Lieferung 86

Karl May

17. April 1886

Der verlorne Sohn
oder
Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.


// 2041 //

Sie prüfte die Banknote und zählte:

»Eine Eins mit drei Nullen. Eine Null ist Zehn, zwei Nullen sind Hundert, drei Nullen sind Tausend! Herrgott ja, es sind Tausendguldenscheine!«

»Und wie viel, Alte?«

»Fünfzehn.«

»Merkst Du etwas?«

»Was denn?«

»Du merkst nichts, wirklich nicht? Na, zehntausend Gulden todt und fünfzehntausend Gulden lebendig!«

Da schlug sie die Hände zusammen und rief:

»Für den Hauptmann?«

»Freilich, freilich!« jubelte er.

»Du heiliges Weihnachten! Ich muß mich setzen, gleich hierher! Mir schlägt der Schreck in die Glieder!«

Sie setzte sich gleich auf der Stelle, wo sie stand, auf die Diele nieder. Er aber warf die Cassenscheine auf den Tisch, kniete neben sie hin, faßte sie beim Kopfe und fragte voller Angst:

»Alte, meine liebe Alte, wird es Dir schlecht?«

»Nein, gut, aber so schwach«, antwortete sie, den Kopf an seine Achsel legend.

»Werde mir nur nicht etwa krank, sonst pfeife ich auf das ganze Geld! Du bist mir lieber als die Scheine!«

»Alter, Alter! Ist das wahr?«

»Natürlich, natürlich! Nimm Dich zusammen! Wird es Dir noch nicht besser?«

Es war eine wirklich rührende Scene. Den Anwesenden wollten die Thränen in die Augen treten. Fanny von Hellenbach goß Wein in ein Glas, kniete zu der Alten nieder und sagte:

»Trinken Sie einen Schluck. Das wird Sie stärken!«

»Sie Gute! Ja, ich will trinken.«

Sie nippte und nippte, bis das Glas halb leer war. Dann sagte sie seufzend:

»Das thut gut, das stärkt. Es wird mir besser.«

Da nahm ihr der Alte, welcher noch neben ihr kniete, das Glas aus der Hand und meinte:

»Da will ich auch trinken. Es ist mir ganz schwummrig.«

Er trank es vollends leer. Die Anwesenden mußten unwillkürlich lachen. Es sah ja so possirlich aus und klang auch tragikomisch. Er aber sagte ernsthaft:

»Na, wegen des Geldes wird mir nicht schwach, sondern wegen meiner Alten. Ich habe gehört, daß auch die Freude den Menschen umbringen kann. Was würde mir das Geld nützen, wenn ich meine Frau dafür hingeben müßte. Das wäre kein Spaß. Komm, stehe auf!«

Er zog sie empor und führte sie zu einem Stuhl. Dort setzte sie sich nieder und sagte:


// 2042 //

»Alter, wir sind doch recht sehr dumm!«

»Wieso denn?«

»Lassen wir uns so in's Bockshorn jagen!«

»Na, doch wohl nicht!«

»Wie kann denn dieses Geld unser sein!«

»Ich habe ja die Polizei nach Langenstadt geführt!«

»Aber gefangen hast Du den Hauptmann nicht!«

»Lassen Sie diese Bedenken ruhen«, meinte der Rath. »Ich habe höheren Orts den Befehl erhalten, Ihnen die Prämie auszuzahlen, weil Sie es ermöglicht haben, daß der Hauptmann gefangen wurde. Er hat jedenfalls beabsichtigt, nur bis zur Ankunft gewisser Postsachen in Langenstadt zu bleiben; dann wäre er mit dem Vermögen des Amerikaners verschwunden und wir hätten ihn nie in unsere Hand bekommen. Das Geld gehört nur allein Ihnen.«

»Aber Herr Anton -«

»Lassen Sie das«, sagte der Fürst. »Was er gethan hat, das wird ihm auch ohnedies belohnt.«

»Also ist das Geld unser, wirklich unser?«

»Ja. Es ist Ihr Eigenthum.«

»Alte, meine liebe Alte.«

Sie umarmten sich und weinten, bitterlich zwar, aber vor Freude. Dann, als sie sich gefaßt hatten, legte der Rath ihnen die Quittung vor, welche der Köhler unterschreiben mußte. Dann wurde ihnen von sämmtlichen Anwesenden herzlich gratulirt.

»Jetzt können Sie sich Waschbecken und Kaffeekanne kaufen«, sagte Fanny von Hellenbach.

»Und ich«, meinte der Alte, »ich kaufe mir sofort, wenn ich jetzt auf die Gasse komme, eine Cigarre für drei Kreuzer. Da will ich qualmen.«

»Das können Sie schon jetzt thun«, meinte der Rath. »Hier nehmen Sie!«

Er reichte ihm sein Etui hin und Hendschel brannte sich die Cigarre an. Fanny von Hellenbach lud die Alten ein, sie und ihre Eltern zu besuchen. Auch die Anderen waren herzlich gegen sie, und als dann das Paar entlassen war und die Straße erreichte, blieb der Alte stehen, faßte seine Frau beim Arme und sagte:

»Du, das hätte die Cantorin sehen sollen!«

»Und die Dorfrichterin.«

»Waren das noble Leute, Herrgottsakra!«

»Und gute Leute!«

»Ja. Diesen Tag werde ich im Leben nicht vergessen! Fünfzehntausend Gulden und eine Cigarre im Munde, von einem adeligen Herrn, welcher Oberlandesgerichtsrath ist! Man kann es kaum ausdenken.«

»Was wird der Vetter sagen?«

»Wollen machen, daß wir hinkommen!«

»Ja. Du, wie wäre es, wenn wir führen?«

»Meinst Du?«


// 2043 //

»Na, wir sind reich!«

»Und es ist so weit.«

»Gut, wir fahren. Wenn wir wieder in unserem Walde sind, werden wir von selbst laufen müssen.«

Sie nahmen sich also eine Droschke. Es war ein ganz neuer Geist in sie gefahren.

Als sie in der Wohnung des einstigen Wachtmeisters ankamen, saß - Anton dort. Er lächelte ihnen entgegen, nickte verständnißvoll und sagte:

»Fertig mit dem Geschäft?«

»Mit welchem denn?«

»Mit dem Geldgeschäft.«

»Ah, was wissen Sie!«

»Nur sachte, lieber Freund! Denken Sie, ich hätte nicht gewußt, weshalb man Sie nach der Residenz bestellte?«

»Was? Sie hätten es gewußt?«

»Sehr gut. Fragen Sie hier den Herrn Wachtmeister. Ich habe ihm gestern Abend erzählt, daß der Köhler Hendschel den Preis von fünfzehntausend Gulden ausgezahlt bekommen werde.«

»Woher wußten Sie es denn?«

»Vom Fürsten.«

»Und mir sagten Sie vorhin nichts davon!«

»Das war gar nicht nöthig. Mir scheint, daß Sie Ihren Käse sehr gut verkauft haben.«

»Ausgezeichnet. Aber eins thut mir leid.«

»Was denn?«

»Daß ich Ihnen das Geld weggenommen habe.«

»Mir? Mir gehörte es ja gar nicht.«

»Sie haben aber den Hauptmann gefangen genommen, noch dazu mit Lebensgefahr!«

»Aber Sie haben mir den Weg gezeigt.«

»Wir hätten wenigstens theilen sollen.«

»Lassen Sie das! Ich bin Ihnen nicht bös.«

»Aber sind Sie denn so reich, daß Ihnen fünfzehntausend Gulden so schnuppe sind?«

»Für mich ist gesorgt.«

»Sind Sie avancirt?« fragte der Wachtmeister.

