Lieferung 64

Karl May

14. November 1885

Der verlorne Sohn
oder
Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.


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»Drei Procent.«

»Wie? Mehr verlangten Sie nicht?«

»Nein. Warum mehr? Ich habe bereits gesagt, daß ich es nicht brauche.«

»Nun, dann wünsche ich nur, daß ich nicht auch zu Denjenigen gehöre, denen Sie kein Vertrauen schenken können!«

»Na, um aufrichtig zu sein, Sie gefallen mir. Doch, ich kenne Ihre Verhältnisse nicht.«

»Sie haben noch nicht von der Familie Scharfenberg gehört«

»Nein.«

»Der Oheim ist Regierungsrath und Director der Landesanstalt zu Rollenburg -«

»Hm! Das klingt empfehlend!«

»Mein Vater ist Officier, lebt aber jetzt verabschiedet und zurückgezogen auf seinen Gütern. Er ist höchst sparsam und glaubt, man könne noch so auskommen, wie zu seiner Zeit. Da halte ich es nun für besser, für jetzt so wenig wie möglich an seine Casse anzuklopfen. Sie verstehen -!«

»Sehr gut, sehr gut! Junges Blut will ausbrausen. Die Alten haben vergessen, daß sie selbst so gewesen sind. Man soll die Jugend genießen, zumal wenn es die Verhältnisse erlauben, gewisse unvermeidliche Verbindlichkeiten später abzutragen.«

»Das ist bei mir der Fall. Ich bin der einzige Erbe.«

»Sehr gut! Es ist mir, als ob ich mich für Sie entschließen könnte. Wieviel brauchen Sie?«

»Hm! Ich möchte gern eine Summe haben, welche mich nicht für nur ganz kurze Zeit selbstständig macht.«

»Ganz recht! Also bitte, wieviel?«

»Hm, sechs-, acht- oder zehntausend Gulden?«

»Das ist so nahekommend an das, was ich liegen habe. Sie brauchen es sofort?«

»Sogleich.«

»Welche Sicherheit bieten Sie?«

»Wechsel und Ehrenschein.«

»Das würde genügen. Also, sind Ihnen drei Procent recht, Herr Lieutenant?«

»Ja gewiß, mehr als recht. Ich finde, Herr Schönlein, daß Sie ein nobler, ehrenwerther Mann sind!«

Er war förmlich electrisirt von dem Gedanken, jetzt, sofort zehntausend Gulden zu erhalten.

»O bitte,« lautete die Antwort. »Es ist mir ein Vergnügen, einem Cavalier beispringen zu können. Also wollen wir?«

»Wenn es Ihnen recht ist?«

»Gewiß! Darf ich Ihnen das Wechselformular zur Ausfüllung vorlegen?«


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»Bitte! Wie lange wollen Sie mir die Summe lassen?«

»Nun, wie lange wünschen Sie?«

»Hm, möglichst weit hinaus. Ein halbes Jahr?«

»Na, meinetwegen! Hier ist der Wechsel. Bitte!«

Das ging so exact und jovial wie am Schnürchen. Der Lieutenant griff zur Feder und begann, das Formular auszufüllen. Da wurde am Vorsaale geklingelt, und einige Augenblicke später hörte man die Frage:

»Grüß Gott, liebes Kind! Ist Willibald da?«

»Ja.«

»Wo?«

»Im Theezimmer. Aber es ist ein -«

»Schon gut, schon gut! Finde ihn schon!«

»Aber, lieber Vater, es ist -«

»Gut, gut. Bin schon da!«

Die Thür wurde aufgerissen, und ein älterer Herr, dem man den Lebemann sofort ansah, trat ein.

»Guten Tag, mein Söhnchen! Wie geht's? Wie - ah, Du bist nicht allein! Ich störe? Entschuldigung!«

Er verbeugte sich vor dem Lieutenant, drückte dem Hausherrn die Hand und bemerkte:

»Werde nicht lange belästigen. Bin gleich fertig.«

»Willst Du nicht einstweilen da eintreten?«

Er deutete nach der Thür.

»Danke, danke sehr! Habe keine Zeit, zu warten, gar keine! Bin außerordentlich pressirt. Werde gleich wieder gehen!«

»Na, da mag es erlaubt sein - mein Schwiegervater - Herr Lieutenant von Scharfenberg!«

Die beiden Genannten verbeugten sich vor einander, und dann wendete sich der Schwiegervater an den Schwiegersohn:

»Höre, Willibald, eine Nachricht, eine famose Nachricht!«

»So? Geschäftlich?«

»Ja, natürlich! Die Peruaner fallen fürchterlich -«

»Das nennst Du famos?«

»Ja, denn dafür steigen die Chilenen riesig. Sie steigen von Stunde zu Stunde, von Minute zu Minute, von Augenblick zu Augenblick. Die Chilenen haben drei Schlachten gewonnen. Erhielt heute bereits die zweite Depesche, Chilenen anzukaufen, so viel nur immer möglich. Bin bis jetzt im alleinigen Besitze des Geheimnisses. Kann sie ganz billig bekommen und hoch, sehr hoch losschlagen. Ausgezeichnetes Geschäft!«

»Gratulire!«

»Danke, mein Junge!« Dabei schlug er ihn gutmüthig auf die Achsel und fuhr heiter fort: »Ist aber ein verteufeltes Pech dabei. Hast Du Baargeld liegen?«

»Hm! Warum?«


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»Habe bereits für vierzigtausend Gulden gekauft und mich ganz ausgegeben. Kann noch eine Partie bekommen, leider aber, wie natürlich, nur gegen Baar. Hast Du Geld?«

»Ich habe allerdings fünfzehntausend Gulden daliegen, aber über diese Summe ist bereits -«

»Daliegen?« unterbrach ihn der Schwiegervater »Fünfzehntausend? Bravo! Hurra! Da komme ich zur guten Stunde! Uebermorgen zahle ich sie zurück. Schaff her!«

»Das wird wohl kaum gehen.«

»Warum nicht?«

»Ich habe bereits anderweit darüber verfügt.«

»Anderweit? Unsinn! Wie denn?«

Schönlein that einigermaßen verlegen; er konnte ja auch anständiger Weise nicht den Officier verrathen. Darum machte er die Ausrede:

»Ich habe es auf Hypothek versprochen.«

»Auf Hypothek? Was? Dein Schwiegervater muß Dir näher stehen, als die beste Hypothek. Ueberhaupt kann der Mann noch bis übermorgen warten.«

»Er braucht es heute.«

»Papperlapapp! Mit diesen fünfzehntausend kann ich gegen fünftausend gewinnen, gerade den dritten Theil. Und Du giebst das Geld einem Anderen? Schäme Dich, Willibald! Das hätte ich von Dir nicht gedacht! Aber warte!«

Er stieß ein lustiges Lachen aus und eilte durch die andere Thür davon.

Der Lieutenant hatte wie auf Kohlen gestanden. Erst die Freude, so viel Geld zu bekommen, und nun plötzlich dieser verteufelte Schwiegervater! Der Wechsel war schon ausgefüllt, und der Ehrenschein auch bereits angefangen.

»Herr Schönlein, wäre es nicht am Besten,« stotterte er.

