Lieferung 88

Karl May

1. Mai 1886

Der verlorne Sohn
oder
Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.


// 2089 //

»Auch ich werde diese Stunde nicht vergessen! Das haben Sie meisterhaft gemacht. Da muß ja Ihr Ruhm von Tag zu Tag steigen! Aber vorsichtig, höchst vorsichtig muß sie behandelt werden. Nicht?«

»Allerdings! Die Zeit nach ihrer Erblindung ist ihr nicht gegenwärtig, man darf von dieser Zeit jetzt noch nicht sprechen. Nur nach und nach darf die eine und die andere Bemerkung fallen, ganz je nach dem ihr Geist erstarkt. Darum soll sie auch nicht mit Bekannten verkehren, und darum darf selbst ihr Sohn so wenig wie möglich kommen.«

»Aber wenn sie nach mir verlangt?« fragte Fels.

»So lasse ich Sie holen, wenn ich es für nothwendig halte. Im Uebrigen aber können Sie mir ja vertrauen.«

Fels entfernte sich mit Marien. Beide hatten sich so viel zu sagen, und Beide fühlten sich so glücklich wie noch nie in ihrem Leben.

Der Fürst war noch für einige Minuten zurückgeblieben. Er gedachte des jetzt Nächstliegenden.

»Ich dachte nicht, daß zwischen dem Gerichtsamte und jetzt eine so lange Zeit vergehen wird. Jetzt werden Sie sich mit dem Blutwasser zu beschäftigen haben?«

»Natürlich! Ich darf nicht langer säumen.«

»Sollte sich Ihr Verdacht bewähren, so bitte ich Sie, dem Staatsanwalt einen Boten zu senden, damit ja keine Vorsichtsmaßregel außer Acht gesetzt werde.«

Nun verabschiedete er sich; aber er fuhr noch nicht nach Hause, sondern zunächst zu einem Herrn, bei dem er noch nicht gewesen war, nämlich zum Director des Residenztheaters, welcher sich nicht wenig überrascht fühlte, als ihm die Karte dieses vornehmen Herrn gebracht wurde.

Er eilte ihm entgegen in's Vorzimmer und führte ihn selbst herein, um ihm unter tiefen Verbeugungen und rednerischen Höflichkeiten einen Stuhl anzubieten.

»Ich habe im heutigen Blatte«, begann der Fürst, »eine Bemerkung gelesen, welche mich sehr interessirt. Ist es wahr, daß Ihr Kassirer sich gewisse Unregelmäßigkeiten erlaubt hat?«

»Leider ja.«

»Ist es schlimm?«

»Das Manquo ist ziemlich bedeutend. Wir haben den Mann entlassen und unter Anklage stellen müssen.«

»Ist seine Stelle besetzt?«

»Noch nicht. Wir befinden uns in Verlegenheit. Bewerber wird es genug geben.«

»Das ist gewiß. Ich bin gekommen, Ihnen einen Mann zu empfehlen. Das wird Ihnen befremdlich erscheinen, da ich weder zu Ihnen noch zu Ihrem Bühneninstitut in Beziehung stehe; aber der Mann ist es werth, daß er berücksichtigt wird. Man hat Vieles gut an ihm zu machen.«

»Meinerseits soll Ihre Empfehlung ganz gewiß berücksichtigt werden. Darf ich den Namen hören?«


// 2090 //

»Der frühere Theaterdiener Werner.«

»Der? Ach so! Hm!«

Er fuhr sich mit der Hand verlegen über die Stirn.

»Der Vorschlag gefällt Ihnen nicht?« fragte der Fürst.

»O, mir wäre er grad sehr sympathisch. Ich bin mit Werner stets zufrieden gewesen; ich darf sogar sagen, daß ich es bin, der ihn so lange noch gehalten hat. Alle Anderen waren diesem braven Manne ganz unbegreiflicher Weise feindselig gesinnt. Aber leider, leider -«

»Sie meinen?«

»Ich bin es nicht, der diese Stelle allein zu vergeben hat.«

»Wer noch?«

»Der Herr Intendant.«

»Der wohl schwerlich.«

»O bitte! Grad der Herr Intendant ist es, welcher zu bestimmen hat. Ich habe nur die Vorschläge zu machen.«

»So will ich Ihnen mittheilen, daß dieser Herr nur noch heute Abend Intendant sein wird.«

»Das dürfte unmöglich sein.«

»Es ist nicht nur möglich, sondern sogar wirklich. Sie kennen das Verhalten dieses ehrenwerthen Herrn zu Werner und dessen Tochter?«

»Ich hörte davon sprechen.«

»Nun, der Herr Intendant hat seinem Bruder, dem Circusdirector, das Mädchen in die Hände gespielt. Es ist hier auf der Bühne die Probe abgehalten worden, ob Emilie Werner zur Tau-ma paßt. Der Circusmann hat endlich gestanden, und so wird man morgen, ja sogar vielmehr heute Abend noch den Herrn Intendanten hinter Schloß und Riegel bringen.«

»Ihn? Arretiren?«

»Gewiß.«

»Bei seiner Stellung, seinem Einflusse? Unglaublich!«

»Ich sage es Ihnen, folglich ist es wahr. Es werden noch andere Herren zu dieser Suppe geladen sein. Der Balletmeister, der Musikdirector, der Chef der Beifallsklatscher, sie alle haben mehr oder weniger Werg am Rocken. Die Behörde ist geneigt, diese Angelegenheit sehr ernst zu nehmen. Es ist da viel alter und neuer Schmutz aufgewirbelt worden von Käuflichkeit und anderen verbotenen Dingen. Daran ist die Leda schuld.«

»Ich war der Einzige gegen sie.«

»Ich weiß, daß Sie für die Amerikanerin waren. Darum mache ich Ihnen diese vertrauliche Mittheilung, indem ich weiß, daß Sie discret sein werden. Sie sehen also ein, daß die Bestimmung über den Cassirer nur in Ihren Händen liegen wird.«

»Vielleicht doch nicht ganz. Das Residenztheater ist Eigenthum der Stadt. Tritt der Intendant ab, so habe ich mit seinem Nachfolger oder mit dem Herrn Oberbürgermeister zu rechnen.«


// 2091 //

»Ich verbürge mich für die Zustimmung Beider. Nehmen Sie diese Garantie an?«

»Sie genügt vollständig.«

»Sie werden also Werner anstellen?«

»Wenn die von Ihnen gemachten Voraussetzungen eintreffen, ja. Besonders meine ich natürlich hierbei die Arretur des Intendanten.«

»Sie erfolgt spätestens bis morgen früh.«

»Dann wäre nur noch ein Punkt zu erörtern.«

»Welcher?«

»Die Caution, ohne welche kein Kassirer angestellt wird.«

»Die werde ich leisten?«

»Ach, der Glückliche!«

»Er hat lange genug geduldet! Es würde mir nun freilich lieb sein, das Anstellungsdekret gleich jetzt in der Hand zu haben.«

Der Director blickte zunächst ein Wenig erstaunt auf, dann meinte er lächelnd:

»Es ist das freilich ein Wenig außer dem Usus.«

»Aber doch möglich? Nicht?«

»Hm! Wüßte man nur, daß alle Ihre Weissagungen in Erfüllung gehen.«

»Sie erfüllen sich! Ich habe bereits gesagt, daß ich garantire, und ich wiederhole, daß ich etwaige unangenehme Folgen, welche aber unmöglich sind, auf mich nehmen werde.«

»Dann kann ich mich nur glücklich schätzen, Ihnen einen Dienst erweisen zu dürfen, Durchlaucht.«

»Und ich erkläre mich zu jedem Gegendienst bereit.«

»Sie wünschen also, das Decret jetzt mitzunehmen?«

»Ja, bitte!«

»Ich werde es ausstellen.«

Nach fünf Minuten hatte der Fürst das Document in der Tasche und wurde vom Director bis an seinen Wagen begleitet. Es ist ja nichts unmöglich, und eine jede Möglichkeit hängt nur von Umständen ab.

