Lieferung 80

Karl May

6. März 1886

Der verlorne Sohn
oder
Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.


// 1897 //

»Es war mir, als hätte ich einen Schuß gehört.«

»Jetzt, im späten Frühjahr? Die Jagd ist ja zu Ende. Wenigstens pflegt zu dieser Zeit hier in Euren civilisirten Ländern das Wild geschont zu werden.«

»Das ist richtig. Aber der Schuß kann doch irgend einem Raubzeuge gegolten haben.«

»Na, uns geht er auf keinem Fall Etwas an, denn wir gehören ja nicht zum Raubzeuge; wenigstens ich nicht, oder Sie vielleicht, mein bester Freund?«

Diese Worte waren im Scherz ausgesprochen, und doch erschrak der Baron. Wer ein böses Gewissen hat, ist aller Augenblicke für den Schreck zugänglich.

»Nein,« antwortete er möglichst unbefangen. »Ich bin weder Fuchs noch Habicht.«

»Na also! Lassen wir den Förster oder seinen Burschen schießen, so viel es ihm beliebt! Kommen Sie her an meine Seite. Die Aussicht ist schön, aber ich lasse mir durch solche formale Genüsse doch auch die materiellen nicht verleiden. Haben Sie wohl schon gefrühstückt?«

»Noch nicht.«

»So lade ich Sie ein, mein Gast zu sein.«

Er öffnete den Ranzen und zog ein Paket mit Schinkenschnitten nebst einer Flasche Wein hervor.

»Die Schinkenbrode theilen wir,« sagte er. »Den Wein müssen wir leider aus der Flasche trinken, denn ich bin nicht mit einem Glase versehen.«

Er sagte das so jovial und gutherzig, daß der Baron sich immer sicherer zu fühlen begann. Die Brode wurden zwischen ihnen getheilt, und als die Flasche geöffnet war, bemerkte der Baron, daß der Fremde von der besten und wohl auch theuersten Marke gekauft hatte.

"Danke," sagte er, indem er die Flasche zurückgab.

»Danke!« sagte er, indem er die Flasche zurückgab. »Dieser Wein ist nicht von hier hüben.«

»Nein, sondern von drüben.«

»So haben Sie ihn über die Grenze gebracht?«

»Ja.«

»Aha! Hm!«

»Wie, aha? Meinen Sie, daß ich ihn gepascht habe?«

»Warum nicht?«

»Das habe ich nicht nöthig. Würde sich auch nicht verlohnen, eine einzelne Flasche.«

»Ich dachte, weil die Steuermarke nicht aufgeklebt ist.«

»Sie ist wieder abgefallen; sie muß da im Tornister liegen.«

»Dann Entschuldigung!«

»O, bitte!«

Der Baron hatte wegen des Paschens auf den Strauch geschlagen, um zu erfahren, ob sein gegenwärtiger Kamerad vielleicht ein Mann sei, mit wel-


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chem sich Etwas anfangen lasse. Jetzt fuhr er, um das Gespräch nicht stocken zu lassen, fort:

»Sie berauben sich meinetwegen Ihres Mundvorrathes.«

»Schadet nichts.«

»Dann müssen Sie aber darben!«

»Das hoffe ich doch nicht. Wir sind ja nicht in der Wüste Sahara oder Gobi!«

»Aber im hohen Gebirge!«

»Na, ist das so gefährlich?«

»Gefährlich gerade nicht, aber weit abgelegen.«

»Ein Stück Brod wird wohl zu erhalten sein!«

»Hier in der Nähe nicht.«

»So! Wie weit hat man bis zum nächsten bewohnten Orte von hier aus zu gehen?«

»Anderthalb Stunden.«

»Na, da ist's ja nicht zum Verhungern.«

»Ob aber Sie den Weg dahin finden würden, daß weiß ich nicht so genau.«

»Ich auch nicht,« lachte der Fremde.

»Wie kommt es denn, daß Sie als Amerikaner, der noch niemals in dieser Gegend gewesen ist, nicht auf Eisenbahn oder Chaussee bleiben, sondern gerade den unsichern, dichten Gebirgswald wählen.«

»Unsicher? Giebt es hier Räuber? Vielleicht einen Rinaldo Rinaldini oder einen Josef Schobri?«

»Glücklicher Weise nicht.«

»Warum sprachen Sie da von Unsicherheit?«

»Ich meinte damit nur die Leichtigkeit, sich zu verirren.«

»Ah pah! Ein Amerikaner und sich verirren!«

»Sie sind hier doch nicht bekannt!«

»Was thut das? Wo Nord und Süd ist, das weiß man. Wenn ich mich stets nach Norden halte, komme ich aus den Bergen heraus und in die bewohnte, volkreiche Gegend. Also von einem Verirren kann gar keine Rede sein! Doch wegen des Räuberhauptmannes darf man doch ein Wort sprechen.«

»Wieso?«

»Das wissen Sie nicht?«

»Was meinen Sie denn?«

»Na, die Grenze ist ja mit Militairposten besetzt!«

»Ach so, wegen des Hauptmannes!«

»Ja. Der muß doch ein ganz verdammter Kerl sein!«

»Was man hört, ja.«

»Man hat mir drüben viel erzählt von ihm. Als ich an dem Grenzpfahle vorüberwollte, wurde ich festgehalten. Hätte ich nicht gar so gute Legitimationen besessen, wahrhaftig, ich wäre arretirt worden.«

»Was Sie sagen! Aber warum denn?«

»Ich soll eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm haben.«


// 1899 //

»Hm! Was man auch alles Ähnlichkeit nennt!«

»Ganz recht! Danke für die Ehre!«

Dem Baron war ein Gedanke gekommen. Er betrachtete sich seinen Nachbarn genauer und sagte dann:

»Also wirklich nur Ihre guten Papiere haben Sie vor der Arretur gerettet?«

»Ja.«

»Also Ihr Paß?«

»Ja. Der Paß, das Vereinigtenstaatenbürgerzeugniß und das Patent als Capitain der amerikanischen Miliz.«

»Ah, also Capitain? Mein Compliment!«

»Danke sehr! Ein Capitain der Vereinigtenstaatenmiliz hat gar nichts zu bedeuten. Da haben wir noch ganz andere Meriten, hier und hier!«

Dabei klopfte er auf den Tornister und auf die linke Seite seines Rockes, da, wo man in der Brusttasche das Portefeuille zu verbergen pflegt.

»Aha!« nickte der Baron. »Sie sind wohlhabend!«

»Nicht nur das, sondern reich,« antwortete der Amerikaner mit einer gewissen bescheidenen Selbstzufriedenheit.

»So reisen Sie jetzt zum Vergnügen?«

»Ja, und eigentlich doch nicht.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ich will mich hier niederlassen.«

»Ach so! Wohl in Ihrer Heimath?«

»Ja, wenn es möglich ist.«

»Darf ich erfahren, wo dies ist?«

»Geboren bin ich in dem kleinen Gebirgsstädtchen Langenstadt. Kennen Sie es?«

»Ja. Wollen Sie direct dorthin?«

»Ja. Wie weit ist es von hier?«

»Zu Fuß zehn Stunden.«

»Ach, so weit!«

»Ja. Sie müssen immer quer durch die Berge. Eine eigentliche directe Straße giebt es nicht. Sie hätten auf der Eisenbahn bleiben sollen.«

»Das wollte ich nicht. Ich wollte den ersten Schritt in die Heimath mit meinen eigenen Füßen thun. Daß ich so quer über die Berge steigen muß, ist mir ganz lieb. Auf diese Weise lerne ich die Heimath gleich gut kennen.«

»Haben Sie Verwandte dort?«

»Ja. Der Bruder meines Vaters lebt noch dort. Er heißt Weber.«

»Das ist also auch Ihr Name?«

»Ja, natürlich. Mein Oheim ist ein armer Holzschnitzer, soll aber jetzt mit Obst handeln. Auch mein Vater war Schnitzer; er kam auf den klugen Gedanken, auszuwandern. Drüben ging sein Geschäft gut, von Jahr zu Jahr besser. Ich wuchs mit der Zeit heran, hatte aber keine Lust zum Holz-


