Lieferung 7

Karl May

27. September 1884

Der verlorne Sohn
oder
Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.


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Er hatte auch hier gleich von seinem Eintritt an eine solche Stellung eingenommen, daß er sich möglichst im Schatten befand. Die Frau gehorchte ihm und kehrte dann mit einem Gesichtsausdruck zurück, in welchem die hoffnungsvollste Wißbegierde zu lesen war. Sie und ihr Mann, welcher noch kein Wort gesprochen hatte, warteten, was der räthselhafte Fremde ihnen nun mittheilen werde. Dieser fragte, sich wieder an die Frau wendend:

»Ich wiederhole meine Frage, ob Sie mich wieder erkennen?«

Sie nickte mit dem Kopfe.

»Sie wollten bei dem Juden diesen Tisch und die beiden Betten, welche sich im Nebenzimmer befinden, versetzen?«

Sie erröthete abermals vor Scham und blickte, ohne zu antworten, ihren Mann an. Dieser nahm das Wort:

»Warum fragen Sie?«

»Weil ich die größte Theilnahme für Sie empfinde.«

»Wer sind Sie?«

»Vielleicht werde ich Ihnen dies nachher sagen. Haben Sie nur vorher die Güte, mir mitzutheilen, warum Sie sich nicht an andere Leute als an diesen Juden wenden?«

»Ich habe keinen anderen Menschen.«

»Was brachte Sie in die traurige Lage, all Ihr Eigenthum auf die Leihbank zu tragen?«

»Die Noth.«

»Und was brachte Sie in diese Noth?«

Der Mann schien über diese zudringliche Frage unwillig zu werden. Er antwortete:

»Herr, Sie sprechen Fragen aus, welche man nur einem sehr vertrauten Freunde zu beantworten pflegt!«

»Das ist wahr, aber ich möchte gern haben, daß Sie auch zu mir Vertrauen fassen. Ich habe Ihnen ja bereits gesagt, daß ich bereit bin, Ihnen zu helfen.«

»Das kann ich kaum glauben. Wir sind einander vollständig fremd, und unter Fremden pflegt man gewöhnlich keinen Helfer zu suchen, wenn man ihn bereits unter Bekannten nicht gefunden hat. Uebrigens kann ich Ihnen wohl sagen, daß ich durch einen solchen Bekannten in meine gegenwärtige Noth gestürzt worden bin.«

»Wieso?«

»Erlauben Sie, daß ich darüber schweige!«

»Ah, Sie haben ein reges Ehrgefühl! Das freut mich, denn es überzeugt mich, daß Sie der Hilfe würdig sind. Der Bekannte hat Sie gebeten, ihm neunzig Thaler zu borgen?«

»Herr, woher wissen Sie das?«

»Ich habe es erfahren.«

»Ich habe zu Niemand davon gesprochen, und er hat ebenso alle Veranlassung, darüber zu schweigen!«


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»Die Quelle, aus welcher ich geschöpft habe, ist hier gleichgiltig. Sie haben sich bereden lassen, ihm das Geld zu geben.«

»Leider!«

»Sie hatten aber selbst kein Geld. Sie haben Ihrem Freunde zu Liebe eine Anleihe gemacht. Ist es nicht so?«

»Allerdings,« antwortete der Gefragte, einigermaßen verlegen.

»Darf ich fragen, bei wem Sie diese Anleihe gemacht haben?«

»Bei einem Dritten.«

»Wer ist dieser Dritte?«

»Herr - -!«

»Schon gut! Ich kenne ihn. Sie sind Mitglied eines Militärvereins: Sie sind sogar Cassirer desselben. Sie nahmen die neunzig Thaler aus der Kasse, welche Ihnen anvertraut war?«

»Herr, wer sind Sie?« fragte der Mann erbleichend.

Auch seine Frau erschrak. Wie war der Fremde in den Besitz ihres Geheimnisses gekommen? Sie mußte sich alle Mühe geben, ein neu ausbrechendes Schluchzen zu unterdrücken.

»Sie erfahren schon noch, wer ich bin,« antwortete der Baron, »Der Freund verschwand mit dem Gelde. Er ließ sich nicht wieder sehen. Sie hatten Cassenabschluß. Sie schickten alles Entbehrliche zum Pfandleiher; die Summe, welche Sie erhielten, reichte bei weitem nicht aus. Man ahnt den Stand der Dinge; man hat dem Staatsanwalte Anzeige gemacht. Morgen früh wird man kommen, um die Casse zu revidiren. Ist sie nicht in Ordnung, so werden sie arretirt. Was das heißt, wissen Sie am Besten, da sie ja Schließer eines Gefängnisses sind. Ist es so?«

Die Frau schluchzte jetzt laut. Der Mann antwortete:

»Es ist so. Es ist mir unbegreiflich, wie Sie das alles so genau wissen können, außer -,« er stockte, warf einen außerordentlich schreckvollen Blick auf den Fremden und fuhr dann fort: »- außer Sie selbst müßten der gefürchtete Staatsanwalt sein!«

»Beantworten wir diese Frage jetzt noch nicht. Sagen Sie mir lieber, ob Sie noch irgend einen Weg zur Rettung ausfindig machen können.«

»Ich weiß keinen außer dem einen, daß ich morgen früh eine Leiche sein werde!«

»Pfui! Retten Sie dadurch sich? Retten Sie dadurch Ihre Familie? Ich hörte zufälliger Weise etwas über Ihre Lage; ich entschloß mich, Ihnen zu helfen, gestehe aber dabei allerdings aufrichtig, daß meine Absicht eine nicht ganz uneigennützige ist.«

Das Gesicht des Mannes hatte bisher einen schlimmen Ausdruck angenommen; jetzt aber leuchtete sein Auge einigermaßen freudig auf. Er antwortete rasch:

»Mein Gott, ich will ja Alles, Alles thun, wenn ich nur gerettet werden kann!«

»Nun gut! Wieviel brauchen Sie?«

»Rund hundert Thaler.«


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»Ich denke, daß es nur neunzig waren!«

»Ich habe meine Sachen einzulösen und an den Juden zehn Thaler zu entrichten.«

»Nun, zehn Thaler machen hier nichts aus. Es würde mir sogar auf hundert oder einige Hundert nicht ankommen, die ich Ihnen mehr gebe, falls Sie nur bereit sind, mir den Gefallen zu thun, welchen ich von Ihnen fordern möchte.«

»Ich wiederhole, daß ich zu Allem bereit bin, wenn ich nur dadurch nicht in eine neue Gefahr komme.«

»Gefahr ist nicht dabei, wenn es auch sein mag, daß Sie nicht ganz genau nach Ihren Pflichten handeln dürfen.«

Der Mann blickte rasch auf.

»Handelt es sich etwa um einen Gefangenen?« fragte er.

»Ja.«

»Da kann ich leider auch nichts für Sie thun!«

»Und ich also auch leider nichts für Sie!«

Der Baron drehte sich um, als wenn er die Stube verlassen wolle. Da wurde es dem Schließer angst. Er fragte rasch:

»Was verlangen Sie? Ist es sehr gefährlich?«

»Gefährlich gar nicht.«

»Nun, so ist es möglich, daß ich es thue. Wünschen Sie vielleicht, daß ich eine Botschaft oder einen Brief besorge?«

»Das nicht,« lächelte der Baron. »Es handelt sich denn doch um etwas Anderes. Sie haben nämlich einen Gefangenen in Ihrer Obhut, welcher unschuldig ist. Seine Unschuld ist aber nur dann zu beweisen, wenn ich auf Ihre Hilfe rechnen kann.«

»Wenn es so ist, so würde sich die Gefälligkeit, welche Sie fordern, wohl auch mit meinem Gewissen in Einklang bringen.«

»Ganz gewiß. Wie lange haben Sie jetzt noch Zeit?«

»Ich habe keine Uhr. Auch sie wurde versetzt. Ich habe eine Stunde für das Abendbrod. Drei Viertelstunden werden bereits vergangen sein. In fünfzehn Minuten muß ich eintreffen.«

»Das ist genug, um uns zu besprechen und einen Entschluß zu fassen. Bleiben Sie die Nacht über im Gefängnisse?«

»Ja. Ich habe heut die Wache.«

»So geht es leicht. Würden Sie mir von Mitternacht an bis ungefähr gegen drei Uhr einen Ihrer Gefangenen anvertrauen?«

Der Schließer erschrak.

»Herr, das ist die reine Unmöglichkeit!« sagte er.

»Nicht so unmöglich wie Sie denken. Vergegenwärtigen Sie sich Ihre Lage. Morgen Vormittag nimmt man Sie wegen Unterschlagung gefangen. Das ist Ihr unabwendbares Schicksal. Stellen Sie sich aber mir zu Diensten, so zahle ich Ihnen heut, jetzt, sofort volle fünfhundert Thaler aus -«

»Fünf - fünfhundert Thaler! Mein Gott!« rief die Frau.

»Fünfhundert Thaler?« fragte der Mann. »Ist das wahr?«


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»Ich scherze nicht,« antwortete der Baron.