»Noch nicht. Aber da ich den Hauptmann ergriffen habe, wird man wohl ein Einsehen haben. Uebrigens machte der Fürst mir heute eine Ueberraschung, die ich nicht für möglich gehalten hätte.«

»Freudig?«

»Sehr. Als er sich vor einiger Zeit hier niederließ, erbat er sich zu gewissen Zwecken zwei Geheimpolizisten, welche unter der Firma von Lakaien bei ihm wohnen sollten. Ich wurde mit Adolf zu ihm commandirt. Es ist uns gelungen, ihm nützlich zu werden, und so machte er uns heute die Er-


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öffnung, daß er uns von jetzt an bis zu unserem Tode eine Pension von jährlich tausend Gulden bestimme. Ist das nicht nobel?«

»Außerordentlich. Er ist überhaupt ein außerordentlicher Mann. Mir zahlt er ja auch die Pension, ohne daß ich ihm etwas genützt habe.«

Anton lächelte.

»Hm!« sagte er. »Vielleicht weiß ich, warum er sie Ihnen zahlt, bester Herr Wachtmeister.«

»So? Nun, weshalb denn?«

»Wegen des einzigen Fehlers, den Sie begangen haben.«

»Das wäre mir unbegreiflich. Sie meinen doch die Flucht Brandt's damals?«

»Ja.«

»Was geht ihm dieser Brandt an?«

»Er kennt ihn.«

»Was? So lebt Brandt noch?«

»Ja.«

»Und wo befindet er sich?«

»Das ist Geheimniß. Aber er wird wiederkommen -«

»Um sofort festgenommen zu werden!«

»Nein, sondern um zu beweisen, daß er unschuldig war.«

»Was Sie sagen!«

»Brandt ist in der Fremde reich geworden. Er hat erfahren, daß Sie ohne Amt und Pension sind, und da er den Fürsten kennt, so hat er ihn beauftragt, Ihnen die Pension zu zahlen.«

»So bekomme ich sie nicht vom Fürsten, sondern von Brandt?«

»Ja.«

»Wer hätte dies geahnt! Hörst Du es, Anna?«

»Ja«, antwortete sie.

Sie hatte überhaupt dem Gespräch mit glückstrahlendem Gesicht zugehört, und hatte Veranlassung dazu.

»Wer aber soll damals der Mörder gewesen sein, wenn Brandt unschuldig war?« fragte der Wachtmeister.

»Ganz derselbe, welcher im vergangenen Winter Fräulein Anna nach der Restauration lockte.«

»Wo sie der Fürst errettete?«

»Ja.«

»Wer war dieser Mensch? Man kannte ihn ja nicht.«

»O doch! Es war der Hauptmann.«

»Herrgott!« entfuhr es dem Mädchen.

»Ist's wahr?« fragte der Vater.

»Ja, der Baron von Helfenstein war es. Der Fürst hat es mir später erzählt.«

»Und der Baron soll auch damals der Mörder gewesen sein?«

»Ja.«

»Wie aber soll dies jetzt noch bewiesen werden können?«


// 2045 //

»Das ist Sache der Juristen und der - Polizei.«

»Ah! Sind Sie da auch mit thätig?«

»Ein wenig.«

»Darf man neugierig sein?«

»Bitte, nein. Ich kann Ihnen nur sagen, daß dem hiesigen Publikum Gerichtsverhandlungen zur Verfügung stehen werden, wie es noch nie welche gegeben hat.«

»Na, damals bei Brandt's Verurtheilung!«

»Ist nichts gegen jetzt. Ebenso wüßte ich nicht, zu welcher Zeit die Polizei in solcher Thätigkeit gewesen wäre, wie gerade in der Gegenwart. Ich zum Beispiel muß morgen verreisen, um ein Dunkel aufzuklären.«

»Ist es Amtsgeheimniß?«

»Streng nicht. Sie wissen, daß der Akrobat Bormann gefangen ist?«

»Ja.«

»Er sollte bereits im vorigen Winter ergriffen werden. Das war droben in Brückenau, wo er während einer Vorstellung einen Knaben tödtete. Bisher hat man geglaubt, dieser Junge sei sein eigenes Kind gewesen, jetzt aber stellt es sich heraus, daß dies nicht der Fall ist. Aus ihm ist nichts zu bringen. Seine Frau sagt, daß sie nichts wisse, und so soll ich nach Brückenau, um nachzuforschen.«

»Wer sendet Sie?«

»Der Fürst.«

»Daß doch dieser überall seine Hand im Spiel hat!«

»Er ist ein Criminalgenie ersten Ranges; das werden Sie noch besser bewiesen bekommen als bisher.«

»Also sollen Sie die Eltern jenes todten Knaben ausfindig machen?«

»Ja.«

»Vielleicht war er doch Bormann's eigner Sohn?«

»Nein. Bormann hat niemals ein Kind gehabt.«

»Hätte er ihn geraubt?«

»Das vermuthet man.«

»Schrecklich! Wie muß es solchen Eltern zu Muthe sein! Kann ich doch bereits nicht solche Eltern begreifen, welche ihr Kind für Geld hingeben.«

»Wo wäre das vorgekommen?«

»Hier in der Nachbarschaft.«

»Was? Ein Kind für Geld hergeben? Als verkauft? Oder meinen Sie, daß arme Eltern ihr Kind an kinderlose Leute gegeben und dafür ein Geschenk erhalten haben?«

»Vielleicht ist es so gewesen.«

»Wer sind diese Eltern?«

»Der Holzhacker Schubert hier nebenan in Nummer Elf.«

»Was war es für ein Kind?«

»Ein allerliebster Knabe.«

»Wer sind seine Pflegeeltern?«


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»Das weiß ich nicht. Ich erfuhr damals, daß ihn der fromme Seidelmann erhalten hat.«

Da fuhr Anton blitzschnell von seinem Stuhle auf.

»Seidelmann? Wissen Sie das genau?«

»Ja.«

»Also ein Verbrechen! Adieu!«

Mit zwei raschen Schritten war er zur Thür hinaus.

»Was ist mit ihm?« fragte der Köhler.

»Lassen wir ihn. Erzählen Sie mir lieber, was Sie in der letzten Stunde erlebt haben, Herr Vetter!« -

Anton war schnell die Treppe hinunter und in das Nachbarhaus. Er kannte sämmtliche Bewohner desselben. Es war ja gerade in diesem Hause so Vieles geschehen, was zu seinem Verhältnisse zum Fürsten in Beziehung stand.

Als er bei dem Holzhacker eintrat, war nur dessen Frau zu Hause. Sie, die frühere Waschfrau, war noch immer gelähmt. Sie konnte kaum ein Glied bewegen.