»Was, Herr Lieutenant?«

»Sie theilten dem Herrn Schwiegerpapa aufrichtig mit, daß ich es bin, der das Geld empfangen soll.«

»So, so! Ich dachte, daß Sie Discretion wünschen!«

»Unter diesen Verhältnissen halte ich die Mittheilung für angezeigt. Im Uebrigen darf ich dem Herrn Schwiegervater doch wohl Verschwiegenheit zutrauen.«

»Gewiß, gewiß! Ich werde also - mein Himmel, er lachte, als er hier hinausging. Ich ahne etwas!«

»Doch nichts Unangenehmes?« fragte der Officier besorgt.

»O nein. Aber, wissen Sie, wir nehmen einander nichts; die Cassen stehen uns gegenseitig zur Verfügung, und der Papa ist ein Wenig gewaltthätig, obgleich man ihm Nichts übel nehmen kann. Es fällt mir ein, daß ich den Feuerfesten offen gelassen habe. Darin liegt die Summe. Er wird


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doch nicht auf den Gedanken gekommen sein, sich selbst zu nehmen, was er - ah, da ist er!«

Der Schwiegervater kehrte zurück. Er lachte am ganzen Leibe, schlug sich an die Brusttasche und jubelte:

»Victoria, gewonnen, gewonnen! Ich habe sie!«

»Was dem?«

»Die Fünfzehntausend. Laß Deinen Schrank ein anderes Mal nicht offen. Ich habe auf meine Karte quittirt und sie dafür hineingelegt. Nun aber schnell fort. Ich muß kaufen, kaufen, kaufen! Adieu, mein Junge! Empfehle mich, Herr Lieutenant!«

Er wollte zur Thür hinaus. Scharfenberg hatte ihn am Liebsten an den Rockschößen festgehalten; doch war dies glücklicherweise nicht nothwendig, denn Schönlein trat schnell hinzu und nahm den Alten beim Arme.

»Halt!« sagte er. »So schnell geht das nicht!«

»Was denn noch?«

»Ich kann wirklich nicht mehr über das Geld verfügen. Ich habe es hier dem Herrn Lieutenant versprochen.«

»Hier, dem Herrn Lieutenant?« klang es verwundert.

»Ja.«

»Nimmst Du von ihm die Hypothek? Ah, nein! Da sehe ich ja einen Wechsel! Hm, hm! Schwiegersöhnchen, Schwiegersöhnchen, ich glaube gar, Du fängst an, den Wucherern und Halsabschneidern in das Handwerk zu pfuschen!«

»Fällt mir nicht ein! Da kennst Du mich! Nur drei Procent.«

»Drei Procent? Mensch, bist Du toll? Ich kann mir über dreißig damit verdienen! Oho, wie gewöhnlich: Dein gutes Herz! Das gebe ich nicht zu.«

»Ich will ja gern mehr Zinsen zahlen,« meinte der Lieutenant, der sich in einem Fegefeuer befand.

»Wird nichts, wird nichts! Was ich einmal habe, das gebe ich nicht wieder heraus. Erlauben Sie einmal!«

Er betrachtete den Wechsel und auch den angefangenen Ehrenschein; dann sagte er:

»Auf diese Weise! Ah, so! Nun, die Scharfenbergs sind Ehrenleute; da kann man es riskiren. Aber warum denn gerade lauter Baargeld, wo gerade ich einen Fang damit machen kann?«

Der Lieutenant begann, wieder Athem zu schöpfen.

»Haben Sie vielleicht einen Vorschlag für ein anderes, acceptables Arrangement?« fragte er.

»Vielleicht! Willibald, läßt Du mich machen?«

»Na, heraus giebst Du das Baargeld doch nicht wieder; das weiß ich; aber zufriedenstellen wirst Du den Herrn Lieutenant dennoch, das ist ebenso sicher. Also mach, was Du denkst!«

»Gut! Schön! Aber besser, als Du denkst, bin ich doch. Aus Rück-


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sicht für den Herrn Lieutenant werde ich doch etwas Baares herausgeben. Ich mache einen Vorschlag. Wird er angenommen - dann gut; wird er abgewiesen - dann verschwinde ich. Also soll ich?«

»Bitte, sprechen Sie!« bat Scharfenberg.

»Also, ich gebe dreitausend Gulden baar heraus, sodann einen Wechsel auf Freimann und Co., lautend auf zweitausend Gulden, und endlich die übrigen fünftausend Gulden in Papieren auf Chile, zu dem Preise, den ich selbst gegeben habe.«

»Hm, das ist anständig!« bemerkte Schönlein.

»Ist Freimann und Co. sicher?« fragte der Lieutenant, welcher diesen Namen noch nie gehört hatte.

»O, glanzvoll!«

»Und die Chilenen sind zu verwerthen?«

»Welche Frage! Ich sage Ihnen ja, daß sie in die Höhe gehen wie Papierdrachen! Ihre Fünftausend können sich, wenn Sie sie behalten verdoppeln. Schlagen Sie ein!«

Er streckte ihm die Hand entgegen, und der leichtsinnige, junge Mann gab seine Zustimmung. Der Ehrenschein wurde vollends angefertigt und unterschrieben, und sodann erhielt er die Werthvolumina: Dreitausend Gulden in Cassenscheinen, abzüglich der Zinsen, den angegebenen Wechsel und die südamerikanischen Staatspapiere.

Froh, das Geschäft doch noch zu Stande gebracht zu haben, steckte er Alles ein und erhielt dabei die Versicherung des heiteren, jovialen Schwiegervaters:

»Sie werden sich jedenfalls meiner Coulanz erinnern, mein werther Herr von Scharfenberg. Ich habe Ihnen den reinen Gewinn geradezu aus meiner Tasche geschenkt. Sie haben ein ausgezeichnetes Geschäft gemacht, freilich auch nur, weil ich den Ruf Ihrer geehrten Familie kenne. Wollen Sie sich überzeugen?«

Der Lieutenant war nichts weniger als ein Geschäftsmann. Er hatte sich noch nie um die Curse der sogenannten 'Papiere' bekümmert. Er war froh, das Darlehn auf eine so leichte Art und Weise erhalten zu haben, und hatte keine Lust, sich in magere Berechnungen zu versenken. Da ihm aber der Beweis gar so leicht und entgegenkommend angeboten wurde, so antwortete er:

»Es würde mir sehr lieb sein, mich überzeugen zu können.«

»Schön! Bitte, sehen Sie her, Herr Lieutenant!«

Er zog einen Kurszettel aus der Tasche, deutete auf die betreffende Stelle und sagte:

»Hier haben Sie es Schwarz auf Weiß. Lesen Sie einmal!«

»Neueste Emission von Chile: 110,« las der Officier.

»Nun verstehen Sie das?« fragte der Schwiegervater.

