Lieferung 98

Karl May

10. Juli 1886

Der verlorne Sohn
oder
Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.


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zur ungewöhnlichen Zeit. Ich kann warten bis zum Abende, obgleich ich vor Neugierde brenne.«

»Hast Du die Sachen gut versteckt?«

»Versteckt? Wo denkst Du hin! Wie könnte man auf den Gedanken kommen, sie bei mir zu suchen? Anton und Adolf haben sie gestohlen; das ist doch über jeden Zweifel erhaben. Würde ich ein Versteck suchen, so würde das nur auffallen. Gar nicht verstecken, das ist das Beste und Sicherste.«

Diese Kühnheit und Zuversichtlichkeit zerstreute seine Besorgniß in der Weise, daß er am Nachmittage in größter Gemüthsruhe vor den Assessor von Schubert trat. In dem offenen Nebenzimmer saßen, von ihm unbemerkt, mehrere Herren, welche der Verhandlung zuhören wollten.

»Herr Mehnert,« sagte der Assessor im zutraulichsten Tone, »es ist mir da ein ganz eigenthümlicher und heikler Fall passirt, den ich nur mit Ihrer Hilfe werde erledigen können. Ich habe mir daher gestattet, Sie für kurze Zeit zu mir zu bitten.«

Diese Einleitung bewirkte, daß dem jungen Menschen der Kamm gewaltig schwoll. Er antwortete:

»Ich stehe gern zu Diensten. Sagen Sie mir nur, um was es sich handelt.«

»Um ein anonymes Schreiben, welches einer unserer Obergensd'arme heute früh erhalten hat. Er stellte es mir zu, um die Sache zu untersuchen. Hier sind die Zeilen. Lesen Sie sie einmal durch und sagen Sie mir dann, was Sie davon denken!«

Mehnert las seine eigene Schrift und sagte dann, wichtig den Kopf schüttelnd:

»Hier handelt es sich wohl nur um eine Mystification?«

»Das dachte ich allerdings zunächst auch, aber es war doch meine Pflicht, nachzuforschen, und da fand ich - ah, ich soll eigentlich nicht davon sprechen; aber Sie sollen mich ja aus der Verlegenheit ziehen, und so darf ich Ihnen wohl ganz unbesorgt ein wichtiges Amtsgeheimniß anvertrauen!«

»Natürlich! Es soll mir Niemand ein Wort darüber entlocken!«

»Gut! Also denken Sie sich, ich fand, daß die Chatoulle der Baronin wirklich leer ist!«

»Was Sie sagen!«

»Es ist entsetzlich!«

»Wer mag der freche Thäter sein?«

»Wer? Sie vergessen, daß hier Namen genannt sind.«

»Das sind Ehrenmänner!«

»Ich dachte es bisher auch; aber ich folgte natürlich dem mir hier gegebenen Rathe und habe bei den beiden Mädchen wirklich zwei Ringe gefunden, welche zu dem gestohlenen Geschmeide gehören.«

»O weh! Wer hätte das gedacht!«

»Jawohl! Sie haben gewiß auch keine Ahnung gehabt, warum Sie zu mir kommen sollen?«


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»Nicht die geringste.«

»Das läßt sich denken. Es thut wehe, in Leuten, denen man so lange Zeit sein vollstes Vertrauen geschenkt hat, so raffinirte Diebe zu entdecken. Am Meisten aber schmerzt es mich, daß sie trotz aller Beweise doch sich auf's Leugnen legen.«

»Sie leugnen? Und haben doch die gestohlenen Ringe an ihre Bräute geschenkt?«

»Ja.«

»Das ist freilich frech!«

»Sie geben zu, ihren Mädchen die Ringe geschenkt zu haben, behaupten aber, sie nicht gestohlen, sondern gekauft zu haben.«

»Unglaublich!«

»Und zwar wollen sie sie von Ihnen gekauft haben.«

»Von mir? Das möchte ich mir doch verbitten!«

»Sind sie denn bei Ihnen gewesen oder nicht?«

»Sie waren da, alle Beide, gestern kurz nach Mittag. Sie bestellten die Trauringe und kauften zwei Ringe mit Alençoner Bergkrystall zu zehn Gulden das Stück.«

»Aber die beiden bei den Mädchen gefundenen Ringe haben echte Diamanten!«

»So sind sie nicht von mir!«

»Hier sind sie. Sehen Sie sich dieselben einmal an.«

Mehnert betrachtete sich die beiden Ringe und sagte dann:

»Das sind echte Diamanten. Solche Ringe habe ich nie gehabt.«

»Die Ringe sind also nicht von Ihnen?«

»Nein.«

»Die beiden Angeschuldigten wollen es aber beschwören.«

»Das können sie nicht.«

»Wenn sie es aber dennoch thun?«

»So schwören Sie falsch.«

»Sie würden trotzdem darauf hin verurtheilt werden. An Ihnen wäre es, zu beweisen, daß die Beiden ganz andere, werthlose Ringe bei Ihnen gekauft haben.«

»Das kann ich; das kann ich!«

»Wieso?«

»Ich habe mir von ihnen einen Revers unterschreiben lassen, daß die Ringe, welche sie von mir gekauft haben, unecht sind. Und ferner besitze ich die Zeichnung der beiden Ringe, welche sie von mir gekauft haben. Man suche nur recht genau bei ihnen aus, so bin ich überzeugt, daß man meine Ringe bei ihnen finden wird.«

»Diesen wohlgemeinten Wink werde ich beachten. Also Sie sind im Besitze des Reverses und der Zeichnungen?«

»Ja. Ich habe sie mitgebracht.«


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Der Assessor sagte in höchst vertrauensvollem, freundschaftlichem Tone zu ihm:

»Lieber Mehnert, das eilt ja nicht so sehr, das hätte recht gut Zeit gehabt bis später.«

»O nein! Wo es sich um meine Ehre handelt, da versäume ich keinen Augenblick. Ich habe Revers und Zeichnung mitgebracht, damit Sie keine Minute lang an meiner Rechtschaffenheit zweifeln sollen.«

Noch ebenso freundlich fragte der Assessor:

»Das ist sehr gut, sehr gut! Sie brachten sie also mit, um mich sogleich von Ihrer Unschuld zu überzeugen?«

»Ja, natürlich, Herr Assessor.«

Da auf einmal klang es ihm donnernd entgegen:

Lügner!

»Und vorhin behaupteten Sie, gar nicht gewußt zu haben, um was es sich handelte! Lügner!«

»Ah - - oh - - bitte!« stotterte der vollständig Ueberrumpelte. »Ich dachte - ich wollte - ich hatte die Absicht -«

»Die Absicht, brave, unschuldige Menschen unglücklich zu machen, die hatten Sie! Aber Sie haben es sehr, sehr verkehrt angefangen!«

»Ich bin unschuldig und bitte, nach meinen Ringen suchen zu lassen, im Palais Helfenstein, wo die Beiden wohnen.«

»Warum dort? Woher wissen Sie, daß die Ringe sich dort befinden, nicht in der Privatwohnung der Beiden?«

»Ich vermuthe es.«

»Nein, Sie wissen es! Sie wissen, daß die Ringe dort versteckt worden sind, um zwei brave Beamte zu verderben.«

»Versteckt? Ich habe keine Ahnung davon.«

»Nun, wir haben nicht die bloße Ahnung, sondern sogar die Gewißheit. Hier sind die Ringe. Sehen Sie!«

»Ja, die sind es; die sind von mir.«

»Aber nicht gekauft. Diese Ringe haben Sie Ihrer Geliebten in das Tivoli gebracht, um sie im Palais Helfenstein verstecken zu lassen.«

Mehnert taumelte vor der Wucht dieser Anschuldigung zurück, faßte sich aber und antwortete:

»Das ist elende Verleumdung!«

Der Assessor klingelte; ein Herr in Civil trat ein.

»Dort gewesen, Herr Commissar?« fragte Schubert.

»Ja.«

»Etwas gefunden?«

»Das hier.«

Er legte das Armband hin, welches Mehnert gestern von Hulda an Zahlungsstatt empfangen hatte.

»Wie kommen Sie zu diesem Gegenstande?« fragte der Assessor.

