Lieferung 91

Karl May

22. Mai 1886

Der verlorne Sohn
oder
Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.


// 2161 //

»Laß' los - sonst - - -!«

Seidelmann ließ wirklich los und stieß einen Ruf des Schreckens aus. Sein Auge war auf die Thür gefallen, unter welcher jetzt der Förster erschien. Der Apotheker aber, welcher der Thür den Rücken zukehrte, glaubte, er selbst sei es, der ihm solchen Schreck verursacht habe. Er lachte höhnisch auf und sagte:

»Da hat man die feige Memme! Erst droht sie, und im nächsten Augenblicke zittert sie vor Angst. Seidelmann, Dich holt der Teufel noch lange nicht; Du bist ihm zu armselig. Da kann er mich viel besser und eher gebrauchen.«

»Darum holt er Dich jetzt!« erklang es hinter ihm.

Er fuhr herum, ließ das Messer fallen und fuhr so weit zurück, daß er fast in den Schacht gestürzt wäre. Der Förster war herein getreten. Er hielt das Gewehr in der einen Hand »bei Fuß« und in der anderen die Laterne, welche er draußen angebrannt hatte, ohne daß es die Beiden im Inneren bemerkt hatten. Ueber seine beiden Achseln ragten die Gewehrläufe seiner zwei Begleiter, welche hinter ihm standen, herein.

»Heiliger Gott!« stieß der Apotheker hervor.

»Rufe den Himmel nicht an, nachdem Du gesagt hast, daß Dich der Teufel braucht, Schurke!« donnerte ihm Wunderlich entgegen.

»Wer sind Sie? Was wollen Sie?« fragte Horn dennoch.

»Der Teufel bin ich, und Dich will ich, Giftmischer! Halt, keinen Schritt vor! Laß' das Messer liegen. Sobald Du Gegenwehr versuchst, bekommst Du eine Kugel!«

Und sich an den frommen Schuster wendend, sagte er:

»Guten Morgen, mein verehrtester Herr Seidelmann! Was giebt mir denn die Ehre Ihrer Anwesenheit? Wollen Sie vielleicht wieder einmal Kirche halten im Saale der Schänke?«

Der Gefragte antwortete nicht.

»Da mag nur Ihre liebe Familie wieder für sammtne Sesseln sorgen, damit die Herrschaften hübsch weich sitzen! Wo ist denn eigentlich das Geld hingekommen, welches damals eingesammelt wurde?«

»Vertheilt,« stieß der Gefragte hervor.

»Ach so! Man hat aber leider nichts davon bemerkt. Und was ist aus den sechstausend Gulden geworden, welche Sie damals im Auftrage der Brüder und Schwestern der Seligkeit hier im Gebirge vertheilen sollten, um das Elend, welches bei uns herrschte, zu mildern?«

»Vertheilt,« erklang es wieder.

»Wunderbar! Auch vertheilt! Und abermals hat kein Mensch etwas davon bemerkt! Sie werden Gelegenheit bekommen, es zu beweisen, hochehrwürdigster Schuster! Man ist sehr begierig, Sie zu sehen und Ihnen die ehrerbietigste Hochachtung zu erweisen, besonders in der Residenz. Sie haben doch die Güte, uns zu begleiten?«

»Ich habe mit Ihnen nichts zu schaffen!«


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»Aber wir mit Ihnen. Und zur Erleichterung eines intimen Verkehres habe ich einige gute Riemen und feste Schnuren mitgebracht. Sie sind meine Gefangenen!«

Der Apotheker hatte sich noch nicht von der Stelle bewegt. Seidelmann stand so, daß nicht gut auf ihn gezielt werden konnte. Die zwei Laternen verbreiteten jetzt eine größere Helle als vorhin die eine, und bei diesem Scheine sah er, daß zwei ganz morsche Bretter der Wand nur ganz lose noch zusammen hingen. Ein Gedanke der Rettung durchzuckte ihn. Nur hinaus in die finstere Nacht! War er draußen, so fand man ihn sicherlich nicht wieder. Er sah den Hund nicht, welcher hinter den drei Männern stand.

»Ich, Ihr Gefangener?« rief er. »Noch nicht!«

Er that einen Sprung vorwärts und prallte so an die Bretterwand, daß die morschen Hölzer hinaus flogen. Es entstand eine genügend große Oeffnung für ihn. Im Nu war er hindurch und hinaus.

Wilhelmi war beim Sprunge des Schusters schnell weiter herein getreten, um auf ihn schießen zu können. Er hätte ihn auch sicher getroffen, aber der alte Förster hielt ihn davon ab, indem er lachend sagte:

»Lassen Sie ihn laufen! Wir dürfen ihn nicht erschießen; wir müssen ihn lebendig haben! Passen Sie aber hier auf den Giftmischer auf. Wenn der sich von der Stelle bewegt, jagen Sie ihm Ihre Kugeln in den Kopf.«

Darauf hin richteten sich die zwei Gewehrläufe auf Horn. Sein Hund lag noch an der Erde. Es war ihm nicht eingefallen, Seidelmann zu verfolgen. Sein Herr hatte es ihm ja nicht befohlen. Dieser aber sagte jetzt:

»Pluto, horch! Hörst Du es? Da unten will er entkommen. Spring ihm nach! Faß' ihn!«

Im Nu war der Hund aufgesprungen und in der Nacht verschwunden. Man hörte Büsche krachen, Steine rollen, dann einen lauten, menschlichen Schrei und endlich ein lautes, zorniges Bellen. Wunderlich trat an den Rand der Haldenplatte und rief hinab:

»Seidelmann, bewegen Sie sich um Gottes willen nicht, der Hund zerreißt Sie sonst!«

Ein lautes Stöhnen antwortete:

Jetzt nun trat der Alte wieder in das Häuschen.

»Wir haben ihn fest,« sagte er, »wenigstens ebenso fest wie diesen da. Zielt nur genau. Ich will ihn jetzt binden. Wenn er sich wehrt, so schießt Ihr ihn nieder!«

Er zog seine Riemen, welche er in vorsorglicher Weise zu Hause eingesteckt hatte, aus der Tasche und trat zu dem Apotheker heran, um ihn zu fesseln.

»Sie haben mich weder zu arretiren noch zu binden!« sagte dieser in zornigem Tone.

»Ach! Warum den nicht?«

»Sind Sie etwa Polizist?«

»Ja.«

»Sie tragen doch die Uniform eines Försters!«


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»Ganz recht! Wir befinden uns hier auf meinem Revier, wo ich das Recht und die Pflicht habe, polizeiliche Gewalt auszuüben. Haben Sie sonst noch Schmerzen, Herr Horn?«

»Ich heiße nicht Horn.«

»Wie denn?«

»Das geht Sie nichts an! Was habe ich denn gethan, daß Sie es wagen, mich zu arretiren?«

»Zunächst befinden Sie sich in der Gesellschaft des holdseligen Herrn Seidelmann. Das wäre bereits genug Veranlassung für uns, uns Ihrer anzunehmen. Sodann haben Sie mir da unten ein Kibitznest ausgeräumt, und das darf ich als Förster nicht zugeben. Wollen Sie etwa noch weitere Gründe hören? Ich stehe zu Diensten.«

»Sie irren sich in meiner Person. Ich bin nicht Derjenige, für den Sie mich halten.«

»Für wen soll ich Sie denn halten? Sie brauchen nur zu befehlen! Etwa für den Propheten Bileam oder gar für seinen Esel? Ganz wie Sie wollen.«

»Ich verbitte mir solche alberne Witze!«

»Sie haben sich nichts zu verbitten; Sie haben nur zu befehlen, wie ich Ihnen bereits sagte. Wer Sie sind, das wird sich sofort herausstellen, wenn wir Sie zum Fürsten von Befour bringen.«

»Zum Fürsten,« sagte Horn unbedacht. »Ist er denn da?«

»Ei freilich! Er erwartet Sie mit Schmerzen. Also geben Sie hochdero Arme her, damit ich Sie mit dem Orden des Hosenbandes kröne!«

»Das gebe ich nicht zu!«

Da legte ihm der Alte die Hand auf die Achsel und sagte:

»Höre, alter Urian, verdirb mir meine gute Laune nicht! Jetzt bin ich gut gewesen. Bringst Du mich aber in die Wolle, so sieh, wie es dann geht!«

»Wie soll es dann gehen! Ich - - -«

»So wird es gehen!« donnerte ihn der Förster an.

Er holte mit beiden Händen aus; sechs blitzschnell aufeinander folgende Hiebe mit jeder Hand, und Horn hatte ein Dutzend so kräftiger Ohrfeigen erhalten, daß ihm buchstäblich Hören und Sehen verging. Ehe er nur recht zur Besinnung kam, waren ihm die Ellbogen auf dem Rücken zusammen gebunden, daß er dachte, die Brust müsse ihm auseinander platzen.