»Es geht trotzdem nicht.«

»Warum nicht?«

»Ich darf keinen Gefangenen entlassen.«

»Für nicht ganz drei Stunden?«

»O, er wird doch nicht so dumm sein, wiederzukommen!«

»Es wäre im Gegentheile sehr dumm, wenn er nicht wiederkommen wollte. Entflieht er, so darf er sich niemals wiedersehen und treffen lassen; er ist vogelfrei und heimathlos; er bleibt des Verbrechens, dessen man ihn anklagt, schuldig. Kehrt er aber zurück, so werde ich seine Unschuld beweisen, und er kann offen und gerechtfertigt das Gefängniß verlassen.«

»Was wird er während dieser drei Stunden thun?«

»Er soll eine Besprechung mit einem Rechtsanwalt haben.«

»Der Anwalt kann am Tage zu ihm in die Zelle kommen.«

»Das erlaubt der ganz und gar eigenthümliche Stand der Verhältnisse nicht!«

»Wer ist es?«

»Der Riese Bormann.«

Man sah, daß der Schließer erschrak.

»Um Gotteswillen!« sagte er. »Bei diesem gefährlichen Menschen darf ich es noch viel weniger wagen als bei einem Anderen.«

»Und dennoch können Sie es wagen. Ich werde Ihnen die Sache so erleichtern, daß Sie einsehen, wie ehrlich ich es mit Ihnen meine.«

»Das soll mich verlangen.«

»Gut. Sagen Sie mir vorher, ob es Ihnen möglich ist, einen Gefangenen vor das Thor der Frohnveste zu bringen, ohne daß man dies bemerkt.«

»Vor das Thor nicht, aber vor die hintere Pforte.«

»Schön. Ich halte Sie für einen ehrlichen Menschen, dem ich vertrauen kann. Ich mache Ihnen daher folgenden Vorschlag: Zunächst schenke ich Ihnen fünfhundert Thaler, damit Sie sich für die morgige Revision vorbereiten und retten können. Zweitens lege ich volle dreitausend Thaler als Caution in Ihre Hand, daß der Gefangene sich bis drei Uhr morgens wieder vor der Pforte befindet.«

»Dreitausend Thaler!« rief die Frau.

»Dreitausend Thaler!« wiederholte der Baron. »Ich selbst hole den Gefangenen und bringe Ihnen denselben zurück. Dabei geben Sie mir die Caution retour. Er kehrt ganz sicher zurück. Und selbst für den Fall, daß dies nicht geschehen sollte, kann Ihnen doch kein Mensch einen Fehler nachweisen und die Caution verfällt Ihnen als Ihr Eigenthum.«

Die Frau richtete einen gierigen Blick auf den Baron und einen aufmunternden auf ihren Mann. Dieser schüttelte den Kopf und sagte:

»Das ist viel, sehr viel! Vielleicht würde ich darauf eingehen, denn meine Lage zwingt mich dazu. Aber er ist der Riese Bormann!«

»Nun, warum bei diesem nicht?«

»Man sagt, daß er mit dem ›Hauptmann‹ in Verbindung stehe.«


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»Sie meinen den geheimnißvollen Hauptmann?«

»Ja.«

»Was wissen Sie von ihm?«

»Nichts weiter, als das man sich vor ihm zu hüten hat.«

»Nun, da haben Sie recht, und ich sehe, daß ich mit Ihnen auch weiter aufrichtig sein kann. Ich habe ein Billett vom Hauptmann erhalten. Er schreibt, daß der Riese unschuldig sei, das ich ihn auf die angegebene Weise retten könne und daß ich mit Ihnen sprechen solle.«

»Mit mir?« fragte der Schließer erschrocken.

»Ja. Er nannte mir Ihren Namen.«

»Kennen Sie ihn denn?«

»Nicht im Geringsten. Aber Sie wissen ja, daß er selbst hochgestellten Herren zuweilen Befehle vorschreibt und im Gegenfalle ihnen mit seiner Rache, wohl gar mit dem Tode droht. Es hat schon Mancher, der ebenso wie ich, ein Ehrenmann ist, einen Brief von ihm erhalten und ihm aus Angst gehorchen müssen.«

»Das ist sehr richtig und wahr.«

»So schrieb er mir heut, daß ich mit Ihnen sprechen solle, wenn mir mein Leben lieb ist.«

»Er drohte Ihnen?«

»Wie Sie hören. Und sodann fuhr er fort, daß Sie ein todter Mann seien, falls Sie nicht auf meinen Vorschlag eingehen würden.«

»Gott, o Gott!« rief die Frau angstvoll.

Auch der Mann hatte sich entfärbt.

»Ist das wahr wirklich wahr?« fragte er.

»Ja, buchstäblich.«

»Darf ich den Brief lesen?«

»Ja. Hier ist er. Sie werden aber sehen, daß er verlangt, der Brief solle sofort vernichtet werden, sobald auch Sie ihn gelesen haben. Wir werden natürlich gehorchen.«

Der Schließer nahm das Schreiben entgegen, welches der Baron für diesen Fall angefertigt hatte, und las es durch. Als er fertig war, blickte er den Baron ehrfurchtsvoll an und sagte:

»Wie? Er nennt Sie Erlaucht! Sie sind also ein Graf?«

»Ja und leider. Es ist soweit gekommen, daß eine Erlaucht einem Verbrecher gehorchen muß, um das Leben zu retten. Und wollen Sie einen weiteren Beweis, so sehen Sie hier meinen Brillantring mit der Grafenkrone.«

Er zog den Handschuh ab und zeigte den Ring. Die Krone war freilich keine Grafenkrone, aber was verstand der Schließer davon! Dieser warf einen Blick auf den Ring und sagte:

»Bei Gott, es ist wahr. Aber, Erlaucht, Ihren Namen darf ich wohl nicht auch erfahren?«

»Warum nicht. Ich bin Graf Holk von Werthenstein. Sie haben vielleicht bereits von mir gehört.«

»Ja, gewiß. Ich las in der Zeitung von Ihnen. Sie sind Diplomat und erst vor einigen Tagen hier angekommen.«


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»Richtig. Ich bin aufrichtig gegen Sie und hoffe, daß Sie verschwiegen sein werden. Ich muß diesem verteufelten ›Hauptmanne‹ den Willen thun, wie es ein Anderer an meiner Stelle ebenso machen würde, wenn er sein Leben erhalten will; aber Sie sehen ein, daß ich verloren wäre, sobald das Geringste darüber verlautete.«

Das Gesicht des Schließers erheiterte sich. Er sagte:

»Gnädiger Herr, jetzt wird mir das Herz leicht, denn jetzt sehe ich ein, daß ich Ihnen vertrauen kann.«

»Sie wollen mir also den Gefallen thun?«

»Ja.«

»Den Gefangenen mir punkt Mitternacht an die Pforte bringen?«

»Ja.«

»Und ihn gegen drei Uhr dort wieder in Empfang nehmen?«

»Ja.«

»Schön! Das soll zu Ihrem Glücke sein. Hier ist das Geld.«

Er zog, ebenso wie vorhin bei dem Juden, fünf Hundertthalerscheine hervor und gab sie dem Schließer. Dieser griff mit zitternden Händen zu, während seine Frau vor Entzücken die Arme um ihn schlang. Dann fuhr der Baron fort:

»Die dreitausend Thaler gebe ich Ihnen, sobald der Gefangene bei mir ist. Sind Sie einverstanden?«

»Ja, gnädiger Herr. Gott, wie glücklich bin ich. Alle Angst und alle Sorge ist nun plötzlich verschwunden.«

»Ich gönne es Ihnen. Nun aber wird Ihre Zeit abgelaufen sein, und die meinige ist es auch. Ich muß gehen. Also, halten Sie Wort. Gute Nacht, bis wir uns wiedersehen.«

Er ging, und der Schließer leuchtete ihm die Treppe hinab. Droben im ärmlichen Stübchen herrschte Glück und Freude. Der Baron dachte daran nicht im Mindesten. Er überzeugte sich zunächst, ob er nicht beobachtet werde, nahm dann eine Droschke und ließ sich nach einem entlegenen Stadttheile fahren. Dort stieg er aus und schritt durch einige Gassen und Gäßchen weiter, bis er an eine lange Mauer kam. Hier blieb er einige Zeit horchend stehen, und als er sich überzeugt hielt, daß er nicht beobachtet werde, zog er sein Messer hervor, öffnete es und steckte die Klinge in eine zwischen zwei Mauersteinen befindliche Ritze.

Der eine dieser Steine war ringsum vom Mörtel befreit, also locker. Mit Hilfe des Messers gelang es dem Barone leicht, ihn heraus zu bringen. Dann langte er in die Oeffnung und zog drei spitze Eisen hervor, welche die Form von Meiseln hatten. An derselben Stelle der Mauer gab es drei Löcher, in welche die Eisen eingeschoben werden konnten, sodaß sie vielleicht sechs Zoll weit hervorstanden. Da sie in gleichen Abständen über einander in die Mauer gesteckt waren, konnten sie dem Baron als Stufen dienen. Er stieg an ihnen empor, zog sie unter sich wieder heraus und bediente sich auf der anderen Seite ihrer ganz in derselben Weise.

So gelangte er in einen großen Garten, welcher schon mehr ein verwildeter Park zu sein schien. Er schlich leise aber doch eiligen Schrittes zwischen den Bäumen dahin, bis er an die hintere Seite eines finsteren Hauses


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gelangte, welches mitten in dem Garten stand. Hier ging eine steinerne Freitreppe empor. Zu beiden Seiten derselben gab es hart am Boden ein Fenster, welches zur Kellerei zu gehören schien. Das eine derselben war nur angelehnt. Der Baron schob es auf, stieg ein, machte es wieder zu und befand sich nun in einem dunklen Raume, den er sehr gut zu kennen schien, denn er schritt, ohne Leuchte zu bedürfen, weiter und immer weiter.