Der Goldarbeiter war todtesbleich geworden. Er stammelte:

»Dieses Armband habe - habe ich - habe -«


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»Nun, heraus!«

»Ich habe es gestern gekauft.«

»Von wem?«

»Von einem Unbekannten.«

»Da endlich taucht der berühmte Unbekannte wieder einmal auf. Freut mich sehr, auf's Neue von ihm zu hören; ich befürchtete bereits, er sei gestorben. War denn der Handel ehrlich?«

»Ja, ganz und gar.«

»Warum haben Sie da das Armband unter die alten Ziegelsteine in Ihrem Hofe versteckt, wie mir soeben der Herr Criminalcommissar hier zuflüstert?«

»Weil - weil -«

»Weil es von Ihrer Geliebten ist, die Ihnen das Armband gegeben hat für die fast werthlosen Gegenstände, mit denen Jette Horn abgefunden wurde.«

»Ich weiß davon kein Wort!«

»Pah! Hier sehen Sie die Sachen. Leugnen Sie, daß sie aus Ihrem Laden sind.«

»Ja. Sie sind nicht von mir.«

»Na, Sie werden wohl ein Lagerverzeichniß besitzen, aus welchem wir uns Sicherheit holen können. Einstweilen aber wollen wir Ihnen einen anderen Beweis bringen.«

Er klingelte. Jette Horn trat ein.

»Kennen Sie dieses Mädchen?« fragte der Assessor.

Als Mehnert die Zeugin erblickte, erschrak er. Er sagte sich zwar augenblicklich, daß nun an seiner Ueberführung kaum mehr zu zweifeln sei; aber er glaubte doch noch einen Ausweg vorhanden, nämlich den des Leugnens. Er war fest überzeugt, daß Hulda nichts gestehen werde. Es schoß ihm sogar der Gedanke durch den Kopf, die kleine Dicke, falls sie gegen ihn aussagen werde, meineidig zu machen. Darum antwortete er, seine Bestürzung beherrschend:

»Nein, ich kenne sie nicht.«

»Sie sind ein sehr unvorsichtiger Mensch,« sagte der Beamte. »Es ist nicht vortheilhaft, eine offenbare Lüge zu sagen, da dann auch die Wahrheit angezweifelt wird.«

»Ich lüge nicht!«

»Bilden Sie sich doch nicht ein, mich auf das Eis zu führen! Ich fordere Sie hiermit auf, und zwar zum allerletzten Male, die Wahrheit zu gestehen!«

»Ich habe sie gesagt. Es kann doch kein Mensch von mir verlangen, daß ich wissentlich und mir zum Schaden ein falsches Zugeständniß mache!«

»Ihnen zum Schaden? Woher wissen Sie denn so gewiß, daß Ihnen dieses Zugeständniß schaden würde? Sie verrathen mit diesen Worten mehr, als Sie denken.«

»Ich vermuthe, daß es mir zum Schaden gereichen würde.«


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»Wir können uns hier gar nicht mit Vermuthungen, sondern nur mit Thatsachen befassen. Also, bleiben Sie bei Ihrer Aussage?«

»Ja.«

»Das ist wieder höchst albern von Ihnen. Sie haben mit diesem Mädchen im Tivoli gesprochen.«

»Nein.«

»Sie haben sie sogar von ihrem Platze weggeholt, damit sie sich neben Ihre Geliebte setzen solle.«

»Davon weiß ich kein Wort. Auch habe ich keine Geliebte.«

»Vielleicht sind Sie gar nicht im Tivoli gewesen, ich meine nämlich vorgestern Abend.«

»Da war ich nicht dort.«

»Diese Behauptung ist wieder sehr dumm. Es stehen mir mehrere Zeugen zu Gebote, Ihnen nachzuweisen, daß Sie dort gewesen sind.«

»Das sind falsche Zeugen.«

»Hören Sie, mein Bester, glauben Sie nur ja nicht, daß Sie es in mir mit einem albernen Menschen zu thun haben! Die Zeugen, von denen ich spreche, sind Leute, bei denen ein einziges Wort mehr Gewicht hat, als bei Ihnen hundert Eide. Uebrigens mag Ihnen Fräulein Horn gleich sagen, daß Sie logen!«

Und sich an das Mädchen wendend, fragte er:

»Sie kennen doch diesen Mann?«

»Ja.«

»War er vorgestern im Tivoli?«

»Ja.«

»Er hat mit Ihnen gesprochen?«

»Er hat nicht nur mit mir gesprochen, sondern er hat auch die beiden Ringe geholt, welche wir dann versteckten. Dann führte er die Zofe nach Hause, während ich im Tivoli bleiben mußte, damit er ungestört mit ihr besprechen könne, wie ich um mein Antheil am Geschmeide betrogen werden sollte!«

»Lüge, nichts als Lüge!« behauptete Mehnert.

»Dummheit, nichts als Dummheiten von Ihnen,« sagte der Beamte. »Ich werde Ihnen noch Jemand zeigen.«

Er klingelte, und es trat abermals ein Mann ein, welcher Civilkleidung trug. Er wurde gefragt:

»Hatten Sie Erfolg?«

»Ganz bedeutenden. Erlauben Sie!«

Er ging an die Thür zurück und öffnete sie. Auf seinen Wink trat der Amtsdiener ein, mit einem Koffer in der Hand, welchen er übergab, um sich dann wieder zu entfernen. Die Herren betrachteten den Inhalt des Koffers an einem Nebentische, so daß Mehnert nichts davon bemerken konnte. Nachdem der zuletzt Eingetretene, welcher natürlich ein Detective war, leise seinen Bericht erstattet hatte, ging er wieder und schob Hulda zu der geöffneten Thür herein.


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Sie sah außerordentlich blaß und verlegen aus. Man war so ganz unerwartet zu ihr aussuchen gekommen, hatte die gestohlenen Gegenstände gefunden und sie mit denselben direct hierhergebracht. Der Untersuchungsrichter wendete sich an sie, indem er auf Mehnert zeigte:

»Kennen Sie diesen Mann?«

Mehnert fürchtete, daß sie bejahen werde, darum ließ er ihr nicht Zeit zur Antwort, sondern er fiel rasch ein:

»Wie sollte sie mich kennen? Ich bin niemals -«

»Schweigen Sie!« herrschte ihn der Richter an. »Sie haben nur dann zu antworten, wenn man Sie fragt. Also, Fräulein Neumann, kennen Sie diesen Mann?«

»Nein.«

Sie hatte erst bejahend antworten wollen, da sie aber aus Mehnerts Verhalten bemerkte, daß er das nicht wünsche, so that sie das Gegentheil.

»Waren Sie vorgestern Abend im Tivoli?« erklang es weiter.

»Nein.«

»Wo befanden Sie sich denn?«

»Ich war während des ganzen Abend zu Hause.«

»Allein?«

»Ganz allein.«

»Wer war die männliche Person, welche Sie zwischen drei und vier Uhr aus Ihrer Thür ließen?«

»Davon weiß ich nichts. Um diese Zeit habe ich geschlafen.«

»Und wer war gestern Abend bei Ihnen? Er entfernte sich abermals erst nach Mitternacht?«

»Auch hiervon weiß ich nichts.«

»Wunderbar! Aber noch wunderbarer ist Ihre Hoffnung, sich durch solches Leugnen retten zu können. Wir haben genug Zeugen, Sie zu überführen. Man hat Schmucksachen bei Ihnen gefunden, deren rechtmäßige Eigenthümerin Sie nicht sind. Wie sind Sie denn in den Besitz derselben gelangt?«

Sie hatte sich unterwegs eine Ausrede ausgesonnen, welche sie jetzt nun vorbrachte.

»Diese Sachen sind nicht gestohlen, sondern die gnädige Baronin hat sie mir zur Aufbewahrung übergeben.«

Der Assessor war zwar an die dümmsten Ausreden gewöhnt, bei der jetzigen aber verlor er doch seinen Gleichmuth. Er fuhr empor und sagte lachend:

»Prächtig! Diese Antwort ist von einer wahrhaft klassischen, von einer wirklich überwältigenden Unverfrorenheit. Wann haben Sie die Geschmeide zur Aufbewahrung von Ihrer Herrin bekommen?«

»Kurz ehe sie nach Rollenburg geschafft wurde.«

»Wie ist sie auf den Gedanken gekommen, Ihnen ihre Schmucksachen anzuvertrauen?«


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»Jedenfalls, um dieselben zu retten. Sie hat wohl bereits damals ihren Mann in irgend einem Verdacht gehabt, welcher sie zu dieser Maßregel veranlaßte.«

»Und wo haben sich seitdem die Gegenstände befunden?«

»In meiner Verwahrung.«

»Und seitdem sie das Palais verlassen haben -?«

»Ich habe sie mitgenommen.«

»Sie haben sie nicht erst vorgestern Abend geholt?«

»Nein.«

»Was sind das für Schlüssel, welcher der Polizeibeamte bei Ihnen gefunden hat?«

»Der Hauptschlüssel zum Palais und der Schlüssel zu der Geschmeidechatoulle,« mußte sie gestehen.