»Au weh!« rief er laut. »Nicht so fest!«

»Hättest Du vorhin das Maul aufgethan. Jetzt ist es zu spät. Jetzt nun wird gar kein Summs gemacht!«

Er band die Strickleiter ab, legte sie zusammen und steckte sie in den Gurt.

»Die wollen wir mitnehmen,« meinte er, »damit nicht vor der Zeit noch ein Unberufener über das Nest kommt. Nehmt Ihr Beide die Laternen, und ich nehme den guten Freund da. Vorwärts, zum Hunde!«

Er faßte Horn beim Riemen und schob ihn vor sich her. Der Gefangene


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konnte nicht widerstreben. Er mußte gehorchen. Als sie eine Strecke abwärts geklettert waren, rief der Alte:

»Pluto, wo bist Du?«

Ein lautes, freudiges Bellen antwortete. Dieses Fragen und Bellen wiederholte sich, bis Sie dem Orte, an welchem Seidelmann sein mußte, schnell näher kamen.

Es gab da eine förmliche Bahn, die über zusammen geknicktes Buschwerk führte.

»Seht,« sagte der Alte, »hier sind sie herabgekugelt, der Hund und der Schuster. Wir werden sie gleich erreicht haben. Um Gottes willen, horcht!«

Sie blieben stehen. Ganz in der Nähe hatte der Hund drohend oder warnend aufgeknurrt, dann erscholl ein schriller, unbeschreiblicher Schrei, nach welchem sich das Knirschen zermalmter Knochen hören ließ.

»Alle Wetter!« rief Wunderlich. »Er hat einen Versuch gemacht, noch jetzt, im letzten Augenblicke, zu entkommen; aber Pluto hat ihn festgebissen. Schnell hin!«

Der Hund stand funkelnden Blickes über ihm.

Jetzt war ein lautes Wimmern ihr Führer. Zwischen zwei Sträuchern lag Seidelmann auf dem Rücken; der Hund stand funkelnden Blickes über ihm und hatte ihn bei dem einen Arme gepackt.

»Zurück, Pluto!«

Das Thier verließ sofort den Schuster und kam wedelnden Schweifes zu seinem Herrn. Dieser bückte sich zu Seidelmann nieder, um den Arm zu untersuchen.

»Einfältiger Mensch,« sagte er. »Habe ich Dich nicht gewarnt? Du hast dennoch entfliehen wollen, und da hat er Dich beim Arme festgehalten, leise erst, wie es seine Art ist; da Du ihm aber hast den Arm entwinden wollen, so hat er fester zugebissen. Nun ist der Arm zermalmt, fast zu Brei. Wenn Du kein Krebs oder Regenwurm bist, so wächst er Dir nicht wieder!«

Seidelmann antwortete nur mit einem Wimmern. Er erhob sich und leistete nicht den geringsten Widerstand, als er am gesunden Arm mit dem Apotheker zusammen gebunden wurde.

Nun brach man nach dem Försterhause auf. Dort brannte kein Licht, als aber der Alte in seiner bekannten Weise pfiff, trat Frau Barbara unter die Thür.

»Bist Du es, Vater?« fragte sie.

»Ja, Bärbchen. Sind die Burschen daheim?«

»Noch nicht.«

»Na, ich brauche sie auch nicht. Ich komme nur, um Dir zu sagen, daß Du keine Sorge um mich zu haben brauchst. Lege Dich in Gottes Namen schlafen. Wir haben die Karnickel erwischt, hier sind sie, und werden sie jetzt gleich zum Fürsten schaffen. Gute Nacht!«

Die Gefangenen zwischen Wilhelmi und Schulze, der Förster mit dem Hunde hinter her, so ging es jetzt nach dem Orte hinein und denselben hinauf bis zum früheren Seidelmann'schen Hause, in welchem jetzt die Familie Hauser wohnte. Es brannte noch Licht. Es waren in Folge der Hochzeit


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noch nicht alle Bewohner zu Bette gegangen. Als die Ankömmlinge in die untere Stube traten, befand sich der Bräutigam noch da.

»Der Förster?« fragte er erstaunt. »Wen bringst Du denn da?«

»Gucke Dir den Kerl nur an!«

»Mein Gott! Seidelmann! Und dieser Andere? Ah, das ist gewiß der Apotheker, der auch gesucht wird. Wo habt Ihr sie denn gefangen?«

»Davon nachher! Nicht wahr, der Fürst schläft?«

»Schon längst, aber ich werde ihn wecken!«

»Oho! Das überlaß' nur mir! Ich will auch meinen Spaß bei der Geschichte haben. Zeige mir seine Thür!«

Diese befand sich eine Treppe hoch. Dort angekommen, klopfte der Alte an, als ob er Todte erwecken wolle.

»Durchlaucht! Durchlaucht!« rief er dabei.

»Wer ist draußen?« fragte der Erwachte.

»Der Vetter Wunderlich.«

»Was giebt es denn?«

»Schnell aufgestanden! Wir haben Sie.«

»Wen denn?«

»Den frommen Seidelmann und seinen Apotheker.«

»Ah! Warte einen Augenblick!«

Nach noch keiner Minute wurde die Thür geöffnet, obgleich der Fürst noch nicht alle Stücke seines Anzuges angelegt hatte. Er fragte den eintretenden Förster:

»Ist's Ernst oder Scherz?«

»Donnerwetter! Sehe ich so spaßhaft aus?«

»Allerdings nicht, sondern gerade wie ein Feldherr, der eine Schlacht gewonnen hat.«

»Die habe ich auch gewonnen.«

Er erzählte das Abenteuer, während der Fürst sich ankleidete. Dann begaben sich Beide hinab. Die Gefangenen wagten kaum, die Augen aufzuschlagen, als der Fürst eintrat. Er sprach kein Wort zu ihnen; er sagte nur zu den anderen Anwesenden:

»Sie sind es. Eduard, schnell einen Wagen besorgt. Ich muß mit ihnen nach Brückenau auf die Bahn, um sie mit dem ersten Zuge nach der Residenz zu bringen.«

Eduard eilte fort, und der Fürst wendete sich an den Förster, an Wilhelmi und Schulze:

»Sie wissen, welcher Preis auf die Ergreifung dieser Beiden ausgesetzt ist?«

»Ja,« antwortete Wunderlich. »Viertausend Gulden in Summa. Nicht?«

»Ja. Ihr habt sie zu bekommen. Nur theilt sich diese Summe gerade schlecht unter Dreien.«

»Sie wird sich schon theilen unter Zweien!«

»Unter Zweien? Wie ist das gemeint?«


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»Na, ich nehme nichts. Ich habe zu leben, und ich habe keine Kinder. Diese Beiden aber sind arm und haben zahlreiche Familie.«

»Bravo, Alter! Dennoch sollst Du nicht zu kurz kommen. Ich hätte aus meiner Tasche noch zweitausend Gulden darauf gelegt; aber das ist ja nicht nöthig. Nächstens werde ich große Waldungen besitzen, und da wirst Du Oberförster. Willst Du?«

Da leuchteten die Augen Wunderlich's auf, und sein Gesicht glänzte vor Entzücken. Er fragte:

»Ist's wahr?«

»Ja. Es ist sicher.«

»Oberförster bei Ihnen! Na, dann habe ich ja Alles, was ich auf Erden haben kann. Donnerwetter! Was wird die Barbara dazu sagen!«

»Das wirst Du gleich hören. Lauf' schnell nach Hause und erzähle es ihr!«

»Ah! Werde ich nicht gebraucht?«

»Später. Du wirst sie mit nach der Residenz bringen. Dort soll man doch den sehen, der sie gefangen hat.«

»Alle Wetter, das wäre fein!«

»Also lauf' zu Deiner Alten, nimm Abschied von ihr und bringe mit, was Du zur Reise brauchst. Sobald angespannt ist, geht es fort.«

»Ich laufe, ich eile, ich fliege!« damit stürmte er hinaus. Noch draußen auf der Dorfstraße jubelte er laut: »Oberförster! Oberförster beim Fürsten des Elendes, bei Vetter Arndt! Bärbchen, altes Reibeisen, wenn Dich da nicht die Freude um den Verstand bringt, so hast Du überhaupt niemals welchen gehabt! Oberförster! Himmelbataillon!«

Während die beiden Gefangenen, von den Uebrigen abgewendet, da saßen, der Apotheker im Inneren grimmig fluchend, Seidelmann vor Schmerz mit den Zähnen knirschend, streckte der Fürst ihren beiden Wächtern die Hände entgegen, indem er sagte:

»Sie haben nicht nur dem Staate, sondern auch mir persönlich einen sehr großen Dienst erwiesen, für den ich Ihnen danken muß. Ihre Namen werden in allen Zeitungen ehrenvoll genannt werden. Das Liebste aber wird bei Ihrer Armuth Ihnen noch die Prämie sein?«

»Ja freilich!« antwortete Schulze. »Nur fragt es sich, ob wir sie auch wirklich bekommen werden.«

»Ohne allen Zweifel. Sie kann Ihnen gar nicht abgesprochen werden, und da ich zufälliger Weise eine solche Summe bei mir habe, so sollen Sie das Geld gleich jetzt erhalten.«

»Herrgott! Ist's wahr, Durchlaucht?«

»Wie Sie sehen. Hier!«

Er öffnete sein Portefeuille, zog mehrere Banknoten heraus und zählte sie auf den Tisch.