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schnitzen. Ich ging in die Welt, wurde Dieses und Jenes, zuletzt gar Goldsucher - - -«

»Ah! Waren Sie glücklich?«

Diese Frage war etwas zu unvorsichtig schnell ausgesprochen. Dem Amerikaner fiel dies nicht auf. Er antwortete:

»O, lange Zeit nicht.«

»Endlich aber doch?«

»Ja, endlich!«

»Wohl in Californien?«

»O nein. Die Blüthezeit für die Goldsucherei war für Californien bereits vorbei. Ich ging weiter nach Süden, nach den Grenzländern von Texas und Mexico.«

»Und dort waren Sie glücklich?«

»Ja. Ich fand eine Bonanza.«

»Was ist das?«

»Das ist ein spanischer Goldsucherausdruck, den ich Ihnen erklären will. Wissen Sie, wer der fleißigste und auch glücklichste Goldsucher ist?«

»Nun?«

»Das Wasser.«

»Wieso?«

»Da, wo das edle Metall sich findet, wird es von dem Wasser, welches die leichte Erde fortwäscht, bloßgelegt, oft zu großen Klumpen. Nach und nach wird es aus seinem Halt gerissen und von dem Wasser fortgespült. Wenn nun im Bette eines Wildbaches oder, sagen wir vielmehr Goldbaches, eine Stelle kommt, welche aus lockerem, tiefgrundigem Sande besteht, so wird dieser Sand ausgewaschen und fortgeschlemmt. Da, wo sich der Sand befunden hat, entsteht also ein großes Loch unter dem Wasser, eine Vertiefung, in welche alles Schwere, was von dem Wasser herbei gebracht wird, hinabfällt.«

»Ah, ich verstehe!«

»Auf diese Weise entstehen in diesen Bächen tiefe Löcher, in welche seit Jahrhunderten das Gold hinabgespült worden ist. Wer nun so ein Loch findet, der ist ein gemachter Mann.«

»So ein Loch heißt also Bonanza?«

»Ja.«

»Wie bekommt man das Gold heraus?«

»Entweder durch Tauchen, was aber lebensgefährlich ist, oder dadurch, daß man das Wasser ableitet, bis man das Loch geleert hat.«

»Sie haben wohl das Letztere gethan?«

»Ja.«

»War die Ausbeute reich?«

Der Amerikaner lächelte still vor sich hin und antwortete:

»Ich bin zufrieden! Als ich den Bach ableitete, bemerkte ich zu meinem freudigen Schrecke, daß sich mehrere solche Bonanzen neben einander befanden.«


// 1901 //

»Sie glücklicher Mann!«

»Ja, ich war mit einem Schlage steinreich. Als ich dann nach Hause kam, war indessen der Vater gestorben. Ich verkaufte sein Geschäft, welches mir sehr gut bezahlt wurde, und beschloß, in die alte Heimath zu gehen.«

»Vielleicht, um sich hier anzukaufen?«

»Ja. Zu einem Rittergütchen wird es langen, vielleicht auch zu dreien, vieren oder fünfen.«

Er blickte dabei seelenvergnügt über die vor ihm liegenden Bergkuppen hinaus, als ob er bereits die Rittergüter sehe, welche zu kaufen, in seiner Absicht lag. Deshalb bemerkte er es nicht, daß das Auge des Barons verlangend aufleuchtete und forschend an seiner Gestalt herniederfuhr. Es war, als ob der Baron ergründen wolle, ob er mit diesem fremden Manne einen Kampf auf Leben und Tod um sein Vermögen aufnehmen könne.

»Da müssen Sie aber doch wohl Ihr ganzes Vermögen flüssig gemacht haben?« fragte er dann in dem gleichgiltigsten Tone, welcher ihm möglich war.

»Natürlich.«

»Hoffentlich sind Sie aber doch so klug, es nicht bei sich zu tragen, Herr Weber?«

Der Gefragte blickte ihn lachend an und antwortete:

»Wäre das denn unklug?«

»Man weiß ja nie, was geschehen kann!«

»Ah, was soll geschehen?«

»Sie sprachen vorhin von dem Hauptmann, welchen man sucht.«

»Soll ich mich etwa vor ihm fürchten?«

»Hm!«

»Pah! Erstens steht doch nicht zu erwarten, daß er Niemandem als gerade mir begegnen werde. Zweitens würde ich ihm auch gar nicht sagen, ob ich Geld bei mir habe. Und endlich drittens fragte es sich sehr, ob ich mich vor ihm fürchten würde. Ich bin bewaffnet.«

Er griff in die Tasche und zog einen geladenen Revolver hervor, welchen er dem Baron zeigte. Diesem Letzteren entfuhr in der inneren Aufregung, in welcher er sich befand, die mehr als unvorsichtige Frage:

»Aber, wenn nun ich der Hauptmann wäre?«

Der Amerikaner warf ihm einen belustigten Blick zu und antwortete lachend:

»Sie? Spaßvogel!«

»Nun, wäre das etwa unmöglich?«

»Ja, absolut!«

»Wieso?«

»Sie können der Hauptmann nicht sein.«

»Sagen Sie mir doch den Grund!«

»Der Hauptmann ist doch von Adel, er ist Baron?«

»Ja.«

»Nun, nehmen Sie es mir nicht übel, aber Sie sehen erstens nicht aus


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wie so ein berüchtigter Spitzbube, und zweitens haben Sie auch gar nichts Adeliges an sich.«

»Sehr verbunden für das Compliment!«

»O bitte! Eigentlich ist es allerdings ein Compliment, daß ich Sie nicht für einen so berüchtigten Menschen halte.«

»Nun, wofür oder für was halten Sie mich denn?«

»Hm, für so eine Art Forstschreiber.«

»Errathen!«

»Nicht wahr? Ja, ich habe einen scharfen Blick! Sie befinden sich also wohl amtlich hier im Walde?«

»Ja. Wir wollen da in der Nähe einen Schlag beginnen. Ich warte auf den Förster, mit welchem ich den Ertrag zu berechnen habe.«

»Das thut mir leid.«

»Warum?«

»Ich finde Gefallen an Ihnen. Es wäre mir lieb gewesen, wenn wir eine Zeit lang gleichen Weg gehabt hätten. Na, das ist aber nicht zu ändern. Trinken wir lieber noch einmal!«

Und als Jeder einen Schluck gethan hatte, fuhr der Amerikaner in munterer Laune fort:

»Sie wollten vorhin wohl sehen, ob ich mich fürchte?«

»Wann?«

»Als Sie in's Bockshorn bliesen und zu mir sagten, daß Sie der Hauptmann sein könnten.«

»Das war nur so ein Scherz.«

»O, ich hätte mir auch nichts daraus gemacht, wenn es Ernst gewesen wäre. Darauf können Sie sich verlassen.«

»Was hätten Sie denn gemacht?«

»Ich hätte Ihnen entweder eine Kugel durch den Kopf gejagt - -«

»Oder?«

»Oder Sie einfach gefangen genommen.«

»Mich? Wie hätten Sie dies wohl angefangen?«

»Na, man hat ja seine Knochen und Muskeln! Ein amerikanischer Goldsucher nimmt es mit einem Forstschreiber doch ganz gewißlich auf!«

»Aber in diesem Falle wäre ich doch nicht Forstschreiber gewesen.«

»Hm, ja! Sie wären Baron gewesen. So ein adeliger Herr aber pflegt auch nicht viel Mark in den Knochen zu haben. Zu fürchten brauchte ich mich also auf keinen Fall. Uebrigens dürfen Sie nicht denken, daß ich so unvorsichtig bin, mein ganzes Vermögen bei mir zu tragen.«

»Ah so!«

»Ich habe nur das Papierene bei mir. Alles Andere, ganze Kisten und Kasten voller Raritäten, Felle, Goldkörner und was ich mir sonst gesammelt habe, ist noch unterwegs.«

»Wohl nach Langenstadt zu Ihrem Oheim?«

»Versteht sich.«


// 1903 //

»Weiß der davon?«

»Von diesen Kisten weiß er nichts.«

»Aber daß Sie kommen?«

»Das weiß er. Ich habe es ihm von New-York aus mit dem vorher abgegangenen Schiffe geschrieben.«