»Guten Abend«, sagte er, denn es fing bereits an, dunkel zu werden. »Ist Herr Schubert zu Hause?«

»Nein.«

»Wo ist er?«

»Auf Arbeit in der Töpferstraße.«

»Das ist so weit, daß ich zuviel versäumen würde. Kennen Sie mich vielleicht?«

»Ich muß Sie wohl gesehen haben.«

»Aber was ich bin, wissen Sie nicht?«

»Nein.«

»Ich bin Criminalpolizist. Hier ist meine Marke.«

»Herrgott! Was wollen Sie bei uns?«

»Erschrecken Sie nicht. Ich komme nicht in feindlicher Absicht. Ich möchte mich nur nach einem Gliede Ihrer Familie erkundigen. Hatten Sie nicht einen Knaben, der sich nicht mehr bei Ihnen befindet?«

»Ja.«

»Wo ist er?«

»Das weiß ich nicht.«

»Wie? Sie wissen nicht, wo sich Ihr Kind befindet?«

»Nein.«

»So kann es sterben und verderben, Ihnen ist's egal!«

»O nein. Es ist viel, viel besser aufgehoben als bei uns.«

»Woher wissen Sie das?«

»Herr Seidelmann sagte es.«

»Sie meinen doch denjenigen Seidelmann, welcher Administrator dieses Hauses war?«

»Ja.«

»Haben Sie etwa ihm Ihr Kind gegeben?«


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»Ja.«

»Und Sie wissen nicht, wohin er es weitergegeben hat?«

»Nein. Er machte es zur Bedingung, daß wir nicht darnach fragen sollten. Ein großer Künstler wollte den Jungen an Kindesstatt annehmen. Wir sollten ganz verzichten. Um unser Kind glücklich zu machen, willigten wir ein.«

»Erhielten Sie etwas?«

»Ja.«

»Wieviel?«

»Zehn Gulden.«

»So wenig? Von einem großen Künstler? Wenn so einer einmal zahlt, giebt er mehr.«

»Wir waren froh, daß wir so viel erhielten. Ich lag krank da. Mein Mann hatte sich in's Bein gehackt und konnte nicht arbeiten. Meine Kinder sollten auf dem Weihnachtsmarkte feilhalten, wurden aber arretirt, weil sie gebettelt hatten. Wir erhielten Strafe. Da kam uns die Summe sehr gelegen.«

»So, so! Also vor Weihnachten war es?«

»Ja.«

»Wie alt war der Junge?«

»Gegen fünf Jahre.«

»Welches Haar?«

»Blond. Er war überhaupt ein Bild von einem Jungen, sehr gut gewachsen. Ich habe sehr viel geweint, ehe ich mich an seine Abwesenheit gewöhnen konnte.«

»Haben Sie nichts wieder von ihm gehört?«

»Nie.«

»Ist er nach auswärts gekommen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Aber Sie wissen, welch' ein Künstler der Betreffende war? Es giebt sehr verschiedene Künste.«

»Ich weiß es nicht.«

»Was? Auch das hat Ihnen Seidelmann nicht gesagt?«

»Nein.«

»Dann haben Sie im höchsten Grade unverantwortlich gegen Ihr Kind gehandelt. Bedenken Sie, daß ein Kartenschläger, ein Seiltänzer sich auch Künstler nennt. Wie nun, wenn Ihr schöner Knabe einem solchen Menschen in die Hände gefallen wäre! Solche Menschen pflegen ihre Ziehkinder schlimmer zu behandeln als das Vieh.«

»Das wird Herr Seidelmann doch nicht gethan haben!«

»Kennen Sie diesen Herrn so wenig?«

»Er war so gottesfürchtig, so fromm!«

»Ach so! Gute Nacht!«

Er eilte fort. Es war ihm, als ob er einen Faden gefunden habe,


// 2043 //

den er verfolgen müsse. Er begab sich nach dem Gerichtsgebäude, und zwar da zu dem Wachtmeister Uhlig.

»Ist Seidelmann von Rollenburg gebracht worden?« fragte er diesen.

»Ja, heute.«

»In welchem Zustande?«

»Ganz apathisch.«

»Hört er?«

»Wie es scheint nicht.«

»Wie steht es mit dem Gesicht?«

»Er stiert nur so vor sich hin.«

»Das Gefühl?«

»Wenn man ihn angreift, merkt er es.«

»Spricht er?«

»Kein Wort.«

»Essen und trinken?«

»Er muß gefüttert werden wie ein Säugling.«

»Hm! Führen Sie mich einmal zu ihm. Er hat doch eine Zelle für sich?«

»Nein. Er liegt auf der Krankenstation.«

»Wer hat das befohlen?«

»Der Gerichtsarzt.«

»Er wird sich doch nicht etwa von diesem schlauen Menschen täuschen lassen?«

»Ich habe ihn auch gewarnt.«

»Dieser Arzt ist überhaupt kein großes Lumen. Das haben wir gesehen, als damals der unschuldige Robert Bertram internirt war. Bitte, führen Sie mich einmal zu diesem frommen Patienten.«

Sie gingen durch mehrere Gänge, bis sie in ein wohlverwahrtes Zimmer gelangten, in welchem mehrere Betten standen. Die Fenster waren stark vergittert und die Thüren mit Riegeln und festen Schlössern versehen. Es befand sich nur ein einziger Patient hier und das war Seidelmann. Der Wärter saß an seinem Bette.

»Hat sich etwas geändert?« fragte der Wachtmeister.

»Nein.«

Anton trat an das Bett. Er erkannte den frommen Schuster sofort wieder, obgleich derselbe bleich und abgemagert aussah. Der Hieb, welchen Petermann ihm mit der Weinflasche versetzt hatte, war verhängnißvoll gewesen. Er hatte lange Zeit mit dem Tode gerungen und noch jetzt lautete das ärztliche Gutachten dahin, daß er die Fähigkeit, zu denken, noch nicht wieder erlangt habe.

Sein blödes, ausdrucksloses Auge stierte gerade aus. Er schien die Anwesenden gar nicht zu bemerken.

»Herr Seidelmann!« sagte Anton.

Der Gerufene gab kein Lebenszeichen von sich. Anton hielt ihm den Mund ganz nahe an das Ohr und rief laut:

»Hören Sie mich?«


// 2049 //

Keine Antwort.

Da faßte er ihn bei der Hand und preßte ihm die Finger mit aller Gewalt zusammen. Das bleiche Gesicht färbte sich roth, weiter war nichts zu bemerken.

»Der Kerl ist schon dreiviertel todt«, sagte er. »An dem ist jede Arznei verloren. Kommen Sie!«

Der Wachtmeister folgte ihm und sagte draußen:

»Man hätte ihn in Rollenburg lassen können.«

»Warum?«

»Es ist gleich, ob er hier stirbt oder dort.«

»Meinen Sie? Lassen Sie sich nicht täuschen, Herr Wachtmeister. Seien Sie vorsichtig!«

»Sie sagten doch selbst, daß er dreiviertel todt sei!«

»In seiner Gegenwart, um ihn sicher zu machen.«

»Ah! Sie denken, er hat es verstanden?«

»Sehr gut.«

»Sie meinen, daß er simulirt, daß er sich verstellt?«

»Ganz gewiß. Ich werde es Ihnen morgen oder bald beweisen. Als ich ihm die Hand zusammenpreßte, mußte er sich alle Mühe geben, um nicht aufzuschreien. Er wurde ganz roth im Gesicht. Das ist genug für mich.«

»Hatten Sie etwas mit ihm vor?«

»Ja, doch es ist vergeblich. In welcher Zelle sitzt sein Dienstmädchen, die doch auch gefänglich eingezogen ist?«

»Frauenabtheilung Nummer Drei.«

»Danke. Ich will Sie nicht belästigen. Die Schließerin kennt mich ja. Guten Abend!«

Er begab sich nach der betreffenden Abtheilung und hörte von der Schließerin, daß die Gefangene seit einiger Zeit mittheilsamer geworden sei. Er ließ sich die Zelle öffnen. Es war dunkel darin. Er nahm ein Licht und trat allein ein.

Die Gefangene hatte bereits auf dem Strohsacke gelegen, welcher bei Beginn der Dunkelheit in die Zelle gegeben wurde. Sie erhob sich.

»Kennen Sie mich?« fragte er.