»Nehmen Sie, und eilen Sie nach Hause, um die frohe Botschaft so bald


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wie möglich zu bringen. Die Quittung wird man später von Ihnen verlangen.«

»Aber,« meinte Wilhelmi, »sollen wir nicht lieber die Gefangenen bewachen, bis es fortgeht?«

»Das ist nicht nothwendig. Ich bin selbst da.«

»Was wird mit dem Loch im Zechenhäuschen?«

»Das überlassen Sie dem Staatsanwalte, den ich von Brückenau sofort hersenden werde.«

»Und mit dem Arme Seidelmanns?«

»In Brückenau giebt es einen Arzt. Bis dahin muß er sich gedulden. Es kann ihm überhaupt gar nichts schaden, wenn er einige Schmerzen erleidet. Er hat die Freuden der Frommen und Seligen so lange Zeit genossen, so daß er auch einmal die Leiden der Gottlosen schmecken kann. Gehen Sie in Gottes Namen!«

Sie hatten Beide Freudenthränen in den Augen, als sie ihm die Hände dankend entgegen streckten, und man kann leicht denken, welche Seligkeit es daheim in ihren ärmlichen Wohnungen gab, als sie die beglückende Botschaft brachten und das Geld auf die Tische legten. Die Frau von Schulze sagte:

»Nun brauche ich Dir keine Suppe von Kartoffelschalen mehr zu machen. Gott segne den Fürsten!«

Und Wilhelmi's Schwiegermutter meinte:

»Erinnern Sie sich noch, lieber Sohn, meiner Cigarren, die Sie nicht rauchten, um sie verkaufen zu können? Jetzt dürfen Sie auch darin nicht mehr darben. Die Noth hat ja ein Ende. Gott segne den Fürsten!«

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Papa Wunderlich war für einige Tage der vielgesuchteste Mann der Residenz. Alle Welt wollte den Förster sehen, welcher die beiden Flüchtlinge ergriffen hatte und - er ließ sich auch sehen, stolz in seiner neuen Uniform durch die Straßen paradirend.

Seine größte Freude aber war, daß er seinen alten Freund und Forstkollegen Brandt wieder sah. Er wurde von diesem in die Geheimnisse des Fürsten des Elendes eingeweiht und kehrte zu seiner Barbara zurück, ganz begierig, sie auf das Glück vorzubereiten, welches ihrer in der verheißenen Oberförsterei wartete.

Jetzt nun hatten Staatsanwalt und Untersuchungsrichter endlich alle Verbrecher beisammen, und es wurden nun die umsichtigsten Vorkehrungen getroffen, sie vollständig von der Außenwelt abzusondern und jedes Entkommen eines derselben zu verhüten.

Eigentlich begann die Untersuchung erst jetzt. Welchen Verlauf sie nahm und welche Ergebnisse sie brachte, darüber wurde das tiefste Stillschweigen beobachtet. Aber die Bevölkerung des ganzen Landes und weit darüber hinaus befand sich in einer Spannung, welche das Warten auf den Schluß der Voruntersuchung fast quälend machte. - -

Eines Abends um diese Zeit war der Oberst von Hellenbach nebst seiner


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Gemahlin zu Hof geladen. Fanny, ihre Tochter, war in das Theater gefahren, wo eine der beliebtesten Opern gegeben wurde, und es war ganz natürlich, das Robert Bertram sie begleitet hatte.

Er war jetzt fast so viel in dem Hellenbach'schen Hause wie in dem Häuschen in der Siegesstraße.

Er als Dichter war ganz auf der Scene; Fanny aber musterte das Publikum hin und wieder durch das Opernglas. Da, während einer Gesangspause, berührte sie seinen Arm und sagte:

»Bitte, sehen Sie einmal zweiten Rang, Seitenloge, die Dame im schwarzen Anzuge!«

»Interessiren Sie sich für sie?« fragte er gleichgiltig, ohne den Blick nach dem bezeichneten Platz zu erheben.

»Sehr!«

Jetzt sah er empor, zuckte aber sofort zusammen. Zwei nachtdunkle und doch glühende Augen waren mit einem Blicke, der ihn schaudern ließ, auf ihn gerichtet.

»Judith!« sagte er.

»Ja, es ist die Jüdin,« meinte Fanny. »Ich beobachte sie bereits seit längerer Zeit. Sie hat den Blick noch keine einzige Secunde von uns gewendet. Selbst wenn sie ihrer Nachbarin eine hastige Bemerkung zuraunt, blickt sie nicht von uns hinweg. Man möchte sich wirklich vor ihr fürchten. Es liegt ein Haß in ihrem Blicke, der zu Allem fähig ist. Warum aber haßt sie mich?«

Robert antwortete nicht. Er kannte gar wohl den Grund dieses bodenlosen Hasses.

»Sie war es ja auch, die damals mein Pferd so scheu machte, daß es mich abwarf. Mir graut vor ihr.«

Sie zog die Schultern empor, schüttelte sich und wendete sich nach den anderen Seite.

Judith war mit ihrer Freundin Sarah Rubinenthal in das Theater gegangen, nicht etwa weil sie es vorher beabsichtigt hatten, sondern weil sie am Fenster gestanden hatten, als Fanny und Robert in den Wagen gestiegen waren. An Fanny's Toilette war zu erkennen gewesen, daß sie das Theater besuchen werde.

Nun saß die schöne, vor Liebe und Eifersucht glühende Jüdin in ihrer Loge und verwendete keinen Blick von den Beiden. Zwar war Robert's Aufmerksamkeit während der Vorstellung auf die Bühne gerichtet; aber vor dem Beginn und in den Pausen beschäftigte er sich doch mit Fanny. Und da war aus jeder seiner Mienen und aus jedem seiner Blicke zu lesen, daß seine ganze Seele in der wunderbar schönen Nachbarin aufgehe.

Judith beobachtete das und raunte ihrer Nachbarin die wüthendsten Bemerkungen zu.

»Sieh' diesen Blick!« sagte sie. »Er glüht vor Liebe. Er könnte


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tausendmal für sie sterben, aber nicht eine Minute für mich leben. O, dieses Mädchen, wie hasse, hasse, hasse ich es!«

Und dann wieder:

»Jetzt schaut sie ihn an! Sie beachtet ihn, ohne daß er es bemerkt! Sie studirt sein Gesicht, sein schönes Gesicht mit den reinen, edlen, geistreichen, schwermüthigen Zügen. Wie ihr Auge strahlt! Wie ihr Mund lächelt! Wie entzückt und in ihn versunken sie ist! Jetzt dreht er sich zu ihr. Sein Auge ertappt das ihrige. Sie erröthet, er auch. Sie wenden sich wieder ab, aber mit welchen Gesichtern! Auf den ihrigen strahlen zehn Himmel und auf dem seinigen zehn Seligkeiten.«

»Sieh doch nicht hin!« meinte die Buckelige.

»Nicht hinsehen? Bist Du toll! Muß ich nicht hinsehen immer und immer wieder? Ist nicht meine Seele gebunden und gekettet an seine Seele und mein Leben an sein Leben! Hätte sie doch damals auf der Straße den Hals gebrochen! Aber sie wird ihn noch brechen, sie soll und muß ihn noch brechen!«

»Willst Du ihr ihn brechen?«

»Wenn ich kann, so thue ich es! Sie sieht auch uns. Sie belorgnettirt mich. Jetzt mach sie ihn auf mich aufmerksam. Er sieht herauf. Er erkennt mich. Sein Blick ist wie Eis. Er dreht sich gleichgiltig ab. Und sie? Gott meiner Väter, sie schauert vor mir! Ist sie etwa reicher als ich? Ist sie schöner? Schöner - ah, schöner! Das ist der Gedanke; das ist er! Und da sie vor mir schaudert, soll man auch vor ihr schaudern! Ich wollte es nicht thun. Nun aber thue ich es!«

Sie stand auf.

»Wohin?« fragte die Freundin.

»Nach Hause. Ich habe Kopfweh. Bleibe Du nur hier!«

Sie drückte sie, die sich auch erheben wollte, nieder und entfernte sich.

Sie bewohnte das älterliche Haus jetzt ganz allein. Man hatte auch ihre Mutter als Mitschuldige eingezogen.

In dem alten, vereinsamten Hause angekommen, kleidete sie sich vollständig um. Sie legte einen alten Frauenanzug an, den ihr Vater für ein Billiges gekauft hatte, und hüllte die ganze Gestalt sammt dem Gesichte in ein weites, dunkles und auch sehr altes Tuch ein. So eingewickelt sah sie aus wie ein altes Weib aus niedrigstem Stande.