»Ich gestehe, auf diesem Gebiete nicht sehr bewandert zu sein, aber ich denke, daß der Emissionswerth 100 ist?«


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»Gewiß; 110 aber stehen sie. Wieviel also beträgt heute der Gewinn pro Papier zu hundert Gulden?«

»Zehn Gulden.«

»Ja. Sie haben aber für fünftausend Gulden Papiere; wie hoch beläuft sich also Ihr gegenwärtiger Gewinn?«

»Zehn Procent, also fünfhundert Gulden.«

»Richtig; so ist es. Diese Summe fließt aus meiner Tasche geradezu in die Ihrige, denn ich habe sie Ihnen zu hundert gelassen, obgleich ich sie eigentlich zum Tageskurs berechnen wollte. Aber ich will anständig sein, weil ich der Schwiegervater bin und weil ich denke, daß Sie sich wohl wieder an Herrn Schönlein wenden werden. Noblesse oblige - anständige Behandlung ist die allerbeste Empfehlung eines Geschäftsmannes.«

»Ich danke Ihnen und versichere gern, daß ich Ihre Freundlichkeit nicht vergessen werde.«

Er verabschiedete sich auf die höflichste Weise und ging. Als er fort war, stieß der Schwiegervater ein lautes, triumphirendes Lachen aus und sagte:

»Prächtig, prächtig! Er ist auf den Leim gegangen!«

»Und wie leicht,« stimmte sein sogenannter Schwiegersohn ein.

»Wie ein Gimpel!«

»Noch viel, viel dümmer!«

»Zu glauben, daß wir ihm fünfhundert Gulden schenken!«

»Und daß Du wirklich mein Schwiegervater bist!«

»Und Du so ein Geldmann! Dieser Jude Salomon Levi ist wirklich ein genialer Kopf. Für die dreitausend Gulden und seine schlechten Papiere erhält er einen Wechsel über zehntausend Gulden samt dem Ehrenschein. Er verdient fast fünftausend Gulden bei dem Geschäfte.«

»Und uns? Was giebt er uns?«

»Dir hundert, mir hundert und diesem famosen Freimann und Compagnie hundert.«

»O, Freimann wird mehr verdienen.«

»Wieso?«

»Er wird ihm eben auch chilenische Papiere geben, sie aber zu hundertzehn berechnen. Zweitausend hat er zu zahlen, macht also für ihn noch einen Profit von zweihundert Gulden, Summa Summarum also dreihundert. Wir haben zu wenig!«

»Das scheint mir allerdings auch so.«

»Und das Risico dazu!«

»Risico? Pah! Ich verkaufe meine Papiere natürlich so hoch, als ich will und kann. Kein Mensch hat mir da Vorschriften zu machen.«

»Auch das Gesetz nicht?«

»Nein.«

»Aber Du hast den Lieutenant getäuscht, indem Du sagtest, daß der Curs hundertzehn sei.«

»Habe ich das wirklich gesagt?«


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»Ganz gewiß. Ich habe es doch selbst gehört!«

»Unsinn! Er selbst hat es gelesen. Warum sieht er auf die falsche Zeile und nicht auf die richtige, auf welcher deutlich steht: Vorjährige Emission von Chile: 30. In Chile hat man den Präsidenten abgesetzt, und die vorjährigen Schlachten gegen Peru wurden verloren. Der neue Präsident wird sich hüten, die Schulden seines Vorgängers zu bezahlen! Er hat Glück gehabt, er hat die Peruaner geschlagen, darum stehen seine Papiere so hoch. Siegt er öfters, so steigen sie noch höher. Das versteht sich ganz von selbst. Dieser Herr Lieutenant von Scharfenberg kann doch mich eines Irrthums, den er selbst begangen hat, nicht verantwortlich machen. Uebrigens ist er Officier und muß sich hüten, sich merken zu lassen, wie es um seine Finanzen steht. Er geht jedenfalls jetzt zu Freimann. Ich möchte dieser Verhandlung beiwohnen. Freimann ist ein Schlaukopf, hat ein großes Comptoir, aber einen einzigen Schreiber. Beide aber sind froh, wenn sie täglich nur ein einziges Mal die Feder in die Tinte tauchen dürfen.« -

Damit hatte er vollständig Recht. Dieser Freimann wohnte in einer belebten Straße; die Thür seines Comptoirs war stark mit Eisen beschlagen. Man gelangte durch einen länglichen Burausaal in das Zimmer des Chefs. Der Erstere enthielt wohl ein Dutzend Schreibtische, welche voller Geschäftsbücher lagen. Das machte den Eindruck, als ob hier bedeutende Geschäfte abgewickelt würden; aber diese Tische standen stets leer. Nur an einem derselben stand ein altes, trockenes Männchen und kaute an dem trockenen Gänsekiel - es gab keine Arbeit für ihn.

Da klingelte es im Zimmer des Herrn. Der Schreiber brummte leise vor sich hin und trat ein.

Herr Freimann war, das sah man auf den ersten Blick, ein Jude; er hatte ein ausgesprochen israelitisches Gesicht, und der Ton seiner Stimme klang eigenthümlich salbungsvoll und näselnd, als er fragte:

»Es dauert so lange. Hast Du Dich nicht getäuscht?«

»Nein.«

»Es ist wirklich Scharfenberg gewesen?«

»Ja. Ich habe, nachdem er den Brief erhielt, in seiner Straße gewartet und bin ihm dann nachgegangen.«

»Und er ging wirklich zu Schönlein?«

»Ja.«

»Dann begreife ich die Langsamkeit nicht, welcher diese Menschen sich befleißigen.«

»Vielleicht hegt er Bedenken!«

»Hm! Das wäre dumm!«

»Ja, unsere Casse -«

»Schweig!«

»O bitte, Herr Freimann! Ich darf vielleicht doch an unsere Casse denken!«


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Der Chef warf ihm einen zornigen Blick zu und sagte:

»Willst Du mir wohl Deine Gründe sagen?«

»Ich habe bereits einen Monat lang kein Salär erhalten.«

»Und ich habe bereits über einen Monat lang keinen Kreuzer eingenommen. Du hast es nicht schlechter als ich.«

»Aber ich bin Compagnon!«

»Desto weniger hast Du Ursache, zu klagen!«

»Desto größer aber ist mein Risico!«

»Ah! Wieso?«

»Wen wird man fassen, wenn man endlich hinter das Geschäft kommt? Sie oder mich?«

»Mich, denn ich bin der Chef!«

»Und ich muß Alles unterschreiben.«

»Als Compagnon hast Du das Recht und die Pflicht dazu!«

»Dann möchte ich aber auch den Gewinn theilen!«

»Unsinn! Ah, da klingelt es!«

»Er wird es sein.«

»Mach Deine Sache gut!«

Der Schreiber entfernte sich. Die vordere, eiserne Thür war verschlossen. Er mußte sie öffnen. Bruno von Scharfenberg trat ein. Er grüßte kurz und stolz, warf einen erstaunten Blick auf die leeren Plätze und fragte:

»Hier ist Freimann und Compagnie?«

»Ja.«

»Ist der Herr zu Hause?«

»Hm! Vielleicht.«

»Wie kommt es, daß Sie es hier so leer haben?«

»Es ist heute der Geburtstag des Chefs, da hat das Personal den Nachmittag frei bekommen. Nur ich bin mit Herrn Freimann anwesend, um das Nothwendigste zu erledigen.«

Das war die gewöhnliche Erklärung der leeren Plätze.