Als der Fürst nach Hause gekommen war und es sich bequem gemacht hatte, klingelte er dem Polizisten und Leibdiener Adolf. Er betrachtete diesen, als derselbe eingetreten war, mit so schalkhaften Augen, daß Adolf sich räusperte und dann sagte:

»Jetzt schlägt es ein!«

»Das Donnerwetter?«

»Nein. Donner giebt es auf keinen Fall. Es ist gutes Wetter, und das giebt einen freundlichen Schlag.«

»So! Ist mein Gesicht denn gar so deutlich?«

»In diesem Augenblicke wenigstens.«

»So will ich nicht widersprechen. Ich habe allerdings einen Vorschlag für Dich, der sehr freundlich ist, Adolf.«

»Ich stehe zu Diensten.«


// 2092 //

»Das bin ich überzeugt. Ich weiß, daß Du meine Wünsche berücksichtigst. Und diesen zumal, da er ganz und gar mit Deinen Neigungen harmonirt. Adolf, Du mußt heirathen!«

Das war allerdings, als hätte der Blitz eingeschlagen. Adolf machte einen Schritt zurück, und zwar mit beiden Beinen zugleich, einen richtigen Ueberraschungshoppser.

»Hei - ra - - ten? Hei - - hei - - -?« stieß er in höchstem Erstaunen hervor.

»Ja, freilich! Ich glaube gar, Du erschrickst!«

»Das ist weiß Gott auch wahr.«

»Hast aber keine Ursache dazu!«

»Heirathen, ich!«

Er konnte sich noch immer nicht fassen. Der Fürst sagte lachend:

»Hast Du noch nicht daran gedacht?«

»Zuweilen, ja. Das thut ein Jeder, besonders wenn man augenblicklich nichts Besseres zu thun hat.«

»Ganz richtig! Und da wir augenblicklich auch nichts Besseres zu thun haben, so wollen wir an Deine Verheirathung denken.«

»Wir?«

»Ja, wir!«

»Aber da können wir ja ebenso gut auch an die - -«

Er stockte erröthend.

»Sprich nur weiter!« lachte der Fürst.

»An die Ihrige denken, Durchlaucht!«

»Das wäre zu spät. Ich habe meine Braut, wie ich Dir unter vier Augen gestehen will. Nun gilt es nur, zu erfahren, ob auch Du eine hast.«

»Nein, leider oder glücklicher Weise.«

»Gut, sehen wir uns um!«

»Um Gotteswillen! Das hat Zeit.«

»Nicht viel. Du bist ein tüchtiger Kerl; Du wirst avanciren; Du hast bereits eine Pension von mir; aber Du hast keine Verwandten. Und doch mußt Du Jemand haben, mit dem Du Deine Pension verzehren kannst. Du bist also gezwungen, eine Frau zu nehmen.«

»Wegen der Pension?«

»Ja.«

»Was das betrifft, so kann ich meine Pension auch mit anderen Leuten verzehren. Eine Frau scheint mir nicht so unbedingt nöthig zu sein.«

»Ich glaube gar, Du bist Weiberfeind!«

»So ziemlich!«

»Hast aber doch damals der Jette des Apothekers Horn den Hof gemacht, Adolf.«

»Nur auf Ihren Befehl.«

»So thust Du es jetzt ebenso auf meinen Befehl.«

Adolf kratzte sich lachend hinter dem Ohre und sagte:


 

// 2093 //

»Zwischen Hof machen auf Befehl und Heirathen auf Befehl ist denn doch wohl eine gewisse Art von Unterschied!«

»Mag sein, doch ist dieser Unterschied nicht groß. Also Du sagst, daß Du Dich bereits umgesehen habest. Hast Du denn etwas Passendes gefunden?«

»Nein.«

»Du, jetzt glaube ich Dir nicht!«

»Durchlaucht!«

»Schon gut! Ich will in Deine Herzensgeheimnisse gar nicht dringen, sondern Dir einfach sagen, daß auch ich mich für Dich umgesehen habe.«

Adolf hustete und machte jetzt nun ein ziemlich bedenkliches Gesicht. Die Sache begann, ihm immer weniger spaßhaft zu erscheinen.

»Ich hoffe also, daß Du mir erlaubst, Dir einen Vorschlag zumachen,« fuhr der Herr fort.

»Einen Vor - - schlag - -!« dehnte der Diener. »Ja.«

»Aber ohne Vorbehalt, das bitte ich mir aus! Mein Vorschlag hat Gewicht und muß befolgt werden!«

»O weh!« entfuhr es dem Bedrängten.

»Was hast Du zu erschrecken?«

»Wenn sie mir nun nicht gefällt!«

»Das ist Nebensache. Mir gefällt sie.«

»Sapperment! Verzeihung, gnädiger Herr; aber ich denke, daß ich es bin, der sie nehmen soll!«

»Natürlich!«

»Also muß auch ich es sein, dem sie zu gefallen hat!«

»Versteht sich! Sie hat Dir zu gefallen! Das bitte ich mir aus! Ich möchte grad in diesem Falle keinen Ungehorsam wissen.«

Das wurde ernst. Adolf hustete wieder, und viel länger und bedenklicher als vorher. Dann gestand er:

»Jetzt weiß ich bei Gott nicht, woran ich bin!«

»Was weißt Du nicht?«

»Ob Durchlaucht immer noch nur scherzen.«

»Immer noch? Ich habe überhaupt noch gar nicht gescherzt. Ich meine es sehr ernst. Das Mädchen ist brav.«

»Hm!«

»Hübsch, sehr hübsch!«

»Geschmackssache!«

»In guten Jahren!«

»Vielleicht sechzig.«

»Und ihr Vater ist ein angestellter Mann!«

»Vielleicht Regierungsrath oder Laternenanzünder!«

»Er ist nämlich Cassirer.«

»Ah! Wo?«

»Beim hiesigen Residenztheater.«

»Lieber Himmel, hilf!«


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»Was?«

»Die also, die!«

»Kennst Du sie?«

»Ja. Es ist die einzige Tochter, die er hat!«

»Nein, er hat mehrere Töchter.«

»Verzeihung, gnädiger Herr! Dieser Mann hat nur eine einzige Tochter. Ich kenne sie sehr genau. Ich habe einen guten Bekannten, der in sehr intimer Geschäftsbeziehung mit ihr steht.«

»Wieso?«

»Er ist Bandagist und hat ihr ihre Bruchbänder und den Rückgratshalter immer zu repariren.«

»So kennst Du sie also. Das ist mir lieb.«

»Um Gottes willen!«

»Scherz bei Seite! Ich wünsche, daß Du Dich der Tochter des Cassirers näherst, und ich denke, daß mein Wunsch so viel Gewicht hat, daß Du wenigstens den Versuch machst.«

»Den Versuch, ja, den will ich machen. Aber ich gestehe aufrichtig, daß ich nicht sehr erbaut bin, zumal ich gehört habe, daß es mit der Anstellung ihres Vaters aus ist.«

»Wieso?«

»Er soll in die Casse gegriffen haben.«

»Das thut ein Jeder, wer eine hat! Also nähere Dich dieser Dame, und wenn Du mit ihr einig bist, so gieb ihrem Vater diese paar Zeilen, sie werden Deine Absichten auf das Beste unterstützen.«

Er gab ihm das zusammengefaltete Decret hin, welches er von dem Director erhalten hatte. Adolf machte ein Gesicht, als ob der Himmel am Einstürzen sei, und wollte das Papier öffnen.