»Standen Sie vorher mit ihm in Briefwechsel?«

»Ich selbst habe nie geschrieben; ich war ja ganz und gar wenig daheim. Es ist überhaupt sehr wenig correspondirt worden, da keiner der beiden Brüder Freund vom vielen Schreiben war. Vater wird vier oder fünf Briefe erhalten haben; diese hat er beantwortet. Weiter ist wohl keine Tinte verbraucht worden.«

»Ist Ihr Oheim wohlhabend?«

»Ich weiß es nicht, glaube es aber auch nicht. Als Vater auswanderte, waren beide Brüder arm; der Onkel wird es hier höchstwahrscheinlich zu nichts gebracht haben.«

»Haben Sie ihm denn nie Etwas geschickt?«

»Nein.«

»Ah! Kein Geschenk, da Sie so reich waren!«

»Er hat uns nie mitgetheilt, daß er Etwas braucht. In Amerika ist man nicht so mittheilungsselig wie hier. Uebrigens werde ich doch nun erfahren, ob und in welcher Weise ich ihm nützlich sein kann.«

»Hat er Kinder?«

»Ja. Er hat - - ah, ich habe wahrhaftig vergessen, wie viele Nachkommen er hat. Ich muß doch gleich einmal nachsehen. Es ist doch, wenn ich zu ihm komme, eine Blamage, wenn ich so wenig unterrichtet bin.«

»Ah, Sie haben wohl seine Briefe?«

»Ja. Hier.«

Er zog eine Brieftasche hervor und öffnete sie. Mehrere Fächer derselben waren dick voller Banknoten; in dem einen steckten vier oder fünf Briefe. Er öffnete einen derselben und las ihn.

»Ja,« sagte er, »da steht es! Ich theilte ihm natürlich mit, daß mein Vater, sein Bruder, gestorben sei. Darauf schrieb er mir diesen Brief. Dies ist der einzige, den ich für meine Person von ihm empfangen habe. Da steht es: vier Töchter hat er, und ganz ärmlich behilft er sich, so ärmlich, daß er die Älteste, die Magda, nach der Residenz vermiethet hat. Na, das soll schnell anders werden. In Dienst gehen soll keine Nichte von mir; das gebe ich nicht zu!«

Der Baron sann nach.

»Magda - - -?« sagte er unwillkürlich.

»Was ist's?«

»Magda Weber?«

»Ja, natürlich heißt sie so.«

»Hm!«

»Kennen Sie sie etwa?«


// 1904 //

»War sie erst in eine Weinstube als Kellnerin vermiethet?«

»Das weiß ich nicht.«

»Ich kenne allerdings eine Magda Weber, Kellnerin in der Residenz.«

»Sapperment! Ich denke, Sie sind Forstschreiber!«

»Allerdings.«

»Was haben Sie denn da in den Weinstuben der Residenz herum zu kriechen?«

Er schien bedenklich zu werden. Der Baron sah ein, daß er einen großen Fehler begangen habe. Er sagte:

»O, Unsereiner muß sehr oft nach der Hauptstadt.«

»Wieso?«

»Nun, der Wald gehört dem Fiskus. Alle unsere Acten, Scheine, Rechnungen gehen in das Ministerium; da kommt es denn sehr häufig vor, daß wir nach der Hauptstadt müssen, um persönlich irgend welche Differenzen auszugleichen.«

»Ach so!«

»Außerdem sind die großen Holzhändler der Residenz unsere besten Käufer und Abnehmer. Man kann mit ihnen ja recht gut schriftlich verhandeln, das ist wahr, kommt man aber selbst, nun, so ist es um so besser!«

»Ich verstehe! In diesem Falle fällt für die Herren Forstschreiber immer irgend ein kleines Präsent ab. Nicht?«

»Na, davon spricht man nicht.«

»Aber wissen thut man's!« lachte er.

Wenn er vorhin wirklich Argwohn gefaßt hatte, jetzt war derselbe ganz sicher wieder zerstreut. Das bewies er durch das Folgende, indem er fragte:

»Als Forstschreiber gehören Sie doch wohl auch mit zu der Forstpolizei?«

»Eigentlich nicht. Ich bin Rechnungs-, aber nicht Ausübungsbeamter, versäume aber nicht, ein Wort zu rechter Zeit zu sagen, wenn es nämlich nöthig ist.«

»Da wissen Sie wohl auch nicht, was heute im Werke ist?«

»Ich weiß nur, daß ich hier den neuen Schlag zu berechnen habe, weiter nichts.«

»Von der Suche auch nichts?«

»Von welcher Suche?«

»Auf den Hauptmann!«

»O doch!«

»Nun, dann ist's ja gut!«

»Daß man nächster Tage eine Suche durch das ganze Gebirge veranstalten werde, ist uns längst gemeldet worden.«

»Nächster Tage?«

»Ja.«

»Weiter nichts?«

»Nein.«

»Hören Sie, da hat man Sie aber sehr im Unklaren gelassen.«


// 1905 //

»Wieso?«

»Die Suche soll ja heute abgehalten werden!«

»Was Sie sagen!«

»Ja.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich hörte an der Grenze davon. Im Mauthhause, in welchem ich mich legitimiren mußte, saßen mehrere Unteroffiziers, welche zu dieser Suche mit commandirt waren.«

»Hm! So bin ich bereits von zu Hause fortgewesen, als der Befehl gekommen ist. Na, schadet nichts! Ich bin ja sowieso nicht verpflichtet, mitzumachen. Wann sollte die Hetzjagd denn wohl beginnen?«

»Das weiß ich nicht. Direct wurde mir ja gar nichts mitgetheilt. Ich hörte nur ganz zufällig, was diese Leute flüsterten.«

»Na, erstens, ob er sich wirklich im Walde befindet!«

»Man vermuthet es.«

»Und zweitens, ob man ihn erwischt. Ich glaube nicht daran.«

»Wenn er sich hier befindet, wird man ihn sicher fangen.«

»O, es giebt zu viele Verstecke.«

»Die werden ihm nichts helfen bei der Art und Weise, wie man die Geschichte anfängt.«

»Nun, wie fängt man sie denn an?«

»Das hörte ich zufällig auch. Es werden zwei Doppelreihen von Forstleuten und Soldaten gebildet, an der Ost- und an der Westgrenze des Gebirges. Diese beiden Reihen besitzen eine solche Länge, daß sie durch den ganzen Wald reichen. Zur bestimmten Stunde setzen sie sich gegen einander in Bewegung. Sie werden also Alles, was sich zwischen ihnen befindet, sich gegenseitig zutreiben.«

»Pah!«

»O, die einzelnen Glieder stehen einander so nahe, daß keine Feder zwischen ihnen hindurch kann.«

»Mir wird es lieb sein, wenn man ihn fängt.«

»Und mir ist es sehr gleichgiltig; er hat mir ja gar nichts gethan. Uebrigens will ich nun aufbrechen. Ich will mich von diesen Herren nicht wieder treffen lassen.«

»Haben Sie Angst?«

»Warum?«

»Na, Sie wollen sich ja nicht wieder sehen lassen!«

Der Amerikaner sah den Baron groß und erstaunt an, lachte dann laut auf und sagte:

»Hören Sie, Sie werden mich doch nicht etwa gar für den gesuchten Baron und Hauptmann halten?«

»Warum nicht? Bei Ihrer Angst, wieder getroffen zu werden.«

»Na, das ist doch keine Angst. Sie konnten aber vielleicht denken, ich striche hier im Walde herum, den Kerl aufzusuchen und zu warnen. Daraus könnten für mich ja unliebsame Scheerereien entstehen.«


// 1906 //

»Ach, so war es gemeint.«

»Ja, so. Uebrigens habe ich nichts zu befürchten. Ich bin im Besitze meines Passepartouts.«

»Was ist das?«

»Na, wer im Walde getroffen wird, muß sich legitimiren. Hat er das gethan, so erhält er eine Karte, auf welcher die Bemerkung steht, daß er sich ausgewiesen hat und überall und zu jeder Zeit ungehindert passiren kann.«