»Warum sagten Sie 'Vielleicht', als ich fragte, ob der Chef zu sprechen sei?«

»Ich weiß nicht, ob die Angelegenheit, in welcher Sie kommen, zu denjenigen gehört, welche wir nothwendig nennen.«

»Ich will einen Wechsel präsentiren.«

»Ach so! Das ist allerdings nicht aufzuschieben. Gestatten Sie mir wohl, Sie zu melden?«

»Hier ist meine Karte.«

Der Comptoirist nahm die Karte unter einer Verbeugung in Empfang, ging in das Cabinet des Chefs, kehrte sogleich wieder zurück und sagte:

»Herr Freimann läßt bitten!«

Er ließ den Lieutenant eintreten und that so, als ob er sich zurückziehen wolle, blieb aber auf einen Wink Freimanns an der Thür stehen.


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Die beiden Herren verbeugten sich. Freimann bot dem Officier einen Stuhl an und sagte dann:

»Nehmen Sie Platz, Herr Lieutenant, und haben sie die Güte, mir vorher noch einen Augenblick Zeit zu geben. Es handelt sich um einige wichtige Entschließungen, welche ich augenblicklich zu treffen habe, um sie dem Telegraphen zu übermitteln.«

Der Angeredete verneigte sich zustimmend und nahm dann Platz.

»Kommen Sie her!« gebot Freimann dem Schreiber.

Dieser nahm einige Briefe vom Nebentische, trat hinzu, öffnete den ersten und sagte:

»Anfrage von Burton in New-Orleans wegen Tabak.«

»Wie hoch?«

»Hundervierzigtausend Gulden.«

»Hm! Das ist sehr viel. Aber -«

»Meine bescheidene Meinung geht dahin, ihn fest zu machen.«

»Denken Sie?«

»Ja. Die nächste Ernte kann unmöglich wieder so gut ausfallen, wie die letzte. Der Preis muß steigen.«

»Gut! Telegraphiren Sie also, daß ich behalte. Weiter!«

Der Schreiber öffnete einen Brief nach dem anderen.

»Miloro in Bahia, Kaffee,« sagte er.

»Wie viel?«

»Sechzigtausend Centner.«

»Auf Speicherpack nehme ich ihn.«

»Soll ich notiren?«

»Ja. Weiter!«

»Westindien: Zucker und Rum.«

»Wird behalten.«

»Wisby, wegen Thran.«

»Kaufe ich.«

»Alexandria, Reis und Weizen.«

»Den darf ich nicht weglassen.«

So ging es eine ganze Weile fort. Dem Officier begann es fast ängstlich zu werden. Dieser Freimann machte Bestellungen für viele Millionen, und er that dies in einer Weise, als ob es sich nur um Kreuzer handele. Endlich war der letzte Brief erledigt, und der Schreiber entfernte sich. Der Chef wendete sich nun zu Scharfenberg.

»Entschuldigung, daß ich Sie warten ließ! Aber Sie werden bemerkt haben, daß es sich wirklich nur um sehr Wichtiges handelte. Womit kann ich dienen?«

»Ich ließ Ihnen bereits sagen, daß -«

»Ach ja - ein Wechsel! Wie hoch?«

»Zweitausend Gulden.«

Er sagte dies nur halblaut. Fast schämte er sich, ein so unbedeutendes


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Sümmchen von einem Manne zu verlangen, welcher in dieser Weise mit Millionen um sich warf. Freimann nickte leichthin, griff nach einem Verzeichnisse, warf einen raschen Blick darauf und sagte:

»Wirklich einen Wechsel?«

»Ja.«

»Ich habe heute bereits vier eingelößt, und fünf sind nicht verzeichnet. Da muß ein Irrthum stattfinden.«

»Verzeihung! Es ist ein Papier auf Sicht.«

»Ach so! Bitte, zeigen Sie!«

Er nahm das Accept in Empfang, betrachtete es, schüttelte den Kopf und fragte:

»Dieses Geld wollen Sie haben?«

»Ja.«

»Mit welchem Rechte?«

»Ich habe es in Zahlung empfangen.«

»Hm! Nehmen Sie es mir nicht übel, Herr Lieutenant, aber Sie sind wohl kein Freund von geschäftlichen Manipulationen?«

»Ich gestehe allerdings aufrichtig, daß -«

Er stockte. Er begann, Besorgniß zu hegen, daß Freimann das Papier aus irgend einem Grunde nicht honoriren werde. Dieser nickte lächelnd und meinte:

»Das dachte ich mir. Der Wechsel ist zwar ganz richtig an Sie übertragen, denn hier steht 'Für mich an die Ordre des Herrn Lieutenant von Scharfenberg'; aber Ihren Namen haben Sie noch nicht eingetragen.«

»Ah so!« sagte Scharfenberg im Tone der Erleichterung. »Das werde ich sofort nachholen! Erlauben Sie mir die Feder!«

Er setzte seinen Namen hin und sagte dann:

»So, nun ist das Hinderniß beseitigt!«

»Dieses, ja!«

»Wie? Sollte es ein zweites geben?«

»Allerdings,« meinte Freimann unter einem überlegenen Lächeln.

»Welches?«

»Aber, bitte, Herr Lieutenant, haben Sie denn das Papier nicht gelesen, bevor Sie es in Zahlung nahmen?«

»Oberflächlich, ja.«

»Oberflächlich? Nehmen Sie mir es nicht übel; aber wenn es sich um zweitausend Gulden handelt, so sieht man doch ein Wenig genauer hin! Selbst ich, der ich über bedeutende Mittel verfüge, wie Sie wohl bemerkt haben, pflege in dieser Beziehung höchst sorgsam zu sein.«

Jetzt wurde es dem Lieutenant abermals angst.

»Sollte der Wechsel vielleicht einen Fehler haben?« fragte er.

»Nein. Darüber kann ich Sie beruhigen; aber - hm! Vielleicht habe ich Sie um Verzeihung zu bitten, weil ich kein Recht hatte, das Wort Sorg-


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samkeit zu erwähnen. Vielleicht habe ich Sie nur falsch verstanden. Sie wissen natürlich, daß ich der Acceptant dieses Papieres bin?«

»Ja, natürlich!«

»Und Sie wünschen, daß ich es einlöse?«

»Ja.«

»Also wirklich, ich habe Sie nicht falsch verstanden? Ich soll den Wechsel einlösen, nicht aber discontiren?«

»So meine ich es.«

»Aber, mein bester Herr Lieutenant, das habe ich ja ganz und gar nicht nöthig!«

»Nicht? Donnerwetter! Wieso? Er ist ja auf Sicht gestellt, Herr Freimann?«

»Ja, auf Sicht gestellt, aber nicht nach Sicht zu zahlen. Jetzt sehe ich allerdings, daß Sie die Worte nur oberflächlich betrachtet haben. Bitte, sehen Sie her!«

Der Lieutenant las zu seinem Erstaunen:

»Drei Monate nach Sicht zahlen Sie an die Ordre - -«

»Himmeldonnerwetter!« fluchte er.

»Hm! Ja!« meinte Freimann. »Unangenehm allerdings, aber doch kaum abzuändern. Sie können mir den Zinsenverlust nicht zumuthen. Bitte, kommen Sie in einem Vierteljahre wieder, Herr Lieutenant.«

Er gab den Wechsel zurück. Scharfenberg drehte denselben sehr verlegen in den Händen herum. Erstens war er blamirt, und zweitens hätte er doch gar zu gern das Geld gehabt. Lieber wollte er seinerseits auf die Zinsen verzichten.