Jetzt öffnete sie einen Schrank, in welchem allerlei Fläschchen standen. Sie suchte eins derselben hervor, auf welchem ein Todtenkopf gemalt war, darunter die Worte »Rauchende Schwefelsäure«.

»Das ist es, was in einer Minute das Fleisch von dem Knochen frißt!« sagte sie. »Ihre Schönheit soll vernichtet werden, so häßlich, daß ihm graut, sie anzusehen. Ich werfe ihr das Fläschchen in's Gesicht, wenn sie aus dem Theater kommt. Aber, das wird nicht wirken. Die Schwefelsäure muß in einem offenen Gefäße sein. Ich nehme noch eine alte Tasse mit. Das ist besser. Ja, ich habe es nicht thun wollen; aber sie liebt ihn und er liebt


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sie, und sie ist vor mir zusammengeschaudert. Darum soll er nun vor ihr schaudern! Und dann wird er kommen zu mir, weil ich bin schöner als sie, tausendmal schöner! Und ich werde ihn empfangen mit der Zärtlichkeit einer Braut, und mit Liebesgluth, in der sein Herz aufflammen soll.«

Sie steckte das Fläschchen mit der rauchenden Schwefelsäure ein und die Tasse dazu und begab sich, nachdem sie das Haus wieder verschlossen hatte, nach dem Eingange des Theaters, in dessen Nähe, wie sie wußte, die Hellenbach'sche Equipage zu halten pflegte.

Dort stellte sie sich hinter eine Säule, wo es dunkel war und man sie also nicht bemerken konnte. Hier wartete sie bis zum Schlusse der Vorstellung. Die Zuschauerräume entleerten sich. Jetzt trat sie aus dem Verstecke hervor. Sie bemerkte die erwartete Equipage und huschte hinter dieselbe.

Niemand hatte Acht auf sie. Die Meisten entfernten sich sofort, zu Fuße oder zu Wagen. Andere standen in Gruppen beisammen, um sich über die beendete Vorstellung noch einige Bemerkungen zuzuwerfen. Da trat Robert Bertram mit Fanny von Hellenbach aus dem Portale. Er nahm ihren Arm und führte sie zur Equipage.

»Sie begleiten mich doch bis zum Hause?« fragte sie.

»Gern, sehr gern,« antwortete er in glücklichem Tone.

Sie traten zum Wagen. Der Diener hatte am Schlage gewartet und öffnete denselben. Da trat Judith herbei. Noch war sie ihrer Sache nicht ganz sicher, da Fanny im Schatten der Gaslaterne stand und ihr Gesicht nicht ganz deutlich zu erkennen war.

»Sind Sie Fräulein von Hellenbach?« fragte die Jüdin.

»Ja,« antwortete Fanny! »Was wünschen Sie?«

Judith hatte den Inhalt des Fläschchens in die offene Tasse gegossen. Sie trat schnell ganz nahe heran und antwortete:

»Ich wünsche nichts; ich will Ihnen vielmehr etwas geben. Hier haben Sie es!«

Sie holte aus, um ihr die fressende Säure in das Gesicht zu schleudern.

Robert hatte zwar die verhüllte Gestalt hinter dem Wagen bemerkt, doch kein Befremden empfunden. Aber als sie näher trat und nach dem Namen der Geliebten fragte, überkam ihn ein plötzlicher Verdacht, denn er erkannte die Stimme der Jüdin. Er bog den Kopf weit vor und erblickte trotz der Verhüllung die israelitische Nase und die funkelnden Augen. Als sie mit der Tasse ausholte, erfaßte er den Arm des Mädchens. Er konnte ihn nicht vollständig zurückhalten, aber die Säure flog wenigstens Fanny nicht in das Gesicht.

»Unglückliche! Was fällt Dir ein!« rief er, sie am Arme festhaltend.

Sie wollte sich ihm entwinden, um zu entfliehen, aber er ergriff sie auch mit der anderen Hand, und da war sie nun allerdings zu schwach, ihm zu entkommen.

»Gerächt habe ich mich!« knirschte sie. »Jetzt siehe nun ihre hübsche Larve an.«

»Herrgott!« rief er erschreckt. »Haltet sie fest!«


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Der Diener hatte sie mit gepackt, und auch der Kutscher sprang vom Bocke. Der Vorgang erregte natürlich Aufsehen, und es bildete sich eine dichte Gruppe Neugieriger um die Equipage. Auch einige Polizisten, welche heute Theaterwache gehabt hatten, kamen herbei und fragten nach der Ursache des Lärmes.

»Man hat diese Dame überfallen,« antwortete Bertram. »Sind Sie verletzt, gnädiges Fräulein?«

»Ich fühle nichts,« antwortete Fanny.

Ihre Stimme zitterte vor Schreck.

»Ueberfallen?« fragte der Polizist. »Wer hat es gethan?«

»Dieses Frauenzimmer.«

»Mit einer Waffe?«

»Nein. Aber hier hat sie noch die Tasse in der Hand, aus welcher sie Fräulein von Hellenbach beschütten wollte. Wie aus ihrer Rede hervorgeht, sollte das Gesicht dieser Dame beschädigt werden.«

»Ah, etwa eine Säure? Zeigen Sie her!«

Er nahm der Jüdin die Tasse aus der Hand und roch daran.

»Es ist nichts mehr drin,« sagte er, »aber man riecht es, daß sich eine scharfe Säure darin befunden hat.«

Da ertönte aus den Zuschauern eine Stimme:

»Vielleicht giebt das hier Aufklärung. Ich trat da auf eine Flasche und hob sie auf, da ich hörte, daß es sich um eine Säure handelt.«

Er gab dem Polizisten die Flasche. Dieser las die Etiquette.

»Sapperment! Rauchende Schwefelsäure! Hat sich diese Flasche in Ihrem Besitz befunden?«

»Ja,« antwortete Judith.

Sie befand sich in einer Stimmung, in welcher es ihr unmöglich war, nachzudenken, ob diese Antwort ihr Schaden bringen werde oder nicht. Es hatte sich ihrer eine dumpfe Wuth bemächtigt, in welcher sie fortfuhr:

»Immer nehmt mich gefangen, immer, immer! Jetzt habe ich doch ihre Fratze zerstört, und nun wird es ihm nicht einfallen, sie zu seiner Frau zu machen.«

»Ah! Ist es so!« meinte der Polizist. »Darf ich die Herrschaften einladen, sich für einen Augenblick mit herein zu bemühen? Ich bin verpflichtet, den Thatbestand festzustellen. Vorwärts jetzt!«

Er nahm die Jüdin hüben und sein Kamerad faßte sie drüben, um sie nach der Loge des Portiers zu schaffen. Bertram folgte mit Fanny, welche vor Aufregung zitterte und sich schwer auf seinen Arm lehnte.

In der Loge war es hell. Bertram sah das leichenblasse Gesicht der schönen Freundin und fragte:

»Sind Sie wirklich nicht verletzt?«

»Ich glaube nicht, aber sehr erschreckt hat es mich!«

»Nein, verletzt sind das gnädige Fräulein, Gott sei Dank, nicht,« sagte der Polizist, der sie genau betrachtete, »aber die Toilette wird verdorben sein.


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Die Säure ist auf das Kleid geschleudert worden. Sehen Sie die Flecken? Es fallen bereits die Löcher in den Stoff.«

»Mein Gott!« rief Bertram. »Wenn Sie in das Gesicht getroffen worden wären! Welch ein Unglück!«

»Ja, dann hätte die ätzende Flüssigkeit das Fleisch bis auf die Knochen zerstört, und die Augen wären ganz sicher erblindet. Das ist eine gefährliche Person. Wollen uns doch einmal ihr Gesicht betrachten.«

Er nahm ihr das Tuch fort, in welches sie sich eingehüllt hatte, und erkannte sie sofort.

»Was! Die schöne Judith aus der Wasserstraße! Ist das möglich? Mädchen, was fällt Ihnen ein? Sind Sie denn nicht schon unglücklich genug, daß Ihre Eltern sich in Gefangenschaft befinden! Warum haben Sie das gethan?«

Judith schämte sich nicht. Sie stand stolz und flammenden Blickes da und antwortete:

»Ihr Gesicht wollte ich zerstören.«

»Sind Sie des Teufels! Wissen Sie, welche Strafe auf so etwas gesetzt ist?«

»Das ist mir gleichgiltig!«

»Zuchthaus!«

»Meinetwegen! Wenn ich nur besser getroffen hätte. Aber sie wird sich nur abgewischt haben. Vielleicht habe ich doch das Gesicht getroffen, und der Brand kommt noch!«

»Welch eine Rohheit! Weshalb haben Sie es denn gethan?«

Die Jüdin zeigte auf Fanny und Bertram und antwortete:

»Der sollte sie nicht heirathen.«

»Ach so! Jetzt wissen wir, woran wir sind. Ich danke den Herrschaften ganz ergebenst und bitte, die Toilette aufzubewahren, da der Untersuchungsrichter ihrer bedürfen wird. Diese gefährliche Person werden wir natürlich nach Nummer Sicher bringen.«

Robert führte Fanny nach dem Wagen und stieg mit ein. Als sich die Pferde in Bewegung gesetzt hatten, machten sich durch die Erschütterungen der Equipage, trotzdem es nur sehr leichte waren, die Folgen des Schreckes geltend. Es überkam sie ein Schwindel. Sie griff nach der Hand Bertrams und klammerte sich convulsivisch an derselben fest.