Er gelangte schließlich an einige schmale Stufen, stieg zwei derselben empor und stieß nun mit dem Kopfe an ein bretternes Hinderniß, an welchem sich ein Riegel befand. Er schob den Riegel zurück und auch die Bretter bei Seite, aber leise, ganz leise, als ob er befürchte, daß Jemand das Geräusch hören könne.

Ein Lichtschein drang von oben herein. Er zog die Maske aus der Tasche und befestigte sie vor seinem Gesichte; dann stieg er sehr langsam weiter empor.

Der hölzerne Boden, welchen er zur Seite geschoben hatte, war der Boden einer Art von Lehrkatheder, hinter welchem und zwischen dessen Seitentheilen ein Stuhl stand. Auf dem Katheder lag eine silberne Klingel.

Als er die letzte Stufe emporgestiegen war, steckte er in kauernder Stellung hinter dem Katheder, so daß er nicht gesehen werden konnte. Dann schob er den Boden leise wieder zurück und richtete sich rasch empor. Er befand sich in einem gewölbtem Raume, in welchem Tische und Stühle standen. An diesen Tischen saßen gegen dreißig verhüllte und maskirte Personen, alle mit dem Rücken nach dem Katheder. Keiner sprach mit dem Anderen, es herrschte eine tiefe Stille. Eine einzige, von der Decke herabhängende Lampe erhellte den Raum.

Er setzte sich auf den Stuhl, ergriff die Klingel und ließ sie ertönen. Sofort erhoben sich Alle, drehten sich zu ihm herum und verbeugten sich stumm und tief vor ihm. Dann setzten sie sich wieder nieder, jetzt aber mit den maskirten Gesichtern nach ihm gewendet. Er winkte. Einer erhob sich, kam herbei und legte flüsternd seinen Rapport ab. Er erhielt in demselben Flüstertone seine neuen Befehle und entfernte sich aus dem Gewölbe.

Der Zweite kam, dann der Dritte, Vierte und Fünfte. Bei Jedem wurde der gleiche Modus befolgt, sodaß keiner der Anderen ein Wort zu hören vermochte. Ein Jeder verließ sofort nach seiner Abfertigung den Raum, und nur Einige erhielten den Befehl, zurück zu bleiben. Als die Anderen alle sich entfernt hatten, begann der Baron mit etwas gehobener Stimme zu sprechen. Er wendete sich an den Einen:

»Du warst heute bei dem Schließer?«

»Ja, Hauptmann, ich habe ihn gewarnt.«

»Er ist in die Falle gegangen. Wie steht es mit dem Schreiber Robert Bertram.«

»Er wird mir morgen Abend die Noten bringen.«

»Du giebst ihm aber kein Geld.«

»Ich bin nicht zu Hause; der Wirth mag die Noten empfangen.«

»Die Schwester des Schreibers?«

»Sie wird ebenso morgen Abend ihre Stickerei abliefern.«


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»Wie hast Du die Sache arrangirt?«

»Eines der Mädchen im Geschäft ist meine Geliebte.«

»Ah! Klug! Aber wie fängt diese es an, um zu erreichen, daß diese Marie Bertram ihren Lohn nicht erhält?«

»Meine Geliebte wird die Stickerei in Empfang nehmen, um sie der Prinzipalin vorzulegen. Ich bin überzeugt, daß dabei auf der Arbeit ein Fettfleck oder so etwas Ähnliches entstehen wird.«

»Schön. Du arbeitest immer mit einem lobenswerthen Scharfsinne und Eifer. Ich werde Dir eine Extragratification ansetzen. Für heute wißt Ihr, um was es sich handelt?«

»Ja,« antworteten Alle.

»Sind die Schlüssel fertig?«

»Ja, hier,« antwortete Einer.

Er griff in die Tasche und übergab dem Hauptmanne mehrere Wachsabdrücke und Schlüssel, welche dieser sorgfältig prüfte und miteinander verglich.

»Sie werden passen,« sagte er dann. »Der Riese wird heute mit arbeiten.«

Die Vermummten sagten nichts, aber sie erhoben ihre Köpfe mit einem so raschen Rucke, daß leicht zu bemerken war, wie groß ihr Erstaunen darüber sei, daß ein Kamerad mit ihnen arbeiten solle, den sie in festem Gewahrsam wußten. Der Hauptmann wendete sich wieder an den Ersten, welcher eine Art Factotum, Unterbefehlshaber, oder Ähnliches zu sein schien.

»Hast Du Stoff zu einem rothen Male bei Dir?«

»Natürlich! Man muß Derartiges stets mit sich führen.«

»Gut! Punkt zwölf Uhr trefft Ihr Euch unter den Bäumen gegenüber der Frohnveste. Ich werde mit dem Riesen zu Euch stoßen, und Du machst ihm ein großes Maal auf die rechte Wange. Nach vollendeter Arbeit bringt Ihr ihn wieder mit. Er geht dann in seine Zelle zurück.«

Es entstand eine wortlose Pause des Erstaunens, welche dann der bereits Erwähnte unterbrach:

»Darf ich fragen, Hauptmann, warum er wieder zurück soll?«

»Um freigesprochen zu werden.«

»Wie ist das möglich?«

»Der alte Salomon Levi wird sagen, daß Derjenige, welcher ihm die Uhren verkaufen wollte, ein Feuermaal auf der rechten Wange gehabt habe, sonst aber dem Riesen sprechend ähnlich sei. Er hat sich auf das Maal erst jetzt besonnen. Der Riese wird sich heut der Zofe der Baronesse unvermummt zeigen. Sie wird ihre Aussage thun, und da der Gefangene in der Veste sicher steckt, so wird man sich zu der Annahme bequemen müssen, daß er ein Ebenbild habe, an dessen Stelle man ihn unschuldig eingezogen hat. Unser Advocat wird seine Sache machen.«

»Donnerwetter! Das ist fein erdacht! Und nun, wie steht es mit der Baronesse, Hauptmann?«

»Zwischen Zwölf und Eins kommt Ihr dort an. Die Schlüssel hier nehmt Ihr mit. Sie schließen das Hausthor, die Thür des Vorsaales und


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auch die anderen Eingänge. Sobald Ihr kein Licht mehr bemerkt, geht Ihr an die Arbeit.«

»Die Zofe schläft im Nebenzimmer?«

»Ja.«

»Ihr dürfen wir nichts zu Leid thun?«

»Schont ihre Gesundheit und ihr Leben; sonst aber gehört sie Euch, jedoch keinen Augenblick eher, als bis Ihr mit der Baronesse fertig seid. Diese aber ist ganz und gar Euer Eigenthum. Nur stelle ich die Bedingung, daß sie nicht leben bleibt. Ihr habt Uebrigens bereits gestern das Nähere gehört. Morgen treffen wir uns hier wieder. Ihr könnt gehen!«

Sie entfernten sich, leise miteinander flüsternd.

Jetzt befand sich der Hauptmann nur noch allein im Gewölbe. Vorn vom Eingange her erscholl ein halblautes:

»Alles in Ordnung. Gute Nacht!«

Dann hörte man die Thür verschließen. Der Baron stieg vom Katheder herab und löschte die Lampe aus. Nun herrschte tiefes Dunkel, und er kehrte auf demselben Wege, den er gekommen war, durch den Garten zurück. Er kam auf ganz dieselbe Weise über die Mauer hinüber, legte die Eisen in das Loch, schob den Stein hinein und entfernte sich dann. Natürlich hatte er die Maske wieder abgenommen.

Unter einer Laterne zog er die Uhr und bemerkte, daß er sich nicht zu beeilen brauchte. Er beschloß, sein Casino aufzusuchen, um ein Glas Wein zu trinken. Die Kellner dort hatten ihn in keiner anderen Kleidung als der gegenwärtigen gesehen und wußten auch gar nicht, wer er eigentlich sei. Er pflegte ein bestimmtes kleines Cabinet aufzusuchen, in welchem er noch von Niemand gestört worden war, vielleicht infolge des reichlichen Trinkgeldes, welches er zu geben pflegte.

Er verdoppelte nun seine Schritte und kam nach einiger Zeit an den Platz, auf welchen die Wasserstraße mündete. Im Begriffe, über denselben hinüber zu schreiten, bemerkte er vor sich eine weibliche Gestalt, welche, sich bückend, Etwas vom Boden aufzulesen schien. Er mußte an ihr vorüber.

Als sie ihn bemerkte, wollte sie ihm rasch aus dem Wege gehen, aber er war ihr bereits zu nahe gekommen und vertrat ihr den Weg. Er fühlte Lust zu einem kleinen Abenteuer, und da ein Blick in ihr Gesicht ihm sagte, daß er es keineswegs mit einer alten und häßlichen Person zu thun habe, so entschloß er sich, die Gelegenheit dazu hier zu ergreifen.

Daß in ganz unmittelbarer Nähe hinter der Bude ein Beobachter stand, davon hatte er keine Ahnung. Dieser verborgene Lauscher war natürlich kein Anderer als der Fürst von Befour.

Als das Mädchen erkannte, daß es ihr unmöglich sei, sich noch rechtzeitig zurückzuziehen, blieb sie furchtlos stehen. Ihr Gesicht war dem Baron zugewendet. Sie war nicht mehr ganz jung, aber ihre Züge waren regelmäßig und einnehmend, und die dünne, sommerliche Kleidung war nicht im Stande, die Schönheit ihres reizend gezeichneten Körpers zu verhüllen. Dies bestärkte den Baron in seinem Vorhaben.