»Ich sehe ein,« sagte er, »daß Sie allerdings nicht verpflichtet sind, Ihr Accept einzulösen; aber, bitte, würden Sie es vielleicht discontiren?«

»Hm! Sie haben gehört, welche Bestellungen ich mache. Ich brauche mein Geld selbst nothwendig. Baargeld zieht man nicht ohne Noth aus dem Geschäfte, selbst wenn es sich nur um zweitausend Gulden handelt. So klein dieser Betrag ist, ich kann mir mit ihm in drei Monaten Vortheile verschaffen, welche jedenfalls nicht unansehnlich sind.«

»Ich will Sie ja gern entschädigen.«

»So! Hm! Brauchen Sie das Geld so nothwendig?«

»Zur Noth allerdings nicht; aber lieb wäre es mir doch, wenn ich es haben könnte.«

»Nun, wie viele Procente denken Sie sich denn?«

»Vielleicht die landesläufigen sechs?«

»Ist Sechs wirklich landläufig?«

Er sah ihn dabei mit blinzelndem Auge von der Seite an, als ob er zu ihm sagen wolle:

»Ihr Herren Offiziere pflegt ja viel, viel mehr zu geben, Hundert und auch da noch mehr.«

»Wird acht Procent genügen?« fragte der Lieutenant.


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»Hm, ich will nicht wucherisch sein. Sechs ist genug. Aber wenn Sie klingende Münze haben wollen, so kann ich nicht dienen.«

»Ich würde mich auch mit anderen Objecten begnügen, wenn sie sich nur leicht verwerthen lassen.«

»Leicht, sehr leicht - zum Tagescurse. Ich habe mir nämlich eine Anzahl Chilenen zugelegt, weil ich weiß, daß sie emporgehen werden. Ich gebe sie natürlich nicht gern aus, denn es ist Etwas daran zu verdienen; aber ich möchte Ihnen nicht gern als ungefällig erscheinen.«

»O bitte!«

»Nehmen Sie überhaupt Chilenen?«

»Ja, sehr gern!«

»Gut! Ich werde nachschlagen, wie sie heute notirt worden sind.«

»Hundertzehn!«

»Wissen Sie das genau?«

»Ich habe bereits welche in Zahlung genommen.«

»So! Dann müssen Sie es allerdings wissen, weil Sie sich da überzeugt haben werden. Also machen wir das kleine Geschäft ab. Sechs Procent -«

»Macht dreißig Gulden pro drei Monate.«

»Schön! Die gehen von den zweitausend ab. Gebe ich ihnen nur achtzehn Chilenen, nach dem Curse zu hundertzehn, so erhalte ich von ihnen zehn Gulden zurück.«

»Es stimmt.«

»Haben Sie nachgerechnet?«

»Ja. Hier ist der Wechsel. Danke!«

»Bitte! Sie werden natürlich die Chilenen sofort verkaufen wollen?«

»Ja. Ich ziehe denn doch das Baargeld vor.«

»Warten Sie lieber noch einige Tage. Sie werden ganz außerordentlich in die Höhe gehen.«

»Will es mir überlegen! Adieu, Herr Freimann!«

»Adieu!«

Kaum hatte der Schreiber hinter dem Lieutenant wieder zugeschlossen, so eilte er zu seinem Chef.

»Ist er draufgesprungen?« fragte er erwartungsvoll.

»Ja.«

»Gott sei Dank!«

»Hm! Dankt man Gott für das Gelingen eines solchen Streiches?«

»So sei meinetwegen dem Teufel Dank! Ich habe nun doch wenigstens Aussicht, mich wieder einmal satt essen zu können! Wieviel beträgt es?«

»Ich will ehrlich sein. Er hat mir für achtzehn Chilenen zweitausendundzehn Gulden gegeben, macht also für diesen Salomon Levi eigentlich einen Gewinn von vierzehnhundertsiebzig Gulden. Aber er bekommt sie nicht ganz. Wir verdienen dreihundert. Davon gebe ich Dir hundert. Bist Du damit zufrieden?«


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»Ja, vorausgesetzt, daß ich sie gleich erhalte.«

»Unsinn! Ich habe ja selbst kein Geld als nur die zehn Gulden, welche er mir herausgegeben hat. Aber ich werde sofort zu dem Juden gehen und mir meinen Lohn holen!« - -

Scharfenberg war fest überzeugt, ein sehr gutes Geschäft gemacht zu haben. Daß er von Freimann auch nur südamerikanische Papiere erhalten hatte, fiel ihm gar nicht auf; es war ihm gar nicht unlieb, denn er wußte, daß er sie zu jeder Stunde für hundertzehn losschlagen könne.

So kam er in sehr guter Laune nach Hause. Er fand den Freund vor, welcher sich bereits eingestellt hatte, da mittlerweile die Dämmerung hereingebrochen war.

»Schon wieder nach Hause oder erst wieder?« fragte dieser.

»Erst.«

»Dann warest Du sehr lange.«

»Solche Geschäfte brauchen Zeit.«

»Wenn sie nur gelingen.«

»Es ist gelungen.«

»Sage es deutlich und aufrichtig, Alter! Du hast Geld erhalten, wirklich Geld?«

»Ja.«

»Wieviel?«

»Es reicht zu.«

»Na, ich will nicht in diese zarten Geheimnisse dringen, aber - kannst Du mir für heute aushelfen?«

»Mit wieviel?«

»Dreihundert Gulden.«

»Sapperment! Der Mensch wächst mit seinen Bedürfnissen!«

»Wieso?«

»Sprachst Du nicht vorher von nur hundert Gulden?«

»Ja, mein Lieber! Es hat sich aber unterdessen herausgestellt, daß ich mit Hundert nicht ausreiche.«

»Na, da wollen wir Zweihundert sagen?«

»Bitte, bitte! Dreihundert! Du wirst doch Deinen besten Freund nicht im Stiche lassen!«

»Wenn Du denkst! Hier hast Du sie!«

Er zählte ihm die Summe ab und legte sie auf den Tisch. Der Andere betrachtete das Geld mit leuchtenden Augen, faßte den Lieutenant an beiden Armen und rief:

»Weiß Gott, er giebt mir dreihundert Gulden! Mensch, Scharfenberg, Du mußt reichlich eingeerntet haben!«

Das schmeichelte dem leichtsinnigen Lieutenant.