»Nein.«

»Es ist auch unnöthig, denn ich komme nur in einer privaten Angelegenheit, um bei Ihnen eine Erkundigung einzuziehen.«

»Ich sage nichts.«

»Sie mißverstehen meine Absicht. Meine Gegenwart hat mit Ihren Acten gar nichts zu thun.«

»Was wollen Sie?«

»Schuberts wollen ihren Jungen gern wieder haben.«

Er hatte nur auf den Strauch geschlagen, aber es glückte, denn sie antwortete sofort:

»Da mögen sie ihn sich doch holen!«


// 2050 //

»Sie wissen ja gar nicht, wo er ist!«

»Hat Seidelmann es Ihnen nicht gesagt?«

»Nein, weil die Eltern gänzlich verzichten sollten.«

»Mir kann es gleich sein, ob sie ihn wieder bekommen oder nicht. Aber er wird seine hundertzwanzig Gulden wieder verlangen.«

»Die er Seidelmann gegeben hat?«

»Ja.«

»So erhält er sie. Wer ist es denn?«

»Der Circusdirector.«

»Sie meinen den Director des hiesigen ständigen Circus. Nicht wahr?«

»Ja.«

»Ich danke. Gute Nacht.«

»Gute Nacht. Gott sei Dank, das war doch wenigstens einmal kein Polizist!«

Diese Worte hörte er noch.

Als er nun durch die Stadt nach dem Circus ging, war es ihm, als ob er von seiner Ahnung nicht betrogen worden sei. Er wollte sich nun volle Sicherheit holen.

Er kannte die Verhältnisse des Circus sehr genau. Er hatte sich mit einer früheren Schulreiterin befreundet, welche jetzt, da sie alt und abgeblüht war, nun zu allerlei Nebenleistungen verwendet wurde, durch welche sie sich beleidigt fühlte. Sie war nicht mehr geachtet und hatte ein sehr geringes Einkommen. Das hatte sie erbittert, und nun war sie leicht geneigt, gegen ihren Prinzipal zu conspiriren, was Anton bereits öfters zu statten gekommen war.

Er hatte freien Zutritt. Die Zeit der Proben war vorüber, und diejenige der Vorstellung noch nicht gekommen. Er schlenderte also durch die leeren Räume und nach dem Stalle, ohne sie zu sehen.

Eine Ecke des Baues wurde während der Vorstellung als Restauration benutzt. Dort endlich fand er sie, bei einem großen Schnapsglase sitzend. Sie winkte ihm mit der Hand einen Gruß entgegen und bedeutete ihm, sich zu ihr zu setzen.

»Nichts zu thun?« fragte er.

»Ich? Was soll ich thun? Wozu braucht man mich?«

»Na, na!«

»Was denn? Sie sagen, ich sei zu alt!«

»Das ist nicht wahr.«

»Warum haben sie mir denn wieder für den Monat fünf Gulden abgezogen?«

»Schon wieder?«

»Ja. Ich kann verhungern!«

»Das ist schändlich!«

»Vor zehn Jahren, ja, da poussirte er mich noch.«

»Der Esel! Sie sind jetzt noch ebenso appetitlich!«

»Meinen Sie?«


// 2051 //

»Eine geistreiche Frau wird nie alt.«

»Sie sind der einzige gescheidte Kerl, den ich kenne! Aber es nützt mir nichts. Wenn man halb verhungert, wo soll man da noch schön und appetitlich sein. Eine Frau muß Formen haben; der Hunger aber zehrt.«

»Na, hungern werden Sie doch nicht gerade!«

»Nicht? Habe ich etwa heute schon etwas gegessen?«

»Wirklich nicht?«

»Nein. Einige Gläser Schnaps, das ist Alles, was mir über die Lippen gekommen ist.«

»Du lieber Gott! Ich wollte, ich wäre reich.«

»Ja, Sie würden es anwenden. Sie würden mir ganz gewiß Etwas borgen.«

»Ja, denn ich habe ein ganz eigenthümliches Interesse für Sie.«

»Könnten Sie denn nicht wenigstens etwas thun?«

»Wohl nicht. Gerade heute nicht.«

»Warum gerade heute nicht?«

»Weil ich mich ganz ausgegeben habe. Und wenn Sie mich aufschneiden, so finden Sie doch nur zwei Gulden bei mir.«

Er hatte nämlich aus Vorsicht zwei Gulden im Portemonnai gelassen, das andere Geld aber versteckt.

»Zwei Gulden, das ist für mich schon viel!«

»Ich muß damit drei volle Tage reichen.«

»Pah! Sie haben Credit.«

»Nicht übermäßig.«

»Aber doch. Wie wäre es, wenn Sie mir die zwei Gulden bis zum nächsten Gagentage borgten?«

»Sapperment! An wie viel Gagentagen haben Sie mich eigentlich schon bezahlen wollen?«

»Diesesmal sicher.«

»Es war allemal sicher.«

»Mensch, auch Sie werden obstinat! Ich hänge mich noch.«

»Warten Sie lieber noch! Zum Hängen kommt man stets zeitig genug. Hier sehen Sie mein Geld: Gerade zwei Gulden. Ich kann nun einmal gegen Sie nicht anders sein. Nehmen Sie das Geld! Ich will sehen, wie ich verkomme.«

»Mensch, Christ, Engel! Sie sind weiß Gott der beste Kerl, den ich kenne. Ich hätte nicht einmal diesen Schnaps bezahlen können. Jetzt bin ich gerettet!«

"Wenigstens auf einen Tag!"

»Wenigstens auf einen Tag!«

»Das genügt. Trinken Sie einen Doppelkümmel mit?«

»Ich danke! Wer reitet heute die hohe Schule?«

»Miß Rocca. Hole sie der Teufel!«

»Hörte ich nicht, daß ein neuer Clown engagirt sei?«

»Weiß nichts davon.«


// 2052 //

»Oder war es etwas Anderes. Ich bin überhaupt seit längerer Zeit nicht im Circus gewesen.«

»Ja, Sie haben auch mir gefehlt.«

»Wie haben Sie denn eigentlich jetzt die Kinderrollen besetzt?«

»Seit wann interessiren Sie sich dafür?«

»Das Interesse ist nicht bedeutend. Ich dachte eben nur so daran.«

Sie blickte ihn von der Seite an und antwortete:

»Wollen Sie mir das weiß machen? Mir?«

»Wieso?«

»Spielen Sie doch wenigstens nicht mit mir Verstecken. Ich bin zu gescheidt dazu. Oder wenigstens habe ich Sie zu gut studirt, als daß ich nicht wüßte, was Sie meinen.«

»Na, was meine ich denn?«

»So speciell läßt es sich nicht sagen. Etwas aber wollen Sie erfahren. Gestehen Sie es nur! Es ist besser. Sie wissen ja, daß ich Ihnen gern gefällig bin.«

»Na, dann meinetwegen, ja.«

»Ist's gefährlich für uns?«

»Gar nicht!«

»Für den Director?«

»Auch nicht. Aber einen Anderen kann es packen.«

»Wen? Kenne ich ihn?«

»Ja. Ich meine den Herrn Seidelmann.«

»Den Jesuiten? Den kann der Teufel reiten. Wenn ich dem Eins auswischen kann, so thue ich es ganz gewiß. Also, um was handelt es sich?«

»Um einen Jungen.«

»So, so! Wie alt?«

»Fünf Jahre und blond. Sehr hübsche Figur.«

»Zu welcher Zeit?«

»Vor Weihnachten.«

»Stimmt, stimmt! Ein Engel von einem Kinde! Wird aber wohl auch Engel geworden sein.«

»Sie besinnen sich also!«

»Ja. Der Seidelmann kam und tuschelte einige Male mit dem Director. Dann wurde der Junge gebracht. Er kostete, glaube ich, hundertzwanzig Gulden.«