»Warum haben Sie diese beiden Gegenstände nicht abgegeben, als Sie entlassen wurden?«

»Ich habe es vergessen.«

»So sollten Sie es später thun. Doch, hören wir jetzt auf, Comödie zu spielen. Ich habe Sie Alle jetzt nur so en passant hören wollen und also Ihre Aussagen auch gar nicht zu Protocoll genommen. Was Sie sagen, ist so lächerlich, daß es rein unsinnig sein würde, es niederzuschreiben. Sie Beide befinden sich bei so spaßhafter Laune, als glaubten Sie, in einem Lustspiele oder in einer Posse aufzutreten. Da dies aber nicht der Fall ist, werde ich Ihnen Gelegenheit geben, zu dem Ernste zu gelangen, welcher hier an dieser Stelle und nach Lage der Sache so dringend geboten ist, und von Ihnen gefordert werden muß. Wenn Sie sich dann in der hier gebräuchlichen Stimmung befinden, werde ich Sie rufen lassen. Sie werden jetzt hinter Schloß und Riegel Zeit finden, sich zu besinnen!«

Mehnert und Hulda wurden abgeführt. Dann nahm der Beamte Jette's Aussage zu Protocoll. Sie zeigte sich wahrheitsliebend und aufrichtig. In Folge dessen befahl der Assessor dem Wachtmeister, ihr während der Zeit ihrer Haft, der sie freilich nicht entgehen konnte, möglichst Beschäftigung in seiner Familie zu geben. -

Am vorigen Abende, eine Stunde nach Mitternacht, hatte sich der Freiherr von Tannenstein wieder mit seiner Tochter auf dem Altmarkte in der Nähe des Brunnens eingefunden, um auf den Goldarbeiter Jacob Simeon zu warten. Der Erstere trug ein kleines Bündel bei sich. Sie unterhielten sich leise mit einander.

»Ich bin neugierig, ob er kommen wird,« meinte der Vater. »Es wäre höchst unangenehm, wenn er ausbliebe.«

»Ist es seiner Tochter heute abermals möglich, die Schlüssel zu erwischen, so kommt er ganz sicher. Es ist ihm ja um die zweite Hälfte des Geldes zu thun.«

»Abermals fünfundzwanzigtausend Gulden! Das ist verteufelt viel verlangt!«


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»Und wir haben sie nicht.«

»Er wird sie aber verlangen. Wir haben Sie ihm versprochen, und er wird nicht eher mit uns gehen wollen, als bis wir sie ihm auch gegeben haben!«

»Nein. Wir haben ausgemacht, ihm die erste Hälfte zu bezahlen, wenn er uns die Kette giebt, und die zweite, sobald wir das Kinderzeug in den Händen haben. Er muß also die letztere Bedingung erfüllen.«

»Aber dann wird er das Geld verlangen.«

»Er bekommt es nicht!«

»So können wir uns vor ihm in Acht nehmen.«

»Pah! Diesen Menschen haben wir ganz und gar nicht zu fürchten. Er wird von der Polizei gesucht. Er darf es nicht wagen, sich sehen zu lassen, oder gar gerichtlich gegen uns vorzugehen. Ich habe sogar den Gedanken, ihm das Geld, welches er erhalten hat, wieder abzunehmen.«

»Er wird sich hüten, es herzugeben.«

»Das wird er allerdings; aber giebt er es nicht freiwillig, so nehme ich es ihm eben mit Gewalt ab.«

»Jedenfalls hat er es versteckt.«

»Meinst Du? Ich denke das Gegentheil. Er hat flüchtig werden müssen. Er weiß heute nicht, wo er morgen sein wird; er ist also gezwungen, sein Geld stets bei sich zu führen.«

»Was willst Du thun, es zu bekommen?«

»Das wollen wir jetzt besprechen. Komm näher an den Brunnen. Wenn wir auf einer der Stufen sitzen, können wir nicht so gut bemerkt werden, wie hier.«

Er folgte ihr. Sie begannen, sich ihre Absichten flüsternd mitzutheilen. Nach einiger Zeit bemerkten sie eine männliche Gestalt, welche vorsichtig näher kam und dann den Brunnen suchend umschlich. Sie erkannten den Goldarbeiter und gaben ihm ihre Anwesenheit zu erkennen.

»Haben Sie die Schlüssel?« fragte der Freiherr.

»Ja. Aber haben Sie auch die Sachen?«

»Hier in diesem Bündel.«

»So sind Sie fertig geworden, Fräulein?«

»Sehr leicht. Die Arbeit war nicht schwer. Wo haben Sie sich aufgehalten? Sind Sie bei Ihrem früheren Gehilfen geblieben, den wir gestern trafen?«

»Das kann mir nicht einfallen. Der scheint auch bereits so viel Werg am Rocken zu haben, daß er schon unter heimlicher Polizeiaufsicht steht.«

»Haben Sie mit ihm von uns gesprochen?«

»Kein Wort.«

»Sie versprachen es ihm aber doch, als er uns am Gerichtsgebäude überraschte.«

»Versprechen und Halten ist Zweierlei. Es war sehr gut, daß Sie sich von uns trennten. Er hatte sehr große Lust, Sie auszuforschen. Ich


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habe zunächst meiner Tochter die Schlüssel zurückgebracht und dann ein Versteck aufgesucht.«

»Bei Ihrer Frau?«

»Halten Sie mich für so dumm? Meine Frau wird so gut beobachtet, daß man mich an dem Augenblicke, an welchem ich sie aufsuchen wollte, ergreifen würde. O nein, was ich ihr zu sagen habe, das erfährt sie durch meine Tochter. Diese Letztere kann ich mit weniger Gefahr sehen und sprechen, da man nicht glaubt, daß ich mich in die Wohnung des Staatsanwaltes wagen werde.«

»Aber diese Verhältnisse können doch nicht so fortdauern. Sie können doch nicht für immer von den Ihrigen getrennt sein. Das versteht sich ja ganz von selbst.«

»Natürlich! Ich warte nur, bis meine Tochter den Dienst verläßt. Sie hat bereits gekündigt. Dann verschwinden wir.«

»Wohin?«

»Ueber die Grenze hinüber.«

»Man wird Sie ergreifen.«

»Das lassen Sie nur meine Sorge sein. Die Hauptsache ist, daß ich bis dahin einen sicheren Ort habe, wo ich nicht entdeckt werden kann.«

»Ich denke, den haben Sie hier?«

»Leider nicht. Für zwei oder drei Tage geht es, aber doch länger nicht. Die Verhältnisse sind hier so, daß sich unter zehn Personen, denen man des Abends begegnet, neun heimliche Polizisten befinden. Auch draußen auf dem Lande bin ich nicht mehr sicher. Es kam heute eine Zeitung in meine Hand. Und was fand ich da? Meinen Steckbrief nebst dem ausführlichsten Signalement.«

»So machen Sie schleunigst sich aus dem Staube. Ihre Frau und Tochter können ja nachkommen. Geld zur Flucht haben Sie ja genug.«

»Ja, das habe ich freilich,« antwortete er, mit der rechten Hand nach der linken Brusttasche greifend. »Aber Geld allein thut es nicht. Klugheit ist hier wenigstens ebensoviel werth wie Geld. Um mich ist es mir nicht bange. Ich kann sehr leicht für immer verschwinden. Aber meine beiden Frauenzimmer sind zu dumm und unerfahren. Wenn sie mir nachkommen wollen, wird es der Polizei sehr leicht sein, ihnen heimlich zu folgen und mich also dann zu finden. Darum muß ich selbst dabei sein, wenn sie die Stadt und das Land verlassen. Ich bin ihnen nothwendig, wenn sie keine Spuren zurücklassen sollen. Darum handelt es sich um ein Asyl für mich.«

»Auf wie lange?«

»Nur zwei Wochen. Dann zieht meine Tochter ab.«

»Haben Sie denn keine Aussicht, ein Versteck zu finden?«

»Ich habe schon an Verschiedenes gedacht, aber noch nichts ganz Sicheres gefunden.«

Vorhin, als er mit der Hand an die Brusttasche gegriffen, hatte die Tochter ihren Vater angestoßen. Er hatte durch diese unbewachte Bewegung


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verrathen, daß er das Geld bei sich trage. Darum meinte jetzt Theodolinde in nachdenklichem Tone:

»Hm! Das ist schlimm. Sie werden zwar für das, was Sie für uns thun, von uns bezahlt, aber es ist mir dennoch, also ob wir Ihnen Dank schuldig seien. Ich habe da einen Gedanken. Wenn ich wüßte -«

»Was?« fragte er schnell.