»Laß nur jetzt zu!« meinte sein Herr. »Lies es später, und sage der Dame, daß ich Euch meinen Segen gebe! So, jetzt kannst Du gehen, lieber Adolf.«

Der Diener ging. Als er die Thüre hinter sich zumachte, brummte er vor sich hin:

»Lieber Adolf! Auch noch! Na!«

Da erblickte er Anton, seinen Kameraden, welcher lesend in der Ecke saß. Dieser sah auf, betrachtete ihn forschend, lachte kurz vor sich hin und sagte:

»Mensch, was für ein Gesicht machst Du da?«

»Ja, ich möchte es auch sehen!«

»Gucke nur in den Spiegel! So eine nageldumme Physiognomie habe ich in meinem ganzen Leben nicht gesehen.«

»Das glaube ich. Es ist mir auch noch nie so dumm zu Muthe gewesen wie jetzt!«

»Was hat es denn gegeben?«

»Etwas ganz Verfluchtes! Denke Dir, heirathen soll ich!«

»Sapperment!«


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»Und er hat Eine für mich ausgewählt!«

»Mache Dich nicht lächerlich!«

»Ja, das ist es eben, was mich ganz dumm macht! Er hat allen Ernstes das Verlangen an mich gestellt, daß ich seine Candidatin heirathen soll.«

»Wenn das wahr ist, so hat er seine ganz besonderen, und zwar guten Absichten dabei.«

»Danke für diese Absichten!«

»Wer ist es denn?«

»Das Kameel des Residenztheatercassirers.«

»Verflucht! Du bist nicht bei Troste!«

»Ja, gewiß, die!«

»Mensch, das ist nicht wahr!«

»Gehe hinein und frage ihn!«

Da endlich erhob Anton sich vom Stuhle, faßte den Andern beim Arme und sagte:

»Adolf, Du bist wirklich dumm, sehr dumm!«

»Meinst Du? Schön von Dir! Hab Dank!«

»Bitte, bitte! Wenn Der da drin Dir wirklich diese Proposition gestellt hat, so steckt irgend etwas dahinter, was ich nur jetzt noch nicht errathen kann.«

»Natürlich steckt etwas dahinter! Und zu errathen brauche ich es gar nicht; ich weiß es bereits.«

»Na, was denn?«

»Eine Heirath natürlich!«

»Unsinn! Wenn ich dabei gewesen wäre, so wollte ich wohl rathen, was er will. Es fällt ihm nicht im Traume ein, Dir eine solche Frau aufzubinden. Wie wollte er Dich denn dazu zwingen?«

»Durch Entziehung der Pension!«

»Da kennst Du ihn schlecht. Was hast Du denn eigentlich da zwischen den Fingern kleben?«

»Ach so! An diesen Wisch habe ich in meinem Grimme gar nicht mehr gedacht. Den soll ich ihrem Vater geben.«

»Dem Theatercassirer?«

»Ja.«

»Zeige her!«

Er zog ihm das Document aus der Hand, entfaltete es und las. Als er fertig war, konnte er sich nicht halten; er fiel in ein Gelächter, welches immer wieder von Neuem begann.

»Mensch!« sagte Adolf zornig. »Bist Du verrückt! Das muß ja der Fürst hören! Er ist nebenan!«

»O, er wird dieses Mal nicht bös sein, denn er hört ja daraus, daß es gewirkt hat.«

»Was hat gewirkt, he?«

»Dieses Rezept. Dachte ich es doch, daß etwas dahinter steckt! Und


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auch Du hast recht, denn es steckt wirklich eine Heirath dahinter. Aber, ihm zuzutrauen, daß er Dir diese Heirath zumuthet!«

»Na, was muthet er mir denn zu?«

»Höre, Adolf, ich habe Dich freilich für sehr dumm gehalten, das ist wahr, aber jetzt sehe ich ein, daß Du noch zehnmal dümmer bist als Du selber. Da, lies!«

Jetzt nahm der Andere das Decret. Während das Lesens wurde sein Gesicht länger und immer länger. Als er damit fertig war, blickte er Anton ganz consternirt an.

»Na, was hat's denn noch?« fragte dieser.

»Ist das möglich?«

»Da steht es ja schwarz auf weiß!«

»Was für ein ungeheurer Esel - -«

»Bist Du?«

»Ja, ich!«

Und jetzt brach er selbst in ein schallendes Gelächter aus. Dann, als dieses geendet hatte, fragte er:

»Er muß es also gewußt haben?«

»Natürlich!«

»Woher aber?«

»Hm! Wer weiß!«

»Kein Mensch weiß es, nicht einmal sie selbst. Du bist der Erste und Einzige, dem ich davon erzählt habe, und zwar auch erst heute früh.«

»Ah, da erklärt es sich ja!«

»Wieso?«

»Wir sprachen von den beiden Freundinnen ziemlich laut; wir dachten nicht, daß er bereits munter sei. Kaum aber warst Du fort, so kam er herein, und da bemerkte ich, daß die Thür nur angelehnt gewesen sei. Er hat Alles gehört.«

»Sapperment!«

»Und hat nicht Eiligeres zu thun gehabt, als Dir den Weg ebnen. Mensch, Du bist zu beneiden!«

»Ja. Und ich wiederhole es, daß ich der größte Esel bin, den es nur geben kann. Also Werner soll Cassirer werden! Mensch, Anton, ich muß heute mit ihr reden!«

»Ja, nein eilt's plötzlich!«

»Geh! Du mußt mir den Gefallen thun!«

»Welchen denn?«

»Wir sind zu Wachtmeisters geladen, dem Vetter Kohlenbrenner wegen. Emilie muß auch mit kommen.«

»Hm! Der Gedanke ist nicht unrecht. Da hättest Du Deine und ich Meine! Aber, höre, sind wir nicht zwei ganz und gar eigenthümliche und unbegreifliche Kerls? Verlieben uns in die beiden Freundinnen und getrauen


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uns nicht, es ihnen zu sagen. Die reinen Ritter Toggenburg's! Ich glaube, die Zwei ahnen es nicht einmal!«

»Möglich. Die Meinige soll es aber heute erfahren. Willst Du mir den Gefallen thun?«

»Na, kann ich es Dir etwa abschlagen? Jetzt brennt es nun bei Dir oben hinaus. Da giebt es kein Halten!«

»Wann gehst Du?«

»Wenn Du befiehlst.«

»Also gleich jetzt!«

»Richtig! Gut!« lachte Anton.

Und wirklich, er machte sich sofort zum Ausgehen fertig und begab sich nach der Wasserstraße zu dem früheren Amtswachtmeister Landrock. Als er dort ankam, war Anna, die Tochter desselben, allein zu Hause.

Anton verkehrte hier schon längere Zeit. Er hatte an dem stillen, sittsamen und häuslichen Mädchen ein herzliches Wohlgefallen gefunden, welches sich nach und nach zur innigen Liebe steigerte. Freilich war sie nicht mehr ganz jung, er aber ja auch nicht. Und hübsch war sie doch, ja, er sagte sich zuweilen, daß sie wohl gar eine Schönheit genannt werden könne.

Das Sonderbarste war, daß er mit ihr noch kein Wort über seine Wünsche gesprochen hatte. Er, der gewandte und erfahrene Geheimpolizist, der mit den höchsten Persönlichkeiten umzugehen verstand, fühlte diesem stillen Mädchen gegenüber eine Scheu, die kaum begreiflich war.

Erst seit heute Morgen hatte er sich diesen Vorwurf selbst gemacht, seit er mit Adolf gesprochen hatte.

Emilie Werner, die schöne Tochter des abgesetzten Theaterdieners, war nämlich die Freundin von der Tochter des einstigen Amtswachtmeisters. Sie kam sehr häufig zu ihr, und da Anton auch seinen Collegen Adolf mitbrachte, so lernte dieser Letztere Emilie kennen und auch lieben. Mit ihm war es ebenso wie mit dem Anderen. Auch er hatte noch kein Wort mit der Geliebten gesprochen. Jetzt nun sollte das so ganz plötzlich anders werden. Warum nicht auch bei Anton?

Dieser fühlte sich aber doch einigermaßen beklemmt, als er Anna allein traf. Ueber ihr hübsches Gesicht zog eine leise Röthe, wie allemal, wenn sie ihn erblickte. Sie gab ihm die Hand mit jenem zutraulichen Lächeln, welches man nur für gute Bekannte hat, und nöthigte ihn, sich niederzusetzen.

Es wurden einige gewöhnliche Redensarten gewechselt und dann hing sein Auge an ihren weißen Händen, welche mit einer Häkelarbeit beschäftigt waren.

Welch ein Händchen! Sapperment! Wie müßte von ihr der Kaffee schmecken und das Butterbrod und die Wurst, der Schinken und die

»Spiegeleier?« sagte er ganz laut.