»Ja,« sagte er, »ich kann zufrieden sein.«

»So ist heute der Stern des Glückes an Deinem Himmel aufgegangen! Bruno, heute mußt Du spielen!«


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»Das werde ich ja auch.«

»Aber wie! Nicht aus der Westentasche! Sei aufrichtig! Wieviel hast Du?«

»Na, Du sollst es wissen. Zehntausend Gulden.«

»Zehn - zehn - heiliger Sebastian! Natürlich willst Du mich nur foppen!«

»Fällt mir nicht ein!«

»Also wirklich die Wahrheit? Auf Ehre?«

»Ja. Auf Ehre!«

»Es ist unglaublich; es ist wunderbar; es ist grandios!«

»Na, wenn es Dir gar so miraculös vorkommt, da sieh doch einmal her! Hier, fast drei Tausend in Cassenscheinen, und hier das Andere in famosen Papieren.«

»Was für Papiere?«

»Südamerika, Chile!«

»Verteufelt! Die sollen ja sehr hoch stehen!«

»Hundertzehn!«

»Glückspilz! Heute ist Dein Tag! Heute sucht Dich Fortuna mit tausend Augen. Heute mußt Du spielen! Heute mußt Du die Bank legen, Bruno!«

»Meinst Du wirklich?«

»Ja. Mit dem Glücke ist es gerade wie mit dem Teufel! Wenn es einmal leise lächelt, so beginnt es bald laut zu lachen.«

»Angelacht hat es mich; das ist wahr. Warte, ich werde mir den Spaß machen, diese Chilenen einzupacken und mit ihnen im Couvert zu bezahlen. Willst Du helfen?«

»Mache es selbst, lieber Bruno! Das Einpacken ist eine Arbeit, zu welcher ich nicht die mindeste Befähigung habe. Also man darf Dich heute im Casino erwarten?«

»Ja.«

»Gut! Ich weiß, daß ich bei Deinem heutigen Glück die dreihundert Gulden wieder an Dich verlieren werde; aber ich gönne sie Dir gern. Du bist ja eine alte, gute Seele!«

Draußen aber, als er das Haus verlassen hatte, brummte er vergnügt vor sich hin:

»Zehntausend Gulden! Dieser Schönlein, von dem er sie hat, muß geradezu übergeschnappt sein! Aber mir ist es lieb. Wir werden ihn an- und auszapfen! Er soll heute ohne Geld nach Hause gehen müssen, dafür stehe ich!« - -

Der Fürst von Befour hatte sich nach dem Bezirksgericht begeben, um dem Gerichtsrath mitzutheilen, daß Laura Werner sich nun in Freiheit befinde. Diese Angelegenheit war sehr bald erledigt, und der Fürst erhob sich, als ob er Abschied nehmen wolle; aber sein Gesicht hatte einen so pfiffig vielsagenden Ausdruck, daß der Beamte fragte:

»Durchlaucht haben noch Etwas auf dem Herzen?«


// 1527 //

»Ja, allerdings.«

»Darf ich erfahren, was es ist?«

»Ich glaube, Sie bereits zu lange belästigt zu haben.«

»Für Sie habe ich stets Zeit.«

»Schön! Es handelt sich abermals um die Entdeckung eines Verbrechens, Herr Gerichtsdirector.«

»Und Sie wollen es entdecken?«

»Habe schon!«

»Sapristi! Sie scheinen auf irgend eine bisher noch unaufgeklärte Weise allwissend geworden zu sein!«

»Ich wollte, es wäre so!«

»Nun, darf ich erfahren, welches Verbrechen Sie meinen?«

»Gewiß! Sie kennen wohl den Baron von Helfenstein?«

»Ja.«

»Vielleicht auch seine Frau?«

»Ja; eine ebenso schöne, wie kokette Dame. Sie soll übrigens früher Kammerzofe gewesen sein!«

»Das ist die Wahrheit. Sie wurde geisteskrank, wie man erfuhr.«

»Ja. Der Baron internirte sie in das Privatirreninstitut des bekannten Doctor Mars in Rollenburg, wo sie aber plötzlich auf unerklärliche Weise verschwunden sein soll.«

»Glauben Sie an dieses Verschwinden, Herr Gerichtsrath?«

»Hm! Man weiß da wirklich nicht, wie man zu denken hat.«

»Es könnte ja doch wahr sein!«

»Möglich! Aber eine in vollständige Lähmung verfallene Patientin entflieht nicht!«

»Also gelähmt war sie nur?« fragte der Fürst. »Ich hörte, sie sei wahnsinnig geworden.«

»Es war Geisteskrankheit. Infolge ihres Verschwindens war die Polizei natürlich gezwungen, sich mit diesem Falle zu beschäftigen. So hat man erfahren, daß sie sich nicht bewegen konnte. Es scheint also hier nicht eine freiwillige Flucht, sondern vielmehr ein Raub vorzuliegen.«

»Hat man keine Spur gefunden?«

»Nein, nicht die geringste.«

»Nun, ich will Ihnen im Vertrauen sagen, daß ich eine sehr deutliche Spur entdeckt habe.«

»Was Sie da sagen!«

»Die Wahrheit.«

»Und wohin führt die Spur?«

»Nach der Residenz.«

»Sie meinen, daß sie wirklich geraubt wurde?«

»Ja, ganz gewiß.«

Der Gerichtsrath stand von seinem Sitze auf, fuhr sich mit den Händen durch die Haare und sagte:


// 1528 //

»Das ist ein großartiger Fall, ebenso eclatant, ja, noch viel eclatanter, als der Rechtsfall 'Leda'. Sie scheinen die Absicht zu haben, eine polizeiliche Eruption, ein strafrechtliches Erdbeben hervorzurufen!«

»Sie sagen das scherzend; ich aber bemerke sehr im Ernste, daß dies allerdings meine Absicht ist.«

»Dann bitte, theilen Sie mir schnell Etwas über die Spur mit, welche gefunden worden ist! Wer hat sie entdeckt?«

»Ich selbst.«

»Ah! Wo?«

»In Rollenburg.«

»Wer soll der Schuldige sein?«

»Der Assistenzarzt.«

»Dieser Doctor Zander etwa?«

»Ja, derselbe.«

»Aber dieser junge Mann macht wirklich einen ganz entgegengesetzten Eindruck. Er hat sich bereits einen Namen erworben. Er wird sich doch nicht durch eine solche That unglücklich machen wollen!«

»Im Gegentheile, glücklich!«

»Wie? Was?«

»Glücklich, sage ich. Er hat es mit der Frau Baronin von Helfenstein nicht etwa bös, sondern vielmehr sehr gut gemeint«

»Das verstehe ich nicht.«

»Sie befand sich in großer Gefahr. Sie war nicht krank.«

»Nicht? Was denn?«

»Nur betäubt. Es gab Leute, welche ihren Tod wünschten. Sie sollte entweder geistig oder wirklich sterben. Der junge Arzt errieth dies; er machte kurzen Prozeß; er entführte die Kranke und brachte sie in Sicherheit.«

»Sie sehen mich starr und steif!«

»Soll ich nach diesem Arzt senden?«

»Etwa, daß er mich auch entführe. Aber, wer hat denn ihren Tod gewünscht? Wer hat sie betäubt?«

»Davon später. Jetzt kann ich solche Nebenfragen nicht beantworten. Ich habe keine Zeit dazu.«

»Nebenfragen! Erlauben Sie, Durchlaucht! Wer der Schuldige ist, das ist doch jedenfalls die Hauptfrage.«

»Möglich! Ich aber denke jetzt an noch ganz andere Verbrecher und Verbrechen. Haben Sie vielleicht einmal von dem Waldkönig gehört, Herr Gerichtsrath?«

»Von dem Wald- oder Pascherkönig? Wer hätte denn von dem nicht gehört, Durchlaucht?«

»Haben Sie sich von diesem Menschen vielleicht irgendeine Ansicht gebildet?«

»Aufrichtig gestanden, nein.«

»Ich dächte, dieser Mann wäre bedeutend genug, daß man Veranlassung hätte, über ihn nachzudenken.«


// 1529 //

»Ich erinnere, daß ich Vollzugsbeamter bin. Ich habe den Verbrecher zu verurtheilen, nicht aber zu fangen.«