»Es ist nur zu gefährlich!«

»Was soll gefährlich sein? Meinen Sie etwa wegen eines Verstecks für mich?«

»Ja.«

»Wissen Sie vielleicht einen guten Ort?«

»Ich weiß einen; aber man soll niemals einem Menschen mehr Vertrauen schenken, als unumgänglich nöthig ist.«

»Das ist sehr aufrichtig, gnädiges Fräulein! Das muß ich sagen! Ich begebe mich Ihretwegen in so große Gefahr, und Sie meinen, daß Sie mir nicht trauen dürfen.«

»Nicht zu viel Vertrauen, habe ich gesagt. Uebrigens wollte ich mich anders ausdrücken. Ich hatte die Absicht, zu sagen, daß man sich nicht in zu große Gefahr begeben soll.«

»Welche Gefahr meinen Sie denn?«

»Die Gefahr, daß Sie unvorsichtig sind und dann entdeckt werden.«

»Was kann das Sie angehen?«

»Uns? Sehr viel! Wenn Sie bei uns erwischt werden, wird man sich unserer natürlich auch versichern.«

»Bei Ihnen erwischt?« fragte er. »Das klingt ja geradeso, als ob ich mich bei Ihnen verstecken solle!«

»Ja, daran dachte ich eben.«

»Ah! Sie wollten mir ein Asyl bieten? Das wäre freilich äußerst vortheilhaft für mich. Bei Ihnen kann mich ja kein Mensch suchen. Niemand hat einen Grund, zu ahnen, daß ich Ihnen bekannt bin, und noch dazu in der Weise bekannt, daß sie mir ein Versteck bieten.«

»Nun ja. Eben diese Erwägung brachte mich auf den Gedanken, Ihnen zu sagen, daß Sie bei uns bleiben möchten. Was meinst Du dazu, Vater?«

»Hm! Es geht nicht,« antwortete der Gefragte.

»Warum nicht?«

»Bedenke zunächst: Ein Freiherr und ein steckbrieflich Verfolgter! Es ist undenkbar!«

»Gerade weil es undenkbar ist, wird man ihn nicht bei uns suchen!«

»Er wird aber bei uns gesehen werden.«

»Wieso?«

»Nun, man sieht ihn doch kommen!«

»Nein. Er muß des Abends kommen, wenn es finster ist. Wir selbst lassen ihn ein.«


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»Die Dienerschaft wird ihn doch bemerken. Er hat ja seine Bedürfnisse. Er will verpflegt sein.«

»Wir quartieren ihn in das kleine Zimmer hinter Deiner Bibliothek. Dort schließt er sich ein. Was er braucht, erhält er durch uns.«

»Das ist leichter gesagt, als gethan.«

Der Freiherr stellte sich natürlich nur so, als ob er gegen den Plan seiner Tochter sei. Er hatte ihn ja vorhin erst mit ihr besprochen. Jacob Simeon sah ein, daß ihm gar nichts Vortheilhafteres geboten werden könne; darum sagte er in dringlichem Tone:

»Haben Sie keine Sorge, gnädiger Herr! Wenn Sie mich bei sich aufnehmen, sollen Sie nicht den mindesten Schaden davon haben, eher noch Vortheil.«

»Diese Vortheile möchte ich kennen lernen.«

»O, man kann ja gar nicht wissen, in welcher Weise ich Ihnen zu nützen vermag. Sie verfolgen ja mit der Kette eine Absicht, bei welcher - hm, wenigstens würde mich die Dankbarkeit zum tiefsten Schweigen nöthigen.«

»Pah! Schon Ihr eigenes Interesse gebietet Ihnen, zu schweigen. Durch Plaudern würden Sie nur sich selbst in Gefahr und Schaden bringen.«

Da fiel seine Tochter ein:

»Die Hauptsache ist noch unerwähnt geblieben. Nämlich wenn Simeon ergriffen würde und man unser Geld bei ihm fände, würde er angeben müssen, von wem er eine so hohe Summe empfangen hat.«

»Ich würde es nicht verrathen!« betheuerte der Genannte.

»Das glaube ich; aber man würde es dennoch entdecken. Da die Cassenscheine nummerirt sind, wird es der Polizei nicht schwer sein, zu erfragen, in wessen Hände sie sich zuletzt befunden haben. Jeder Bankier trägt die Nummern ein. Es liegt also sehr in unserem Interesse, daß der jetzige Besitzer nicht ergriffen wird. Bedenke das, lieber Vater!«

Erst nach einer Pause scheinbaren Nachdenkens antwortete der Freiherr:

»Du bist leider gewohnt, Alles bei mir durchzusetzen!«

»Also Du willigst ein?«

»Oho! So, so schnell geht das nicht!«

»Bedenke, es sind nur vierzehn Tage!«

»Diese Zeit ist lang genug!«

Da legte sich auch Simeon auf's Bitten und da sie ihm beistand, so gab sich der Freiherr den Anschein, als ob von ihrer Dringlichkeit seine Bedenken besiegt würden.

»Na,« meinte er, »so will ich mich nicht länger weigern. Aber ich schiebe alle Verantwortlichkeit von mir!«

»Es giebt gar keine Verantwortlichkeit. Unser Schützling wird sich in acht nehmen.«

»Das versteht sich ganz von selbst!« sagte Simeon. »Also des Abends soll ich kommen?«


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»Natürlich! Ich hoffe doch nicht, daß Sie sich am hellen, lichten Tage bei ihm einstellen werden!«

»Nein. Ich warte die Dunkelheit ab. Bestimmen Sie mir die Zeit. Darf ich morgen kommen?«

»Morgen schon? Hm! Na, meinetwegen.«

»Wie viel Uhr?«

»Wenn Alles schlafen gegangen ist, natürlich. Sagen wir, gerade um Mitternacht.«

»Und der Ort?«

»Haben Sie die Linde gesehen, welche am Fahrwege steht, der zum Schlosse führt?«

»Ja.«

»Stellen Sie sich an diesem Baume ein. Ich werde Sie dort abholen. Aber bringen Sie keinerlei Gepäck mit. Was Sie brauchen, finden Sie Alles bei uns. Und noch eine sehr strenge Bedingung mache ich. Nämlich auch Ihre Angehörigen dürfen nicht wissen, daß Sie bei mir sind.«

»Das ist ja ganz selbstverständlich. Sie erfahren es auf keinen Fall, damit man es ihnen nicht entlocken kann. Den Frauen ist in dieser Beziehung ja niemals ganz zu trauen.«

»So sind wir also einig. Gehen wir jetzt?«

»Ja, aber vorher noch eine Frage!«

»Sprechen Sie!«

»Wie steht es mit den anderen fünfundzwanzigtausend Gulden, gnädiger Herr?«

»Die bekommen Sie.«

»Ja, bitte!«

Er streckte die Hand aus, als ob er sie jetzt gleich haben wolle, aber Tannenstein sagte:

»Sie haben sie erst dann zu fordern, wenn Alles geschehen ist, wenn wir das Wäschezeug haben.«

»Das holen wir uns doch jetzt!«

»Aber wir haben es noch nicht. Wir können gestört werden; es kann da Vieles geschehen.«

»Was soll da geschehen! Sie haben das Geld doch mit?«

Auf diese direct an ihn gerichtete Frage konnte der Freiherr mit keiner Unwahrheit antworten. Die Wahrheit wäre doch dann herausgekommen, und in diesem Falle hätte Simeon jedenfalls das Vertrauen verloren und wäre morgen nicht zu ihnen gekommen. Aus diesem Grunde antwortete Tannenstein:

»Es ist Ihnen vollständig sicher!«

»Das erwarte ich natürlich. Am sichersten ist es mir, wenn Sie es mit haben; aber Ihre Worte klingen beinahe so, als ob das Gegentheil der Fall sei?«