Spiegeleier waren nämlich eine Delicatesse für ihn. Er erschrak und erröthete wie ein kleines Kind, als er seine eigene Stimme so laut hörte. Sie blickte rasch von ihrer Arbeit auf und sah ihn fragend an. Als er aber schwieg meinte sie:


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»Haben Sie Hunger?«

»Nicht eigentlich, aber Appetit.«

»Auf Spiegeleier?«

»Eigentlich auf etwas ganz Anderes.«

»Bitte, sagen Sie es mir! Dann kann ich es Ihnen heute Abend mit vorsetzen.«

»Ah, das wäre aber herrlich!«

»Es geschieht ja gern, wenn es überhaupt möglich ist.«

»Möglich? O, sehr leicht.«

Es war nichts anderes als ein Kuß, den er sich wünschte.

»Also bitte, was ist es?« fragte sie.

»Hm!« meinte er verlegen. »Das ist eigentlich gar nicht so leicht gesagt.«

»Ist es etwas so sehr Complicirtes?«

»Sehr einfach im Gegentheile.«

»Aber eine Delicatesse.«

»Die größte, die es giebt.«

»O weh! Dann ist es theuer!«

»Gar nicht. Es kostet keinen Kreuzer!«

»Da geben Sie mir freilich schwer zu rathen auf.«

»Und doch wäre es mir äußerst lieb, wenn Sie es erriethen. Es zu sagen, wird mir zu schwer.«

»Wollen sehen. Welche Farbe hat es?«

»Kirschroth.«

»Wo wächst es?«

»Na, wie denn! Es wächst gar nicht.«

»Es ist also keine Pflanze?«

»Nein.«

»Kein Getränk?«

»Nein.«

»Also wohl Fleisch?«

»Fleisch ist es, ja. Und was für welches! Sapperlot!«

Er schnalzte vor Vergnügen mit der Zunge.

»Nun,« sagte sie lächelnd, »da werde ich es ja wohl bald errathen. Ist es Fisch?«

»Nein.«

»Vogel?«

»Auch nicht.«

»Also Säugetier?«

»Hm! Ah! O! Na! O weh! Ja, doch Säugetier!«

»Rind?«

»Bei Leibe nicht!«

»Schöps? Kalb?«

»Ganz und gar nicht.«

»Pferd?« lachte sie.


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»Fällt mir nicht ein.«

»Wild?«

»Nein, gar nicht! Im Gegentheile sehr zahm.«

»Dann bin ich mit dem Rathen zu Ende. Ich glaube, Sie werden auf Ihre Delicatesse verzichten müssen.«

»Das ist unangenehm, sehr unangenehm!«

»Ich habe ja den guten Willen, aber ich habe ja Alles durchgerathen, ohne es zu finden. Menschenfresser werden Sie doch wohl nicht sein!«

Da fiel er, von einem Ohre bis zum anderen lachend, schnell ein:

»Das ist's! Gerade das und nichts Anderes!«

»Sie erschrecken mich!«

»Ja, Menschenfleisch will ich haben, und zwar die kirschrotheste Stelle, welche es giebt.«

Jetzt begann sie zu ahnen, was er meinte. Sie erröthete, aber diese Art und Weise, sein Verlangen nach einem Kusse auszudrücken, war doch so originell, daß sie in ein herzliches Lachen ausbrach.

»Besser ist es, Sie verzichten«, sagte sie dann. »Man darf kein Cannibale sein.«

»Andere sind es auch, aber leider habe ich einmal Pech. Wo ist der Herr Vater?«

»Er ist mit dem Vetter Kohlenbrenner und der Muhme ausgegangen, um ihnen die Residenz zu zeigen.«

»Das freut mich. Auf diese Weise kann ich mit Ihnen etwas sehr Nöthiges unter vier Augen verhandeln.«

Sie wurde ein wenig verlegen.

»Ist es sehr nöthig?« fragte sie.

»Ja, sehr. Es ist nicht gut aufzuschieben.«

»Bitte, was ist es?«

»Hm, es ist so etwas von Liebe und vom Heirathen.«

Ihre Wangen färbten sich hochroth. Und doch war dies gar nicht nöthig, denn wenn der gute Anton so sehr geläufig von der Liebe und vom Heirathen sprach, hatte er ganz gewiß nicht sich selbst im Sinne.

»Das wäre ja etwas recht Seltsames«, brachte sie hervor, um doch nur etwas zu sagen.

»Ja, mir kam es auch seltsam vor, als er es mir sagte.«

Da gewann sie schnell ihre Fassung wieder und fragte:

»Er? Wen meinen Sie?«

»Adolph.«

»Der? Was Sie sagen! Will er heirathen?«

»Partout und sehr bald.«

»Wen denn?«

»Na, davon werden Sie wohl auch keine Ahnung haben! Werner's Emilie nämlich!«


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Da ließ sie die Hände in den Schooß sinken und blickte ihn in höchster Ueberraschung an.

»Das ist ja eine ganz unerwartete Neuigkeit!«

»Mir war es auch neu. Hoffentlich wird es auch alt.«

»Aber ich müßte doch etwas wissen, wenn sie verlobt wären.«

»Das sind sie freilich noch nicht.«

»So haben Sie nur erst mit einander gesprochen?«

»Auch noch nicht.«

»Was? Höre ich recht! Noch nicht?«

»Kein Wort!«

»Und sie wollen sich heirathen?«

»Einstweilen nur er sie.«

Da lachte sie so herzlich auf, daß er wohl oder übel mit einstimmen mußte; dann sagte er:

»Ja, lachen Sie nur! Es ist doch so! Aber nun möchte er gern wissen, ob auch sie ihn will, und da sollen Sie sich mit in's Mittel schlagen.«

»Was soll ich thun?«

»Wir Beide kommen heute Abend zu Ihnen; könnten Sie es nicht so einrichten, daß Fräulein Emilie auch da wäre?«

»Ich müßte sie einladen.«

»Ganz recht! Wollen Sie das thun?«

»Sehr gern. Ich werde selbst zu ihr gehen.«

»Gehen Sie gleich! Es ist keine Zeit zu verlieren, wenn Sie nicht zu spät kommen wollen. Sie sagt sonst vielleicht irgendwo anders zu.«

»O nein. Emilie geht nicht aus, als nur zu mir. Wir haben also keine so große Eile dabei.«

»Schön! Und wenn Sie es ganz hübsch machen wollen, bitte, so fragen Sie doch einmal so ein bischen hinten herum bei ihr an, ob sie ihm gut ist.«

»Ich denke, er will selbst fragen!«

»Hm! Eigentlich ja. Aber er ist ein eigenthümliches Kerlchen. Wenn er sie sieht, so geht ihm der Muth flöten.«

»Da wären Sie wohl anders?«

»Das versteht sich! Ich würde draufgehen wie Blücher.«

»Wirklich?«

»Ja. Ich würde es nämlich so machen: Ich - ich - ich -«

Er blieb stecken. Sie wartete eine Weile und fragte dann:

»Nun, wie würden Sie es denn machen?«

»Na, rundweg gesagt, ich machte eben kurzen Prozeß.«

»So! Wie wird denn der gemacht?«

»Das wissen Sie nicht?«

»Nein.«

»Nun, ich fragte ganz einfach: Willst Du mich?«

»Und wenn sie Ja sagte?«

»So spräch ich dann: Da hast Du mich!«


// 2101 //

»Das ist allerdings ein sehr kurzer Prozeß. Wie aber nun dann, wenn sie Nein sagte?«

»Sapperlot! Das hoffe ich doch nicht!«

»Man muß aber auch daran denken.«

Er rieb sich verlegen die Hände und antwortete:

»Na, da fange ich lieber gleich gar nicht an! Das wäre ja eine Blamage, die man gar nicht verwinden könnte.«

»Eine Blamage doch keineswegs. Wenn ein Ehrenmann eine brave junge Dame fragt, ob sie ihn lieb hat und sie muß ihm mit Nein antworten, so ist das keine Demüthigung für ihn, gar nicht.«

»Aber doch ärgerlich!«

»Das mag sein.«

»Und kränkend für den, der ein Gemüth hat.«

»Meinen Sie?«

»Ja. Ich setze zum Beispiel den Fall, ich -«

Sie blickte zu ihm auf, um den Fall mit anzuhören; aber da war es leider mit dem Falle zu Ende, noch ehe er angefangen hatte.

»Welchen Fall meinen Sie?« fragte sie.