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»Ah! Guten Abend!« sagte er in einem Tone, welcher darauf berechnet war, Vertrauen zu erwecken. »Was thun Sie hier, mein Fräulein? Wissen Sie nicht, daß es für junge Damen gefährlich ist, zu so später Zeit sich an solchen Orten zu bewegen?«

»Die Armuth kennt keine Gefahr, mein Herr,« antwortete sie. »Gute Nacht!«

Sie wendete sich ab, um sich zu entfernen; er aber legte die Hand an ihren Korb, so daß sie stehen bleiben mußte, und sagte in einem Tone, welcher sympathisch an ihr Ohr klang:

»Die Armuth. Ah, diese hat ein Recht gehört zu werden. Ich habe leider oft Gelegenheit, mit ihr zu verkehren. Mein Gott, wie frieren Sie! Ich glaube gar, Sie sind ausgegangen, um heimzutragen, was Andere weggeworfen haben!«

Sie senkte den Kopf und antwortete:

»Leider ist es so!«

Da nahm er ihr halb mit Gewalt den Korb aus der Hand, blickte und griff hinein und sagte dann mit gut gespieltem Entsetzen:

»Einige erfrorene Kartoffeln nebst verfaulten Äpfeln und einige Stückchen Holz! Ist das möglich! Was wollen Sie mit diesen Gegenständen beginnen?«

Sie fühlte sich tief beschämt. Aber er sprach so mild und eindringlich zu ihr; in seinem Tone lag eine so warme, menschenfreundliche Theilnahme, daß sie doch antwortete:

»Der Hunger thut weh, mein Herr, und wo die Krankheit ihren Einzug hält, da giebt es keine Wahl!«

»Hunger und Krankheit! Mein Himmel, da ist es ja Menschenpflicht, an Hilfe zu denken! Ich bin Arzt, Fräulein. Bitte, wollen Sie Vertrauen zu mir haben?«

Sie blickte zagend und fragend zu ihm empor. War es schwer oder leicht, einem fremden Manne, welcher ihr an diesem Orte und zu dieser Stunde begegnete, Vertrauen zu schenken? Die Noth und die Sorge gaben ihr nicht die Erlaubniß der Wahl; sie antwortete:

»Sie sind Arzt? Ja, Ärzte pflegen über die Armuth anders zu denken als andere Menschen. Man trägt das Unglück gern und möglichst lange Zeit im Stillen; aber wenn es zu schwer wird, dann ist es Sünde, die Hilfe, welche so freundlich angeboten wird, zurückzuweisen. Ich bin Näherin, mein Herr, kann aber seit einiger Zeit kaum mehr arbeiten, weil ich meine Augen zu sehr angestrengt habe.«

»Haben Sie Verwandte?«

»Einen Vater und einen Bruder. Der Letztere ist schwachsinnig und kann nichts verdienen, und der Erstere - - mein Gott!«

Sie hielt inne, um sich mit dem dünnen Tuche, welches sie um sich geschlagen hatte, nach den Augen zu fahren.

»Schmerzen Ihre Augen?« fragte der Baron.

»Sehr! Sie können die Kälte nicht vertragen, und daheim haben wir so lange Zeit nicht mehr geheizt.«


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»Warum wenden Sie sich nicht an Ihre Nebenmenschen?«

»O, grad die Menschen, welche neben Einem wohnen, sind Einem so sehr fremd und fern!«

»Oder an die Armenbehörde!«

»Vater wollte noch immer nicht!«

»Warum nicht. An der Spitze dieser Behörde steht ein höchst menschenfreundlicher Herr, der Baron von Helfenstein.«

»Grad vor ihm hat man uns gewarnt. Vor ihm und dem Vorsteher Seidelmann, welcher die rechte Hand des Barons ist.«

»Das begreife ich nicht. Was ist Ihr Vater?«

»Früher war er Wachtmeister der hiesigen Gefangenenanstalt. Er hatte einst das Unglück, daß ihm ein Doppelmörder entsprang, den er nach dem Zuchthause zu transportiren hatte, und darum wurde er entlassen. Er erhielt eine kleine Anstellung bei der Bahn - -«

»Ein Doppelmörder?« fiel der Baron ein. »Wissen Sie vielleicht den Namen desselben?«

»Er wird mir unvergeßlich sein. Ich war damals nur ein kleines Mädchen; aber von da an begann das Unglück. Das vergißt man nicht. Der Flüchtling war ein Försterssohn Namens Gustav Brandt; er hatte den Baron von Helfenstein und den Hauptmann von Hellenbach ermordet.«

»Ah! So! Ah! Also Ihr Vater wurde dann bei der Bahn angestellt. Was geschah weiter?«

»Das Unglück brach noch größer über uns herein als vorher. Mein Vater wurde überfahren; er verlor ein Bein und eine Hand. Ein Gesetz für Haftpflicht gab es nicht. Man gewährte ihm freie ärztliche Behandlung und dann wies man ihn fort. Seit jener Zeit wohnen wir hier auf der Wasserstraße.«

Warum erzählte dieses trotz ihres Elendes noch immer bildhübsche Mädchen dem fremden Manne Alles so bereitwillig? Sie hatte einsam, schmerz- und entbehrungsreiche Jahre zu durchleben gehabt. Vielleicht war die gegenwärtige Stunde die erste, in welcher ein Mensch sich theilnehmend zu bekümmern schien. Da findet selbst das verschlossenste Herz ein Wort, um sich zu erleichtern.

Der Baron legte ihr, wie gerührt, die Hand auf den Arm. Er fühlte, daß derselbe zwar schlank aber immerhin voll genug sei, um für schön zu gelten. Er sagte:

»Das ist allerdings viel Unglück und Herzeleid! Vielleicht führt mich das Schicksal mit Ihnen zusammen, um einen Lichtblick in Ihr armes Leben zu senden. Sie haben kein Licht, keine Heizung, kein Essen und Trinken zu Hause?«

»So ist es,« seufzte sie.

»So kommen Sie mit mir! Ich führe Sie zu meiner Frau, welche Ihnen Alles geben soll, was Sie brauchen. Morgen am Tage dann besuche ich Ihren Vater, und dann wird sich ja wohl auch finden, ob etwas zur Heilung Ihrer Augen gethan werden kann.«

»Mein Gott! Ist das wahr, was ich höre? Das ist Hilfe in der


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Noth, in der allerhöchsten Noth! Und doch weiß ich nicht, ob ich es wirklich wagen darf, mit Ihnen zu gehen.«

»Warum nicht? Mißtrauen Sie mir?«

»O nein, nein! Aber besitzt Ihre Frau Gemahlin dieselbe Theilnahme, welche Ihnen für das Unglück von Gott in das Herz gelegt wurde?«

»Gewiß, gewiß! Sie können getrost mitkommen. Meine Frau wird sich freuen, Ihnen zu beweisen, daß es noch Herzen für die Armuth und das Unglück giebt. Kommen Sie!«

»Sie edler Mann! Ja, ja, ich werde Ihnen folgen! Mein armer Vater wird heute essen können und eine warme Stube haben!«

Sie verließen mit einander den Platz.

Der Fürst von Befour hatte ein jedes ihrer Worte vernommen. Er kannte den verkleideten Baron nicht; aber er fühlte eine Art von Mißtrauen gegen den Mann, dem die Unglückliche gefolgt war, und beschloß, ihnen nachzugehen.

»In Armuth und Elend gestürzt durch Gustav Brandt?« flüsterte er. »Da ist es Pflicht des Fürsten des Elendes, einzugreifen und nach Kräften gutzumachen.«

Er folgte ihnen in der Weise, daß er sie nicht aus dem Auge verlor, dem Baron aber auch nicht auffällig werden konnte.

Dieser Letztere schritt durch eine Seitengasse, bis er eine breite, vornehme Straße erreichte. In dem Parterre des ihnen gegenüber stehenden Hauses befand sich eine der feinsten Restaurationen der Residenz. Hier war das Casino des Barons. Er schritt mit seiner Begleiterin durch den Flur und zur Treppe hinauf nach dem Zimmer, in welchem er stets zu sitzen pflegte. Es stand offen und war leer.

»Setzen Sie Ihren Korb ab, mein Fräulein,« sagte er. »Meine Frau ist ausgegangen, wird aber baldigst wiederkommen. Unterdessen mag der Diener etwas zu essen bringen.«

Das Zimmer war klein. Zwei Gasflammen erleuchteten es so hell, daß das Mädchen sich geblendet fühlte. Sie setzte den Korb ab, hob die matten, kranken Augen in einer Anwandlung augenblicklichen Mißtrauens zu ihm auf und fragte:

»War nicht im Parterre eine Restauration, mein Herr?«

»Allerdings, mein Fräulein.«

»Und jetzt befinden wir uns ganz gewiß in Ihrer Privatwohnung?«

»Ja; nicht anders.«

»Sie sprachen von einem Diener? Dann muß Ihre Praxis eine ganz bedeutende sein.«

»Wünschen Sie lieber von der Köchin bedient zu werden?«

»Es würde mir das erwünschter sein. Meine Erscheinung ist nicht eine solche, daß - -«

Sie stockte. Er wußte, was sie sagen wollte. Um keinen Verdacht zu erwecken, erhob er sich von seinem Sitze, auf den er sich niedergelassen hatte und verließ das Zimmer, um seine Anordnungen zu treffen. Man hatte sein


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Kommen bemerkt. Draußen auf dem Corridore trat ihm ein Kellner entgegen.