»So eine Karte haben Sie erhalten?«

»Ja.«

»Darf ich sie einmal sehen?«

»Sie mißtrauen mir wohl noch immer?«

»Nein. Ich frage nur aus Interesse.«

»So! Da ist sie!«

Er öffnete sein Portemonnaie, welches von Goldstücken erglänzte, zog die Karte hervor und zeigte sie ihm. Als er sie wieder eingesteckt hatte, erhob er sich von der Erde und fuhr fort:

»Also, nun werde ich aufbrechen. Es wird Zeit.«

»Weiß Ihr Oheim, wann Sie kommen?«

»Nicht genau. Ich habe ihm mitgetheilt, daß er mich im Laufe dieser Woche erwarten kann. Kennen Sie Langenstadt?«

»So ziemlich.«

»Es giebt ein Rittergut da, welches der Familie Scharfenberg gehörte. Befindet es sich noch in deren Besitz?«

»Ja.«

»Wohnen sie dort?«

»Nein.«

»Wo denn?«

»Der eine Scharfenberg ist Director der Strafanstalt zu Rollenburg; er wohnt also dort. Sein Bruder, der Major, bewohnte eine andere Besitzung, und dessen Sohn, der Lieutenant, stand in der Residenz in Garnison.«

»Sie sagen 'bewohnte' und 'stand'. Ist dies denn jetzt nicht mehr der Fall?«

»Nein.«

»Ah! Warum?«

»Sie sind Beide todt, gestorben an einem Tage.«

»Wunderbar!«

»Na, der Sohn erschoß sich, und den Vater rührte vor Schreck darüber der Schlag. Beide wurden im Stammschlosse beigesetzt, nachdem ihre Leichen präparirt worden waren. Kürzlich aber habe ich gehört, daß der Anstaltsdirector die Verfügung getroffen hat, daß die Särge Beider nach Langenstadt geschafft werden sollen.«

»Weshalb?«

»Das weiß ich nicht. Interessiren Sie sich dafür?«


// 1907 //

»Nicht mehr als nur deshalb, weil mein Geburtsort dieser Familie gehörte. In welcher Richtung von hier aus liegt denn eigentlich Langenstadt?«

Diese Frage kam dem Baron ganz außerordentlich gelegen. Er trat bis nahe an den Rand des Felsens, deutete mit der Hand nach Westen und antwortete:

»Kommen Sie einmal her! Haben Sie scharfe Augen?«

»Ja.«

»Dann wird es Ihnen möglich sein, Langenstadt zu sehen.«

»Auf solche Entfernung hin?«

»Ja.«

»Unmöglich!«

»O doch! Die Morgenluft ist rein und klar, und das Schloß von Langenstadt liegt hoch genug. Ja, ich sehe es leuchten.«

»Wo, wo?«

Dabei trat der Amerikaner neben ihn hin.

»Passen Sie auf! Sehen Sie die beiden Vorberge da ganz in der Nähe, grad vor meiner Hand?«

»Ja.«

»Dahinter eine einzelne Bergkuppe?«

»Sehr deutlich.«

»Links davon etwas Schwarzes, welches das Aussehen einer langgezogenen Bergwand hat?«

»Ja.«

»Mitten auf dieser Wand ist ein weißer, wenn auch nicht sehr heller Punkt zu bemerken.«

»Ich sehe ihn.«

»Das ist das Schloß zu Langenstadt.«

»Ah, also das! Dort werde ich also heute Abend sein!«

»Nein.«

Der Amerikaner behielt den Punkt im Auge, welcher seine Heimath bedeutete. Er sagte, ohne sich abzuwenden, ohne sich zum Baron umzudrehen:

»Nicht? Meinen Sie? Denken Sie, daß es zu weit ist?«

»Nein, weil Sie eine andere Richtung nehmen werden.«

Jetzt drehte er sich langsam um.

»Diese da!«

Der Baron deutete mit der Linken in die Tiefe hinab und versetzte ihm in demselben Augenblicke einen solchen Stoß vor die Brust, daß der Getroffene über den Rand der Felsenplatte hinunterflog. Ein lauter, entsetzlicher Angstschrei - ein dumpfes Gekrach, wie das Aufschlagen eines fallenden Körpers auf lockeres Geröll - dann Todesstille.

Der Baron lauschte noch eine Minute lang, dann murmelte er:

»Fertig! Ah, das war Hilfe in der Noth! Jetzt bin ich gerettet. Jetzt habe ich Geld und Legitimationen. Ich brauche dem Kerl nur nachzuklettern. Sein Onkel wird mich als Neffe aufnehmen; kein Mensch kann etwas dagegen haben. Dort warte ich, bis meine Zeit, mich zu rächen, ge-


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kommen ist. Jetzt aber schnell. Ich habe keine Zeit zu verlieren. Wenn er recht gehabt hat, so können die Soldaten in Kurzem hier eintreffen.«

Er warf die geleerte Flasche ihrem letzten Besitzer nach, nahm den Tornister auf den Rücken, den Stock des Ermordeten in die Hand und begann, abwärts zu klettern.

Das geschah natürlich auf der Seite, an welcher er heraufgekommen war. Als er aber so tief angelangt, daß es möglich war, auf die andere, gefährliche Seite hinüber zu kommen, veränderte er dem angemessen seine bisherige Richtung.

Die Steilung war keineswegs nackt. Aus den Felsenritzen ragten hohe Tannen; Ginstergestrüpp wucherte an den unzugänglichsten Stellen, und aus dem Schutt und Geröll zogen allerlei Sträucher ihre Nahrung. Diese Büsche gaben dem Kletternden Halt.

Er gelangte glücklich auf die Seite, an welcher er den Amerikaner herabgestürzt hatte. Dort suchte er ihn. Nach oben blickend gewahrte er den Streifen, welchen der Stürzende über Geröll und Gesträuch gezogen und gerissen hatte. Dort, wo dieser Streifen aufhörte, war etwas Dunkles zu bemerken.

Der Baron kletterte hin und erkannte sein Opfer. Er kniete bei demselben nieder und untersuchte den zwar noch warmen aber bewegungslosen Körper.

»Todt! Den Hals gebrochen!« sagte er triumphirend. »Und das Gesicht ist ganz zerschunden; es ist unmöglich zu erkennen; es sieht schrecklich aus.«

Er wendete sich doch für einen Augenblick wie grauend ab, murmelte aber dann:

»Und grad das ist vielleicht gut für mich! Wie, wenn ich mit ihm die Kleider wechselte, ihm meine Perrücke aufsetzte. Sein Anzug ist zwar beschmutzt, aber er ist nicht zerrissen. Hier im Tornister habe ich eine Bürste gesehen. Ich bürste ihn rein. Man wird ihn, wenn man ihn findet, für mich halten. Der Hauptmann ist dann todt, und ich erfreue mich einer desto größeren Sicherheit. Ja, das werde ich thun.«

Er zog die Leiche aus, sich auch und legte dann die Kleider des Amerikaners an, indem er Stück für Stück vorher sorgfältig ausbürstete. Auf diese Weise brauchte er die Taschen gar nicht zu leeren.

Schwieriger war es nun freilich, dem Todten die anderen Kleidungsstücke anzuziehen, doch auch dies wurde fertig gebracht. Dann nahm der Baron den Tornister wieder auf den Rücken, griff zum Stocke und kletterte vollends hinab bis an den Fuß der Höhe, wo er einen gangbaren Weg fand, dem er folgte.

Erst nach längerer Zeit fühlte er sich sicher, so daß er nun die Taschen auszusuchen begann. Er fand eine höchst bedeutende Summe in Papiergeld, das Portemonnaie voller Gold, dann die Depositenscheine auf verschiedene Banken. Er hatte das ganze Vermögen des Amerikaners in den Händen, natürlich außer den Gegenständen, welche sich noch unterwegs befanden.

Auch den Passierschein von der Grenze hatte er und die sämmtlichen Legitimationen. In einer der Taschen steckte ein kleiner Reisespiegel, mit dessen Hilfe sich der Baron genau musterte. Er hatte alle Mühe auf sich verwendet, fand nichts auszusetzen und setzte seinen Weg fort.