»Ich meine einen - einen - hm, einen höchst interessanten, einen sehr schönen Fall.«

»Darf ich ihn erfahren?«

»Ja.«

»Nun, bitte!«

»Ich setze also den Fall, ich wäre - ich hätte -«

Er blieb abermals stecken, weil sie ihn so erwartungsvoll anblickte.

»Weiter, weiter!«

»Ah, Fräulein Anna, haben Sie da nicht eine Masche fallen lassen?«

Bei diesen Worten zeigte er auf ihre Häkelarbeit, um ihren Blick von sich abzulenken.

»Danke! Nein, es ist Alles in Ordnung«, sagte sie.

Glücklicher Weise aber blieb nun ihr Auge auf dem weißen Faden haften. Dies gab ihm neuen Muth. Er sah sie so schön und einladend vor sich sitzen, und er nahm sich vor, jetzt endlich einmal zu reden. Er begann wieder:

»Also ich setze den Fall, ich - wäre - verliebt!«

Da fing ihr Blick blitzschnell den seinen und sie fragte:

»Ist das wahr?«

»Warum nicht?«

»Weil ich mir gar nicht vorstellen kann, daß Sie verliebt sein können, nämlich was man so verliebt nennt.«

»Wie soll ich denn sein können?«

»Ich kann mir denken, daß Sie eine recht tiefe, festgewurzelte, ernste Neigung im Herzen tragen können.«

»Sapperment, ja, das ist's; das ist das Richtige. So eine Neigung steckt bereits tief drin.«


// 2102 //

»Ist das wahr?«

Dabei traf ihn abermals ihr Auge und da war es eben wieder um ihn geschehen.

»Wahr? Hm! Ich denke, ich habe nur den Fall gesetzt!«

»Ach so!«

»Ja. Also ich hätte eine tiefe, ernste Neigung im Herzen, so etwa zu - zu - zu -«

Da sie ihm erwartungsvoll in das Gesicht sah, so war es ihm unmöglich, das zu sagen, was er hatte sagen wollen. Er fuhr also einlenkend fort:

»So etwa zu - zu irgend Einer. Verstehen Sie?«

»Ja.«

Und da sie nun nicht zu ihm aufblickte, so hatte er die ungeheure Verwegenheit, hinzuzusetzen:

»Oder zum Beispiel zu Ihnen selbst!«

Da erhob sie den Kopf, sah ihm mit klarem Blicke in die Augen und fragte:

»Zu mir? Wäre das möglich?«

»Warum nicht?« antwortete er, wie ein Kind erröthend. »Sind Sie denn schlimmer wie so irgend Eine?«

»Das will ich doch nicht befürchten!«

»Ich auch nicht!«

Da lachte sie so hell auf, daß er sie erschrocken anblickte. Er ahnte nicht, daß er mit seinen letzten drei Worten eine ungeheure Dummheit gesagt hatte. Sie nickte ihm aber ermunternd zu und bat:

»Also bleiben wir bei dem erwähnten Falle, daß Sie eine so tiefe Neigung zu mir hegen.«

»Ja. Nun denken Sie sich einmal, daß Sie Nein sagten!«

»Was wäre da wohl?«

Dieses Mal hielt sie den Blick fest auf ihre Arbeit gebannt, um ihn ja nicht irre zu machen.

»Was da wäre?« fragte er. »Na, da wäre - da hätte - da, Donnerwetter, da möchte ich gar nicht mehr leben, da wäre es aus, rein alle!«

Er war erregt. In diesem Augenblicke hatte er sich im Geiste in die Lage versetzt, daß sie ihm einen Korb geben würde, und das brachte ihn so in Rage, daß ihm jetzt Alles gleich war. Er wollte nun endlich gerade von der Leber herunter reden. Aber da hob sie ihr stilles, mildes Auge zu ihm empor und sagte:

»Wäre es wirklich so schlimm?«

Und aus war es mit all' seinem Muthe.

»Na, ich meinte nur so!« sagte er.

»Sie brauchten ja auch gar keine Angst zu haben.«

»Nicht? Warum nicht?«

Da sah sie ihm mit einem unendlich aufrichtigen Lächeln in die Augen und antwortete in ruhigem Tone:


// 2103 //

»Weil ich gar nicht nein sagen würde.«

»Nicht? Wirklich nicht?«

»Nein.«

Da riß es ihn von seinem Stuhle auf. Er fragte es nicht, sondern er rief es förmlich:

»Was denn? Was denn? Würden Sie etwa Ja sagen?«

»Ja, gewiß.«

»Anna, Anna!«

»Anton!«

Sie hatten sich umfangen Arm in Arm, Herz an Herz.

Sie hatten sich umfangen; sie lagen Arm in Arm, Herz an Herz, und er küßte sie und küßte sie und wollte gar nicht aufhören, sie zu küssen, bis sie sich endlich mit Gewalt aus seiner Umarmung wand.

»Du erdrückst mich ja«, lächelte sie.

»Mädchen, Anna, Du hast mir Muth gemacht. Jetzt kann ich auf einmal reden! Jetzt kann ich küssen! Jetzt möchte ich die ganze Welt umarmen! Jetzt könnte ich alle Weiber und Mädels küssen, eine nach der anderen, von der ersten bis zur letzten, eine jede volle drei Viertelstunden lang und auch noch viel länger!«

»O bitte, bitte! Hältst Du das für nothwendig?«

»Nein, nein! Ich meine es nicht so. Ich denke auch, daß es doch eine sehr saure Arbeit wäre. Ich habe Dich und das ist mir genug. Bist Du mir denn wirklich gut gewesen?«

»Stets und von Herzen. Ich habe Deine Liebe gekannt. Ich habe auch gewußt, daß es Dir schwer fällt, davon zu sprechen. Darum bin ich gleich wahr und offen gewesen.«

»Schwer fällt? Da bist Du freilich stark im Irrthum! Wieviele Male hinter einander soll ich es Dir sagen, daß ich Dir gut bin? Fünf- oder zehntausend Male oder meinetwegen Millionen Male?«

»Ja, nun! Nun ist der Knoten gerissen!«

»Na ja, ich will's gestehen, es war ein schlimmer Knoten. Es hat mir manches Mal auf der Zunge gelegen, groß rund, und schwer, wie ein Hefeklos, und es wollte nicht heraus. Jetzt aber steckt der Ton endlich in der Trompete und nun wird auch fortgeblasen. Komm, Herzensmädchen, ich muß Dir noch einen Kuß geben; weißt Du, so einen, auf den noch dreihundert andere kommen!«

Er war jetzt ein ganz Anderer, er herzte, drückte, streichelte und küßte sie, daß sie kaum zu Athem kommen konnte, und eben standen sie beisammen, Mund an Mund, so ging die Thür auf und die Muhme Kohlenbrennerin trat ein, hinter ihr ihr Alter und dann der Wachtmeister.

Die Erstgenannte erblickte die zärtliche Gruppe natürlich zuerst. Sie machte ein ganz erstauntes Gesicht und sagte:

»Herrjemineh, da beißen sich Zwei mit einander!«

»Wo denn?« fragte der Wachtmeister, sich vordrängend.

Die Beiden waren natürlich auseinander gefahren. Anna war glühend roth vor Verlegenheit, doch strahlte ihr Gesicht in glücklicher Freude. Anton


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kratzte sich hinter dem Ohre. Er wäre am liebsten ausgerissen, da er aber fühlte, daß er doch irgend etwas sagen müsse, so meinte er:

»Herr Wachtmeister, ich bin auch da!«

»Ich sehe es, mein Lieber. Willkommen!« antwortete der Angeredete, indem er ihm die Hand entgegenstreckte.

Anton schlug ein und bemerkte dabei:

»Schönes Wetter heute! Denken Sie, daß es sich halten wird?«

»Ich hoffe es!« meinte der Wachtmeister lächelnd und mit einem Seitenblick auf seine Tochter.

»Es könnte aber doch möglich sein, daß es noch regnet. Es gab gerade zu Mittag da drüben gegen Westen zwei oder drei kleine Wölkchen. Das bedeutet allemal veränderliches Wetter.«

»Na, das wollen wir ruhig abwarten. Man muß das Wetter nehmen, wie es kommt. Aber, Kinder, was meinte denn die Muhme da eigentlich mit dem Beißen?«

Anton zerrte am Schnurrbarte und antwortete dann verlegen:

»Herr Wachtmeister, gebissen haben wir uns nicht.