»Sie errathen es.«

»Ah! Sie haben also kein Geld!«


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»In diesem Augenblicke nicht.«

»Aber es war ja ausgemacht, daß ich es erhalten sollte.«

»Sie bekommen es ja. Und in dieser Beziehung ist es recht passend, daß Sie bei mir sein werden. Es war heute meinem Bankier nicht möglich, die Summe zu schaffen.«

»Sie sind bei keinem anderen Bankier gewesen?«

»Nein. Ich stehe nur mit diesem einen in Verbindung. Anweisung hätte ich erhalten können. Mit einer solchen kann Ihnen aber nicht gedient sein. In Ihrer Lage kann man nur baares Geld verwenden.«

»Das ist freilich wahr. Wann sollen Sie es erhalten?«

»Morgen, spätestens übermorgen.«

Simeon schien doch Verdacht gefaßt zu haben. Er fragte:

»Da er Ihnen Anweisung geben wollte, konnten Sie doch diese bei einer anderen Bank in Geld verwandeln. Nicht?«

»Ja. Aber er bat mich, davon abzusehen. Man hätte an dieser Bank gemerkt, daß er sich augenblicklich in Zahlungsebbe befindet; das kann einem jeden Geschäftsmann einmal passiren, aber er vermeidet doch, es kund werden zu lassen. Ich hoffe, Sie sehen das ein!«

»Ich gebe es zu.«

»Und da es sich doch nur um einen so kurzen Aufschub handelt, so ist es doch nicht gefährlich. Sie wohnen bei mir, also kann es Ihnen gleich sein, ob Sie das Geld heute oder morgen erhalten. Sicher ist es Ihnen ja auf jeden Fall.«

»Wenn das so ist, so muß ich mich fügen.«

Er sagte dies langsam und in einem Tone, welcher errathen ließ, daß seine Bedenken noch nicht beseitigt seien.

»Gehen wir jetzt?« fragte der Freiherr.

»Meinetwegen! Geht das Fräulein auch mit?«

»Ja.«

»Das ist eigentlich unnöthig. Ja, es ist nicht nur überflüssig, sondern sogar gefährlich. Drei Personen erregen viel eher Aufmerksamkeit, als nur zwei.«

»Ich muß dabei sein,« erklärte Theodolinde. »Bevor die Sachen vertauscht werden, ist es nothwendig, sie genau zu vergleichen. Und da ist ein Frauenauge schärfer, als der Blick von hundert Männern.«

»Mag sein! Aber dann wollen wir wenigstens nicht zusammenbleiben, sondern uns trennen. An der bekannten Seitenthür treffen wir uns.«

Simeon huschte, ohne eine Einrede abzuwarten, leise fort. Die beiden Anderen entfernten sich auch.

»Er scheint Verdacht gefaßt zu haben,« meinte die Tochter, indem sie weiter gingen.

»Es klang ganz so. Du, er wird uns doch nicht etwa einen Streich spielen!«

»Welchen Streich meinst Du?«

»Daß er gar nicht kommt.«


// 2342 //

»Das glaube ich doch nicht.«

»Undenkbar ist es aber nicht. Ist er überzeugt, daß er das Geld nicht erhält, so wird er sich hüten, den zweiten Theil des Dienstes zu leisten.«

»Er kann wohl zweifeln, Gewißheit aber, nichts zu erhalten, kann er gar nicht haben. Es ist jedenfalls für ihn vortheilhafter, einen Tage zu warten, als ganz auf eine solche Summe zu verzichten. Und bedenke, daß er dann auch auf das Asyl verzichten muß, welches wir ihm angeboten haben!«

»Ganz richtig. Aber wie nun, wenn er uns durchschaut?«

»Dazu ist er zu dumm.«

»O, ich halte ihn gar nicht für dumm. Na, wir werden ja sehen. Komm!«

Sie fanden zwar, daß ihre Besorgniß unnütz gewesen war, aber ebenso erfuhren sie, daß der Freiherr Recht gehabt hatte, als er nicht an Simeon's Intelligenz gezweifelt hatte, denn als sie zu diesem Letzteren kamen, sagte er:

»Sie glaubten jedenfalls, ich werde nicht hier sein?«

»Wieso?« fragte der Freiherr, einigermaßen betroffen.

»Weil Sie kein Geld haben.«

»Das ist für Sie doch kein Grund, zu verschwinden.«

»Vielleicht doch!«

»Sie erhalten ja das Geld!«

»Heute nicht, und zwischen heute und übermorgen kann sehr viel passiren. Aber ich sage Ihnen aufrichtig, daß ich mich auf mich zu verlassen pflege. Ihre Gedanken mögen sein, welche sie wollen, ich weiß, daß ich das Geld erhalten werde.«

»Unsere Gedanken? Die sind natürlich ehrlich!«

»Ich hoffe es.«

»Daß wir es gut meinen, haben wir dadurch bewiesen, daß wir Ihnen ein Versteck anboten.«

»Sie können das auch in einer mir nicht sehr freundlichen Absicht gethan haben. Doch ist es ja ganz unnütz, darüber zu sprechen. Da Sie nicht bei Casse sind, werden Sie wohl die Güte haben, mir Sicherheit zu geben.«

»In welcher Weise?«

»Sie stellen mir in Wechselform eine Anweisung aus, welche übermorgen fällig ist.«

»Das ist eigentlich höchst unnöthig!«

»In Geschäften muß man exact sein.«

»Nun wohl! Sie sollen die Anweisung erhalten.«

»Schön. Kommen Sie!«

Er zog den Schlüssel heraus und öffnete. Als sie eingetreten waren, verschloß er wieder und zog, ganz so wie gestern, die Laterne hervor, welcher er anbrannte.

Sie gelangten ohne alle Störung oder Fährlichkeit in das betreffende Zimmer, wo sie mit Hilfe des zweiten Schlüssels sich des Kinderzeuges


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bemächtigten. Der Freiherr öffnete sein Päcktchen, und nun wurden die Originalsachen mit den nachgeahmten verglichen.

Natürlich trugen sie dabei Sorge, daß der Schein des Lichtes nicht von unten bemerkt werden konnte.

»Nun?« fragte der Tannensteiner, als seine Tochter die Vergleichung beendet hatte.

»Es ist mir ausgezeichnet gelungen,« antwortete sie. »Die Nachahmung ist so täuschend, daß man unmöglich vermuthen kann, es habe hier eine Verwechslung stattgefunden.«

»Sehr gut! Legen wir also Deine Sachen hinein. Die anderen nehmen wir mit!«

»Halt! Nicht so schnell!« sagte da der Goldarbeiter, indem er die Hand der Tochter ergriff, welche nach den Worten ihres Vaters thun wollte.

»Warum?« fragte der Freiherr.

»Es müssen alle Bedingungen ehrlich erfüllt werden.«

»Was giebt es hier noch für Bedingungen?«

»Diejenigen, welche zwischen uns festgestellt worden sind.«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

»Das ist doch sehr einfach. Sie haben mir die andere Hälfte der bedungenen Summe zu bezahlen, sobald sich diese Sachen in Ihrer Hand befinden.«

»Nun ja; das ist ja abgemacht!«

»O, noch nicht! Die Sachen befinden sich in Ihrer Hand; das Geld haben Sie nicht. An Stelle desselben soll ich einstweilen eine Anweisung erhalten. Ich habe mich da einverstanden erklärt. Also, bitte, diese Anweisung und dann nehmen Sie die Sachen!«

»Sind Sie des Teufels?« fragte der Freiherr zornig.

»Nein, aber pünktlich bin ich!«

»Sie wollen die Anweisung jetzt gleich haben?«

»Ja.«

»Wo soll ich sie denn hernehmen?«

»Es giebt hier Papier genug, Tinte und Federn auch.«

»Alle Wetter! Sie muthen mir zu, die Schrift hier anzufertigen?«

»Wie Sie hören!«

»Das ist doch unmöglich.«

»Wo soll es sonst möglich sein? Etwa unten auf der Straße?«

»Im Hotel!«

»Sie meinen, daß ich in Ihr Hotel kommen soll? Das kann mir nicht einfallen. Wir dürfen hier nur so lange beisammenbleiben, als es unumgänglich nothwendig ist. Unten auf der Straße trennen wir uns. Es giebt also nur hier die Zeit, die Schrift anzufertigen.«

»Wo denken Sie hin! Wir müssen ja doch machen, daß wir von hier fortkommen!«


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»So außerordentliche Eile hat das nicht. Zeit für ein paar Zeilen giebt es ganz gut.«

»Wenn man uns erwischt!«

»Es kommt kein Mensch.«

»Wenn ich mich aber weigere?«

»So erhalten Sie diese Sachen nicht.«

Er ergriff schnell die Gegenstände und nahm sie an sich.