// 1909 //

Aber er war noch nicht weit gekommen, so mußte er halten.

»Halt! Werda!« tönte es ihm entgegen.

Da dieser Ruf so ganz unerwartet kam, erschrak er, doch nicht vor Angst. Er wollte auf den Frager, den er allerdings noch nicht sehen konnte, zugehen, hörte aber ein:

»Stehenbleiben, oder ich gebe Feuer.«

»Gut!« sagte er. »Also, was soll es?«

Der Ermordete hatte das Deutsche mit einem sehr hörbaren Accent ausgesprochen. Der Baron sprach so gut englisch, daß es ihm gar nicht schwer fiel, diesen Accent nachzuahmen. Hinter dem Busche hervor fragte es:

»Was thun Sie hier?«

»Nichts!«

»Sie müssen doch zu einem Zweck hier sein.«

»Na, ja. Ich bin ein Reisender. Ich will durch den Wald nach Langenstadt.«

»Haben Sie Waffen bei sich?«

»Ja.«

»Ah! Was für welche?«

»Einen Revolver.«

»Warum?«

»Weil ich viel Geld bei mir trage.«

»Warten Sie! Man wird sogleich mit Ihnen sprechen!«

Er sah den Lauf des Gewehres auf sich gerichtet und hütete sich in Folge dessen, eine Bewegung zu machen.

Er hatte dem Todten die blonde Perücke, welche diesem sehr gut paßte, aufgesetzt, zeigte also jetzt seine natürlichen Haare. Da er aber bereits vor Wochen sein Gesicht mit Wallnußschaalenabkochung gefärbt hatte, so besaß er jetzt ganz denselben dunklen Teint, welchen auch der Fremde gehabt hatte. Auch der Bart, welchen er in der Residenz getragen hatte, war abrasirt. So war er überzeugt, sich nicht sehr ähnlich zu sehen.

Nach kurzer Zeit hörte er nahende Schritte. Drei Männer kamen auf ihn zu, ein Officier und zwei Unterofficiere. Kaum hatte der Erstere einen Blick auf ihn geworfen, so rief er aus:

»Alle Wetter! Da scheinen wir einen ausgezeichneten Fang gemacht zu haben.«

Er trat auf den Baron zu und fragte:

»Wie heißen Sie?«

»Weber,« antwortete der Gefragte, dem Worte den amerikanischen Accent gebend.

»Ah! Schön, Herr Weber! Wo sind Sie her?«

»Aus Saint Louis.«

»Wunderbar! Wo liegt das?«

»In den Vereinigten-Staaten.«


// 1910 //

»Das, das meinen Sie! Sie scheinen ein höchst spaßhafter Kerl zu sein. Haben wir uns nicht bereits gesehen?«

»Könnte mich nicht besinnen.«

»In unserer Residenz?«

»Da war ich noch nie.«

»Als Weber wohl noch nie, aber als Baron Franz von Helfenstein jedenfalls.«

»Sie irren, Herr Lieutenant.«

»Das wäre eine einigermaßen auffällige Ähnlichkeit. Was treiben Sie hier im Walde?«

»Ich komme von jenseits der Grenze und will nach meinem Geburtsorte Langenstadt.«

»Langenstadt? Und doch sind Sie Amerikaner? Halten Sie mich doch nicht für angeschossen, Alter!«

»Ich bin zwar in Langenstadt geboren; aber mein Vater wanderte nach Amerika aus, als ich noch klein war.«

»Und grad heute kehren Sie zurück?«

»Ja.«

»Sie erfinden gut; aber, können Sie sich legitimiren?«

»Ja.«

»Thun Sie das! Versuchen Sie es wenigstens!«

Der Lieutenant war vollständig überzeugt, den Hauptmann vor sich zu haben. Auf seinen Wink standen die beiden Unterofficiere mit schußbereitem Gewehr neben demselben, kein Auge von ihm verwendend.

»Das ist doch eigenthümlich,« lächelte der Baron. »In dieser Weise in der Heimath empfangen zu werden, habe ich nicht erwartet. Ich war heute bereits einmal gezwungen, mich zu legitimiren.«

»Wo?«

»An der Grenze.«

»Und Sie haben sich wirklich ausgewiesen?«

»Ja.«

»Dann müssen Sie eine Passirkarte erhalten haben.«

»Die habe ich.«

»Zeigen Sie!«

»Hier!«

Er gab sie dem Officier. Dieser prüfte sie, wendete sie nach beiden Seiten, schüttelte den Kopf, fuhr sich rathlos mit der Hand nach dem Schnurrbarte und fragte endlich:

»Haben Sie diese Karte vielleicht gefunden?«

»Nein. Ich habe sie im Mauthhause von einem Officier erhalten.«

»Verflucht! Und dennoch diese Ähnlichkeit. Wir suchen nämlich einen entwichenen Gefangenen - -«

»Das hörte ich bereits.«


// 1911 //

»Mit welchem Sie eine bedenkliche Ähnlichkeit besitzen. Darum werden Sie entschuldigen, wenn ich meine Pflicht thue und möglichst genau verfahre.«

»Bitte! Ich habe mich zu fügen.«

»Es ist die Möglichkeit vorhanden, daß die Karte gefunden worden ist. Ich muß bitten, mir die Legitimation zu zeigen, auf welche hin Sie sie bekommen haben.«

»Gern! Hier zunächst mein Paß.«

Er nahm ihn aus dem Portefeuille und gab ihn hin. Der Officier prüfte ihn auf das Genaueste und sagte dann:

»Da giebt's allerdings nichts auszusetzen.«

»Hier mein Schein als Bürger der Vereinigten- Staaten.«

»Auch richtig.«

»Hier mein Patent als Capitän der Miliz.«

»Donnerwetter! Also ein Kamerad!«

»Ja. Hier ferner die Briefe meines Oheims, welche er von Langenstadt abgesandt hat. Hier auch meine Depositenscheine. Ich glaube Der, den Sie suchen, hat nicht an dem hier angegebenen Tage solche Summen in New-York zahlen können.«

Das Gesicht des Lieutenants wurde lang und immer länger. Er befand sich in Verlegenheit. Er sah ein, daß er zu weit gegangen sei.

»Pardon, Herr Kamerad,« sagte er. »Sie müssen wirklich verzeihen. Kolossaler Irrthum, aber auch kolossale Ähnlichkeit. Meine Pflicht; Sie wissen.«

»O, ich zürne Ihnen keineswegs. Als Officier weiß ich ja sehr genau, was es heißt, nach Ordre zu handeln.«

»Danke! Nehmen Sie also Ihre Documente zurück! Sie kommen also quer über die Berge?«

»Ja. Ich wollte gleich beim ersten Schritt in die Heimath die Schönheit derselben bewundern.«

»Recht so! Haben Sie Begegnungen gehabt?«

»An der Grenze, wie ich bereits sagte.«

»Sonst nicht?«

»Nein - aber doch; oh, Sapperment!«

»Was?«

»Es ist mir allerdings ein Mensch begegnet.«

»Ein Mensch? Warum gebrauchen Sie diesen Ausdruck? Hatte er vielleicht etwas Verdächtiges an sich?«

Der Lieutenant war plötzlich ungeheuer eifrig geworden.

»Das schien mir allerdings,« antwortete der Baron.