Das werden Sie mir doch nicht zutrauen?«

»Was denn?«

»Hm! Wir haben uns einander etwas gesagt.«

»Das klingt schon friedlicher. Darf ich vielleicht wissen, was Ihr Euch gesagt habt?«

»Ja. Aber wäre es nicht besser, wenn Sie warteten, bis ich fort bin? Anna kann es dann erzählen.«

Diese aber fiel schnell ein:

»Nein, nein! Sage Du es nur jetzt!«

»Sapperment! Hm! Ja! Verfluchte Geschichte! Wissen Sie, Herr Wachtmeister, ich werde nämlich nicht mehr lange beim Fürsten von Befour wohnen.«

»So, so!«

»Ja. Ich ziehe aus.«

»Haben Sie gerade dies meiner Tochter gesagt?«

»Das eigentlich nicht, aber ich hätte es sagen können, denn es gehört dazu. Wissen Sie, wo ich hinziehe?«

»Nein.«

»Ich auch nicht.«

»Sapperlot!« lachte der Wachtmeister, welcher wohl errieth, was geschehen war, und sich an der Verlegenheit Anton's weidete. »Sie fragen mich, ob ich es weiß, und wissen es selbst nicht!«

»Na, eigentlich wüßte ich es.«

»So! Das widerspricht sich aber!«

»Nein, nicht ganz. Haben Sie nicht Lust, auszuziehen?«

»Ich? Weshalb sollte ich denn ausziehen?«

»Weil dieses Logis zu klein ist.«


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»Für uns ist es groß genug.«

»Ja, für Sie, aber für uns nicht.«

»Sie sagen 'uns'! Sie meinen also Sich mit?«

»Ja, denn einen Schwiegersohn werden Sie doch wohl einmal bekommen, und dann müssen wir zusammenziehen.«

»Hm! Einen Schwiegersohn muß ich einmal bekommen, und dann ziehe ich mit Ihnen zusammen? Das klingt ja gerade so, als ob Sie dann der Schwiegersohn wären?«

»Ja, freilich! Gott sei Dank, endlich ist es heraus! Man glaubt doch gar nicht, wie sauer es Einem werden kann, um das Jawort anzuhalten. Ich heirathe einmal, aber nicht wieder!«

»Ach so! Sie wollen um das Jawort anhalten?«

»Ja, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Gegen wen?«

»Gegen die Anna.«

»O, gegen die habe ich gar nichts.«

»Aber wohl gegen mich?«

»Auch nicht - - - aber ich begreife noch immer nicht - - -?«

»Donnerwetter! Ich kann noch gar nicht recht auf das richtige Wort kommen. Ich meine nämlich, ob Sie nichts gegen die Hochzeit und gegen die Heirath haben!«

»Lieber Freund, Sie sind ein sonderbarer Heiliger! Sie wissen ja, daß ich sehr viel auf Sie halte, und doch wollen Sie nicht mit der Sprache heraus. Sagen Sie es doch offen! Sie haben meine Tochter lieb?«

»Ja, zum Fressen!«

»Ah, drum habt Ihr Euch vorhin gebissen! Wie aber steht es denn eigentlich mit ihr?«

»Sie ist einverstanden. Sie liebt mich wieder. Wie meinen Sie denn, soll ich das Aufgebot bestellen?«

»In Gottes Namen! Kinder, ich habe schon lange Zeit gemerkt, wie es mit Euch steht. Ich habe mich herzlich darüber gefreut. Meine Einwilligung habt Ihr und meinen Segen dazu.«

»Nun danket alle Gott!« seufzte Anton. »Das war die schwerste Stunde meines Lebens. Ich will nicht hoffen, daß so Etwas wiederkommt!«

»Nein, hoffen wir das nicht!« lachte der Wachtmeister.

»Wenn es Ihnen heute so schwer geworden ist, so mag es Ihnen in Zukunft desto leichter werden, uns Ihre Liebe zu zeigen!«

»O, die werden Sie schon sehen, die ist ja häuserhoch! Aber, wie steht es denn mit der Verlobung?«

»Schön! Jetzt bekommen Sie Muth. Wie lange wollen Sie denn warten bis zur Verlobung?«

»Warten? Hm! Gar nicht. Ich meine nämlich, weil heute abend Adolf kommt, so - - - na, er ist ja einmal eingeladen, und da könnten wir die Geschichte, so zu sagen, gleich mit abmachen.«


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»Also schon heute Abend Verlobung. Das ist eilig. Aber mir soll es recht sein.«

»Schön, schön, Herr Wachtmeister! Heute Abend Verlobung, und jetzt gehe ich zum Pfarrer, um das Aufgebot zu bestellen.«

»Jetzt gleich? Das geht ja wie mit dem Eilzuge! Also bereits in drei Wochen Hochzeit?«

»Ja. Man soll so rasch wie möglich heirathen, das ist eine alte, gute Familienregel, auf die ich nichts kommen lasse.«

»Ich auch nicht. Also macht, was Ihr wollt, Kinder. Ich bin mit Allem einverstanden.«

Das war dem glücklichen Polizisten sehr recht, und er brach sehr bald auf, um wirklich sogleich zum Pfarrer zu gehen. Anna begleitete ihn bis zur Treppe. Sie meinte freilich:

»Weißt Du, lieber Anton, mit dem Aufgebote ist es nicht so sehr eilig. Es brennt ja nicht.«

»O ja, es brennt! Nämlich hier im Herzen.«

»Schön! Aber warum gleich heute? Morgen ist ja auch noch Zeit dazu!«

»O, ich habe eben schon heute Zeit dazu, und wozu man Zeit hat, das soll man ja nicht aufschieben. Aber, Du gehst doch zu Werner's Emilie, um sie einzuladen?«

»Natürlich!«

»Dann bitte, sage ihr nichts von dem, was ich Dir von Adolf erzählt habe. Sie braucht es nicht zu erfahren.«

»Warum denn nicht?«

»Weil - - weißt Du, dann wäre für ihn die Geschichte furchtbar leicht. Mir ist es so schwer geworden, und da soll auch er sich Mühe geben. Er mag es ihr selber sagen. Er mag auch einmal merken, wie sauer es Einem wird, eine richtige Liebeserklärung loszulassen.«

»Ja«, lachte sie, »Dir ist es sehr schwer geworden. Aber nicht einem Jeden geht es so. Es giebt Männer, denen es sehr leicht fällt.«

»So! Das weißt Du so genau?«

»Ja.«

»Ah! Hast Du etwa bereits Anbeter gehabt?«

»Nein. Aber Du weißt doch, wie ich mit dem Fürsten des Elendes bekannt geworden bin.«

»Ja. Du meinst die Geschichte damals in der Weinstube? Solchen Halunken mag es freilich leicht fallen, von Liebe zu sprechen. Die sind darauf studirt; die thun es zur Unterhaltung. Unsereinem aber ist es ernst, und alles Ernste fällt schwer. Also, vergiß die Emilie nicht!«

Er nahm mit einem Kusse Abschied und ging.

Für Anna gab es erst noch zu erzählen und zu erklären, und so kam es, daß sie erst in der Dämmerung ihre Freundin aufsuchen konnte. Diese


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war bereit, sogleich mitzugehen, und das war Anna lieb, da einige Besorgungen nothwendig waren, wobei Emilie ihr behilflich sein konnte.