»Das ist richtig.«

»Nach einigen Tagen hatte er aber schon das Bein gebrochen. Armer Wurm!«

»Mein Gott.«

»Der Alte wollte ihn gern loswerden, und als der Bormann zufällig kam -«

»Meine Ahnung! Der Bormann hat ihn bekommen?«

»Ja.«

»War das Kind wieder gesund?«


// 2053 //

»Gott bewahre, das Bein hing nur so an der Flechse; aber der Bormann machte das Wimmern doch sofort still.«

»Mit der Peitsche?«

»Natürlich.«

»Bestie!«

»Ich denke, der Kleine wird es nicht lange getrieben haben.«

»Er ist todt.«

»Nicht wahr? Dachte es mir! Bei dem Bormann steckte das Leben eines Kindes nicht fest. Hoffentlich wird es ihm nun aber selbst an den Kragen gehen. Er hat gemordet.«

»Ja. Ich glaube nicht, daß er mit dem Leben davonkommt. Jetzt aber will ich wieder aufbrechen.«

»Schon!«

»Ja. Ich muß doch sehen, wo nun ich etwas gepumpt bekomme, da ich Ihnen meinen Rest gegeben habe. Guten Abend!«

»Guten Abend, Liebling! Bald wieder!«

»Sobald ich wieder bei Casse bin!«

»Schön! Desto willkommener!«

Er ging, um dem Fürsten das Ergebniß seiner Nachforschung mitzutheilen.

Es war an demselben Abende wenig vor Mitternacht. Der Wachtmeister Uhlig hatte die Runde durch die Zellengänge gemacht und sich kaum erst zur Ruhe niedergelegt, so wurde er von dem wachthabenden Zellenschließer wieder aufgeweckt.

»Was giebt es denn?« fragte er den draußen Klopfenden.

»Nummer fünfundzwanzig plötzlich krank geworden.«

»Wer ist das gleich?«

»Apotheker Horn.«

»Was fehlt ihm denn?«

»Blutsturz.«

»Sapperment! Komme gleich!«

Er beeilte sich sehr, denn ein Blutsturz ist gefährlich. Als er an die betreffende Zelle kam, wartete der Schließer voller Rathlosigkeit auf ihn. Die Zelle schwamm im Blute, und der Kranke lag mit geschlossenen Augen und bleich wie der Tod auf dem Strohsacke.

»Herrgott! Lebt er noch?«

»Ich glaube.«

»Dann heraus einstweilen mit ihm auf einen reinlichen Strohsack.«

Strohsäcke lehnten an den Wänden. Es wurde einer neben die offene Zellenthür gelegt und der Kranke darauf. Die beiden Männer knieten bei ihm nieder.

»Ich fühle keinen Puls«, sagte der Wachtmeister. »Horn, heda, Horn!«

Der Patient schlug die Augen auf.

»Hören Sie mich?«

Er nickte leise.

»Wie befinden Sie sich?«


// 2054 //

»Schwach«, lispelte er.

»Haben Sie Schmerzen in der Brust?«

»Ja.«

»So müssen wir gleich zum Doctor schicken.«

Der Kranke schüttelte den Kopf.

»Nicht? Warum nicht?«

»Doctor kann auch nichts thun.«

»Aber wenn Sie nun sterben?«

»Nein - schon gehabt - blos Ruhe - Bett.«

Er sagte das langsam und äußerst leise.

»Hm, er hat vielleicht Recht«, meinte der Wachtmeister.

»Ja; er ist ja Apotheker, er muß es verstehen.«

»Und der Bezirksarzt schimpft, wenn er geweckt wird.«

Und lauter fügte er hinzu.

»Sie wollen also keinen Arzt?«

»Nein.«

»Verantworten Sie es?«

»Ja.«

»Na, gut! So wollen wir ihn wenigstens nach der Krankenstation schaffen. Auf dem Strohsacke kann er nicht liegen bleiben. Er muß ein Bett haben. Fassen Sie an!«

Sie packten den Strohsack an, der Eine vorn und der Andere hinten, und trugen ihn nach der Krankenstation.

Dort war es finster, doch wurde Licht gemacht. Es lag Niemand da als Seidelmann in tiefster Lethargie. Auch Horn war ganz theilnahmslos. Er wurde in's Bett gelegt und leicht zugedeckt.

»Wünschen Sie etwas?« fragte der Wachtmeister.

»Nein«, hauchte der Kranke.

»Etwa Tee oder Wasser?«

»Ruhe.«

»Die soll er haben. Wir müssen jetzt vor allen Dingen die Zelle scheuern, daß sich das Blut nicht festsetzt. Verteufelte Geschichte, so ein Blutsturz! Und dann sehen Sie, wenn sie patroulliren, alle halben Stunden einmal hier nach, wie es steht. So! Und nun löschen Sie das Licht wieder aus!«

Es wurde finster in dem unheimlichen Raume, in welchem schon mancher Unglückliche gestorben war. Die beiden Beamten gingen. Die Riegel klirrten, die Schlüssel knirschten in den Schlössern, und dann hörte man die Schritte sich entfernen.

Eine Zeit lang herrschte in der Krankenstation nicht nur tiefe Dunkelheit, sondern auch tiefe Stille. Sodann erklang es leise und vorsichtig:

»Seidelmann!«

Keine Antwort.

»Herr Seidelmann.«

Abermals keine Antwort.


// 2055 //

»Wenn Sie nicht antworten, so sind Sie verloren. Ich will Sie ja retten!«

Aber auch das half nichts. Seidelmann bewegte sich nicht.

»Vielleicht haben Sie mich nicht genau gesehen. Ich bin Horn, der Apotheker.«

Das half sofort, denn drüben rauschte die Bettdecke, und eine leise Stimme ließ sich hören:

»Himmeldonnerwetter! Ist's wahr?«

»Ja.«

»Gott sei Dank! Aber ich hörte doch, daß Sie einen Blutsturz gehabt haben!«

»Unsinn! Fällt mir gar nicht ein!«

»Aber diese Kerls müssen doch Blut gesehen haben!«

»Natürlich! Chemisches Präparat, aufgelöst im Wasserkruge. Ich bin so gesund, wie ein Fisch im Wasser.«

»Gut, sehr gut! Also auch Sie sind eingezogen!«

»Leider.«

»Weshalb?«

»Als Mitglied der Bande.«

»Was kann man Ihnen denn beweisen?«

»Nichts, dachte ich. Aber dieser Fürst von Befour hat entweder den Teufel, oder er ist allwissend. Jetzt soll mir wegen Giftmischerei der Prozeß gemacht werden.«

»Hat man Beweise?«

»Ja. Ich gehe auf und davon.«

»Du lieber Gott! Als ob das so leicht wäre!«

»Kinderleicht!«

»Wer's glaubt!«

»Kinderleicht, sage ich! Ich will Sie mitnehmen.«

»Können Sie hexen?«

»Nein. Heute war ich auf den Kübel gestiegen und guckte durch das Gitter. Da sah ich, daß ein Kranker gebracht wurde. Ich sah schärfer hin und erkannte Sie. Da stand es fest, daß ich einen Blutsturz bekommen würde. Ich mußte hierher in die Krankenstation, um die Flucht mit Ihnen zu besprechen. Wollen Sie?«

»Ich wage mein Leben.«

»Das ist gar nicht nöthig, obgleich es den Anschein hat. Aber sagen Sie mir zunächst, wie es mit Ihnen steht! Wessen werden denn Sie beschuldigt?«

»Hunderterlei bringt man vor.«

»Hat man Beweise?«

»Genug.«

»Verdammte Geschichte!«


// 2056 //

»Ja. Es ist nun einmal das Kreuzdonnerwetter hineingerathen. Hole es der Teufel!«

»Wie? Herr Seidelmann, Sie fluchen!«

»Faseln Sie nicht! Jetzt hat die Maske keinen Zweck mehr. Jetzt ist man Wolf und muß heulen.«