»Also verdächtig?«

»Ja.«

»In wiefern?«

»Der Waldboden ist weich; man kann die Schritte kaum hören. Als ich so langsam meines Weges ging und eben um eine Ecke biegen wollte, kam


// 1912 //

von der entgegengesetzten Seite ein Anderer, der bei meinem Anblicke todtesbleich wurde und erschrak, daß er beinahe zu Boden gefallen wäre.«

»Sapperment! Das klingt allerdings verdächtig. Weiter.«

»Er wollte umkehren, schien sich aber zu besinnen, denn er grüßte höflich und richtete einige Fragen an mich.«

»Welche Fragen?«

»Wer ich sei, woher ich komme und wohin ich gehe. Zuletzt wollte er wissen, ob ich Militär gesehen habe.«

»Ah! Oh! Was antworteten Sie?«

»Ich erinnerte mich, daß Einer gefangen werden solle. Der Kerl kam mir verdächtig vor; ich beschloß also, ihm die Wahrheit nicht zu sagen. Hoffentlich war das richtig!«

»Ganz richtig!«

»Ich sagte ihm also, daß von Militär keine Spur vorhanden sei, ebenso wenig von Forstbeamten, nach denen er fragte.«

»Können Sie sich genau auf sein Äußeres besinnen?«

»Sehr genau.«

»Alter?«

»Ungefähr wie ich.«

»Statur?«

»Grad wie die meinige.«

»Sapperment! Kleidung?«

»Schwarzes Tuch, moderner Schnitt!«

»Ah! Das ist der Anzug, welchen er bei dem Herrn von Scharfenberg entwendet hat. Wie lange ist es her, seit Sie mit ihm gesprochen haben?«

»Ungefähr eine halbe Stunde.«

»Wo war es?«

»Wenn man auf dem Wege, den ich hier gekommen bin, zurückgeht, so gelangt man in einen Grund, welcher sich lang und breit nach links zieht, rechts aber steigt ein Fels fast gerade in die Höhe. Da war es. Da mir der Mensch auffällig war, blieb ich hinter den Bäumen stehen, um zu sehen, wohin er gehen werde.«

»Recht so, recht so! Wohin ging er?«

»Er kletterte an der beschriebenen Höhe empor.«

»So wissen wir also doch die Richtung. Herr Kamerad, wenn Sie den Kerl festgehalten hätten!«

»Was Deines Amtes nicht ist, da laß Deinen Vorwitz!«

»Aber es war ja ganz sicher Der, welchen wir suchen.«

»Herr Lieutenant, bitte, nicht ich suchte ihn!«

»Das ist freilich wahr. Aber es sind fünfzehntausend Gulden auf seine Habhaftwerdung gesetzt.«

»Ich bin reich genug. Aber - hm, da fällt mir ein Umstand ein, auf welchen ich, als er so vor mir stand, keinen Werth legte.«

»Welcher?«


// 1913 //

»Seine Kopfbedeckung hatte sich verschoben - -«

»Er hatte natürlich schwarzes Haar, grad wie Sie?« fiel der Officier schnell ein.

»Hm! Er trug blondes Haar, aber unter demselben schien er schwarzes zu haben. Ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich annehme, daß er eine falsche Perrücke getragen hat.«

»Er ist es, er ist es ganz sicher! Adieu, Herr Kamerad! Sie sehen, meine Leute sind längst voraus. Ich muß eilen, daß ich nachkomme. Also Pardon wegen der Belästigung! Ich hatte sie nicht verschuldet!«

Er eilte weiter. Der Baron holte tief und erleichtert Athem und machte sich dann rasch von dannen.

Der Officier erreichte seine Leute binnen kurzer Zeit. Er gehörte mit dem Zuge, welchen er befehligte, zu der militärischen Truppe, welche den Wald zu durchforschen hatte. Seine Leute bildeten eine zusammenhängende Doppellinie. Er zog sie jetzt mehr zusammen und dirigirte sie auf dem angegebenen Wege vorwärts. Er war so voller Eifer, als ob er den Hauptmann bereits vor sich habe.

Als er den Grund erreichte, befahl er seine Leute zu sich und theilte ihnen mit:

»Hier, rechts, ist er hinaufgeklettert. Wir nehmen also die Höhe. Wir werden zwar die Fühlung mit den Anderen für kurze Zeit verlieren, aber hoffentlich bleibt uns dann der Ruhm vorbehalten, den Flüchtling ergriffen zu haben. Also einzeln und dann die Höhe empor, so weit es geht.«

Es wurde gehorcht. Die Leute klommen empor, langsam und hinter jeden Busch spähend. Der Corporal befand sich an der Seite des Lieutenants. Plötzlich ergriff der Erstere den Letzteren ganz respectwidrig beim Arme, hielt ihn zurück und raunte ihm zu:

»Halt! Ich sehe einen Menschen.«

»Wo denn?«

»Dort, da oben, hinter dem Busche kauert er.«

Der Offizier folgte mit seinem Auge der angedeuteten Richtung und erkannte allerdings etwas Dunkles, was sich hinter den Busch versteckt zu haben schien.

»Sollte es wirklich ein Mensch sein?« flüsterte er.

»Ganz gewiß.«

»Dann ist er es wahrscheinlich.«

»Ganz sicher ist er es! Er hat nicht weiter fliehen können. Der Fels wird ja zu steil. Unsere Leute klettern in einem Halbkreise empor. Offen kann er gar nicht entkommen. Nun versucht er, sich zu verstecken.«

»Also darauf zu!«

»Er wird bewaffnet sein, Herr Lieutenant.«

»Alle Teufel! Das ist richtig. Schießt er uns Beide nieder, so entsteht eine Lücke, durch welche er ganz leicht entkommen kann. Avanciren wir also zunächst nur so weit, bis wir deutlich sehen, daß es ein Mensch ist!«


// 1914 //

Sie stiegen langsam weiter. Bereits nach wenigen Schritten blieb der Offizier halten und fragte:

»Sehen Sie die Beine?«

»Ja.«

»Er kann sie nicht genug an sich ziehen. Es ist also ein Mensch. Avisiren wir unsere Leute!«

Ein lautes Commandowort genügte, um die Soldaten auf den betreffenden Punkt aufmerksam zu machen.

»Wer da?« fragte nun der Corporal.

Es erfolgte keine Antwort.

»Antwort oder ich schieße!«

Als auch jetzt noch nichts erfolgte, drückte der Corporal ab. Er konnte nur die Beine sehen, hatte aber dahin gezielt, wo er den Kopf vermuthete.

»Er bewegt sich noch immer nicht,« meinte der Lieutenant, »gehen wir also drauf.«

Auch die anderen Leute kamen von allen Seiten herbei. Sie fanden hinter dem Busche den Amerikaner.

»Todt! Er ist todt!« rief der Lieutenant.

»Meine Kugel muß ihn getroffen haben,« meinte der Corporal.

»Vielleicht, aber mir scheint, er ist an etwas anderem gestorben. Seht dieses Gesicht! Es ist ganz zerfetzt und zerrissen. Woher mag das kommen?«

»Er muß gestürzt sein.«

»Ah, ja! Blickt da hinauf! Man sieht es ganz genau, daß er hier herabgestürzt ist. Er hat also den Felsen bereits erstiegen gehabt und nur bei den letzten Schritten vielleicht einen Fehltritt gethan. Er sieht schauderhaft aus.«

Der Corporal wollte niederknieen, um den Todten zu untersuchen; da aber sagte der Lieutenant schnell:

»Halt! Nicht anrühren! Wir befinden uns nicht im Gefecht. Es handelt sich hier um einen Criminalverbrecher, um einen Todesfall, welcher von den Organen der Gerichtspolizei untersucht werden muß. Das geht uns nichts an. Wir haben den Arzt mit. Er mag ihn untersuchen. Gebt jetzt das Zeichen: eine Salve!«

Die Gewehre wurden zugleich abgeschossen. Das gab einen Knall, welcher auf weite Entfernung hin gehört und vom Echo vielmal wiederholt wurde. Zur besseren Orientirung der Herbeigerufenen schoß man noch einige Male einzelne Gewehre ab, bis von verschiedenen Seiten Militär- und Forstpersonen herbeigeeilt kamen.

Einer der Ersten war der Hauptmann der Compagnie. Ihn begleitete der Arzt. Bei diesen Beiden befand sich ein Oberförster und auch ein Obergensdarm.

»Sie ließen das Zeichen geben, Lieutenant?« rief der Hauptmann bereits von Weitem. »Haben Sie vielleicht eine Spur entdeckt?«

»Nicht nur eine Spur, sondern ihn selbst.«


// 1915 //

»Ah! Wo, wo?«

»Hier liegt er.«

Die Herren kamen förmlich herbeigestürzt. Als der Hauptmann die Leiche sah, stieß er hervor:

»Ah! Sie haben ihn erschossen!«

»Nein. Er war bereits todt. Er ist von da oben herabgestürzt, Herr Hauptmann.«

Alle blickten nach der Felsenhöhe. Der Obergensdarm meinte:

»Dann muß er allerdings eine Leiche sein. Bitte, Herr Doctor, untersuchen Sie ihn!«

»Wollen wir nicht erst sehen, wen wir vor uns haben?« fragte der Angeredete.