»Ein Abendbrod mit drei Gängen und Tokayer,« befahl er. »Aber weibliche Bedienung! Die Dame, welche bei mir ist, soll denken, daß ich privat wohne und von meiner eigenen Köchin servirt erhalte!«

Nach diesen Worten kehrte er in das Zimmer zurück. Der Kellner hatte ihm einen befremdlichen Blick zugeworfen, begab sich aber in das Parterre zurück, um den Befehl auszuführen. Gerade jetzt trat der Fürst ein. Er sah den Kellner und fragte:

»Garçon, können Sie mir sagen, ob in diesem Hause ein Arzt wohnt?«

»Ein Arzt? Hier wohnt keiner, mein Herr.«

»Oder haben Sie einen Herrn bemerkt, welcher mit einer Dame eintrat, die einen Korb trug?«

»Allerdings, mein Herr.«

»Wo befindet sich derselbe?«

»Droben im Zimmer Nummer Drei.«

»Also in Ihren Räumlichkeiten?«

»Ja. Er hat für sich und die Dame ein Souper bestellt.«

Da griff der Fürst in die Tasche, zog ein Goldstück hervor, gab es dem sich fast bis zur Erde verneigenden Kellner und fragte.

»Ist Ihnen dieser Herr bekannt?«

»Er trinkt oft ein Glas Wein in demselben Zimmer. Seinen Namen kenne ich nicht?«

»Ist es möglich, zu hören, was er mit der Dame spricht?«

»Gewiß, mein Herr. Wünschen Sie ihn vielleicht gar zu überraschen?«

»Unter Umständen, ja?«

»So kommen Sie! Aber bitte, leise!«

Er führte ihn aufwärts nach dem Zimmer Nummer Zwei, öffnete dasselbe und flüsterte dann:

»Treten Sie ein, und schließen Sie von innen zu. Er könnte nachsehen wollen, ob Jemand sich hier befindet. Die Nebenthür führt in sein Cabinet. Sie ist nur von dieser Seite zu öffnen. Sie können also bei ihm eintreten, sobald es Ihnen beliebt.«

Er ging, und der Fürst schloß sich wirklich ein. Dann begab er sich leisen Schrittes an die Verbindungsthür. Diese war nicht mittels Schlüssel, sondern nur durch einen Riegel verschlossen, konnte also sehr leicht geöffnet werden.

Mittlerweile hatte der Baron am Tische Platz genommen und das Mädchen veranlaßt, sich auf das Sopha zu setzen, welches gleichfalls an demselben stand. Sie fühlte sich beunruhigt von der nicht gerade häuslichen Ausstattung des Cabinetes.

»Wissen Sie, mein Herr, daß ich mich in Ihrer Hand befinde?« fragte sie ihn.

»Was wollen Sie damit sagen, Fräulein?«

»Daß Sie sehr, sehr gütig gegen mich sind, daß ich Ihnen aber auch ein sehr großes Vertrauen schenke!«


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»Daran thun Sie sehr recht! Man darf eine entgegengebrachte Freundlichkeit nicht mit Mißtrauen, also mit Undank belohnen. Ah, da kommt zunächst der Wein!«

Eine Kellnerin brachte eine Flasche mit zwei Gläsern und begann, das Service aufzulegen. Als sie sich entfernt hatte, entpfropfte der Baron die Flasche und schenkte ein.

»So, mein Fräulein,« sagte er. »Dieses Gläschen wird Ihnen auf die Kälte, welche Sie erlitten haben, wohlthun. Trinken Sie! Trinken Sie nur aus!«

Sie hatte das Tuch, in welches sie gehüllt gewesen war, abgelegt, so daß er ihre Gestalt nun zu beurtheilen vermochte.

Ihr Kleid war zwar sauber, aber alt und abgetragen; es machte einen ärmlichen Eindruck. Ihr lichtes Haar lag in einem schlichten Scheitel eng an den Schläfen; aber gerade so trat die zarte, feine Rundung ihres Profiles um so deutlicher hervor. Ihre blauen Augen waren krank; das mußte man erkennen; der Blick war matt und glanzlos, aber unendlich rührend und Mitgefühl erweckend. Ihr nicht zu voller Mund besaß eine schöne Zeichnung, doch hatte er an beiden Winkeln jenes Fältchen, welches der Ernst des Lebens einzugraben pflegte. Der Hals zeigte, soweit er sichtbar war, die schimmernde Weise des Alabasters, und die Taille des Kleides legte sich eng um zwei Schultern und eine Büste, welche zwar nicht allzu voll, aber auch nicht hager genannt werden konnte. Die Hände waren fein und schmal; aber sie zeigten jene Relieflinien, welche eine Folge von Arbeit und körperlicher Entbehrung sind.

Dieses arme, bedauernswerthe Wesen machte den Eindruck, als ob es sich unter glücklicheren Verhältnissen zu einer blühenden Schönheit hätte entfalten können.

Die unverschuldete und mit Ergebung getragene Armuth besitzt eine Würde, eine Heiligkeit, an welcher sich der Mann von Bildung und Gefühl niemals zu versündigen vermag. Der Baron aber fühlte sich mit seiner Eroberung sehr zufrieden. Es war einmal eine Abwechslung, gerade so, wie der routinirte Secttrinker auch einmal ein Gläschen Rum oder Arac zu genießen beliebt.

Sie hatte von dem Weine genippt.

»Wie gut das ist,« sagte sie. »Es ist, als ob ein neues Leben durch den Körper gehe. Sie haben das Richtige getroffen. Man merkt, daß Sie ein Arzt sind.«

»Darum müssen Sie meinen Verordnungen strenge Folge leisten. Trinken Sie aus!«

Er wußte, daß Sie mit einem einzigen Glase einen Rausch bekommen müsse. Diesen Rausch aber mußte sie sich antrinken, um ihm keinen Widerstand zu leisten. Sie war aber vorsichtig und antwortete:

»Erlauben Sie mir, diese Delicatesse recht langsam und behaglich zu genießen! Gott, wenn Vater an meiner Stelle sitzen und von diesem Weine trinken könnte!«

»Er wird nachher eine ganze Flasche von demselben erhalten.«

»Wie gut Sie sind! Und zu welcher Dankbarkeit Sie mich verpflichten, Herr Doctor!«


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Da trat die Kellnerin herein, um den ersten Gang aufzutragen. Das Essen begann. Man merkte, daß die Arme lange Zeit, vielleicht bereits seit mehreren Tagen nichts genossen hatte; aber sie aß mit einer wahrhaft rührenden Langsamkeit und Genügsamkeit. Sie verzehrte nur einen sehr kleinen Theil Dessen, was ihr vorgelegt wurde.

Nach dem letzten Gange zog sich die Kellnerin zurück. Sie kannte die Verhältnisse nicht und warf beim Hinausgehen einen stolzen, verächtlichen Blick auf das irre geleitete Mädchen.

»Wie bin ich satt, so satt, wie fast seit Monaten nicht!« sagte die Tochter des Wachtmeisters. »Aber Ihre Frau Gemahlin kommt noch immer nicht!«

»Sie wird uns nicht mehr lange warten lassen,« antwortete er. »Machen wir es uns bis dahin möglichst bequem.«

Er erhob sich von seinem Stuhle und ließ sich ohne Umstände auf dem Sopha neben ihr nieder. Ueber ihr Gesicht zuckte es wie ein tiefer Schreck bei dieser unerwarteten Annäherung.

»Nein, nein; so nicht!« sagte sie. »Ihre Frau Gemahlin darf uns doch nicht so erblicken. Erlauben Sie, daß ich mich auf den Stuhl setze.«

Sie wollte aufstehen; er aber ergriff ihre Hand, so daß sie ihre Absicht nicht auszuführen vermochte.

»Bleiben Sie; bleiben Sie getrost!« sagte er. »Meine Frau wird uns nicht überraschen. Ahnen Sie denn wirklich noch immer nicht, daß ich gar nicht verheirathet bin?«

Sie erbleichte und entriß ihm ihre Hand.

»Nicht - nicht verheirathet?« fragte sie. »Sie haben mir also die Unwahrheit gesagt? Sie habe mich belogen!«

»Und ahnen Sie noch immer nicht,« fuhr er lachend fort, »daß ich hier gar nicht wohne? Wir haben in der Restauration gespeist!«

Da stand sie auf und sagte in ernstem, vibrirendem Tone:

»Mein Herr, es ist unwürdig von Ihnen, mit dem Unglücke ein solches Spiel zu treiben! Ich werde Sie augenblicklich verlassen!«

»Nein! Nicht so schnell, mein Liebchen!« sagte er, den Arm um sie legend, und sie trotz ihres Sträubens zu sich niederziehend. »Erst erwarte ich den Ausdruck der Dankbarkeit, von welcher Sie sprachen.«

Er wollte sie küssen. Sie wehrte sich aus allen Kräften.