»Ich falle!« sagte sie.

»Um Gottes willen! Was ist Ihnen?« fragte er.

Sie antwortete nicht. Er sah beim Scheine der Gasflammen, an denen sie vorüberkamen, daß ihr Kopf tief in die Polster zurückgesunken war.

»Ist Ihnen übel?« erkundigte er sich voller Angst.

»Nein, aber matt bin ich.«

Er ergriff auch ihre andere Hand. Er wußte vor sorgender Angst nicht, was er thun sollte. Er war kein Damenherr und trug niemals eine Essenz bei sich wie Andere, welche die Erfahrung gemacht haben, daß Derjenige,


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welcher mit dem schönen Geschlechte verkehrt, zuweilen in die Lage kommt, ein Parfüm zu gebrauchen.

Nach einer Weile seufzte sie tief auf und sagte:

»Jetzt wird mir wohler. Es war nur der Schreck.«

»Aber ein großer Schreck.«

»Ja. Dieses fürchterliche Mädchen!«

»Ein grausiges Geschöpf! Ich darf nicht daran denken, daß ihre Absicht hätte gelingen können.«

»Mein Gott! Schweigen Sie! Bitte!«

Der Wagen hielt vor der Thür. Als Fanny ausstieg, fühlte sie sich noch so angegriffen, daß sie bat:

»Bitte führen Sie mich, Herr Bertram!«

Oben angekommen, wollte er sie der Zofe übergeben und sich empfehlen. Sie aber sagte:

»Ich kann unmöglich zur Ruhe gehen und die Eltern werden noch nicht kommen. Bitte, bleiben Sie da! Ich möchte nicht so allein sein. Entschuldigen Sie aber einen Augenblick!«

Er trat in das Familienzimmer und wartete. Als sie dann kam, hatten ihre Wangen wieder den farbigen Ton erhalten, welcher ihr so außerordentlich gut stand. Sie lächelte und sagte:

»Jetzt werden Sie mich für ein recht schwachnerviges Persönchen halten, Herr Bertram?«

»O nein. Das Ereigniß war ein solches, daß auch eine sehr starknervige Dame erschrocken wäre. Und daß Sie Muth besitzen, weiß ich ja bereits.«

»Woher?«

»Damals, als ich den Riesen Bormann bei Ihnen traf, haben Sie es bewiesen.«

»Dadurch erinnern Sie mich, daß Sie zweimal mein Retter gewesen sind. Heute wieder!«

»O, bitte!«

»Wollen Sie es vielleicht nicht zugeben? Wer hat denn den Arm mit der Säure zurückgehalten? Sie! Wären Sie nicht gewesen, so wäre ich jetzt verstümmelt und ein Gräuel Aller, welche später ihre Blicke auf mich richteten. Sie sehen also, wieviel Dank ich Ihnen schulde. War das nicht dieselbe Person, welche damals mein Pferd scheu machte?«

»Ja.«

»Und welche sich am Kirchhof bei der Beerdigung Ihres Pflegevaters so feindselig gegen mich zeigte. Sie muß einen fürchterlichen Haß gegen mich hegen. Und ich habe ihr doch gar nichts zu leid gethan! Kennen Sie das Mädchen seit längerer Zeit?«

»O nein. Es war kurz vor Weihnachten, als ich sie zum ersten Male sah.«

»Da ist Ihre Bekanntschaft wohl eine nähere gewesen?«

»Ganz gewiß nicht!« betheuerte er eifrig.


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»Sie tritt aber grad so auf, als wenn sie gewisse Rechnung auf Ihre Person hätte.«

»Sie hat nicht das mindeste Recht. Wenn ich aufrichtig sein dürfte, würden Sie mir das glauben.«

»Bitte, seien Sie aufrichtig!«

»Ja, ich will es sein. Sie kennen meine Schicksale. Sie wissen, daß ich arm bin und früher noch ärmer war, und so darf ich von jener Zeit sprechen, obgleich es mir schwer fällt, zu gestehen, weshalb ich zu jenem Juden ging.«

Er erzählte von der Lage, in welcher sich die Familie seines Pflegevaters befunden hatte, von der Krankheit desselben, vom Hunger, vom Auftreten des frommen Schusters, von der Täuschung, welche seine Stiefschwester Marie mit ihrer Stickarbeit erfahren hatte. Er sagte, daß er zu dem Juden gegangen sei, um seine einzige Habe, die Kette, zu versetzen, und daß dessen Tochter da ein so eigenthümliches Interesse für ihn gefaßt habe. Er schilderte weiter und weiter, und als er damit geendet hatte, fügte er hinzu:

»Jetzt habe ich aufrichtig Alles erzählt selbst auf die Gefahr hin, daß Sie mir nun Ihre Theilnahme entziehen werden.«

»Entziehen? Warum sollte ich das?«

»Der arme Schlucker! Der zum Juden geht, um zu versetzen!«

Sie schüttelte das schöne Köpfchen und sagte:

»Ich habe mich gar sehr in Ihnen getäuscht!«

»Nicht wahr!« sagte er betrübt, weil er sie nicht verstand.

»Ja, sehr getäuscht habe ich mich, denn ich dachte stets, daß Sie mich kennen.«

»Das thue ich ja!«

»Nein, das thun Sie eben nicht. Sie kennen mich nicht, sonst würden Sie nicht glauben, daß ich jetzt auf einmal weniger gut von Ihnen denke als vorher. Was Sie gethan haben, das erniedigt Sie nicht, sondern es zeugt von Ihrem Edelmuthe. Ich würde Sie jetzt nur noch höher achten als vorher, wenn das überhaupt möglich wäre. Aber sagen Sie, ist diese Judith denn wirklich so schön?«

»Ja.«

»Also auch Sie bewundern sie!«

»Ja, ich bewundere sie,« sagte er aufrichtig.

Das hatte sie nun freilich nicht erwartet. Sie blickte ganz erstaunt auf ihn und sagte:

»Jetzt sind Sie allerdings viel aufrichtiger als ich Sie mir gedacht habe! Sie bewundern sie wirklich!«

»Ja. Warum sollte ich nicht? Wenn ich nach Ägypten reise und vor den Pyramiden stehe, so bewundere ich sie. Ich denke, daß vor Jahrtausenden ein längst vom Welttheater verschwundenes Volk mit armseligen Hilfsmitteln diese kolossalen Steinhaufen zu errichten vermochte. Diese Bauten wirken durch ihre einförmige, traurige Massenhaftigkeit. Ich bewundere sie, aber mein Herz


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bleibt kalt dabei. So kann es Einem auch mit der Schönheit eines menschlichen Wesens gehen.«

Da stieß Fanny ein herzliches Lachen aus und sagte:

»Ah, Sie meinen, daß die Schönheit dieser Jüdin also eine so pyramidale ist.«

»Nein. Ich brachte nur ein Beispiel, welches zeigen sollte, daß man bewundern kann, ohne mit dem Herzen betheiligt zu sein. Judith ist keine kalte, leblose Schönheit. Sie ist vielmehr grad das Gegentheil. Sie ist voller Gluth und Leben; aber diese Gluth ist verderbend, und dieses Leben kann tödtlich wirken.«

»Sie sprechen als Dichter!«

»O nein. Wenn Sie vom Golf von Neapel aus des Nachts den Vesuv erblicken, so sind Sie von dem sich Ihnen darbietenden Schauspiel ergriffen. Er schleudert seine Gluthen gen Himmel; die Erde bebt, und selbst die Wasser bewegen sich unter dem Donner, der auf ihrem Grunde rollt. Der Anblick ist schön, aber grauenhaft. Man fühlt sich nicht sicher, sondern beengt, geängstigt. So war es mir, ganz so, als ich diese Judith erblickte.«

»Also ein Vulkan ist sie?«

»Ja. War das, was sie heute that, nicht eine Eruption, hervorgegangen aus dem Krater eines glühenden und zugleich rachsüchtigen Menschenherzens? Mir graut vor ihr. Und dennoch bemitleide ich sie!«

»Ich auch.«

Sie hatte den Blick sinnend vor sich hingerichtet. Ihr Gesicht zeigte nicht eine Spur von Zorn.