»Gewiß, Sie haben recht. Das ist ja die Hauptsache.«

Der Polizeibeamte wendete die Leiche um, zog den Rockhenkel unter dem Kragen hervor und sagte:

»Er ist es. Die Suche ist also nicht vergeblich gewesen.«

»Täuschen Sie sich nicht?«

»Nein. Der Henkel ist aus gepreßtem Leder gefertigt und zeigt den eingestanzten Namen des Schneiders. Es ist der Rock, welchen er dem Baron von Scharfenberg genommen hat. Und da, sehen Sie!«

Er zeigte die blonde Perrücke.

»Bemerken Sie das schwarze Haar, welches er unter dieser Perrücke getragen hat. Das Gesicht ist nicht zu erkennen, aber die Figur und Alles stimmt. Bitte, Herr Doctor, sehen Sie jetzt nach!«

Der Arzt begann die Untersuchung. Er schüttelte den Kopf, er entfernte die Kleidung von der Brust, er nahm verschiedene Manipulationen vor, über welche die anwesenden Laien bei anderer Gelegenheit gelacht hätten. Das dauerte lange, beinahe eine Viertelstunde, dann endlich erhob er sich und holte tief Athem.

»Nun, Doctor, wie steht es?« fragte der Hauptmann.

»Er lebt noch.«

»Alle Teufel! Ist's möglich?«

»Ja. Von da oben herabzustürzen, ohne ein einziges Glied zu brechen, das hält man freilich für unmöglich. Ob er innerlich verletzt ist und wo und wie, das kann ich natürlich jetzt nicht wissen. Athem ist da, Puls auch, wenn auch nur ein Hauch, eine Ahnung. Wie es mit dem Gehirn steht, weiß ich auch nicht.«

»Er hat blutigen Schaum vor dem Munde. Ich denke, das ist ein Zeichen des Todes?«

»Nein. Er hat sich während des Sturzes die Zunge fast durchgebissen, daher das Blut.«

»Denken Sie, daß er zur Besinnung kommen wird?«

»Das kommt auf seine Verletzungen an. Vielleicht erwacht er nur, um zu sterben.«


// 1916 //

»Dann wird er wohl wenigstens ein Wort sagen.«

»Das ist unmöglich wegen der verwundeten Zunge.«

»Hm! Was ist da zu thun?«

Da meinte der Obergensdarm:

»Wir müssen Alles thun, um ihn am Leben zu erhalten, um wenigstens sein Leben auf Tage oder Stunden zu verlängern. Giebt es gar keine Hoffnung?«

»Ich kann nicht in das Innere des Menschen sehen. Jedenfalls dürfen wir ihn nicht hier liegen lassen. Aber wohin hier in dieser Waldesöde.«

»O, Herr Doctor, wir haben gar nicht sehr weit nach einer Wohnung,« bemerkte der Oberförster.

»Wo?«

»Kaum zehn Minuten von hier wohnt ein Kohlenbrenner, welcher Hendschel heißt.«

»Was ist er für ein Mann?«

»Blutarm aber ehrlich.«

»Gut, versuchen wir es, den Verletzten bis dorthin zu bringen. Man mag eine Trage verfertigen.«

»Nehmen wir dazu die Gewehre und einige Mäntel,« sagte der Hauptmann. »Wenn wir recht vorsichtig verfahren, wird er uns hoffentlich nicht unterwegs sterben.«

Der Köhler war des Morgens in den Wald gegangen, um den neuen Meiler anzurichten, von welchem er gestern gesprochen hatte. Seine Frau erwartete ihn nicht für heute, sondern erst am nächsten Vormittage zurück. Sie saß strickend am Tische und sprach mit dem Vetter, welcher trübselig neben ihr saß.

»Mein Mann hat recht,« sagte sie. »Du mußt nach Hause zu den Deinigen.«

»Und wenn ich komme, arretirt man mich,« warf er ein.

»Das glaube ich nicht. Bist Du steckbrieflich verfolgt?«

»Nein.«

»Sucht die Polizei nach Dir?«

»Auch nicht. Aber ich denke, die Polizei ist sehr pfiffig. Sie thut ganz so, als ob Gras über die Geschichte gewachsen sei, und wenn ich dann komme, so nimmt sie mich beim Kragen.«

»Versuche es doch wenigstens.«

»Wenn sie mich festnimmt, war's kein Versuch, sondern eine großartige Dummheit.«

»Aber Du kannst doch nicht immer so versteckt bleiben.«

»Das ist freilich wahr; ich werde auf diese oder auf eine andere Weise in den sauren Apfel beißen müssen. Ich wollte, der Teufel hätte diesen Baron geholt, ehe ich ihn zu sehen bekam. Er ist mein Unglück!«

»Sei einmal ehrlich! Nicht wahr, dieser Hirsch war kein Anderer als der Baron von Helfenstein?«


// 1917 //

»Na, er ist jetzt fort, und ich will es also ruhig gestehen: Ja, er war es!«

»Nun denke Dir einmal, in welche Gefahr Du uns dadurch gebracht hast! Wenn man ihn bei uns gefunden hätte!«

»Es ging nicht anders; es war - ah, was muß denn da los sein? Gewiß ist etwas geschehen!«

Er war eilig an das kleine Fenster getreten.

»Was ist's denn?« fragte sie schnell und besorgt.

»Der Vetter kommt.«

»Mein Mann?«

»Ja, da drüben aus den Fichten heraus.«

Die Alte eilte auch an das Fenster, um hinauszublicken.

»Ja, da ist etwas geschehen,« sagte sie erschrocken, »und zwar nichts Gutes. Ich kenne seine Mienen.«

Sie eilte hinaus, öffnete die Hausthür und rief ihm entgegen:

»Um Gotteswillen, Alter, was ist passirt? Du siehst ja wie das reine Unglück aus!«

»Hinein, hinein!« befahl er ihr.

Dann, als er selbst die Thür hinter sich zugemacht hatte, sagte er, vom schnellen Laufen laut athmend:

»Ja, es ist ein Unglück! Sie haben ihn.«

»Herrgott? Wen denn?«

»Den Hauptmann, den Hirsch.«

»Wer hat ihn denn?«

»Die Soldaten.«

»Ist denn Militär im Walde?«

»Ja. Ich sprach doch gestern Abend schon davon. Aber ich dachte freilich nicht, daß es so schnell gehen würde.«

»Woher weißt Du es denn?«

»Ich habe es selbst gesehen mit meinen eigenen Augen. Ich war eben daran, den Grund für den Meiler zu graben, da drüben, jenseits der breiten Schlucht; da hörte ich aus der Ferne einen gräßlichen, einen entsetzlichen Schrei, wie ihn nur ein Mensch in der höchsten Todesnoth auszustoßen vermag. Das schien mir von der Gegend der Felsenplatte zu kommen. Ich sprang also aus dem Walde heraus, nach der Lichtung hin, die wir vor zwei Jahren geschlagen haben, und richtig, da sah ich drüben unter dem Felsen sich etwas bewegen.«

»Wer ist das gewesen?«

»Höre nur! Natürlich war irgend wer verunglückt, von der Platte gestürzt; ich mußte hin. Du kennst den Weg. Man geht von dem Meiler aus hinab, hinauf und noch zweimal hinab und hinauf, dreimal über das reißende Wildwasser weg.«

»Mein Gott, Alter, das ist lebensgefährlich für Dich! Das Wasser hat ja die Brücke fortgerissen!«

»Ich mußte aber dennoch hin! Das ging freilich sehr langsam. Es mochte über eine halbe Stunde vergangen sein, als ich endlich die letzte Höhe


// 1918 //

erreicht hatte und nun unter den Fichten nach dem Felsenabsturze hineilte. Eben wollte ich unter den Bäumen heraus auf die kahle Steinfläche, da hörte ich ein Krachen wie von einem Kanonenschusse. Ich blieb halten, sah nach der Seite hin und erblickte eine Menge Soldaten, die um den Körper, den ich von da drüben bemerkt hatte, im Kreise standen. Da war ich nun freilich nicht nöthig. Aber ich wartete.«

»Du lieber Gott, was werden wir hören!«

»Kaum fünf Minuten waren vergangen, so kamen noch viel mehr Soldaten, Offiziere und Gensdarme herbei, Alle nach demselben Orte hin. Sie redeten und warfen mit den Armen um sich. Endlich sah ich, daß sie eine Bahre gemacht hatten und einen Menschen darauflegten. Dieser Mensch war - der Hauptmann.«

»Ist's wahr? Ist's gewiß?« fragte der Vetter.