»Lassen Sie mich!« gebot sie ihm. »Ich werde um Hilfe rufen!«

»Rufe nur, Liebchen, rufe! Ich werde Dir den Mund mit meinen Küssen verschließen. Komm, Herzchen! So! Jetzt! - - Ah! Oh!«

Er hatte die aus allen Kräften Widerstrebende an sich gezogen. Beide bemerkten nicht, daß die Seitenthür leise geöffnet wurde. Eben, als er seinen Mund dem ihrigen näherte, war er gezwungen, die beiden letzten, schmerzhaften Rufe auszustoßen. Der Fürst von Befour war hereingetreten, hatte ihn mit der linken Hand bei der Kehle gepackt und ihm mit der Rechten einen solchen Hieb in das Auge versetzt, daß er das Mädchen losließ.

»Himmeldonnerwetter!« brüllte er auf, indem er mit beiden Händen nach


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dem Auge fuhr. »Wer wagt es, hier einzutreten und - ah, Kerl, hier die Antwort!«

Er hatte den Fürsten erblickt und holte aus, demselben einen Jagdhieb zu versetzen. Der Fürst aber war schneller als er und schlug ihm die Faust zum zweiten Male in der Weise an den Kopf, daß er zu Boden stürzte.

"Gott, mein Gott!"

»Gott, mein Gott, welch ein Unglück!« rief das Mädchen. »Ich aber bin schuldlos; ich kann nichts dafür!«

»Das weiß ich sehr genau, mein Fräulein,« sagte der Fürst. »Beruhigen Sie sich! Ich weiß, daß dieser Mensch Sie durch Lügen verlockte, ihm an diesen Ort zu folgen. Verlassen wir ihn augenblicklich. Er hat die Besinnung verloren. Kommen Sie!«

Er ergriff sie mit der einen Hand, nahm ihr Tuch und ihren Korb in die andere und zog sie hinaus und zur Treppe hinab. Unten führte er sie in die Küche.

»Füllen Sie diesen Korb mit Brod, Butter, Fleisch und Wein!« gebot er.

Er griff selbst mit zu. Sie stand da, als ob sie nicht begreifen könne, was hier geschah. Er zog Geld aus der Tasche und bezahlte, ohne sich zurückgeben zu lassen; dann hat er sie:

»Bitte, vertrauen Sie sich jetzt mir an. Ich werde Sie nach Hause begleiten!«

Er nahm ihren Arm in den seinigen, ergriff den Korb und führte sie fort. Sie folgte ihm wie im Traume. Sie war einer großen Gefahr entronnen. Sie dachte gar nicht daran, ihm den schweren Korb abzunehmen. So kamen sie zur Wasserstraße.

»In welcher Nummer wohnen Sie?« fragte er.

»Nummer Zehn, mein Herr. Hinterhaus parterre.«

Die Thür stand noch offen. Sie traten ein, passirten dann einen Hof und kamen in einen engen, dunklen Hausflur, wo das Mädchen eine Thür öffnete. Finsterniß herrschte da.

»Bist Du es, Anna?« fragte eine männliche Stimme.

»Ja. Warum hast Du kein Licht?« antwortete sie.

»Das Oel ging aus. Ich wollte die letzten Tropfen für Deine Rückkunft aufheben. Hast Du Etwas gefunden?«

»Ja, lieber Vater. Warte nur. Ich will Licht machen!«

»Ja, brenne an. Ich habe Hunger!«

»Hunger!« ließ sich ein knurrendes, fast unarticulirtes Echo aus einer Ecke vernehmen, die aber noch nicht zu sehen war.

Ein Zündhölzchen flammte auf, und dann brannte der Docht einer kleinen Lampe. Der Fürst stand vor der noch offenen Thür. Er hatte den Korb neben sich niedergesetzt. Er erblickte ein Zimmer oder vielmehr ein kaltes, feuchtes Gewölbe. Einiges Stroh und einige Lumpen lagen am Boden, darauf ausgestreckt in dem Winkel die Gestalt eines einbeinigen Mannes, in dem anderen Winkel aber eine hundeartig zusammengerollte Masse, welche man kaum für ein menschliches Wesen nehmen konnte. Der Eine war der Vater und der Andere der stumpfsinnige Bruder der armen Nähterin, der es jedenfalls


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nicht an der Wiege gesungen worden war, daß sie einst ein solches Elend ertragen müsse.

Der einstige Wachtmeister erblickte beim Scheine der Lampe den Fürsten und fragte in mißtrauischem Tone:

»Wer steht hier? Wen hast Du mitgebracht? Einen Polizisten?«

»Nein, o nein, lieber Vater!« antwortete sie. »Das ist mein Retter, mein Wohlthäter, welcher uns einen ganzen Korb voll - - ah, mein Herr, soll das, was sich in dem Korbe befindet, wirklich uns gehören?«

»Natürlich, natürlich, liebes Fräulein,« antwortete er, indem er eintrat und die Thür hinter sich zuzog. »Aber lassen Sie vor allen Dingen schauen, was hier das Nothwendigste ist!«

Es herrschte eine dumpfe Feuchtigkeit, eine grimmige Kälte in dem Raume, welcher mehr einem Stalle, als einer menschlichen Wohnung glich. Ein kleiner Windofen stand in der Ecke, an der Wand lehnte ein Tisch und an dem einzigen, kleinen Fenster standen zwei alte Stühle, auf welche sich zu setzen, gefährlich zu sein schien.

»Giebt es hier in der Nähe Holz und Kohlen zu kaufen?« fragte der Fürst.

»Zur jetzigen Stunde nicht mehr,« antwortete das Mädchen.

»Aber Feuer müssen Sie haben. Kommen Sie, bitte, helfen Sie mir hier den Korb leeren.«

Der Alte hatte sich inzwischen mit Hilfe seines Stelzfußes erhoben und trat herzu. Er sah, was die Beiden dem Korbe entnahmen und auf den Tisch legten.

»Herrgott!« rief er, indem seine Augen gierig funkelten. »Brod, Butter, Käse, Schinken, Wurst, Eier, Fleisch und Wein! Wem gehört das? Wer darf das essen?«

»Du, Du, Ihr, lieber Vater!« antwortete die Tochter. »Dieser Herr ist so gütig, es uns zu schenken.«

»Gieb mir Brod!« sagte er, nach einem Messer greifend.

»Brod!« knurrte es aus der Ecke, und der Knäuel begann, sich zu entrollen.

Als der Schwachsinnige sich erhob und herbeitrat, bot er eine Erscheinung zum Fürchten. Er war eine wahrhaft hünenartige Gestalt mit kurzen, übermäßig dicken Beinen und langen, dünnen Affenarmen, an denen sich statt der Hände riesige, behaarte Bärentatzen zu befinden schienen. Sein Gesicht glich dem einer englischen Bulldogge und das freudige Zähnefletschen, mit welchem er den Anblick der Eßwaaren begrüßte, hatte etwas grauenhaftes Hungrig-Tierisches an sich.

Der alte Wachtmeister hatte das Brod angeschnitten, warf dem Sohne ein Stück zu und biß nun auch selbst mit solcher Gier in seine Schnitte, daß es wirklich zum Weinen war. Wie lange hatten diese armen Leute wohl keine regelmäßige Nahrung gehabt!

Jetzt war der Korb völlig geleert. Der Fürst trat ihn mit den Füßen zusammen und riß ihn dann in Stücke aus einander. Vater und Tochter


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sahen ihm erschrocken zu. Sie begriffen nicht, warum er ihnen ihr Eigenthum zerstörte.

»Hier, Fräulein, heitzen Sie ein!« sagte er. »Für weitere Nahrung für das Feuer werde ich gleich sorgen.«

Er ergriff erst den einen und dann den anderen Stuhl und trat und brach beide in Stücke.

»O weh, meine Stühle!« jammerte der Alte.

»Grämen Sie sich nicht! Morgen sollen Sie bessere Möbel haben und auch eine gesündere Wohnung. Jetzt aber ist vor allen Dingen, da Sie sich sättigen können, auch Wärme nothwendig. Verbrennen Sie nur getrost die Stühle, und, wenn das nicht langen sollte, auch den Tisch. Ich sorge für Ersatz!«

Er griff selbst mit zu, und bald prasselte ein lustiges Feuer in dem Ofen, in dessen Nähe sich der Geistesschwache sofort niederkrümmte, um mit ausdruckslosen Augen in die Flamme zu starren.

»Aber, Herr? wer sind Sie denn eigentlich?« fragte endlich der Wachtmeister.

»Der Name ist jetzt nicht nöthig. Später, wenn es sein muß, werde ich ihn nennen.«

»Das ist ja gerade, als ob der Fürst des Elendes bei uns bescheerte!«

»Wer ist das?« fragte der Fürst.

»Wer das ist? Wissen Sie das noch nicht?«

»Ich bin ein Fremder hier.«

»Ach so! Nun wissen Sie: Seit längerer Zeit giebt es hier einen Teufel und einen Engel. Der Teufel ist der geheimnißvolle Hauptmann, dessen Bande sich vor keiner verbrecherischen That scheut, und der Engel ist der Fürst des Elendes. So hat man ihn genannt. Wer er ist, das weiß man nicht, aber bereits seit mehreren Monaten erzählt man sich von Wohlthaten, welche an Armen und Elenden geschehen, ohne daß man erfährt, woher sie kommen. Man hat den unbekannten Wohlthäter den Fürsten des Elendes genannt.«

Der Fürst lächelte leise und glücklich vor sich hin.

»Haben Sie auch bereits Wohlthaten von ihm empfangen?« fragte er.