Als die Letztere erfuhr, daß Anna sogar zum Conditor gehen wollte, sagte sie:

»Aber meinetwegen doch nicht! Du wirst doch nicht ein solches Geld ausgeben! Das ist nicht nöthig.«

»Heute ist es nöthig. Es giebt ein Familienfest.«

»Familienfest? Es ist doch heute Dein Geburtstag nicht! Den kenne ich ganz genau.«

»Nein, der ist freilich nicht.«

»Etwa der Deines Vaters?«

»Nein. Es handelt sich nicht um einen Geburtstag.«

»Um was denn? Familienfest, das ist mir ein Räthsel.«

»Rathe!«

»Ich errathe es nicht. Ah, Du lachst, Du machst ein so glückliches Gesicht! Handelt es sich etwa um - - Anton?«

»Ja.«

»Hat er endlich gesprochen?«

»Heute, vorhin.«

»Und da soll wohl gar Verlobung sein?«

»Ja, er hat es gewünscht.«

»Anna, das freut mich. Komm her, ich muß Dich küssen, obgleich wir uns auf der Straße befinden, aber es ist ja dunkel; da geht es.«

Sie umarmte und küßte die Freundin und fuhr dann fort:

»Jetzt wünsche ich Dir ein ganzes Leben voller Glück und Freude; Du verdienst es!«

»Du ebenso!«

»Ich? O, ich glaube nicht, daß ich heirathen werde.«

»Wirklich nicht?«

»Nein. Um mich wird sich wohl Niemand bekümmern.«

»Das denkst Du selber nicht. Du bist ja nicht häßlich, auch nicht alt, was willst Du mehr!«

»Sprechen wir nicht davon!«

»O doch, sprechen wir gerade davon! Ich bin heute so glücklich und möchte auch Dich glücklich sehen. Daheim können wir nicht unter vier Augen reden, weil ich Besuch habe; darum gehe ich jetzt mit Dir einen Umweg, um Dich einmal in's Examen zu nehmen.«

»Das wird vergeblich sein.«

»Ich denke nicht. Meinst Du denn, daß ich gar nichts sehe und gar nichts ahne? Denkst Du, weil Du es verschweigst, könne ich es nicht wissen?«

»Was soll ich verschweigen? Was willst Du wissen?«

»Daß auch Du Deine Wünsche hast.«

»O, die hat wohl jedes junge Mädchen!«

»Ich meine, ganz bestimmte Wünsche.«


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»Davon weiß ich nichts.«

»Leugne nicht. Deine Wünsche sind denen, die ich hatte, außerordentlich ähnlich: sie beziehen sich auf die Polizei.«

»Anna!«

»Habe ich Recht?«

»Nein.«

»O doch! Weiß Du, wer heute mit kommen wird?«

»Nun?«

»Adolf, der Freund meines Verlobten.«

Emilie erröthete und hielt unwillkürlich den Schritt an.

»Da möchte ich lieber nicht mit gehen«, sagte sie.

»Warum nicht?«

»Ich, ich - - ach, Anna, ich wollte lieber, er käme nicht!«

»Du bist eine kleine Thörin. Sei doch einmal aufrichtig, und gestehe mir, daß Du ihm gut bist!«

»Was nützt es mir? Er verachtet mich doch!«

»Verachten? Warum?«

»Wegen damals im Theater. Ich habe es Dir noch nicht gesagt. Als wir noch in der hohen Straße wohnten, wohnte er uns gegenüber. Wir konnten einander gerade in die Fenster sehen, und er stand so oft am Fenster, daß - - -«

Sie stockte, und Anna ergänzte lachend:

»Daß auch Du Dich an Euer Fenster stelltest!«

»Nein, das wollte ich nicht sagen. Aber ich mußte doch annehmen, daß er ein Interesse für mich hatte. Er grüßte später und nickte herüber. Ich grüßte natürlich wieder, da ich nicht unhöflich sein wollte - - -«

»Und weil Du ihm gut warst!«

»Auch deshalb. Ich will es gestehen. So ging es mehrere Monate, ohne daß wir ein Wort mit einander gesprochen hätten. Eines Abends aber war ich im Theater gewesen. Am Schlusse desselben sah er mich. Er hatte Dienst im Theater gehabt und war nun frei. Aus Versehen übersah ich auf der Treppe eine Stufe und - - -«

»Aus Versehen? Kind, Du übersahst eine Stufe, weil Du die Augen nicht auf der Treppe, sondern auf ihm hattest!«

»Vielleicht, ja. Kurz und gut, ich wäre gestürzt, wann er mich nicht festgehalten hätte.«

»So nahe war er Dir?«

»Ja, aber ganz gewiß nur zufällig.«

»O, das kennt man. Weiter!«

»Er blieb an meiner Seite, bis ich auf der Straße war, und dort fragte er, ob ich nach Hause gehe. Ich bejahte natürlich, und da er uns gegenüber wohnte, so hatte er denselben Weg. Darum fragte er, ob er mich begleiten dürfe.«

»Du sagtest natürlich nein!« scherzte Anna.


// 2109 //

»Ich wollte es sagen, brachte es aber doch nicht fertig. Er fragte so bescheiden, und ich wollte ihm nicht wehe thun. Also kam es, daß er mit mir ging.«

»Ihr gingt natürlich sehr weit aus einander!«

»Du bist heute glücklich und also zum Scherz aufgelegt. Wir gingen neben einander und unterhielten uns über das gegebene Stück. Er hatte so gute Ansichten; er war so ernst, so - so - - ich weiß gar nicht, wie ich sagen soll; kurz und gut, man mußte ihm gut sein und Vertrauen zu ihm haben, und da weiß ich gar nicht, wie es kam, daß er auf einmal meinen Arm in den seinigen genommen hatte.«

»Aha! Jetzt kommt die Liebeserklärung!«

»O nein. Wir sprachen von Vielem, aber nur von solchen Dingen nicht, und als wir meine Hausthür erreichten, nahm er Abschied und ging.«

»War der Abschied nicht etwa zärtlich?«

»Nein. Was Du denkst! Ich dankte ihm, und da allerdings sagte er - - da sagte er - - -«

»Na, was denn?«

»Daß er sehr gern mit mir gegangen sei und daß er sehr gern auch noch weiter gehen möchte, weiter und immer weiter, durch das ganze Leben.«

»Ah, also doch Liebeserklärung.«

»O nein! Das war doch wohl nur eine Höflichkeit!«

»Meinst Du? Ein so ernster und gesetzter Mann, wie Adolf ist, sagt so Etwas nicht als bloße Höflichkeit, darauf kannst Du Dich verlassen. Hat er Dich nicht gefragt, ob er Dich irgendwo und irgendwann wieder treffen dürfte?«

»Nein, sonst hätte ich doch am Ende gedacht, daß er mir ein bischen gut sei. Er gab mir, als er die erwähnten Worte sagte, die Hand und ging.«

»Und Ihr habt Euch dann nicht wieder getroffen als nur später bei mir?«

»Ja.«

»Das begreife ich nicht.«

»Aber ich begreife es. Nämlich ich wurde kurze Zeit darauf gezwungen, aufzutreten. Ich habe Dir ja davon erzählt. Besinnst Du Dich?«

»Ja. Es muß ein schrecklicher Abend gewesen sein.«

»Entsetzlich! Der Vater hatte nicht gewollt, mußte aber gehorchen, wenn er die Anstellung nicht verlieren wollte. Und auch ich mußte aus demselben Grunde einwilligen. Freilich hatte ich es mir nicht so schlimm vorgestellt, wie es wirklich war. Als ich mich in der Garderobe vollständig entkleiden und dann die durchsichtigen und tief ausgeschnittenen Fetzen anziehen mußte, dachte ich, ich müsse in die Erde sinken. Ich hatte eine stumme Rolle; meine Aufgabe war nur, dem Publikum ein halb- oder vielmehr fast ganz nacktes Frauenzimmer zu zeigen. Ich weinte vor Scham und Aufregung, es half nichts, man hatte kein Mitleid, ich wurde, noch weinend, auf die Bühne gestoßen.«

»Schrecklich!«


// 2110 //

»Ich wagte natürlich nicht, ein Auge aufzuschlagen.«

»Das glaube ich. Ich wäre vor Scham vergangen. Da ist Dir Deine Schönheit zum Unsegen geworden.«

»Schönheit?«

»Ja, Emilie, schön bist Du, das darf ich als Freundin Dir sagen. Und das kannst Du Dir selbst denken, da man Dich sonst nicht zu einer solchen Rolle bestimmt hätte.«

»Wäre ich doch lieber recht häßlich gewesen! Als ich in dieser Weise auf der Bühne stand, kam mir plötzlich ein entsetzlicher Gedanke. Ich dachte an ihn. Wie nun, wenn auch er im Theater war und mich so sah!«

»Das wäre freilich nicht angenehm gewesen!«

»Nur nicht angenehm? Ah! Ich wagte es, aufzublicken, hinauf nach der Polizeiloge. Und denke Dir, dort saß er und hielt den Blick auf mich, gerade auf mich gerichtet. Ich dachte, der Schlag müsse mich treffen.«