»Pah!« meinte der Freiherr. »Sie werden sie hergeben!«

»Das werde ich nicht, wenigstens nicht eher, als bis ich die Schuldverschreibung habe!«

»Wollen Sie es etwa darauf ankommen lassen, daß ich Sie zwinge?«

»Wenn es Ihnen beliebt, ja.«

»Also gar auf einen Kampf?«

»Ja.«

»Wir sind Zwei gegen Sie!«

»Lächerlich! Sie haben Schießwaffen, dürfen sie aber nicht gebrauchen, wenn Sie sich nicht verrathen wollen; ich aber habe hier den Todtschläger. Wollen sehen, wer den Kürzeren zieht!«

Sie standen einander so feindselig gegenüber, daß es Theodolinde angst wurde. Sie sah ein, wie nothwendig es war, den Goldarbeiter nicht mißtrauisch zu machen. Darum gab sie ihrem Vater einen schnellen, nur von ihm bemerkten Wink und sagte:

»Keinen Streit! Herr Simeon hat Recht. Es ist zwar keineswegs rathsam, uns länger als unbedingt nöthig hier aufzuhalten; aber Du hast ihm die Verschreibung versprochen und mußt sie ihm also auch geben.«

»Mädchen! Hier schreiben! Bedenke doch!«

»Er kann es verlangen.«

»Er soll ja Alles bekommen. Aber es hieße doch, die Gefahr geradezu an den Hörnern herbeiziehen, wenn ich mich hierher setzen wollte, um in aller Form ein Document anzufertigen.«

»Die Gefahr ist nicht so groß, wie es den Anschein hat. Man wird das Licht nicht auf der Straße sehen. Bitte setze Dich an den Tisch und schreibe.«

»Na, ich will Dir den Willen thun. Aber wenn uns dabei der Teufel holt, so bist Du schuld!«

Er setzte sich an den Schreibtisch und Simeon leuchtete so, daß der Schein der Laterne nur auf den Tisch fiel. Tannenstein nahm einen Bogen des reichlich vorhandenen Actenpapieres und schrieb. Simeon's Blicke folgten den aus der Feder fließenden Buchstaben.

»Sind Sie so zufrieden?« fragte der Tannensteiner, als er fertig war.

»Noch nicht ganz,« antwortete der Goldarbeiter.

»Ich denke doch nichts vergessen zu haben!«

»O doch!«

»Was denn?«


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»Mit dem Inhalte des Geschriebenen bin ich ganz zufrieden. Wie aber nun, wenn Sie diese Zeilen verleugnen?«

»Fällt mir nicht ein!«

»In Geschäften kann man nicht vorsichtig genug sein! Ich kenne Ihre Handschrift nicht.«

»Hier sehen Sie sie doch!«

»Ist sie es wirklich?«

»Sapperment! Glauben Sie etwa, daß ich meine Hand verstellt habe?«

»Das will ich nicht behaupten, obgleich in der Welt sehr Vieles möglich ist. Aber ebenso möglich wäre es, daß ein Anderer behauptete, Sie hätten das nicht geschrieben, oder ich hätte Ihre Handschrift nachgemacht und gefälscht. Darum ist es zu meiner Sicherheit nothwendig, einen unanfechtbaren Beweis zu haben, daß dieses Document wirklich von Ihnen angefertigt worden ist.«

»Wollen Sie etwa meinen Stempel haben?«

»Haben Sie ihn vielleicht mit?«

»Nein. Was verlangen Sie also sonst?«

»Ihr Siegel.«

»Donnerwetter! Meinen Sie, daß ich mein Petschaft so aus langer Weile mit mir herumschleppe?«

»Das Petschaft nicht. Aber ich sehe, daß Sie einen Siegelring anstecken haben.«

»Sie sind ein rechter Satan!«

»O nein! Ich bin nur exact und vorsichtig, wie ich bereits gesagt habe.«

»Aber ich kann doch unmöglich siegeln!«

»Warum nicht? Da auf dem Schreibzeuge liegt ja eine ganze Stange Lack.«

»Wenn ich den anbrenne, leuchtet es bis hinunter auf die Straße!«

»Das wollen wir schon verhüten. Sie siegeln da unter dem Tische. Die Tischplatte dient als Schirm. Es dringt kein einziger Lichtstrahl bis an das Fenster.«

Der Freiherr hätte seinen Dränger am Liebsten gleich niedergeschossen. Das ging aber nicht. Er warf einen fragenden Blick auf seine Tochter. Diese nickte ihm ruhig zu und sagte:

»Thue ihm den Willen, Vater. Er kann es verlangen, denn wir müssen ihn bezahlen.«

»Na, dann meinetwegen! Habe ich geschrieben, so kann ich auch siegeln. Also, leuchten Sie!«

Als er fertig war, gab er die Schuldverschreibung dem Goldarbeiter. Dieser steckte sie befriedigt zu sich und sagte:

»Danke! Jetzt ist Alles in Ordnung, und nun machen Sie da mit den Sachen, was Sie wollen.«

Der Umtausch wurde bewerkstelligt, und dann begaben sie sich hinab nach


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der Thür. Dort angekommen, verlöschte Simeon das Licht, steckte die Laterne zu sich und flüsterte:

»Draußen trennen wir uns sofort. Ich verlasse augenblicklich die Stadt. Sie benützen die Bahn?«

»Natürlich.«

»Bleibt es dabei, daß ich um Mitternacht kommen soll?«

»Na, eigentlich sollte ich Sie zum Teufel jagen. Sie haben da oben nicht etwa manierlich an mir gehandelt!«

»Nun, ich habe thun müssen, was ich meinem Wohle schuldig war. Wenn Sie mir darüber zürnen, so muß ich es eben tragen. Ich würde mich dann nach zwei Tagen einstellen, um das Geld gegen Rückgabe der Anweisung in Empfang zu nehmen. Besser freilich wäre es, wenn Sie mir meine geschäftliche Strenge verzeihen und mir die Erlaubniß geben wollten, Sie heute aufzusuchen.«

»Na, sei es denn. Kommen Sie um Mitternacht!«

»Gut, ich danke! Ich werde meiner Tochter die Schlüssel zustellen und mich dann sogleich auf den Weg machen; denn zu Fuß ist - halt! Still, ganz still!«

Er hatte schon im Begriff gestanden, den Schlüssel anzustecken; da aber erklangen draußen Schritte, welche grad vor der Thür anhielten. Dann hörten die inwendig stehenden Drei die Stimmen zweier Männer, welche sich halblaut unterhielten. Obgleich das Gespräch nur in gedämpftem Tone geführt wurde, war doch ein jedes Wort desselben deutlich hörbar. Man kann sich denken, wie Simeon, Tannenstein und dessen Tochter lauschten, als sie vernahmen, daß von ihnen die Rede sei.

Die beiden Männer waren nämlich Adolf und der Paukenschläger, welche die bereits erzählte Tour machten, um zu sehen, ob das entschwundene Gedächtniß des Zweitgenannten wiederkehren werde. Beide waren an der Thür stehen geblieben, weil Hauck sich erinnert hatte, daß aus derselben drei Personen getreten seien, welche sich mit der vierten dann vereinigt hatten.

Die drei Lauscher horchten in größter Spannung, ja fast athemlos auf die draußen gesprochenen Worte. Sie wagten nicht, sich zu rühren, bis sie überzeugt waren, daß die beiden Sprechenden sich entfernt hatten.

»Sapperment!« sagte nun der Goldarbeiter. »Noch einen Augenblick später, einen einzigen, so wären wir erwischt worden!«

»Wer mögen sie gewesen sein?« fragte der Freiherr.