»Nein. Aber wenn er unser Elend kennen würde, so bin ich gewiß, daß wir seine Hilfe erwarten dürfen.«

»Nun, so denken Sie, daß diese kleine Gabe von ihm kommt!«

»Nein; sie kommt von Ihnen!«

»Das ist nicht so ganz und gar gewiß. Wie denn nun, wenn ich ein Bote vom Fürsten des Elendes wäre?«

»Ein Bote von ihm? Gott, welch ein Glück! Dann würde er auch weiterhin an uns denken.«

»Ja, das wird er ganz gewiß!«

Der Alte humpelte näher, legte dem Fürsten die Hand auf den Arm und fragte, indem auch seine Tochter gespannt herzutrat:

»Ist das wahr? Kennt er uns?«


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»Ja. Er weiß, daß Sie ein braver Beamter waren, der unverschuldet in das Elend gerieth. Der Staat hat Ihre Dienste vergessen, aber der Fürst des Elendes macht diesen Fehler wieder gut. Er hat mich beauftragt, Ihnen mitzutheilen, daß Sie von heute an eine jährliche Pension aus seiner Casse erhalten sollen.«

»Eine Pension! Unmöglich! Wie käme ich zu diesem Glücke! Herrgott, eine Pension! Dieses Glück wäre so groß, so unbegreiflich, daß ich es gar nicht zu fassen vermöchte!«

»Und doch können Sie es fassen. Hier greifen Sie zu!«

Er zog seine Börse und zählte eine Anzahl Goldstücke auf den Tisch.

»Was ist das? Was soll das viele Geld?« fragte der einstige Wachtmeister, indem seine Augen auf die blanken, funkelnden Dukaten hernieder glänzten.

»Ihre Pension!«

»Meine Pension?«

Er fuhr sich mit der Hand nach dem Kopfe.

»Das ist ein Traum! Das ist keine Wahrheit! Seit wann habe ich kein Geld gesehen! Und nun gar Gold! So sehr viel Gold!«

»Nehmen Sie es in Gottes Namen! Es gehört Ihnen. Sie erhalten vom Fürsten des Elendes eine jährliche Pension von dreihundert Thalern. Hier liegt die erste Jahresrate. Was darüber ist, das soll für die Betten und Möbel, und für ein besseres Logis sein, auch für den Arzt, damit Fräulein gesunde Augen bekomme.«

Da stieß das Mädchen einen lauten Schrei aus. Sie stürzte unter Thränen auf ihn zu und warf förmlich die Arme um ihn.

»Mein Retter! Mein Wohlthäter! Unser Engel!« schluchzte sie.

Der Alte konnte sich ebenso wenig halten. Er ergriff beide Hände des Fürsten und sagte:

»Herr, wer Sie auch sein mögen, Sie sind ein Engel, den uns Gott gesandt hat. Er mag es Ihnen vergelten, wir können es nicht.«

Der Irrsinnige hatte dem Vorgange zugesehen, ohne ihn begreifen zu können. Jetzt aber belebten sich auch seine Augen. Das Verständniß schien ihm zu kommen. Er rollte sich vom Boden auf, trat herzu, streichelte dem Fürsten mit der behaarten Hand über das Gesicht und murmelte in einem Tone, welcher seine höchste Zärtlichkeit ausdrücken sollte, aber wie das Grunzen eines Yacks erklang:

»Gut, sehr gut Du! Mein Vater Du! Mein Bruder Du! Ich todtschlagen alle Feinde von Dir! Ich mir merken Dich!«

Welcher Dank der ergreifendste war, derjenige des Vaters, der Tochter, oder des Schwachsinnigen, das konnte der Fürst natürlich nicht unterscheiden und bestimmen. Er riß sich los und sagte:

»Nicht mir gebührt der Dank, Ihr Leute. Der Fürst des Elendes hat mich geschickt, um den Fehler gut zu machen, den das Schicksal an Euch begangen hat. Er wird an Euch denken und auch weiter für Euch sorgen. Denkt auch Ihr seiner freundlich! Und wenn Ihr betet, so betet auch mit für ihn!«


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Bei diesen Worten schloß er bereits die Thür hinter sich. Er eilte durch die dichte Finsterniß der beiden Flure und des Hofes hinaus auf die Straße.

Das war die zweite Familie, welche er heute Abend glücklich gemacht hatte, die eine hier in Nummer Zehn und die Andere in Nummer Elf der Wasserstraße. Denn daß sich auch die Familie des Schneiders Bertram glücklich fühlte, das war gewiß. Ihre Glieder hatten seit langer Zeit sich zum ersten Male wieder sättigen können.

Die Kinder lagen schlafend auf ihren Strohsäcken. Der Brustkranke lehnte in seinem Stuhle, mit geschlossenen Augen und leise athmend; auch ihn wollte ein kurzer Schlummer erquicken. Marie war ein Stündchen eine Treppe tiefer gegangen und Robert, der Schreiber, stand in seinem Nebenstübchen am Fenster und schaute hinüber, wo jenseits der Gärten sich das Palais des Obersten von Hellenbach erhob.

Dort wurden jetzt die Fenster dunkel, welche am heutigen Abende so festlich erleuchtet gewesen waren. Ein Licht erlosch nach dem andern, bis nur noch ein Fenster erleuchtet blieb.

Dieses Fenster kannte Robert sehr genau. Wie oft, wie sehr oft hatte sein Auge auf demselben geruht, wohl mit derselben Ehrerbietung, mit welcher der kleine Käfer empor zur Sonne schaut.

Auch jetzt zog er den Tischkasten heraus und entnahm demselben ein kleines Fernrohr. Keine Noth, selbst der Hunger nicht, hatte ihn vermocht, sich desselben zu entäußern, denn dieses Rohr war für ihn der Weg zur Seligkeit; es erlaubte ihm, von hier hinüber zu schauen zu Der, von der er im Wachen träumte und über die er im Traume wachte. Er zog das Rohr aus und richtete es nach dem Fenster hinüber. Was sah er?

Zwischen den Gardinen vorüber sah er sie vor dem Nachttische stehen. Ihr Lockenhaar hing aufgelöst wie eine fließende Mähne auf die entblößten Schultern herab, welche aus der Ferne wie Silber und Perlmutter herüberglänzten. Sie hatte begonnen, sich zu entkleiden, und sein Blick folgte dem Gemälde, welches kein Maler in solcher Vollendung auf die Leinwand zu zaubern vermocht hätte. Und als das herrliche Bild verschwunden war, schob er das Rohr zusammen und flüsterte:

»Ja, sie ist die Incarnation der Nacht des Südens, jener funkensprühenden, reflexerglühenden, mächtigen, prächtigen Nacht der Tropen, wie ich sie im Gedichte geschildert habe. Sie hat zu diesen Versen gesessen und - und ich -? Ah, ich bin der Wurm, der während dieses Sternenflammens am Boden kriecht. Ich hätte nicht jene stolze, glückliche, strahlende Nacht schildern sollen, sondern die weinende, vor Thränen triefende Nacht, welche die unglückliche Schwester der ersteren ist. Ob ich das wohl brächte? Ob ich es vermöchte, ein Bild so großen Trauerns in den gleichen Rahmen zu fassen? Versuchen wir es!«

Er nahm ein Blatt, tauchte die Feder ein, öffnete seine Gedichte, schlug »Die Nacht des Südens« auf, welche Fanny von Hellenbach so sehr begeistert hatte, und schrieb, als ob es ihm dictirt werde:


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»Wenn um die Berge von Befour
   Des Abends dunkle Schatten wallen,
Dann tritt die Mutter der Natur
   Hervor aus unterird'schen Hallen,
Und läßt auf die versengte Flur
   Des Thaues stille Perlen fallen.
Des Himmels Seraph flieht, verhüllt
   Von Wolken, die sich rastlos jagen;
Die Erde läßt, von Schmerz erfüllt,
   Den Blumen bittre Thränen tragen,
Und um verborg'ne Klippen brüllt
   Die Brandung ihre wilden Klagen.
Da bricht des Morgens glühend Herz:
   Er läßt den jungen Tag erscheinen,
Der küßt den diamant'nen Schmerz
Von tropfenden Karfunkelsteinen
   Und trägt ihn liebend himmelwärts,
Im Aether dort sich auszuweinen!« -

Also Marie, seine Pflegeschwester, war eine Treppe abwärts gegangen. Sie hatte von der Mahlzeit, welche Robert mitgebracht hatte, einen Theil zurückgelegt, um Andere, welche auch litten, damit zu beglücken. Sie wußte, wie willkommen diese Gabe war.

Da unten stand nämlich an einer Thür zu lesen: »Wilhelm Fels, Mechanikus«. Oeffnete man diese Thür, so trat man in ein ärmliches Stübchen, auf dessen Ofenbank eine ewig strickende, leidend aussehende, blinde Frau saß. Sie war des Tages stets allein, denn ihr Sohn arbeitete im Atelier seines Principales. Des Abends aber kam er, und anstatt sich auszuruhen, arbeitete er an der Herstellung eines Mechanismus, welcher ihm von einem reichen Engländer zur Aufgabe gemacht worden war.

Er war der Lieblingsgehilfe seines Meisters. Er verdiente einen schönen Lohn; aber er war leider ein ehrlicher Junge. Sein Vater hatte Ehrenschulden hinterlassen, die von ihm übernommen worden waren. Er wollte das Andenken des Todten rein erhalten und sah sich gezwungen, diesem Vorhaben über die Hälfte seines wöchentlichen Verdienstes zu opfern.