»Ja. Ich sah es ganz deutlich an der Kleidung.«

»So ist er da oben herabgestürzt?«

»Höchst wahrscheinlich.«

»War er todt?«

»Das weiß ich nicht.«

»Ah! Wenn er doch todt wäre!«

»Gut wäre es für Dich und auch für uns.«

»Wo mögen sie ihn hinschaffen?« fragte die Alte.

»Das kommt ganz darauf an, ob er todt ist oder ob er noch lebt. Ist er todt, so wird er irgendwo hier eingescharrt, oder sie schaffen seine Leiche sonst irgendwo hin. Lebt er aber noch, so bringen sie ihn sicherlich zu uns.«

»Du lieber Herrgott!« rief die Frau erschrocken aus.

»Ja, ganz gewiß, denn es giebt ja in der weiten Umgegend keine Wohnung als nur die unserige.«

»Dann sind wir verloren!«

»Noch nicht! Fasse Dich, Mutter! Es fragt sich, ob er uns verrathen wird.«

»Ganz sicher, ganz gewiß! Schon aus purer Rachsucht, weil wir ihn fortgewiesen haben!«

»Nur langsam! Wer von der Felsenplatte stürzt, der ist entweder todt, oder er befindet sich in einem Zustande, der das Sprechen ganz von selbst verbietet. Ich denke mir, daß - da, schaut, wer kommt?«

»Mein Himmel! Der Oberförster und gar auch ein Obergensdarm!« rief die Frau, vor Schreck die Hände über dem Kopf zusammenschlagend.

»Donnerwetter, da muß ich mich verstecken!« rief der Vetter.

Er wollte eiligst zur Stubenthür hinaus, aber der alte Köhler faßte ihn beim Arme, hielt ihn fest und sagte:

»Halt, Vetter! Entweder ist es verrathen, daß er bei uns gewohnt hat und da magst Du die Folgen auch mit tragen, denn Du bist's ja gewesen, der ihn zu uns gebracht hat. Oder es ist noch nichts verrathen und so kannst


// 1919 //

Du ruhig bleiben. Du wirst bei dieser Gelegenheit gleich erfahren, ob die Polizei nach Dir sucht oder nicht.«

»Ich muß fort! Laß mich, Vetter, laß mich!«

Während dieser Worte versuchte er, sich loszuringen, aber der Alte hielt ihn mit eiserner Gewalt fest und gebot:

»Du bleibst! Es ist auch bereits zu spät. Schau, da sind sie ja schon an der Hausthür!«

Der Wagner trat in die hinterste Ecke zurück. Er war vor Angst weiß wie Schnee. Jetzt wurde die Thür geöffnet und die beiden Genannten traten ein.

»Guten Morgen!« grüßte der Obergensdarm. »Sie sind der Kohlenbrenner Hendschel?«

»Ja, Herr.«

Er sah sich um, erblickte die hier herrschende Armuth und erkundigte sich in Folge dessen:

»Schlafen Sie auf einem Lager oder in Betten?«

»In Betten.«

»Wo sind diese?«

»Droben in der Kammer.«

»Hm! Wir haben da einen Verwundeten aufgegriffen, der so schwer verletzt ist, daß er unmöglich weitergeschafft werden kann. Wollen Sie ihn aufnehmen?«

»Ja.«

»Es wird Ihnen bezahlt werden.«

»Ich thue meine Menschenpflicht.«

»In der Kammer darf er nicht liegen. Schaffen Sie schleunigst ein Bett hier herein, hier in diese Ecke!«

Die beiden Alten eilten, den Befehl zu erfüllen. Die Beamten setzten sich nieder; sie waren schnell gelaufen, um Zeit zu gewinnen. Der Obergensdarm wendete sich an den angstvoll in der Ecke Stehenden:

»Gehören Sie auch mit ins Haus?«

»Eigentlich nicht.«

»Wieso?«

»Ich bin nur auf Besuch hier.«

»Wo sind Sie her?«

»Aus Obersberg.«

»Ah, Obersberg! Was sind Sie? Doch nicht auch Köhler, denn Kohlenbrenner giebt's dort nicht.«

»Nein, ich bin Wagner.«

»Und wie heißen Sie?«

»Hendschel.«

»Also wie der Köhler hier? So sind Sie mit ihm verwandt?«

»Ja, wir sind Vettern.«

»So, so!«


// 1920 //

Nach diesen zwei freundlich-gleichgiltigen Sylben wendete er sich ab, dem alten Hendschel zu, der jetzt mit seiner Frau die Betten hereinbrachte.

Dem Wagner war es, als ob ihm der schwerste Mühlstein vom Herzen gefallen sei. Der Obergensdarm war freundlich gewesen, hatte, als er den Namen hörte, keinerlei Bemerkung gemacht, nicht einmal die Miene verzogen. Das war ein sicheres Zeichen, daß nichts zu befürchten war. Er trat aus seiner Ecke vor und half das Bett aufstellen. Das ging so rasch von statten, daß die Drei fertig waren, als der Verletzte gebracht wurde. Als der Zug von weitem zu sehen war, sagte der Obergensdarm zu dem Köhler:

»Haben Sie eine Ahnung, wen wir bringen?«

»Nein.«

»Aber Sie wissen, wen wir suchen?«

»Auch nicht.«

Der Gensdarm machte ein ungläubiges Gesicht, aber der Oberförster nickte mit dem Kopfe und sagte:

»Ja, grade so ist der alte Hendschel! Er arbeitet still und fleißig; er thut seine Pflicht und bekümmert sich um weiter gar nichts in der Welt. Hören Sie, Alter, haben Sie denn gar nichts vom Waldkönig gehört?«

»Von dem? O ja, ein paar Male.«

»Und vom Hauptmanne?«

»Ja. Auf dem Jahrmarkte sagten sie, das soll ein- und derselbe sein, Herr Oberförster.«

»So ist es auch. Vorhin haben wir ihn gefangen.«

»Was Sie sagen!«

»Ja. Er ist von der Felsenplatte gestürzt und wird es wohl nicht überleben. Er kann nicht reden, er sieht ganz schrecklich aus. Da, seht!«

Eben wurde die Stubenthür geöffnet, und der Verunglückte wurde hereingebracht und unter Anleitung des Arztes ausgezogen und in's Bett gelegt.

Die Bewohner der Hütte zogen sich in die äußerste Ecke zurück; der Oberförster verabschiedete sich, die Offiziere arrangirten draußen ein Bivouac und am Bette nahmen nur der Arzt und der Obergensdarm Platz, um den Patienten nicht aus den Augen zu lassen.

»Schrecklich, schrecklich!« flüsterte der Köhler seiner Frau zu. »Hast Du sein Gesicht gesehen?«

»Ja, Vater.«

»Er ist gar nicht zu erkennen.«

»Ganz unmöglich!«

»Ich glaube nicht, daß er es überleben wird.«

»Er muß ja bereits eine Leiche sein! Horch!«

Der Arzt und der Obergensdarm sprachen halblaut mit einander. Der Letztere fragte den Ersteren:

»Nun, können Sie jetzt etwas Bestimmtes sagen?«

»Vielleicht, wenn ich auch nicht behaupten will, daß es gar nicht anders sein könne. In solchen Fällen läßt sich kein absolutes Urtheil aussprechen.«


Ende der achtzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der verlorne Sohn

Karl May – Forschung und Werk