»Das ist richtig! Aber ich meine doch, daß Sie sehr schnell zugreifen würden, wenn Sie Gelegenheit hätten, ihn zu fangen.«

»Natürlich! Habe ich doch die Leda und die Riesin auch mit ergriffen, aber diese Gelegenheit wird mir doch wohl nicht zu Theil werden. Ich komme nicht hinauf in das Gebirge und an die Grenze, wo der Pascherkönig sein Wesen treibt.«

»Pah! Er ist nicht da oben!«

»Nicht? Wo denn?«

»Hier in der Residenz.«

»Durchlaucht, Sie sind wahrhaftig allwissend!«

»O nein, ich habe nur offene Augen!«

»Kennen Sie ihn?«

»Ja.«

»Aber warum läuft er da noch frei herum?«

»Weil ich noch Beweise zu sammeln hatte. Ich will Ihnen aufrichtig sagen, daß ich wünsche, Sie mit in diese Angelegenheit zu verflechten, Herr Gerichtsrath.«

»Warum?«

»Darf ich aufrichtig sein?«

»Ich bitte sehr darum.«

»Ich möchte Ihnen die Gelegenheit geben, sich zu rehabilitiren.«

Der Beamte nickte leise vor sich hin.

»Ich verstehe Sie,« sagte er »Jene Laura Werner ist unter meinem Präsidium unschuldig verurtheilt worden. Ich muß mir Mühe geben, diese Scharte auszuwetzen. Ich habe bereits gesonnen und gesonnen, um eine Gelegenheit zu entdecken, leider aber vergebens.«

»Nun, die Gelegenheit ist da'«

»Meinen Sie etwa in Beziehung des Waldkönigs?«

»Ja.«

»Daß ich ihn aufspüren soll?«

»Ja.«

»Mein Gott, das wäre allerdings ein Glück, ein sehr großes Glück für mich, Durchlaucht!«

»Hm! Ich werde dieses Glück sogar noch vergrößern.«

»Wieso?«

»Indem ich Ihnen Gelegenheit gebe, einen noch viel, viel größeren Verbrecher zu entdecken und zu ergreifen.«

»Sie bringen mich in das größte Erstaunen! Wen meinen Sie?«

»Nun, wer ist ein noch größerer Verbrecher als der Waldkönig?«

»So kann nur der 'Hauptmann' gemeint sein!«

»Den meine ich allerdings.«

Da faßte der Gerichtsrath den Fürsten beim Arme und sagte:


// 1530 //

»Dann müßte ich ja erfahren, wo er sich befindet!«

»Natürlich!«

»Aber von wem denn?«

»Von mir.«

»Bei allen Göttern, Sie sind allwissend!«

Er schlug die Hände zusammen und maß den Fürsten mit dem Blicke des allergrößten Erstaunens.

»Nicht allwissend bin ich,« sagte der Fürst lächelnd. »Ich habe aber eine gute Divinationsgabe und die Gewohnheit, die Augen offenzuhalten.«

»Schön! Gut! Und das Ergebniß Ihrer Beobachtungen und Ihres Scharfsinnes wollen Sie mir preisgeben?«

»Warum nicht? Was nützt mir der Ruhm, einen Verbrecher dingfest gemacht zu haben? Ich bin nicht Beamter.«

»So soll ich die Früchte einheimsen?«

»Ja. Ich biete Ihnen sogar noch mehr.«

»Wirklich? Was noch?«

»Sie sollen Den entdecken, den hier noch Niemand kennt, obgleich er ebenso berühmt, wie der Hauptmann berüchtigt ist.«

»Meinen Sie etwa den Fürsten des Elendes?«

»Ja.«

Da klopfte der Gerichtsrath ihm auf die Schulter und sagte:

»Der ist bereits entdeckt, Durchlaucht!«

"Der ist bereits entdeckt, Durchlaucht!"

»Von wem?«

»Von mir.«

»Sie machen mich gespannt! Wer ist es?«

»Na, der Fürst des Elendes ist vor einiger Zeit droben an der Grenze gewesen. Haben Sie vielleicht davon gehört?«

»Ja.«

»Er hat sehr viel Gutes gethan und unter Anderem auch den Pascherkönig fangen wollen. Einen Fehler aber hat er doch begangen, und zwar einen sehr großen.«

»Welchen? Daß er den Waldkönig nicht gefangen hat?«

»Nein, sondern daß er sich legitimirt hat.«

»Ach so! Mit einer Polizeimedaille?«

»Das ginge noch. Aber er hat auch einige Male eine Karte vorgezeigt, welche die Unterschrift des Ministers trug.«

»Gerade so wie die meinige?«

»Gerade so.«

»Sapperlot! So kann ich in den Verdacht kommen, der Fürst des Elendes zu sein!«

»O, Sie kommen nicht in diesen Verdacht, sondern Sie stecken bereits bis über die Ohren d'rin!«

»Bitte, ziehen Sie mich heraus!«

»Fällt mir gar nicht ein. Uebrigens können Sie ja versichert sein, daß


// 1531 //

alle Diejenigen, welche von der Karte wissen, das tiefste Stillschweigen bewahren werden. Man ist wirklich im hohen Grade über Ihren polizeilichen Scharfsinn erstaunt gewesen. In Folge Ihrer Erlebnisse da droben im Gebirge wurden Sie von dem Landesobergensd'arm gelegentlich einmal der zweite Brandt genannt.«

»Brandt? Wer ist das?«

»Er war ein junger, außerordentlich hoffnungsvoller Polizeibeamter, der leider das Unglück hatte, selbst Verbrecher zu werden.«

»O weh! Und mit diesem Menschen vergleicht man mich!«

»Bitte! Brandt war trotz seiner Jugend ein höchst tüchtiger Polizist. Er hat während der kurzen Zeit seiner Amtsdauer sehr viel geleistet, so daß er bald in Aller Munde war. Und was sein Verbrechen betrifft, so - - -«

Er unterbrach sich und wurde ein Wenig verlegen.

»Bitte, weiter!« sagte der Fürst.

»Nun, es gab damals Leute, welche ihn für unschuldig hielten.«

»Wessen sollte er schuldig sein?«

»Des Mordes, sogar des zweifachen Mordes.«

»Wohl in der Aufregung?«

»Vielleicht. Er wurde zum Tode verurtheilt und verzichtete auf den Anruf der königlichen Gnade.«

»Das ist doch wohl ein Zeichen, daß er unschuldig war.«

»Hm! Warum entfloh er dann?«

»O weh! Er ist entflohen?«

»Ja.«

»Wohin?«

»Wer weiß es? Wenn man es wußte, würde man ihn ja sehr bald zurückgebracht haben. Ich interessire mich für diesen Fall noch heute im höchsten Grade.«

»Das läßt sich denken!«

Der Gerichtsrath warf schnell den Kopf empor und fragte:

»Wie? Das läßt sich denken und warum?«

»Sie waren damals noch jung im Amte und - -«

»Es ist aber zwanzig Jahre her!« fiel der Rath ein.