»Richtig. Aber ich hörte, Sie seien todtkrank?«

»Verstellung.«

»Ah so!«

»Aber eine fürchterliche Anstrengung, Tag und Nacht diese Lethargie und Gefühllosigkeit heucheln. Und dabei kann es Einem an jedem Augenblick passiren, daß Jemand Einem unerwartet in die Ohren brüllt, so daß man sich doch verschnappt. Na, bis jetzt ist es gelungen. Das Allerschlimmste war die Unkenntniß mit den äußeren Verhältnissen. Wie steht es da?«

»Schlecht, sehr schlecht!«

»Doch nicht!«

»Oh, viel, viel schlimmer, als Sie denken!«

»Wieso denn?«

»Es ist Alles, Alles entdeckt.«

»Das ist ja unmöglich!«

»Ach, was Sie denken! Hören Sie! Zunächst ist der Hauptmann gefangen.«

»Ist's wahr?«

»Ja. Er war schon einmal gefangen. Es gelang ihm aber, zu entkommen. Jetzt haben sie ihn wieder. Nun kommt er aber sicher nicht wieder hinaus.«

»So weiß man, wer er ist?«

»Natürlich.«

»Ah, Alles verloren.«

»Weiter. Die beiden Tannensteiner Schmiede und die beiden Bormänner gefangen. Ferner unsere ganzen Eingeweihten in Gefangenschaft.«

»Wer hat sie gefangen?«

»Der Fürst von Befour.«

»In die Hölle mit diesem Hunde!«

»Und was noch außerdem geschehen ist und noch geschehen wird!«

»Erzählen Sie!«

Der Apotheker berichtete leise flüsternd Alles, was Seidelmann noch nicht wußte. Unterdessen hörten sie draußen Schritte kommen.

»Still! Der Schließer!«

Er öffnete die Thür und kam mit der Laterne bis an das Bett des Apothekers.

»Schlafen Sie?« fragte er.

»Nein«, hauchte der Kranke.

»Wie steht es?«

»Gott wird helfen.«


// 2057 //

»Versuchen Sie zu schlafen!«

Er entfernte sich wieder und schloß zu. Die Beiden warteten eine Weile, dann sagte Seidelmann:

»Wenn es so steht, so ist es schrecklich. Einigen geht es an das Leben, Viele erhalten lebenslänglich Zuchthaus.«

»Wie zum Beispiel ich.«

»Und ich auch.«

»Also brenne ich durch.«

»Wie denken Sie sich denn dieses Durchbrennen?«

»Es ist kinderleicht. Vorher aber muß man wissen, wohin.«

»Nach Amerika?«

»Fällt mir nicht ein. Da haben sie Einen gleich.«

»Dann wo anders hin. Der Ort ist mir gleich, nur hinaus!«

»Aber Geld! Geld!«

»Ach so! Ja, das ist die Hauptsache.«

»Ich habe keins.«

»Ich habe genug.«

»Vorräthig liegen?«

»Einiges. Das Uebrige weiß ich zu nehmen.«

»Wenn man so an die fünfzigtausend Gulden zusammenbringen könnte!«

»Ich garantire für noch mehr.«

»Wirklich?«

»Ganz gewiß. Das erste aber, wenn ich frei werde, ist, daß ich diesem Fürsten von Befour das Licht ausblase.«

»Ich helfe mit. Er ist's, wegen dessen ich hier stecke.«

»Wissen Sie das?«

»Ja. Er hat es mir gesagt!«

»Kommt er denn in's Gefängniß?«

»Ja. Er ist bei den Verhören anwesend. Er geberdet sich, als ob er wirklich der Justizminister sei.«

»Ah, könnte ich hinaus! Der sollte eines zehnfachen Todes sterben. Darauf schwöre ich!«

»So wollen wir!«

»Aber wie? Man wird jetzt schrecklich vorsichtig sein.«

»Das ist wahr. Noch niemals sind solche Maßregeln getroffen worden wie jetzt. Mich aber hält man doch nicht.«

»Also wie?«

»Wir müssen sterben.«

»Dann schleppen sie uns freilich hinaus, Sie Esel!«

»Na, ich meine sterben zum Scheine.«

»Ach so! Wie fangen Sie das an?«

»Wie ich meinen Blutsturz bekommen habe. Ich habe eine sehr kleine, aber auch sehr auserlesene und brauchbare Apotheke mit.«

»Mit hereingebracht?«


// 2058 //

»Natürlich.«

»Wie ist das möglich?«

»Auch wieder sehr leicht. Ich war schon längst darauf gefaßt, arretirt zu werden -«

»Und haben gewartet? Welch ein Dummkopf!«

»Hm! Ich dachte, man würde nichts auf mich bringen können und mich in Folge dessen wieder herauslassen.«

»Ach so! Sehr kindliche Meinung!«

»Ich konnte nicht ahnen, daß dieser Fürst von Befour fast alle meine Geheimnisse kennt. Also war ich überzeugt, daß ich nicht lange gefangen sein würde. Dennoch sah ich mich vor, um für alle Fälle vorbereitet zu sein. Ich setzte mir also eine Apotheke zusammen. Mit einem einzigen Medicamente kann man unter Umständen mehr erreichen, als mit aller Gewalt und aller List.«

»Der alte Giftdoctor! Ja! Wie aber haben Sie denn die Apotheke hereingebracht?«

»Auf dem Kopfe.«

»Fast unglaublich!«

»Und doch sehr leicht. Vor einiger Zeit bildete sich bei mir eine Platte, ein umschriebener Kahlkopf. Ich ließ mir eine runde Haartour machen, welche diese Stelle vollständig bedeckt und von dem echten Haar gar nicht zu unterscheiden ist. Unter diesen falschen Haaren nun steckt meine Apotheke.«

»Etwa Flaschen und Büchsen!«

»Dummheit! Geben Sie mir eine Retorte, und ich concentrire das Weltmeer zu einem einzigen Tropfen. Meine Medicamente nehmen kaum den Raum eines Punktes weg, den Sie mit der Spitze Ihrer Feder auf Papier machen, und doch wirken sie mit der Gewalt des Blitzes oder einer Kanonenkugel.«

»Ich kenne Ihre Kunst und zolle ihr alle meine Bewunderung. Sagen Sie nur, auf welche Weise sie uns diese verdammten Thüren öffnen soll!«

»Dadurch, daß wir, wie ich bereits sagte, scheinbar sterben.«

»Um nicht wieder aufzuwachen.«

»Trauen Sie mir nichts Besseres zu?«

»Hm! Gefährlich ist es doch!«

»Noch gefährlicher ist das Hierbleiben.«

»Das ist freilich wahr.«

»Ich zwinge Sie übrigens gar nicht. Ich biete Ihnen meine Hilfe an. Gehen Sie mit, dann gut; wir können einander nützen. Bleiben Sie, so gehe ich allein und habe doch nur riskirt, daß Sie mich verrathen.«

»Nun und nimmermehr!«

»Ich traue es Ihnen auch nicht zu. Wissen Sie, wie die Leichen der Verstorbenen behandelt werden?«

»Ja. Man läßt sie eine Nacht in der Zelle oder auf der Station. Am nächsten Tage werden sie mittelst Siechkorbes nach dem Gottesacker geschafft und in dem Leichenhause aufgebahrt. So wenigstens denke ich.«

»Ja, und so würde man es auch mit uns machen.«


// 2059 //

»Was dann weiter?«

»Ich habe ein Mittel mit, welches den Scheintod verleiht, aber nur für genau dreißig Stunden. Es wirkt genau nach zwölf Stunden. Nehmen wir es heute ein, so sterben wir morgen und kommen übermorgen in das Leichenhaus. Von dort ist es leicht, zu entkommen.«