»Wie? Auch Sie?«

»Ja, ich fühle nur Mitleid mit ihr.«

»Mit ihr, die Sie verderben wollte?«

»Sie that es aus - Liebe zu Ihnen. Es muß traurig, sehr traurig sein, eine unglückliche Liebe im Herzen zu tragen.«

»Ja, das ist sehr traurig,« antwortete er in einem Tone, welcher sie veranlaßte, ihren Blick schnell auf ihn zu richten.

»Das klang ja recht eigenthümlich,« sagte sie. »Fast so, als ob Sie das so genau wüßten.«

»Ich weiß es!«

»Dann müßten Sie ja auch unglücklich lieben!«

Er blickte ihr ernst, voll und ehrlich in das Angesicht und antwortete unter einem trüben Lächeln:

»Das ist leider auch wirklich der Fall.«

»Herr Bertram!«

»Nicht wahr, nun bemitleiden Sie mich!«

»Gewiß! Sehr!«

»Und dennoch ist Einer, der eine recht große, innige Liebe, welche keine Hoffnung haben darf, im Herzen trägt, nicht so unglücklich, wie Sie vielleicht denken. Es ist noch etwas dabei, für das ich keine Bezeichnung, kein treffendes


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Wort finde. Es giebt Naturen, welche in ihrem Unglücke zu schwelgen vermögen. Man kann lieben ohne Verlangen, ohne lebenzerstörende Leidenschaft, so recht fromm und innig. Eine solche Liebe ist zum guten Theil Verehrung, Anbetung. Sie kann freilich nur dann möglich sein, wenn sie sich auf einen Gegenstand richtet, welcher ebenso anbetungswürdig wie unerreichbar ist. Sie flammt auf dem Altare des Herzens; sie hat kein Ende, sie wirkt nicht zerstörend.«

»Und so eine Liebe ist die Ihrige?«

»Ja.«

»Also ist Ihnen der Gegenstand unerreichbar?«

»Unerreichbar für immer.«

»Aber diese Dame müßte dann auch so anbetungswürdig sein, wie Sie sagten!«

»Das ist sie; ja bei Gott, das ist sie.«

Es war ein eigenthümlicher Ausdruck, mit welchem sich ihr Blick jetzt auf ihn richtete, so herzlich und doch auch so überlegen. Sie legte ihm das Händchen auf den Arm und fragte lächelnd:

»Darf ich erfahren, wer sie ist?«

»Nein.«

»Wenn ich Sie nun recht sehr bitte, es mir zu sagen?«

»Auch dann nicht.«

»Aber warum nicht?«

»Weil Sie sich dann mitleidig verwundern oder mich verwundernd bemitleiden würden, und Beides würde mir mehr Schmerz bereiten als alles andre Mögliche.«

»Ich werde weder das Eine noch das Andere thun!«

Er blickte träumerisch wie in die Ferne und schüttelte verneinend den Kopf. Sie fragte:

»Darf ich nicht wenigstens erfahren, seit wann Sie diese Hohe, Herrliche lieben?«

»Seit vor Weihnachten.«

»Es scheint, daß dies der Zeitpunkt ist, an welchem Sie Damenbekanntschaften gemacht haben, welche für sie unheilvoll sind. Wo lebt diese Dame?«

»Hier in der Residenz.«

»Haben Sie mit ihr gesprochen?«

»Wiederholt.«

»Und doch nennen Sie sie unnahbar!«

»O, die Sonne ist uns auch unnahbar; wir können nie zu ihr gelangen, und doch segnet sie uns mit Licht und Wärme. So lebe ich unter den Strahlen eines herrlichen, entzückenden Wesens, welches hoch über dem Horizonte meines Daseins steht. Sie ist meine Sonne, und doch war sie einst meine - Nacht.«

»Sie sprechen in Räthseln.«

»O nein. Ich stand damals in tiefer Nacht, ohne Hoffnung, daß mir


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einst die Sonne ihrer Augen leuchten könne. Es ist Tag geworden, obgleich ich noch immer in der Tiefe stehe.«

»Aber ich behaupte doch, daß Sie geheimnißvoll sprechen. Soll ich den Schleier lüften?«

»Sie können es nicht.«

Da lächelte sie ihm halblaut entgegen und recidirte:

»Wenn um die Berge von Befour
     Des Abends dunkle Schatten wallen,
Dann tritt die Mutter der Natur
     Hervor aus unterird'schen Hallen,
Und ihres Diadems Azur
     Erglänzt von funkelnden Krystallen.«

Und als er nicht antwortete, sondern sie nur fragend und erwartungsvoll anblickte, fuhr sie fort:

»Das war die Nacht, von der Sie sprechen?«

»Ja.«

»Die nun zur Sonne geworden ist?«

»Zur herrlichsten Sonne!«

»Aber eines schönen Tages habe ich erfahren, auf wen diese Nacht gedichtet wurde.«

Er fuhr erschrocken zusammen und sagte:

»Niemand weiß es.«

»O doch! Sie scheinen die Stunde vergessen zu haben. Diese Dame also ist es, welche jetzt Ihre Sonne ist?«

Er blickte sehr verlegen zur Erde und sagte erst nach einer längeren Pause:

»Wissen Sie, gnädiges Fräulein, daß Sie mich martern?«

»Gott behüte! Das will ich nicht! Ich habe Ihnen so viel, so sehr viel zu verdanken, daß ich ein sehr schlimmes Mädchen sein würde, wenn es mir einfallen sollte, Ihnen wehe zu thun. Ich meine es gut, herzlich gut mit Ihnen. Sie sind mein Retter gewesen in den zwei fürchterlichsten Augenblicken meines Lebens, und ich hege den innigen Wunsch, daß Sie glücklich sein mögen. Sie sind so ganz anders als Andere, das liegt theils in Ihrem Character, theils in den Verhältnissen, in denen Sie lebten. Diese sind anders geworden und ich sehe voraus, daß sich Ihre Zukunft ganz anders gestalten wird, als Sie noch vor wenigen Monaten denken konnten. Sie werden zu den Rittern des Geistes zählen, und daher möchte ich Ihnen gern die Hand bieten, dieses herrliche Ziel eher zu erreichen, als es ohne meine Hilfe möglich wäre.«

Sie war langsam von ihrem Sitze aufgestanden und stand in freundlicher, milder Hoheit vor ihm. Die schwarzen, mühsam aufgewundenen Locken lagen wie ein Diadem um ihren Kopf. Sie hatte ein Kleid angelegt, halb Robe und halb Négligé. Diese leichte, feine Hülle ließ das Ebenmaß ihrer herrlichen Glieder plastisch hervortreten. Der antike, weiß glänzende Arm quoll wie lebendiger Alabaster aus dem weit geschnittenen Aermel hervor. Sie stand


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vor ihm wie eine Göttin, welche im Begriff steht, einem Sterblichen die Thür zur Seligkeit zu öffnen.

Er blickte erstaunt und bewundernd zu ihr auf. Er sprach kein einziges Wort, aber in seinem Angesichte, in seinem Blicke strahlte die Anbetung, von welcher er vorhin gesprochen hatte.

»Sie haben jenes Gedicht auf mich gemacht?« fragte sie.

Da fuhr er empor.

»Gnädiges Fräulein!«

»Bitte, antworten Sie!«

Er hielt sich wie geblendet die Hand vor die Augen. Aber als er ihr dann in die ihrigen blickte, glänzte ihm ein Etwas entgegen, was ihm den Muth zu den Worten gab:

»Sie befehlen und ich gehorche. Ja, Sie waren die Nacht, deren Herrlichkeit mich zu jenen Zeilen begeisterte.«

»Und vorhin war ich gemeint, als Sie von Ihrer Sonne sprachen?«

»Ja. Ich will es gestehen. Die Sonne kreist zu erhaben über mir, als daß sie mir zürnen könnte, wenn ich mein Auge voller Bewunderung zu ihr erhebe.«

Da legte sie ihm beide Hände auf die Schultern, neigte sich langsam zu ihm herüber und fragte:

»Also lieben Sie mich?«

»Gott, ja! Und doch nein! Das Wort Liebe ist nicht inhaltreich genug, um das zu bezeichnen, was jetzt mein Herz bewegt. Ich möchte jauchzen und weinen zugleich; ich möchte jubeln und doch heiße, heiße Thränen vergießen. Ich möchte vor Ihnen niedersinken, um Sie anzubeten und mich doch über Sie erheben, um wie ein Engel des Himmels Sie begleiten und schützen zu können in allen Zeiten und Gefahren Ihres Lebens. Ich bin voller Wonne und Seligkeit und doch auch voller Weh und Herzeleid. Ich athme und lebe nur in Ihnen und darf doch nicht athmen und leben für sie!«

»Wer sagt denn das? Sie ringen nach dem Höchsten und Erhabensten, was der Mensch zu erreichen vermag. Sie haben trotz Ihrer Jugend bereits Stufen erstiegen, welche der Fuß von Tausenden nicht berühren darf. Warum wollen Sie in diesem Einen verzichten? Warum wollen Sie gerade hierin muthlos sein?«