»Wie? Das wissen Sie nicht?«

»Nein. Kann ich etwa durch das starke Holz dieser Thür hindurchblicken?«

»Das ist nicht nothwendig. Diese eine Stimme muß ich schon gehört haben. Ich denke -«

Er hielt nachdenklich inne. Tannenstein aber bemerkte:

»Ich bin hier in der Residenz fremd. Muthen Sie mir etwa zu, die Stimmen aller Bewohner zu kennen?«


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»Das nicht. Aber der Inhalt des Gespräches muß es Ihnen doch sagen, mit wem wir es zu thun haben.«

»Ich habe keine Ahnung. Der Eine erzählte, daß er uns gestern gesehen habe, als wir hier herausgekommen seien. Dann ist er uns gefolgt.«

»So wissen Sie ja, wer er ist!«

»Eben nicht!«

»Nun, natürlich kein Anderer, als Derjenige, den ich dann niedergeschlagen habe.«

»Alle Teufel! Der!«

»Ja, freilich!«

»Der Paukenschläger also, der Musikus!«

»War er Musikus?«

»Ja. Es stand doch in den Blättern.«

»In den heutigen Nummern, meinen Sie. Die habe ich nicht gelesen. In meinem Versteck ist mir nur eine sehr alte Zeitung in die Hand gekommen. Was hat denn in den Blättern gestanden?«

»Daß dieser Musikus Hauck im Zustande der Besinnungslosigkeit aufgefunden worden sei, daß er noch nicht zu sich gekommen sei, daß man aber vermuthe, er habe den Schlag mit einem sogenannten Todtschläger erhalten.«

»Da hat man freilich sehr richtig vermuthet.«

»Man hoffte, daß sich bei seinem Erwachen Alles aufklären werde.«

»Also war die Verletzung nicht gefährlich?«

»Man glaubte nicht, für sein Leben besorgen zu müssen.«

»Schön! So bin ich also kein Mörder. Und wie wir gehört haben, ist er wirklich wieder zu sich gekommen. Nur die Erinnerung scheint mangelhaft zu sein. Er war also kein Spion, kein Polizist. Er folgte uns nur aus dummer, privater Neugierde!«

»Das hatte er nicht nöthig!«

»Freilich! Er hätte sich den Jagdhieb sparen können. Heute aber scheint es anders zu sein. Heute will er Entdeckungen machen, und der Andere - ah, Sapperment!«

»Was giebt's?«

»Jetzt, jetzt besinne ich mich. Ich kenne den Anderen.«

»Wer ist es?«

»Ich habe ihn an der Stimme erkannt. Er ist ein ganz und gar gefährlicher Kerl - ein Geheimpolizist, der im Dienste des Fürsten von Befour steht. Er und ein College, diese Beiden sind es, denen der Fürst seine eclatanten criminalen Entdeckungen verdankt.«

»Verflucht!«

»Was fluchten Sie?«

»Das können Sie noch fragen?«

»Nun ja. Die Beiden sind jetzt fort; was brauchen Sie sich um sie zu scheeren?«

»Viel, sehr viel, ja außerordentlich viel. So ein Geheimpolizist hört,


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daß wir hier aus der Thür getreten sind. Sie haben doch vernommen, daß dieser Musikus unsere Namen nannte?«

»Leider. Er hat sie gehört, er hat sie verstanden. Gestern war dieser Mehnert so dumm, unsere Namen zu nennen.«

»So müssen Sie also einsehen, welche Gefahr uns droht. Der Polizist sagte jetzt da draußen, daß er sich erkundigen werde, ob ein Freiherr von Tannenstein sich gestern in der Residenz befunden habe.«

»Das wird er freilich erfahren.«

»Wieso denn? Woher?«

»Nun, Sie sind doch polizeilich angemeldet. Ihr Name steht ja im Fremdenbuche.«

»Meinen Sie? O, so dumm bin ich nicht gewesen.«

»Sie haben also einen falschen Namen angegeben?«

»Ja.«

»Das ist gut, sehr gut. Wie aber arrangiren Sie den Kleiderwechsel des gnädigen Fräuleins?«

»Das ist sehr leicht gegangen. Meine Tochter hat über diesen Herrenanzug einen Frauenrock und einen Damenmantel getragen. Beides ist in einer Minute abgelegt.«

»Unterwegs natürlich.«

»Freilich. Von unserem Hotel nach dem Altmarkte kommen wir an einem langen, tiefen Garten vorüber, der an der Hinterseite einer Straße liegt. Dort scheint wenig Passage zu sein. Meine Tochter legte Rock, Mantel und Hut ab. Es war mir ein Leichtes, über das niedrige, eiserne Stacket zu steigen und die genannten Gegenstände unter eine Sträuchergruppe zu verstecken. Dort hole ich sie wieder hervor. Sie werden angelegt; wir steigen in ein Droschke und kehren zurück, wie wir uns entfernt haben. Kein Mensch im Hotel ahnt, daß meine Tochter inzwischen Männerkleidung getragen hat.«

»Schlau angefangen. Aber man darf dem Teufel niemals trauen. Dieser Polizist ist uns auf der Spur. Ich mache, daß ich die Residenz hinter mich bekomme.«

»Nun, das können wir auch thun. Unser Zweck ist erreicht, und so haben wir hier nichts mehr zu suchen. Sind Sie sicher, daß die Beiden, welche da draußen standen, nun fort sind?«

»Ich hörte sie gehen; aber Vorsicht ist immer gut. Wir wollen zunächst einmal lauschen.«

Er steckte den Schlüssel ganz unhörbar in das Schloß und öffnete die Thür nur um eine schmale Lücke, dann langsam weiter und weiter, bis er hinaustrat, um sich umzuschauen.

»Sie können kommen,« sagte er dann, »die beiden Kerls sind wirklich fort.«

»Gut! Also heute Abend?«

»Ja, um Mitternacht an der Linde.«

»Da hole ich Sie ab. Gute Nacht!«

»Gute Nacht!«


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Sie trennten sich. Der Freiherr nahm seine Tochter an den Arm. Die Straßen waren öde. Die Beiden begegneten nur hier und da einem Verspäteten. Und als sie den betreffenden Garten erreichten, lag er so einsam da, als ob er sich nicht mitten in einer Hauptstadt befände. Sie blieben lauschend stehen.

»Hörst Du etwas?« fragte er.

»Nein,« antwortete sie.

»Und mir war es doch so, als ob ich hätte Sand unter irgend einem Fuße knirschen gehört.«

»Du hast Dich getäuscht. Die Angst wirkt auf die Einbildung. Es war nichts.«

»Hoffentlich! Warte hier, bis ich wiederkomme! Ich hole die Sachen heraus.«

Der Freiherr hatte sich nicht getäuscht. Das Geräusch, von welchem er gesprochen hatte, war ihm nicht von seiner Einbildung vorgegaukelt worden, sondern es hatte wirklich stattgefunden. Die Beiden wurden belauscht, und zwar von Einem, der ganz und gar nichts von ihrem Vorhaben ahnen durfte.

Dieser lange, einsame Garten nämlich gehörte zu dem Gebäude, welches Alma von Helfenstein, der 'Sonnenstrahl', bewohnte. Seit Robert Bertram erfahren hatte, daß sie seine Schwester sei, befand er sich täglich bei ihr.

Heute hatte er während des ganzen Abends an ihrer Seite gesessen und von ihr sich erzählen lassen. Die so lange Jahre getrennten Geschwister hatten keinen Blick für die Uhr, kein Maaß für die Zeit gehabt und waren nicht wenig überrascht, als sie bemerkten, daß bereits die zweite Stunde nach Mitternacht vorüber sei.

Jetzt nun verabschiedete sich Robert. Um sich den Weg abzukürzen, beschloß er durch den Garten zu gehen. Er ließ sich den Schlüssel zu der Stacketenpforte gar nicht geben, weil er wußte, daß ein leichter Sprung ihn auf die Straße bringen werde.

In der Ecke des Gartens war der Boden erhöht worden; dort führten einige Stufen in eine offene Laube, aus welcher er in aller Gemüthlichkeit hinaus auf die Straße springen konnte. Er stand bereits im Begriff, in diese Laube zu treten, als er nahende Schritte vernahm.

Er hörte deutlich, daß es zwei Personen waren, welche kamen. Er wollte Sie vorüber lassen, ehe er den Sprung vornahm. Es brauchte ja Niemand zu wissen, daß sich Jemand hier noch so spät im Garten befand. Darum wartete er, sich ruhig verhaltend. Nur einen einzigen Schritt that er, an die Laubenbrüstung vor, ganz unwillkürlich, um einen Blick auf die Passanten zu werfen. Da knirschte der Sand unter seinem Fuße; das hatte der Freiherr gehört.