»Wirkt das Mittel sicher?«

»Mit wahrhaft göttlicher Sicherheit.«

»Aber der Athem?«

»Steht still!«

»Der Puls?«

»Ist nicht zu gewahren.«

»Hm! Bei Leuten, wie wir sind, wird man mit der allergrößten Sicherheit zu Werke gehen. Ich setze den Fall, man läßt uns zur Ader!«

»Doch nur an den Extremitäten. Es kommt kein Tropfen Blut, höchstens ein Bischen Wasser.«

»Das ist ja aber der factische Tod!«

»Scheinbar.«

»Wie steht es mit den Sinnen?«

»Sie sind außer Thätigkeit.«

»Man hört, sieht und fühlt also nicht?«

»Nein.«

»Das ist ein Trost, denn man würde während dieser kurzen Zeit Höllenqualen ausstehen.«

»Sie machen also mit?«

»Ja. Aber es giebt noch einige Bedenken.«

»Welche?«

»Wenn man uns nun sofort einscharrt?«

»Das geht nicht. Das ist gegen das Gesetz.«

»Oder uns gleich in den Sarg nagelt?«

»Bah! Den sprengen wir auf. Soviel Luft, um einige Minuten athmen zu können, ist in jedem Sarge.«

»Oder man läßt uns hier stehen und begräbt uns dann von hier aus.«

»So bleiben wir das, was wir jetzt sind: Gefangene.«

»Man wird Verdacht schöpfen, wenn wir zusammen sterben. Man kennt Sie als Giftmischer.«

»Ich sterbe in meiner Zelle, in welche ich mich morgen früh gleich bringen lasse, Sie aber hier. Sie sterben an den Folgen Ihrer Gehirnerschütterung, ich aber an den Folgerungen meines heutigen Blutsturzes.«

»Hm!«

»Na, man wird sich nicht gar zu sehr um uns bekümmern, sondern man wird froh sein, daß uns der Teufel geholt hat.«

»Recht haben Sie. Wir müssen es wagen, denn wir können nur gewinnen, nicht aber verlieren.«

»Das ist sehr vernünftig gedacht. Uebrigens dürfen sie einen Todten


// 2060 //

nicht so mir nichts dir nichts einscharren. Man müßte meine Leute benachrichtigen. Und diese haben für diesen Fall ihre genaue Instruction.«

»Ach so!«

»Ja. Meine Frau und meine Töchter warten von Stunde zu Stunde, daß ein Bote kommt, ihnen zu melden, daß ich plötzlich gestorben bin. Sie werden meine Leiche schleunigst reclamiren.«

»Aber die meinige nicht.«

»Ich kann dann für Sie sorgen. Also, entscheiden Sie sich. Wollen Sie?«

»Ja.«

»So will ich Ihnen das Mittel geben.«

Es währte eine kleine Weile, dann verließ er das Bett und kam zu Seidelmann.

»Geben Sie mir Ihre Hand!«

»Hier.«

»So! Fühlen Sie das kleine Körnchen?«

»Ja.«

»Nehmen Sie es in den Mund! Es wird jetzt zwei Uhr sein. Morgen Mittag um dieselbe Zeit sind Sie todt.«

»Alle Teufel, es ist doch eine verfluchte Geschichte!«

»Sie haben Furcht!«

»Das nicht! Na, wenn ich mir überlege, was ich bisher ausgestanden habe und was mir noch bevorsteht, so kann ich gar nicht zaudern. Also hinein damit!«

»Haben Sie es im Munde?«

»Ja.«

»Wie schmeckt es?«

»Nach gar nichts.«

»So ist es richtig. Das ist die Kunst. So ein Mittel darf weder Geruch noch Geschmack haben. Es wirkt sicher.«

»Aber da fällt mir noch Eins ein!«

»Was?«

»Man wird uns untersuchen.«

»Jedenfalls.«

»Und da Ihre Haartour nebst der Apotheke finden. Dann weiß man Alles und wartet einfach, daß wir erwachen.«

»Keine Angst. Man findet nichts. So dumm bin ich nicht, mich auf solche Art und Weise zu verrathen. Haben Sie noch eine Frage oder so Etwas?«

»Jetzt nicht.«

»Ich möchte mich nämlich wieder zurückschaffen lassen.«

»Warum?«

»Je kürzer wir beisammen gewesen sind, desto weniger wird man ein Einverständniß zwischen uns vermuthen.«


// 2061 //

»Das ist freilich wahr. Suchen wir also, was vielleicht noch zu erwähnen wäre!«

Sie flüsterten noch eine Weile fort, bis der Schließer wiederkam. Er leuchtete dem Apotheker abermals in das Gesicht und fragte wie vorhin:

»Wie geht es?«

»Schlecht.«

»Schlechter wie vorher?«

»Ja. Schrecklich hier! Der dort! Die Leiche!«

»Ja, angenehm wird das freilich nicht sein!«

»Aufregung - wieder Blutsturz!«

»Alle Teufel! Das wäre lebensgefährlich! Ich werde da lieber - hm, wollen Sie nicht lieber wieder in Ihre Zelle zurück?«

»Viel lieber!«

»Ich werde ein paar Gefangene holen, die mögen Sie gleich mit sammt dem Bette fortschaffen.«

Er ging.

»Gelungen!« sagte der Apotheker.

»Wann werden Sie das Mittel nehmen?«

»In einer Stunde.«

»Da wollen wir nur immer Abschied nehmen. Also, adieu bis nach dem Tode!«

»Adieu bis - diesseits der Hölle! Ich bin wirklich neugierig, wo ich stecken werde, wenn ich erwache.«

»Ich auch. Wir spielen mit dem Tode und mit der Ewigkeit. Es ist wirklich ungeheuer vermessen!«

»Wollen Sie nicht lieber ein Gesangbuchlied anstimmen, Sie Vorsteher der Brüderschaft zur Seligkeit?«

»Sie haben Recht! Wir müssen Männer sein. Denken wir lieber an die Gesichter, welche unsere lieben Freunde vom Gericht schneiden werden, wenn sie uns einscharren wollen, und es tönt ihnen das biblische Wort entgegen: Sie sind auferstanden und nicht mehr hier!«

»Herrlich! Ich möchte dabei sein!«

»Ich gäbe ein Jahr meines Lebens hin, wenn ich diese Schafskopfsphysiognomieen sehen könnte. Ah, da kommen sie!«

Der Schließer kehrte mit einigen Gefangenen zurück, welche er geweckt hatte. Sie mußten den Apotheker im Bette nach seiner Zelle tragen und wurden dann wieder eingeschlossen.

Am anderen Morgen war der Wachtmeister weit eher munter, als zu anderen Tagen. Er kam zu dem Schließer und fragte nach den beiden Patienten.

»Ich habe doch nicht gleich daran gedacht«, sagte er, »daß gerade diese Beiden wegen ganz derselben Sache in Untersuchung sind. Gut, daß der Seidelmann nicht bei Sinnen ist; sie hätten sich sonst Mittheilungen machen können.«


// 2062 //

»Haben Sie keine Sorge, Herr Amtswachtmeister! Die beiden haben nicht neben einander geschlafen.«

»Nicht? Wie denn?«

»Der Apotheker fürchtete sich vor dem Halbtodten; es regte ihn auf. Er befürchtete eine Wiederkehr des Blutsturzes. Ich habe ihn daher in seine Zelle zurückschaffen lassen. Ich weckte dazu einige Gefangene, da ich Sie doch nicht wieder stören wollte.«

»Das haben Sie sehr klug angefangen. Da kommt mir ein Stein vom Herzen!«

Dann, als die Amtirungszeit begonnen hatte, kam der Gerichtsarzt zum Staatsanwalte, welcher ihm gestern gesagt hatte, daß er ihn zu Seidelmann begleiten wolle, um sein Urtheil über den Zustand desselben zu hören. Sie begaben sich mit einander nach der Krankenstation.