»Du Arme!«

»Ich zitterte an allen Gliedern. Es giebt gar kein Wort, zu beschreiben, wie es mir im Innern gewesen ist! Es war mir nachher nur wie im Traume. Ich weiß heute nicht mehr, was ich gethan und gedacht habe; ich weiß nur, daß ich nach Hause gekommen bin und die ganze Nacht hindurch bitterlich geweint habe.«

»Er kann es Dir nicht nachtragen. Du hast ja gemußt.«

»Wie konnte er das wissen!«

»Er brauchte sich nur zu erkundigen.«

»O, das hat er nicht gethan. Er hat gar nichts mehr von mir wissen wollen. Das weiß ich ganz genau.«

»Woher denn?«

»Er hatte täglich zur bestimmten Zeit am Fenster gestanden. Ich kannte die Minute, ja die Secunde ganz genau, wenn er erschien. Am anderen Morgen kam er nicht; ich hoffte und hoffte, aber er war nicht wieder zu sehen. Und als ich mich dann so unter der Hand erkundigte, da hörte ich, daß er am Morgen nach jenem Theaterabende ausgezogen sei.«

»Jedenfalls nur zufällig.«

»O nein.«

»Er ist ledig, er hat eine Garçonlogis gehabt, da pflegt es monatliche oder gar nur vierzehntägige Kündigung zu geben. Er wird aus irgend einem Grunde gekündigt haben, und der Wegzug ist gerade auf diesen Morgen gefallen.«

»Nein. Ich habe mich erkundigt! Die Wittfrau, bei der er wohnte, hat selbst erzählt, daß er ohne vorherige Kündigung ausgezogen ist. Er hat gesagt, daß er fortgehe, er hat den vollen Monat bezahlt und ist wirklich gegangen. Einen Grund hat er gar nicht angegeben, ich aber kenne denselben. Er hat gar nichts mehr von mir wissen, mich gar nicht mehr sehen wollen.«

»Hm! Vielleicht ist es dennoch anders.«

»Nein. Du kannst Dir nun ungefähr denken, wie mir zu Muthe wurde,


// 2111 //

als ich ihn vor kurzer Zeit bei Euch traf. Ich hätte gleich fortgehen mögen!«

»Glücklicher Weise ist das nicht geschehen. Auch er ist geblieben. Das ist doch ein Zeichen, daß Du Unrecht hast, wenn Du denkst, daß er gar nichts von Dir wissen will.«

»Er bleibt doch nur, um nicht unhöflich zu sein. Also ist es gewiß, daß auch er heute kommt?«

»Ja. Er ist Anton's bester Freund und darf deshalb bei unserer Verlobung unmöglich fehlen.«

»Ich würde davonbleiben, wenn ich nicht Deine Freundin wäre.«

»Du nimmst die ganze Angelegenheit zu tragisch.«

»O nein. Denke nur an Das, was später geschehen ist. Wie bin ich in Rollenburg behandelt worden!«

»Unschuldig!«

»Das ändert an der Sache nichts.«

»Wer weiß, ob er es erfahren hat!«

»Der? Ein Polizist? Ein Geheimpolizist? Alle Welt weiß es ja! Es wird ja als Criminalfall vor Gericht verhandelt!«

»Und dennoch darfst Du es Dir nicht so zu Herzen nehmen. Denke, wie es mir ergangen ist. Ich habe Dir erzählt, daß ich damals vor Weihnachten in die Weinstube gelockt worden bin. Anton weiß es, und doch fällt es ihm gar nicht ein, es mir anzurechnen. Man kann doch nicht die Folgen eines Ereignisses, an welchem man unschuldig ist, auf sich nehmen. Komm, hier wohnt der Conditor. Wir wollen diese dummen Gedanken lassen; es giebt heute ja weit Besseres zu thun!«

Als die Beiden dann des Wachtmeisters Wohnung erreichten, fanden sie die beiden Polizisten anwesend. Anton erklärte, daß er beim Pfarrer gewesen sei, daß verschiedene Papiere gefordert würden und daß auch Anna mit dem Vater zum Pfarrer kommen müßte, um ihre Zustimmung zu geben. Während dieser geschäftlichen Verhandlungen bekam Emilie ihre Unbefangenheit wieder, welche ihr abhanden gekommen war, als sie bemerkt hatte, daß der zugleich Gefürchtete und Geliebte schon anwesend war.

Die kleine Versammlung wurde recht munter, zumal Anton für Wein gesorgt hatte. Die beiden Köhlerleute trugen nicht wenig dazu bei und versicherten ein über das andere Mal, daß sie diesen Abend nicht vergessen würden in ihrem ganzen Leben.

Es war bereits gegen Mitternacht, als Emilie erklärte, daß sie nun aufbrechen müsse: Sie wurde gebeten, noch zu bleiben, ließ sich aber nicht halten. Als sie sich erhoben hatte, stand auch Adolf von seine Stuhle auf.

»Was? Auch Du willst fort?« fragte Anton.

»Ja. Die Kette ist nun doch gesprengt, da Fräulein Werner geht. Uebrigens wird es Dir doch wohl nicht unlieb sein, wenn auch ich mich entferne.«

»Warum das?«


// 2112 //

»Getheiltes Glück ist halbes Glück.«

»Ach so!«

»Ihr werdet Euch genug zu sagen haben, wobei Ihr keinen Anderen braucht. Oder guckt Ihr Euch nur so im Stillen an. Es soll Liebesleute geben, die sich stundenlang in das Gesicht sehen, ohne ein Wort dabei zu sprechen, und doch ganz selig sind. Versucht es heute einmal!«

Die Beiden verabschiedeten sich. Unten an der Hausthür ging eigentlich ihr Weg aus einander. Emilie hatte links, Adolf aber rechts zu gehen. Was den Letzteren betraf, so war er keineswegs mit Anton zu vergleichen, dem die Liebe den Muth genommen hatte. Er fragte, ob er Emilie begleiten dürfe, und sie gab ihm ihre Einwilligung, wenn auch mit zagendem Herzen. Als sie zunächst eine kurze Strecke schweigend neben einander gegangen waren, fragte er:

»Erinnern Sie sich wohl noch eines Abends, an welchem ich ebenso wie jetzt an Ihrer Seite ging?«

»Ja,« antwortete sie.

»Darf es ebenso sein wie damals?«

Er nahm ihren Arm, und sie ließ es geschehen. Er sagte:

»Nicht wahr, damals durfte ich Sie führen?«

»Es kann sein.«

»Ah, Sie erinnern sich nicht mehr genau?«

»Nein.«

»Dann ist Ihnen meine Begleitung jedenfalls sehr gleichgiltig gewesen?«

Sie antwortete nicht. Darum fuhr er fort:

»Ich dachte damals, daß ich Sie recht oft wiedersehen würde; ich hatte mich darauf gefreut, aber leider ist es nicht geschehen.«

Sie seufzte leise, doch hörte er es.

»Wissen Sie vielleicht noch, Fräulein Werner, wie gern ich an meinem Fenster stand und zu Ihnen hinüberblickte?«

»Ich sah Sie allerdings zuweilen dort.«

»Und plötzlich war ich fort!«

»Ja,« hauchte sie. Er war ja ihretwegen fortgegangen.

»Das hatte seinen Grund, den ich Ihnen heute sagen will, obgleich man von solchen Dingen nicht mehr spricht. Sie kennen wohl meine damalige Wirthin?«

»Ja.«

»Sie war eine Wittwe, kinderlos und nicht häßlich. Ich hatte schon längst gemerkt, daß sie mir Interesse zeigte, für welches ich keine Dankbarkeit empfand. An jenem Abende nun hatte sie gesehen, daß ich Sie nach Hause begleitet hatte. Das erregte ihre Eifersucht. Sie wurde aufrichtig, sie sprach von ihrer Liebe. Als ich ihr einfach sagte, daß ich nicht gesonnen sei, mir von ihr einen Heirathsantrag machen zu lassen, weinte, jammerte und zürnte sie. Es gab eine widrige Scene, in Folge deren ich ihr eröffnete, daß ich


Ende der achtundachtzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der verlorne Sohn

Karl May – Forschung und Werk