Auch heut, als Marie eintrat, saß er am Tische und sann und feilte, feilte und sann, daß ihm trotz der im Stübchen herrschenden Kälte der Schweiß von der Stirn tropfte.

Marie theilte ihre Gaben aus. Sie sollten nicht angenommen werden, aber sie besiegte jeden Widerstand mit der Versicherung, daß Robert einen Speisenvorrath für mehrere Tage mitgebracht habe. Man sah es dann der Blinden an, daß sie wohl schon seit Tagen sich nicht vollständig satt gegessen habe.

Sie ging dann schlafen, und nun befanden sich die beiden jungen Leute allein. Er blickte zu ihr herüber und legte die Feile weg. Sie blickte zu


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ihm hinüber und legte die Seide fort, aus welcher sie sich einen Vorrath von Stickfäden gezogen hatte.

»Marie?« sagte er halblaut.

»Wilhelm?« antwortete sie ebenso.

»Liebe Marie!«

»Lieber Wilhelm!«

»Die Mutter ist schlafen!«

»Ja.«

»Ob sie wohl schon eingeschlafen ist?«

»Vielleicht,« antwortete sie erröthend.

»Oder ob Sie noch einmal zurückkehren wird?«

»Auch das ist möglich.«

»Aber, liebe Marie, sie kann doch nicht sehen!«

»Leider, lieber Wilhelm.«

»Darf ich also kommen?«

Sie antwortete nicht mit Worten, aber sie nickte mit dem hübschen Köpfchen. Das war genug. Er stand von seinem Stuhle auf und kam zu ihr. An der Wand stand ein Sopha, ein Kanapee, oder doch Etwas, dem man diesen Namen beilegen konnte, wenn man es nicht gar zu sehr genau nahm. Vier hölzerne Beine, drei Bretter darauf genagelt, hüben und drüben eine hohle Rolle aus starker Pappe und darüber ein Ueberzug von groß geblümtem Zitz, die Elle für fünfzehn Pfennige; das war das Kanapee, oder das Sopha, oder der Divan, welchen Wilhelm vor zwei Jahren seiner Mutter als Christgeschenk gegeben hatte. Er hatte damals das Möbel selbst zusammengenagelt und Marie hatte den Ueberzug besorgt und eingesäumt.

Darauf saß sie jetzt und er setzte sich zu ihr.

»Weißt Du, daß Du recht angegriffen aussiehst?« fragte er, indem er ihr kleines, arbeitsames Händchen ergriff.

»Und weißt Du, daß Du heut wieder blässer bist als gestern?« antwortete sie, indem sie ihr Händchen nicht aus seiner fleißigen Hand zurückzog.

»Du solltest Dich viel, viel mehr schonen!«

»Du nicht minder!«

»Ja, ja,« lächelte er. »Wir geben einander nur immer guten Rath; aber weißt Du, was wir ganz und gar vergessen, uns zu geben, liebe Marie?«

»Nun, was?« fragte sie sehr neugierig.

»Einen Kuß.«

Da schlug sie ihm mit der Hand auf den Mund, aber so, daß es ihm ja nicht wehe thun konnte, und dann antwortete sie:

»Was hat man vom Küssen! Geh doch!«

»Was man vom Küssen hat? Hm! Den guten Geschmack und dazu dann das Vergnügen!«

»Ah! Du denkst wohl, Du schmeckst sehr gut?«

»Etwa nicht?«

»Hm! Ich weiß es nicht.«

»So probire doch einmal, Mariechen!«


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»Ich bin nicht neugierig.«

»Aber ich desto mehr!«

»Worauf?«

»Wie Du schmeckst. Darf ich probiren?«

»Nein.«

»Auch nicht ein aller-, aller-, allereinziges Mal?«

»Hm! Wenn Du mir versprichst, daß es dabei bleiben soll.«

»Ganz gewiß, ganz gewiß! Aber nun gieb auch rasch Dein liebes, kleines, süßes Mäulchen her!«

»Da hast Du es! Aber blos geborgt!«

»Schön! Ja! Na, komm!«

Es ließ sich ein eigenthümliches Geräusch vernehmen, ganz so, wie man es in gewissen Jahren, an gewissen Orten und bei gewissen Personen zu lieben und zu üben pflegt, und dann - fuhr Marie auf einmal sehr rasch mit dem Köpfchen zurück und rief schmollend:

»Geh, Ungehorsamer! War das denn nur Einer?«

»Ja freilich! Wie viele denn sonst?«

»Fünf oder sechs. Es können sogar auch acht gewesen sein.«

»Welch ein Irrthum! Wie zählst Du nur heut wieder einmal! Komm! Ich will Dir ganz genau zeigen, wie es gewesen ist, und dann sollst Du mir sagen, ob es wirklich nur sechs oder acht waren. Ich denke nämlich, es müssen zwölf oder sechzehn gewesen sein.«

Und nun thaten sie, als ob sie zählen wollten, aber es fiel ihnen ganz und gar nicht ein. Wer die Küsse zählt, der ist noch viel schlimmer dran als Derjenige, welcher die Kirschen zählt, welche er ißt; der eigentliche Haut goût, das Mousseux geht ganz und gar dabei verloren. Und wer es ohne Zahlen und Ziffern nicht vermag, der thut am klügsten, gleich zu multipliciren, da kommt doch zuletzt ein artiges Sümmchen heraus.

So hielten sich die beiden jungen Leutchens also fest umschlungen. Ihre Herzen waren so froh und voller Blumen wie der Zitzüberzug, auf dem sie saßen, und dabei hatten sie sich einander Tausenderlei zu sagen und zu fragen, obgleich sie täglich um ganz dieselbe Zeit ein Stündchen zusammen kamen.

Daß dann die gute, blinde Mutter stets schlafen ging, war natürlich der reine Zufall. Aber eine Mutter kennt das Menschenherz nur allzu gut und gar eine blinde Mutter weiß ganz genau, daß in all das Elend der Arbeit und des Hungers zuweilen ein Sonnenstrahl gehört, und den wärmsten, hellsten Strahl versendet doch eigentlich nicht die Sonne, sondern die Liebe, welche die Sonne aller Sonnen ist. Und kommt nun so ein Sonnenstrahl, so geht die Blinde schlafen, da er ihr ja doch nichts nützen kann.

»Wann wirst Du fertig mit Deiner Stickerei?« fragte Wilhelm.

»Morgen.«

»Gott sei Dank. Dann kannst Du doch einmal ausruhen.«

»Aber ich bekomme auch ein schauderhaft vieles Geld.«

»Wieviel?«

»Das weiß ich selbst noch nicht. Wie geht es mit Deiner Maschine.«


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»Immer langsam, aber sicher. Man hat so viel zu berechnen.«

»Das ist sehr wahr,« nickte sie verständnißinnig, obgleich sie von der Sache gar nicht viel verstand. Aber wer einen Mechanikus liebt, muß doch wenigstens wissen, daß er sehr viel zu berechnen hat. »Wann wirst Du fertig?«

»Noch vor Weihnacht.«

»Wie schön! Dann kannst auch Du zu den Feiertagen ruhen.«

»Und dann das viele Geld.«

»Wieviel?«

»Vierhundert Thaler, oder gar noch mehr.«

Sie schlug vor Bewunderung die Hände zusammen und sagte:

»Vierhundert Thaler. Diese Engländer müssen doch schrecklich reiche Leute sein. Oder gar noch mehr. Was thust Du mit dem vielen Gelde?«

»Komm her. Ich will Dir's sagen.«

Er zog ihr Köpfchen wieder zu sich heran, küßte sie auf die Lippen und flüsterte ihr dann in das Ohr:

»Heirathen.«

»Wen denn?«

»Meinst Du etwa, Dich?«

»Hm. Hübsch wäre es.«

»Na, so müssen wir es einmal für kurze Zeit versuchen.«

»Für kurze Zeit? Geh, Du Böser. Du wirst es bald soweit bringen, daß Dir kein Mensch mehr gut sein kann.«

»Das wird Dir sehr lieb sein.«

»Warum?«

»Nun, hast Du es vielleicht so sehr gern, daß mir alle Menschen, besonders aber alle Mädchen, gut sein sollten?«

»Das wollte ich mir stark verbitten. Aber, laß uns doch einmal ernsthaft sein. Wird Dein Engländer Dich denn auch gewiß und ehrlich bezahlen?«

»Gewiß. Wir haben ja Contract gemacht.«

»Wo wohnt er denn?«

»In Leeds. Aber er kommt ja alle Weihnachten nach hier.«

»Ich wünsche Dir sehr, daß Du Dich nicht täuschen mögest. Der Schmerz wäre doch gar zu groß.«

Sein Gesicht war plötzlich recht ernst geworden. Er blickte nachdenklich vor sich nieder, nickte mit dem Kopfe und sagte, wie zu sich selbst:

»Der Schmerz, die Enttäuschung und - noch etwas Anderes.«

»Noch etwas Anderes? Was könnte das wohl sein?«

»Laß das. Das ist nichts für Dich.«

»Aber dennoch möchte ich es sehr gern wissen. Magst Du es mir denn nicht mittheilen?«

»Es bringt Dir keinen Nutzen.«

Er sprach das so kurz. Sie blickte ihm in das Angesicht. Die Liebe hat scharfe, sehr scharfe Augen.

»Wilhelm, Du hast Sorgen?« fragte sie.

»Ja,« nickte er.


Ende der siebten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der verlorne Sohn

Karl May – Forschung und Werk