Er wich zurück, so daß ihre Hände von seinen Schultern lassen mußten. Sein Auge wurde größer und dunkler, sein Gesicht leichenblaß. Er stotterte:

»Um Gottes willen! Haben Sie Barmherzigkeit!«

»Barmherzigkeit? Warum diese? Darf ich nicht mehr für Sie haben, viel, viel mehr?«

Er faltete die Hände. Er mußte sich fast anstrengen, um die Worte hervorzubringen:

»Gnädiges Fräulein, soll ich mich selbst verlieren? Ich bin bisher Meister meines Herzens gewesen!«


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»Das sollen Sie nicht länger sein, denn ich will dieses Herz beherrschen, ich allein, ganz allein!«

Da zog es ihn ganz unwiderstehlich auf die Kniee nieder. Es ging heiß und kalt, bleich und roth über seine Wangen, als ob er sich im Fieber befinde. Er streckte ihr bittend die Hände entgegen und flehte:

»Ich kniee hier zwischen Tod und Leben; glauben Sie mir das um Gottes willen. Geben Sie mir eins von beiden, den Tod oder das Leben! Sprechen Sie das Wort aus, welches ich nicht sagen kann und nicht sagen darf!«

Da bog sie sich zu ihm nieder, legte abermals die Hände auf seine Schultern und flüsterte:

»Robert, ich liebe Dich.«

»O mein Himmel! Ist das wahr, ist das möglich?«

»Ja, ich bin Dir gut, so recht aus tiefstem Herzen gut. Komm, stehe auf. Du sollst mich nicht anbeten, ich bin kein Engel, keine Göttin, sondern ein recht schwaches Geschöpf, dem Du das Herz schon längst entrissen hast.«

Er stand auf, langsam und wie im Traume. Er wagte es nicht, sie zu berühren. Er schloß die Augen, legte die Hände an die Schläfen und sagte halb laut:

»Es ist mir, als ob ich Deine Worte nur aus weitester Ferne hörte. Mein Gott, ich glaube, das Herz wird mir die Brust zersprengen. Ich habe Schwindel!«

Da nahm sie seine Hände, führte ihn zum Sopha und nahm neben ihm Platz. Ohne seine Hände loszulassen, sagte sie:

»Ich verstehe Dich und begreife Dich. Es ist ein großes Glück für Dich, daß der liebe Gott Dir mein Herz entgegenbringt. Dieses Glück ist eigentlich eine Unmöglichkeit und darum ergreift es Dich mit solcher Gewalt. Aber denke nicht an meinen Adel, denke nicht an mein Vermögen. Du wirst zum Adel des Geistes zählen und Deine Werke werden Dir Reichthum bringen. Du bist mir vollständig ebenbürtig. Laß Dich nicht von diesem Scheine blenden, sondern öffne Deine lieben Augen nur, damit Dein Blick mir sage, daß Du mich lieb hast!«

»O, an den Adel und das Vermögen habe ich auch gar nicht gedacht. Du selbst bist so herrlich, so herrlich, daß mir die Sinne schwinden möchten bei dem Gedanken, daß ich Deine Liebe besitze. Herrgott, ich habe frierend und hungernd da drüben in dem Kämmerchen gestanden in trostloser Finsterniß. Wenn dann Dein Fenster sich erhellte und ich Deinen Schatten auf den Gardinen sah, dann war es mir, als habe ich einen Blick in Gottes Himmel thun dürfen, und alles, Hunger und Durst, Kälte und Elend war verschwunden. Dein Schatten machte mich selig. Und heute - o Fanny, Fanny!«

Er blickte sie unter Thränen an und zog ihre kleinen Händchen an seine Lippen. Sie fragte lächelnd:

»Jetzt nun bist Du wohl mit dem Schatten nicht mehr zufrieden? Jetzt mußt Du die Person selbst haben.«


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Er schüttelte langsam den Kopf.

»Ich weiß genau, was mir beschieden ist, und ich will nicht mehr verlangen. Deine Liebe besitze ich und dieses Bewußtsein ist ein Schatz, den ich niemals zu erreichen hoffen konnte. Du selbst aber bleibst mir unerreichbar.«

»Warum denn?«

»Du sprachst von Deinem Reichthum und Deinem Adel, als gäbst Du diesen beiden wenig werth. Ich aber weiß, wie hoch, stark und fest diese Schranken stehen.«

»Fürchtest Du Dich vor ihnen?«

Es lag etwas in ihrem Tone, was ihn frappirte. Er sah ihr ernst, fast traurig entgegen und antwortete:

»Nein, ich fürchte sie nicht. Ich würde ringen mit allen feindlichen Gewalten, um Dich einst mein Eigenthum nennen zu können; aber selbst wenn ich dieses höchste Ziel meines Lebens erreicht hätte, bliebe ich doch der Emporkömmling, welcher Deiner nicht würdig wäre.«

»O, Du Zweifler!«

»Was würden Deine Eltern sagen, wenn ich es wagen wollte, vor sie hinzutreten und Deine Hand zu verlangen?«

Sie wiegte bedächtig das Köpfchen hin und her; sie machte doch ein ernstes Gesicht, antwortete aber:

»Sie würden sich ein wenig wundern, aber endlich doch sich nur durch den Gedanken an mein Glück leiten und bestimmen lassen. Freilich jetzt dürftest Du ein solches Verlangen nicht aussprechen. Wir sind noch so jung und Du hast Dir erst eine Existenz zu gründen und einen Platz im Leben und der Gesellschaft zu suchen. Dieses Plätzchen aber darf nicht so gar sehr klein und niedrig sein, sondern es soll Raum auch für mich mit haben. Und das soll der Lohn Deines Ringens sein.«

Da leuchteten seine Augen begeistert auf.

»Fanny, ist das wirklich kein Traum?«

»Nein, lieber Robert. Es ist Wirklichkeit.«

»Ich darf denken, Dich einst besitzen zu können?«

»Du sollst denken, daß ich das sehr, sehr wünsche!«

»Dann sollst Du sehen, was ein Mensch vermag. Ich bin arm und gering; aber der Fürst ist mir väterlich gesinnt und wird mir den schweren Weg möglichst ebnen. Und dann - dann -«

»Dann bin ich Dein!« fiel sie ein. »Ist es nicht vermessen von mir, mich Dir als Preis zu setzen? Als wäre ich nun gar so etwas Großes und Erhabenes.«

»Das bist Du auch. Du bist so herrlich, so hoch über mir stehend, daß - daß ich nicht einmal wage -«

»Weiter,« lächelte Sie. »Was wagst Du nicht einmal?«

»Das, was - was - doch nein, es sei gewagt!«

Er schlang die Arme um sie und zog sie an sich. Ihre Lippen fanden


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sich zum Kusse, ohne daß man zu sagen vermochte, wer eigentlich der Anfänger war.

»Fanny, meine Fanny!« flüsterte er, ihr Köpfchen von sich haltend und ihr herzinnig in die Augen blickend.

»Bist Du glücklich?« fragte sie zurück.

»Unendlich!«

»Ich auch.«

»Ich tausche mit keinem Kaiser! Du wirst sehen, daß ich Dich erringe. Ich könnte Alles thun und Alles wagen, für Dich, ja, für Dich!«

»Und vorhin wagtest Du das Leichte nicht!«

Sie küßte ihn.

»O, das war schwer, außerordentlich schwer.«

»Ich habe nicht geglaubt, daß es Dir so schwer fallen würde. Du hast ja früher -«

Sie hielt inne und sah ihm in das Gesicht.

»Was früher?« fragte er. »Meinst Du etwa -«

»Ja,« nickte sie ernst. »Das meine ich!«

»Daß ich früher geküßt habe?«

»Ja, gewiß!«

»Nein, nein,« antwortete er ganz erschrecken.

»Leugne nicht!«

Da erhob er im Gefühle beleidigter Unschuld die Hand wie zum Schwure und sagte in feierlichem Tone:

»Fanny, ich beeide hiermit bei Allem, was Du -«

»Still!« fiel sie ihm in die Rede. »Dein Schwur würde doch ein Meineid sein!«

»Herr, mein Heiland, was denkst Du von mir!«

»Ich denke, was wahr ist!«

»Du irrst! Du irrst wirklich!«

»Ich kann Beweise bringen.«

»Bitte, bringe sie!«

»Du hast noch keine junge Dame geküßt?«

»Nein.«

»Etwa nicht jene Jüdin?«

»Ich? Die? Nein!«

»Auch keine Andere?«

»Auch nicht.«

»Da sehe Einer diesen schlimmen Heuchler! Ich habe Beweise, daß Du ein Mädchen geküßt hast, und zwar auf offener Straße, was sehr erschwerend wirkt.«

»Aber, ich bitte Dich! Davon müßte ich doch auch wissen! Es hat irgend Jemand einen Scherz gemacht.«

»Nein. Ich habe es selbst gesehen!«

»Wie denn?«


// 2182 //

»Da draußen vor der Stadt lag Eine auf der Straße; sie war vom Pferde gefallen und ohnmächtig geworden.«

»Ach, das warst Du!« sagte er erröthend.