Der Kranke lag mit geschlossenen Augen, bleich und bewegungslos im Bette. Der Arzt befühlte den Puls an der Hand und am Herzen, horchte an Mund und Nase, zog ihm das eine Augenlid prüfend etwas empor und sagte dann:

»Er wird den Mittag nicht weit überleben.«

»Glauben Sie das wirklich?«

»Ich behaupte es sogar.«

»Schade! Welch ein Beweismaterial gegen den Hauptmann geht uns da verloren!«

»Man hätte ihn ruhig in Rollenburg sterben lassen können.«

»Der Fürst wollte es so?«

»Pah! Da schickt er diesen jungen, unerfahrenen Doctor Zander nach Rollenburg, um Seidelmann untersuchen zu lassen und den Riesen Bormann ebenso. Der Zander sagt, sie seien transportabel - nun haben wir die Bescheerung da! Es fehlt nur noch, daß der Riese auch noch stirbt. Glücklicher Weise steckt der in der Abtheilung für Geisteskranke, mit der ich nichts zu schaffen habe.«

»Meinen Sie nicht, daß es hier doch noch ein Mittel gebe, die Lebensgeister wieder anzuregen?«

»Was sollte das sein?«

»Nun, irgend eine Stimulation. Ich bin nicht Arzt und kenne diese Mittel nicht.«

»Es ist zu spät. Es knüpft ihn langsam ab. Lassen wir ihm das Einzige, was er noch hat: daß ihn der Teufel in Ruhe holt. Denn selig wird dieser Fromme nicht; er ist es hier schon genug gewesen.«

Sie verließen die Station. Draußen meldete der Wachtmeister dem Gerichtsarzt:

»Herr Doctor, heute Nacht ein Blutsturz.«

»Und mich nicht geholt?«

»Der Patient wollte nicht.«

»Wer ist es?«


// 2063 //

»Der alte Apotheker Horn.«

»Na, da habe ich nichts versäumt. Wenn er es selbst gewollt hat, daß ich nicht geholt werde, so mag er es auch verantworten. Er versteht es ja selbst.«

»Wollen Sie ihn nicht jetzt besuchen?«

»Hat er es gewünscht?«

»Nein. Er spricht gar nicht.«

»So läßt er es bleiben, der alte Giftmischer.«

Da aber meinte der Staatsanwalt:

»Ich möchte Sie aber doch bitten, zu ihm zu gehen. Ich begleite Sie. Das Leben dieses Mannes hat einen sehr hohen Werth für mich, als den Vertreter des Gesetzes, und Blutstürze sind bei seinem Alter gefährlich.«

»Na, da kommen Sie.«

Der Apotheker lag mit halb offenen, außerordentlich müden Augen auf seinem Bette.

»Was machen Sie denn für Dummheiten, Horn!« sagte der Arzt in seiner derben Weise. »So ein alter Pharmaceut wird doch nicht krank werden. Wie geht es denn?«

»Müde!« hauchte der Gefragte.

»Zeigen Sie den Puls.«

Das Gesicht des Arztes wurde bedenklicher.

»Hat er viel Blut verloren?« fragte er den Wachtmeister.

»Die Zelle schwamm förmlich.«

»Das ist gut. Nur heraus mit dem schlechten Zeuge! Ich werde etwas verordnen, dann wird sich's rasch bessern.«

Draußen aber im Corridore, als die Thüre der Zelle wieder verschlossen war, blieb er kopfschüttelnd stehen und sagte zu dem Staatsanwalte:

»Ich sagte drin nur so, um ihm Muth zu machen. Ich glaube, Sie werden heute zwei Leichen haben.«

»Doch nicht!« meinte der Beamte erschrocken.

»Ja. Er hat zu viel Blut verloren. Der Rest ist in den Adern kaum zu bemerken.«

»Kennen Sie kein Mittel?«

»Glauben Sie vielleicht, daß ich ihm die Adern voll Blut pumpen kann? Ein Wenig anregen kann ich ihn wohl, desto schneller aber wird es alle sein. Schade ist es auch um ihn nicht. Er hat viel auf seinem Gewissen.«

»So möchte ich zu dem Gefängnißgeistlichen schicken.«

»Thun Sie es! Diese Herren meinen ja, daß sie die einzigen Wegweiser zum Himmel sind. Ich werde übrigens baldigst wiederkommen. Vielleicht ist wenigstens der Apotheker noch zu retten.«

»Thun Sie, was Sie thun können. Beide Patienten sind mir für die Acten fast unersetzlich!«


// 2064 //

Er schickte nach dem Anstaltsgeistlichen und sandte dann dem Fürsten von Befour ein Billett mit dem kurzen Inhalte:

»Seidelmann und Apotheker Horn im Sterben. Könnte ich Sie einmal sehen?«

Der Pfarrer kam sehr bald, mit den zur heiligen Handlung nöthigen Requisiten ausgerüstet, und begab sich zu dem Apotheker. Er fand ihn in einem Zustande außerordentlicher Schwäche, doch hatte der Kranke noch das Bewußtsein und konnte auch noch sprechen, wenn auch so leise, daß es kaum zu verstehen war.

Der Geistliche war nicht allein gekommen, sondern Assessor von Schubert war bei ihm. Er als Untersuchungsrichter hatte es für werthvoll gehalten, zu sehen, wie der Sterbende sich zu dem Seelsorger verhalten werde.

»Hören Sie mich?« fragte dieser Letztere.

Der Apotheker nickte.

»Sehen Sie mich auch?«

»Nicht gut«, antwortete der Gefragte mit leiser Stimme.

»Aber Sie wissen, wer ich bin?«

»Der Pfarrer.«

»Ja. Ich bin gekommen, Ihnen in Ihrer letzten Stunde den Beistand der Religion zu bringen. Gott ist allen Sündern gnädig. Er vergiebt selbst die schwerste That, wenn sie bereut wird. Sie stehen an den Pforten der Ewigkeit. Was Sie unbereut mit hinüber nehmen, werden Sie im Jenseits noch schwer zu tragen haben.«

»Ja.«

»Ich meine, ob Sie beichten wollen?«

»Ja.«

»Wir sind nicht allein. Der Herr Untersuchungsrichter befindet sich mit zugegen. Wünschen Sie, daß er sich entferne?«

»Nein.«

»Nun gut. So lassen Sie uns zunächst zum Allbarmherzigen beten, daß er Ihr Herz öffne, damit Sie in Reue alles Dessen gedenken, was Sie verbrochen haben.«

Er kniete vor dem Bette nieder und betete laut. Dann erhob er sich und sagte:

»Ich bin nicht allwissend und kann nicht Herzen und Nieren prüfen; darum ist es mir unmöglich, Sie zu fragen. Sagen Sie selbst mir alle Punkte, welche Sie von Herzen bereuen, und für welche Sie Vergebung erheischen!«

Es war eine tiefe, weihevolle Stille in der Zelle. Der Untersuchungsrichter war näher getreten, um die leise Stimme des Beichtenden verstehen zu können. Er war im höchsten Grade gespannt auf die Bekenntnisse, welche derselbe machen werde. So warteten die beiden Beamten; aber der Sterbende schwieg. Er ließ kein Wort hören.


Ende der sechsundachtzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der verlorne Sohn

Karl May – Forschung und Werk