu bewegen; aber er war vorsichtig; er gestand nichts ein; er that, als wisse er von nichts. So viel aber habe ich ganz gewiß erreicht, daß er das Portefeuille aufbewahrt, wenn er es nicht vielleicht bereits vernichtet hat.«


// 647 //

»Aber was nützt mir dies Aufbewahren? Haben muß ich es!«

»Dies Aufbewahren nützt Ihnen sehr viel, Monsieur. Sie können von dem Manne doch nicht verlangen, daß er so mir nichts Dir nichts gesteht, daß er es gewesen ist, und mir dann die Brieftasche giebt.«

»Nein.«

»Sie können auch nicht verlangen, daß er die Brieftasche umsonst herausgiebt, da er ja nun weiß, welchen Werth sie für Sie hat.«

»Nein. Aber ich will ihn ja bezahlen!«

»Richtig. Sie werden jedoch zugeben, daß er versuchen wird, möglichst viel zu erlangen.«

»Wenn das, was ich geboten habe, noch nicht langt, so gebe ich mehr.«

»Gut. Ich werde ihn heute abermals besuchen.«

»Thun Sie Ihr Möglichstes; ich werde dankbar sein. Vielleicht habe ich dann später etwas noch Lohnenderes für Sie; ich werde noch mit Ihnen darüber sprechen, sobald wir mit dieser Angelegenheit zu Ende sind.«

»Dann wird es vielleicht zu spät sein, weil ich Paris bereits in den nächsten Tagen verlasse.«

»Wirklich?«

»Ja. Ich ziehe in die Provinz.«

»Das ist mir nicht lieb - das ist mir unangenehm,« sagte der Graf sinnend.

»Vielleicht entschließen Sie sich zu einer früheren Mittheilung!«

»Hm, ja, setzen Sie sich

Der Schmied nahm in gespannter Erwartung Platz.

Der Schmied nahm in gespannter Erwartung Platz; der Graf schritt einigemal hin und her und sagte dann:

»Ein Garotteur kann Blut sehen?«

»Haha!« lachte Gerard statt aller Antwort verächtlich.

Er wußte, daß Das, was der Graf von ihm verlangen würde, nur ein Verbrechen sein könne; er war fest entschlossen, es nicht zu begehen, aber ebenso entschlossen war er auch, alle sich ihm bietenden Vortheile auszunutzen. Er wollte einen neuen Hausstand gründen, und dazu war vor allen Dingen Geld nöthig.

»Es kann vorkommen, daß ihm eins seiner Opfer unter den Händen stirbt, trotzdem er dies eigentlich gar nicht bezweckt hat?«

»Ja, das kommt wohl vor, Monsieur.«

»Er bebt also vor einem Mord nicht zurück?«

»Fällt ihm nicht ein. Alle Menschen müssen sterben!«

Der Schmied versuchte, sich ein möglichst gewissenloses Air zu geben.

»Ist es Ihnen auch schon passirt, daß Ihnen Jemand starb?«

»Hm!« machte er es achselzuckend. »Kommen Sie zur Sache, Monsieur! Ich bin kein Freund der unnützen Einleitungen.«

»Nun, die Sache ist die, daß ich eines Mannes bedarf, der Blut sehen kann; nun habe ich geglaubt, daß Sie der Rechte sind.«

»Möglich!«

Er legte dabei die Beine sorglos übereinander und lächelte so verschmitzt wie möglich.

»Sie sagen ja?«


// 648 //

»Wie kann ich das? Ich weiß ja noch gar nicht, um wen, oder was es sich handelt!«

»So hören Sie! Ich habe einen Feind, der mir sehr zu schaden sucht, sowie meine ganze Existenz bedroht - - -«

»So packen Sie ihn bei seiner Existenz an!«

»Das will ich ja; nur fragt es sich, was Sie unter seiner Existenz verstehen?«

»Sein Leben natürlich!«

»Gut, soweit sind wir eins! Wollen Sie mir behilflich sein?«

»Warum thun Sie es nicht selbst?«

»Das ist mir unmöglich. Sie verstehen die deutsche Sprache, welche Sie vollkommen sprechen. Sehen Sie, das ist bei mir nicht der Fall, und daher kann ich die Rache nicht selbst übernehmen. Und Zeit, das Deutsche vorher zu erlernen, giebt es nicht.«

»Was hat diese Sprache mit Ihrer Rache zu thun?«

»Der Mann, den ich meine, wohnt in Deutschland; gegenwärtig hielt er sich aber hier in diesem Hotel auf. Ich verfolgte ihn bis hierher, aber er ist einen Tag vor meiner Ankunft abgereist.«

»So wollen Sie ihm nach?«

»Ja, und Sie sollen mit.«

»Das wird schwer gehen. Ich bin vorbereitet, Paris zu verlassen und mein Mädchen zu heirathen - - -«

»Dieselbe, welche ich gestern gesprochen habe?«

»Ja. Sie hat das Haus, worin Sie sie trafen, verlassen. Sie sehen, daß es mich große Opfer kosten würde, Sie zu begleiten.«

»Ich bin reich, ich vergüte Ihnen Alles!«

»Hm! Wohin soll die Reise gehen?«

»Nach Mainz. - Wie lange wir abwesend sind, das kommt ganz auf die Verhältnisse und auf Ihre Geschicklichkeit und Entschlossenheit an.«

»Sie meinen, daß ich Ihnen zunächst als Dolmetscher zu dienen habe?«

»Ja, als Dolmetscher in Gestalt eines Dieners in Livree; und zweitens, daß Sie diese Person zu beseitigen haben, sowie auch eine Dame.«

»Die sämmtlich sich an demselben Orte befinden?«

»Ja.«

»Und wenn ich Ihnen nun diese Opfer bringen möchte, was bieten Sie mir dafür?«

»Was verlangen Sie?«

»Ich habe eine Braut und einen Vater zurückzulassen; ich habe Pläne aufzuschieben, oder gar aufzugeben, welche sich auf meine Zukunft beziehen; dafür sind tausend Franks wohl nicht zu viel!«

»Ich zahle sie, und zwar vor der Abreise!«

»Ferner habe ich zwei Menschen verschwinden zu lassen. Was zahlen Sie für ein Menschenleben, welches Sie so außerordentlich belästigt, daß sogar Ihre Existenz dadurch in Frage gestellt wird?«

»Auch tausend Franken.«


Ende der siebenundzwanzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Waldröschen

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