Sie blieben stehen, und er vernahm, was sie sprachen. Der eine Mann sprang über den Zaun und schritt auf eine Gruppe von Ziersträuchern zu. Noch mehr als das aber fiel Robert der Umstand auf, daß der andere Mann eine hohe, weibliche Diskantstimme hatte.


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Jetzt kam der Erstere zurück, mit einem Päcktchen in der Hand; er stieg wieder auf die Straße hinaus.

»Es lag noch da, wie ich es hingelegt hatte,« sagte er. »Da, zieh zunächst den Rock an. Ich helfe.«

»Gieb her! Es wird doch Niemand kommen?«

»Wohl kaum!«

»Man ist doch immer ängstlich. Gut, daß es vorüber ist!«

»Ja, Gott sei Dank! Nun mögen sie es wagen, diesen Findling als Baron Robert von Helfenstein auszuschreien! Wir werden ihnen einen Strich durch die Rechnung machen, der gar nicht größer sein kann.«

»Wenn es nur gelingt!«

»Pah! Die echte Kette haben wir, auch das richtige Kinderzeug. Wir müssen siegen.«

»Es kostet Geld genug. Hoffentlich nehmen wir es diesem Simeon wieder ab, wenn er heute nach Grünbach kommt. Wann reisen wir?«

»Am Besten ist es sogleich. Halb vier Uhr geht der erste Zug nach Station Wildau; ihn wollen wir benutzen. Je eher wir hier fortkommen, desto früher können wir Athem holen. Es wäre doch ganz verteufelt, wenn man hier den Freiherrn von Tannenstein auf schlüpfrigen Wegen erwischt hätte. Fertig?«

»Ja. Nimm das Paket!«

»Komm!«

Sie gingen.

Kein einziges Wort war dem Lauscher entgangen. Er stand noch einige Secunden lang bewegungslos, nicht aus Berechnung, sondern aus Ueberraschung, welche man sogar hätte Bestürzung nennen können.

Was war aber gesagt worden? Er wiederholte sich die Worte. Er selbst war gemeint; da gab es keinen Zweifel. Er wußte auch, daß es einen Freiherrn von Tannenstein gebe, welcher auf Rittergut Grünbach wohnte. Er hatte vom Fürsten gehört, welches Rencontre dieser mit ihm auf Schloß Hirschenau gehabt hatte. Es durchzuckte ihn hell, wie ein Blitzstrahl, und da - hopp, stand er draußen auf der Straße und eilte den Beiden mit möglichst gedämpften Schritten nach.

Sie waren noch nicht weit entfernt. Er sah sie in ein Gasthaus mittleren Ranges treten. Dieses gehörte zu den Etablissements der Residenz, welche die Erlaubniß besaßen, während der ganzen Nacht geöffnet zu sein. So war es ihm also möglich, auch einzukehren.

Er hatte zuletzt seine Schritte so beschleunigt, daß er, als er durch die Thür trat, bemerkte, daß die Beiden die Treppe emporstiegen. Soeben kam der Hausknecht diese Treppe herab. Robert hörte, daß er einen Befehl von den Beiden bekam; dann trat er in das Gastzimmer, wo er sich eine Tasse Kaffee geben ließ. Er wollte seine Erkundigung nicht im Augenblick anbringen, weil dies zu auffällig gewesen wäre. Erst nach einer kleinen Weile ging er


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hinaus. Er traf den Hausknecht im Flur, wo er Stiefeln wichste. Er steckte ihm einen Gulden in die Hand und fragte:

»Kennen Sie den Herrn, welcher von wenigen Minuten mit der Dame zurückkehrte?«

Der Gefragte betrachtete den Gulden, machte eine sehr tiefe, respectvolle Verbeugung und antwortete:

»Natürlich kenne ich sie. Sie logiren ja hier bei uns.«

»Seit wann?«

»Seit gestern Nachmittage.«

»Was ist der Herr?«

»Kaufmann aus Kirchenbach. Moosberg ist sein Name. Scheint reich zu sein, der Mann.«

»Ist die Dame seine Frau?«

»Gott bewahre! Seine Tochter!«

Und als ob er erst jetzt ahne, weshalb Robert Bertram sich nach den Beiden erkundige, sagte er:

»Sie ist also unverheirathet! Hübsches Mädchen! Sehr hübsch; nicht wahr?«

Dabei kniff er das eine Auge zusammen und nickte Robert höchst pfiffig zu. Dieser hielt es für das Beste, auf die Ansicht des Menschen einzugehen. Darum antwortete er:

»Ja, sehr hübsch! Also reich ist sie?«

»So scheint es.«

»Wie lange bleiben sie hier?«

»Hm! Lieber Herr, Sie dauern mich!«

»Warum?«

»Weil ich Ihnen keinen guten Trost geben kann. Sie werden wohl auf das Fräulein verzichten müssen.«

»Sapperment! Hat sie schon einen Anderen?«

»Das weiß ich nicht. Aber, Sie wohnen hier?«

»Ja.«

»Da ist es schon so, wie ich dachte: Sie werden verzichten müssen, denn die Beiden reisen ab.«

»Wann?«

»In einer halben Stunde habe ich die Droschke nach der Bahn zu besorgen.«

»Das ist freilich höchst unangenehm.«

»Ja. Mir sehr oft passirt. Man muß resigniren. Andere Städtchen, andere Mädchen. Ist's nicht die Eine, so ist es doch die Andere. So ein Herr, wie Sie es sind, bekommt allemal eine Andere. Darauf können Sie sich verlassen.«

Jetzt wußte Robert genug. Seine Tasse Kaffee hatte er gleich bezahlt. Er brauchte gar nicht wieder in das Gastzimmer zurückzukehren. Er ging.

Er befand sich ganz außer allem Zweifel über das, was er zu thun hatte.


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Er blieb ein kleines Weilchen halten, nur um zu überlegen, ob er allein bleiben oder vielleicht auf der Polizei um einen Begleiter bitten solle. Nach Hause konnte er nicht erst; dazu blieb ihm keine Zeit.

Er überlegte noch. Da kam ein Herr die Straße herauf, mit einem Reisekoffer in der Hand. Die Gaslaterne brannte nicht sehr hell. Der Herr ging vorüber, ohne zu grüßen. Robert blickte auf. Diese Gestalt kam ihm bekannt vor.

»Herr Doctor sind Sie es?« fragte er.

Der Andere drehte sich um.

»Meinen Sie mich?«

»Ja. Hoffentlich irre ich mich nicht. Ja, Sie sind es!«

"Ah, Herr Bertram."

»Ah, Herr Bertram! Guten Morgen! Was thun Sie hier, so spät vielmehr so früh? Ich will nicht hoffen, daß Sie anfangen, über den Strang zu schlagen!«

»Nein, das thue ich freilich nicht. Sie wollen verreisen?«

»Ja, nach Reitzenhain.«

»Sapperment! Meinen Sie Bad Reitzenhain?«

»Ja.«

»Man fährt nach Station Wildau?«

»Gewiß. Von dort fährt man mit der Post nach Reitzenhain. Wollen Sie mit?«

Er fragte natürlich nur im Scherze und war daher ziemlich erstaunt, als er die Antwort hörte:

»Sehr gern. Ich will auch hin.«

»Sie nach Reitzenhain?«

»Ja, und noch weiter, nach Grünbach.«

»Haben Sie dort zu thun?«

»Ziemlich viel.«

»Wie lange?«

»Das weiß ich nicht. Ich habe mich erst vor fünf Minuten zu dieser Fahrt entschlossen.«

Sie waren neben einander her gegangen. Jetzt blieb Doctor Holm erstaunt stehen und fragte:

»So weiß man bei Ihnen daheim gar nicht, daß Sie nach Reitzenhain wollen?«

»Nein. Ich werde sie durch einen Dienstmann benachrichtigen.«

»Das klingt ja sehr geheimnißvoll!«

»Ist es auch. Ich will ein Geheimniß entdecken.«

»Sapperment! Ich auch.«

»Wo?«

»In Grünbach droben.«

»In Grünbach, wo auch ich ein Räthsel verfolge?«

»Sonderbar, lieber Bertram! Auch ich bin erst seit drei Minuten auf den Gedanken gekommen, da droben ein Geheimniß zu ergründen.«


Ende der achtundneunzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der verlorne Sohn

Karl May – Forschung und Werk