»Ja, ich! Ist das nicht ebenso strafbar?«

»Ich hoffe nicht. Aber ich habe wirklich geglaubt, daß Du diese Sünde gar nicht bemerkt hast.«

»Ja, ich war ohnmächtig!« lachte sie.

»Das dachte ich wenigstens.«

»Ich war es auch wirklich; aber die Besinnung kehrte eher zurück, als Du es gedacht hattest. Noch ehe ich die Augen öffnete, fühlte ich einen Kuß -«

»O weh!«

»Ich konnte mir nicht denken, von wem, denn ich wußte doch noch nicht ganz genau wieder, was mit mir geschehen war. Ich öffnete also die Wimper, aber nur ein ganz, ganz klein wenig, und da knietest Du neben mir.«

»Heuchlerin!«

»Und Du küßtest mich abermals.«

»Und Du erwachtest nicht!«

»Ich bemerkte, daß Du es nicht ungern thatest, und da wollte ich nicht hart gegen Dich sein.«

»Fanny, meine liebe, liebe Fanny! So hast Du mich also schon damals geliebt?«

»O, noch viel eher. Ich war Dir von ganzem Herzen gut, bereits als ich zum ersten Male mit Dir sprach.«

»Du bist ein Engel. Nein, das ist zuwenig. Du bist noch viel, viel anders. Du bist - bist - ich weiß nicht das richtige Wort zu finden. Du warst mir so herrlich, so schön, so erhaben; Du bist es jetzt noch, aber dabei so lieb und gut, so herzig, ja, so herzig. Daß Du mich an jene Küsse erinnerst und mir dabei gestehst, daß Du sie gefühlt hast, das verdoppelt, nein, verzehnfacht mein Glück. Komm, laß Dich auch jetzt küssen, aber behalte Deine lieben Augen dabei offen, ich mag mir ihren Strahl nicht entgehen lassen.«

Sie reichte ihm die schwellenden Lippen und dann sagte sie:

»Und noch ein Geständniß habe ich Dir zu machen. Denkst Du an Dein Gedicht, welches ich damals erhielt?«

»Was ist's mit demselben?«

»Als ich die Stelle las:

Du meine süße Himmelslust
     O traure nicht und laß das Weinen.
Dir soll ja stets an treuer Brust
     Die Sonne meiner Liebe scheinen,

da bin ich beinahe ein wenig eifersüchtig geworden.«

»Eifersüchtig? Wie wäre das möglich?«

»Nun, Du sprachst da von einer Trauernden.«

»Ja.«


// 2183 //

»Die nanntest Du Deine süße Himmelslust und versprachst ihr, daß ihr die Sonne Deiner Liebe scheinen werde. Ich konnte mir nicht denken, daß ich unter dieser Trauernden gemeint sei, und so lag der Gedanke nahe, daß es eine Andere gebe, der diese Verse galten.«

»O, dieses Gedicht behandelte kein subjectives, sondern vielmehr ein ganz objectives Thema. Ich habe dabei gar nicht an irgend ein mir bekanntes Wesen gedacht.«

»So wünsche ich, daß Du von jetzt an an eins denkst, so oft Du eine Strophe schreibst, in welcher von süßer Himmelslust und von der Sonne der Liebe die Rede ist.«

»O, gewiß werde ich von jetzt an an Eine denken, welche wirklich lebt und wirklich existirt.«

»Und wer wird das sein?«

»Du, nur Du allein!«

Er zog sie wieder an sich. Der arme Waisenknabe, das Findelkind, der Pflegesohn eines Schneidermusikanten hatte die Tochter eines Obersten, den Abkömmling eines alten adeligen Geschlechtes, im Arme. Er fühlte den Druck ihrer Lippen und das warme, vertrauende Schwellen ihres Busens. Ihr Blick ruhte in dem seinigen - er wußte nicht, wohin mit seiner Seligkeit; er küßte sie wieder und immer wieder, bis sie plötzlich sich aus seinen Armen wand und purpurroth erglühend sich erhob.

Er drehte sich um. Unter der Thür stand der Oberst von Hellenbach mit seiner Frau und hinter ihnen sah man das durchgeistigte, vornehme Gesicht des Fürsten von Befour.

Natürlich stand auch Robert jetzt von seinem Sitze auf. Er erglühte nicht wie Fanny, sondern er war leichenblaß geworden.

»Fanny!« sagte der Oberst, mehr in erstauntem, als in verweisendem Tone.

»Mama!« antwortete sie und warf sich in die Arme ihrer Mutter, welche auch überrascht schnell näher getreten war.

Der Fürst that, als habe er gar nichts bemerkt. Er grüßte:

»Guten Abend, Robert!« und nickte ihm freundlich zu, und zu Fanny tretend, fügte er hinzu: »Sie hätten weder ihre lieben Eltern schon jetzt, noch mich überhaupt hier gesehen, wenn wir nicht vor zwei Minuten erfahren hätten, daß Ihnen ein großes Unglück gedroht hat. Wir brachen natürlich sogleich auf, um uns nach Ihrem Befinden zu erkundigen.«

Diese Worte beseitigten das Peinliche des Augenblickes.

»Ja, mein Kind,« sagte die Oberstin, »man sagte uns, daß am Theater ein Attentat auf Dich unternommen worden sei. Ist das wahr?«

»Leider ja.«

»In welcher Weise? Wir konnten nichts Genaues erfahren und waren natürlich auch zu aufgeregt, als daß wir uns hätten Zeit zu weitläufigen Erkundigungen gönnen können.«

»Ich sollte mit rauchender Schwefelsäure bespritzt werden.«

»Herr Jesus! Im Gesicht?«


// 2184 //

»Ja.«

»Von wem denn?«

»Von der Jüdin Judith Levi aus der Wasserstraße.«

»Weshalb denn?«

»Aus - aus - aus Eifersucht,« antwortete sie erröthend und indem sie sich halb abwendete.

»Eifersucht? Aus welchem Grunde könnte denn dieses Mädchen eifersüchtig gegen Dich sein?«

Der Fürst erkannte das Verfängliche dieser Frage und fiel also schnell ein:

»So sind Sie also von der Säure nicht getroffen worden?«

»Nein, sondern nur die Toilette.«

»Wir hörten, daß ein junger Herr Sie gerettet habe?«

»Ja, Robert war -«

Sie hielt erschrocken inne, da ihr der Vorname des Geliebten entfahren war.

»Robert?« fragte die Oberstin in halb verweisendem und halb überraschten Tone. »Sie, Herr Bertram waren Zeuge?«

»O, nicht Zeuge, sondern mein Retter!« fiel Fanny ein.

Und nun erzählte sie mit beredter Zunge die Begebenheit. Die Drei hörten zu, dann gab der Oberst Robert Bertram die Hand und sagte, allerdings mit einiger Kälte im Tone:

»Wir haben Ihnen abermals so sehr viel zu danken. Hoffentlich geben Sie uns einmal Gelegenheit, Ihnen unsere Erkenntlichkeit zu beweisen, aber bitte, in einer für uns möglichen Weise!«

Robert verstand, was mit diesen Worten gemeint war. Er war jetzt, da er sich von Fanny geliebt wußte, ein ganz Anderer geworden. Die Ueberraschung hatte ihn zwar erblassen lassen, aber er fühlte sich keineswegs ohne Muth. Darum antwortete er:

»Bitte, gnädiger Herr, was ich that, war eine einfache Folge der Situation, des Augenblickes, und verdient gar keiner lobenden Erwähnung.«

Da reichte ihm auch die Oberstin die Hand und sagte:

»Nehmen Sie auch meinen Dank. Sie haben unser Kind vor einem schauderhaften Unglück bewahrt; das werden wir Ihnen unter allen Umständen nie vergessen. Aber, Fanny, fühlst Du Dich denn nicht angegriffen und ermüdet?«

»Nein. Ich war so aufgeregt, so erschrocken; darum bat ich Herrn Bertram, mir Gesellschaft zu leisten bis zu Eurer Rückkehr.«

»Das war zu viel von ihm verlangt. Herr Bertram hat auf seine Zeit mehr Werth zu legen, als Du auf die Deinige. Wer erst am Anfange seines Lebensweges steht und sich sein Leben überhaupt erst zu gestalten hat, dem soll man es um keine Stunde verkürzen, denn eine Stunde jetzt ist gleich Monaten der Zukunft. Der Wagen steht noch unten. Wenn sich Herr Bertram seiner bedienen will, so steht er gern zur Verfügung.«


Ende der einundneunzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der verlorne Sohn

Karl May – Forschung und Werk