»Und hatten bei der Verhandlung, in welcher jener Brandt verurtheilt wurde, das Protokoll zu führen.«

»Wie! Das wissen Sie?«

»Ja.«

»Auch das! Durchlaucht, ich wiederhole nun zum zehnten Male, daß Sie wirklich, wirklich allwissend sind!«

»O, das ist ja nur Zufall.«

»Daran, nämlich an Zufall, möchte man bei Ihnen fast nicht glauben.«

»Glauben Sie es immerhin. Ich traf nämlich ganz zufällig kürzlich mit Brandt's Vater zusammen und - - -«

»Lebt denn der noch?« unterbrach ihn der Beamte.

»Sein Vater und seine Mutter, Beide leben noch. Der alte Mann


// 1532 //

erzählte mir von jener Geschichte. Dabei wurde Ihr Name als der des Protokollanten genannt; ich erkundigte mich weiter, und so erfuhr ich, daß der Protokollführer inzwischen Gerichtsrath und Director des Bezirksgerichts geworden sei.«

»Das ist allerdings Zufall.«

»Da ich mich nun für den Fall 'Brandt', wie der Polizist und Jurist sich auszudrücken pflegt, zu interessiren begann, so war es natürlich, daß ich auch an Sie dachte. Und so war es mir recht lieb, daß der Fall 'Leda' mich mit Ihnen zusammenführte.«

»Sehr verbunden,« sagte der Gerichtsrath, indem er sich verneigte. »Aber bitte, wo trafen Sie den alten Brandt?«

»Hier in der Residenz.«

»Lebt er vielleicht hier?«

»Ja, er ist pensionirt worden.«

»Können Sie mir seine Wohnung angeben?«

»Sehr genau: Siegesstraße Nummer Zehn. Wollen Sie vielleicht mit dem alten Manne sprechen?«

»Ja. Ich will Ihnen sehr aufrichtig gestehen, daß ich nie so recht an die Schuld seines Sohnes geglaubt habe.«

»Hatten Sie Ursache dazu?«

»Directe nicht. Aber ein Polizist, wie er, mordet nicht. Er trat auch nicht auf wie Einer, der sich einer so fürchterlichen Schuld bewußt ist, und gerade die Zeugen, deren Aussagen für ihn verderblich wurden, machten auf mich einen Eindruck, den ich keinen guten nennen kann.«

»Wer waren die Zeugen?«

»Die Hauptzeugen waren der Baron Franz von Helfenstein und eben jene Zofe Ella, welche später die Frau des Ersteren wurde. Dieser Umstand hat mir immer viel zu denken gegeben.«

»Wieso?«

»Es hatte fast den Anschein, als habe er sie nur aus erzwungener Dankbarkeit geheirathet. Uebrigens stand die Sache so, daß - - na, das würde denn doch vielleicht zu kühn gesagt sein.«

»O bitte, sprechen Sie weiter! Wir sind ja allein.«

»Gut! Brandt klagte nämlich den Baron des Mordes an, dessen er überführt wurde. Beide waren gegeneinander, und später wurde es mir völlig klar, daß Derjenige von ihnen, auf den die Anklage zuerst fiel, auch schuldig sein mußte. Uebrigens schienen gegen Brandt die Umstände sich geradezu verschworen zu haben. Ich muß wirklich seinen Vater einmal aufsuchen, um einen jetzt unbeeinflußten Blick in die Vergangenheit zu thun.«

»Hm! Es müßte Ihnen unlieb sein, zu erfahren, daß Brandt unschuldig gewesen ist!«

»Warum das?«

»Weil Sie auch zu seinen Richtern gehörten.«

»Ja, Sie haben Recht. Doch kann ich mich beruhigen. Wir haben die


// 1533 //

Schuldfrage gestellt und sie wurde mit Ja beantwortet. Ich hatte nur das Protokoll zu führen, bin also eigentlich am Richteramte selbst nicht betheiligt gewesen. Ich möchte wissen, ob er noch lebt.«

»Vielleicht.«

»Ah! Haben Sie ein begründete Vermuthung?«

»Vermuthung? Nein. Er war nicht alt; zwanzig Jahre sind unterdessen vergangen; da kann er noch recht gut leben. Erinnern Sie sich nicht einer anderen Zeugin, deren Aussage eigentlich für ihn am Verderblichsten wurde?«

»Sie meinen die Baronesse Alma von Helfenstein?«

»Ja.«

»Sehr gut erinnere ich mich ihrer. Sie zeugte gegen ihn, obgleich ihr darob das Herz brechen wollte. Sie bringen mich da auf einen Gedanken. Könnte ich mit ihr sprechen, so wäre es vielleicht möglich, einen Punkt zu finden, auf welchem Fuß zu fassen ist.«

»Warum sollen Sie nicht mit ihr sprechen können?«

»Ich habe mir sagen lassen, daß sie sehr eingezogen lebt und fast unnahbar ist. Sie tragt noch heute das Trauerkleid, welches sie damals angelegt hat.«

»Soll ich vielleicht Ihre Bekanntschaft vermitteln?«

»Durchlaucht kennen die Baronesse?«

»Ja.«

»Dann gestehe ich, daß es mir außerordentlich lieb sein würde, ihr vorgestellt zu werden.«

»Wann, Herr Gerichtsrath?«

»Nun, baldigst.«

»Vielleicht heute schon?«

»Das würde sich doch wohl nicht leicht machen lassen.«

»Sehr leicht sogar. Wollen Sie die Güte haben, mich am Abende, vielleicht acht Uhr, zu besuchen?«

»Sie haben die Absicht, mich zur Baronesse zu führen?«

»Nein. Diese Dame wird bei mir speisen.«

»Schön, sehr schön. Ich nehme Ihre Einladung mit herzlicher Dankbarkeit an. Darf ich mich vielleicht erkundigen, ob noch andere Herrschaften anwesend sein werden?«

»Ja. Nämlich erstens der Arzt, von dem wir vorhin sprachen.«

»Von dem Sie sagen, daß er die Baronin von Helfenstein geraubt habe?«

»Natürlich!«

»Wollen Sie mich, den Gerichtsrath, mit einem Manne zusammenbringen, welcher in dieser Weise gegen einen hervorragenden Paragraphen des Strafgesetzes gesündigt hat!«

»Keine Sorge! Ich weiß, was ich thue. Ich will Ihnen zu Ihrer Beruhigung gestehen, daß er nur mitschuldig ist. Der eigentliche Thäter aber bin - - ich.«

Der Gerichtsrath fuhr, fast erschrocken, zurück.


// 1534 //

»Sie? Sie?« fragte er.

»Ja. Meine Gründe werden Sie heute Abend erfahren. Also weiter. Sie werden ferner außer der Baronesse bei mir finden die Eltern Brandt's und den Herrn Assessor von Schubert.«

»Auch der ist geladen!«

»Noch nicht. Aber ich bitte, ihn zu benachrichtigen, daß ich mich freuen würde, ihn mit Ihnen kommen zu sehen. Er soll nämlich mit Ihnen einen großen Verbrecher entdecken.«

»Welchen Verbrecher?«

»Den Mörder des Barons Otto von Helfenstein und des Hauptmanns von Hellenbach.«

Der Gerichtsrath fuhr abermals vor Ueberraschung zurück, so daß er jetzt an die Wand stieß.

»Sie sagen ja Unglaubliches!« stieß er hervor.

»Ich rede nur die Wahrheit.«

»Aber diese Wahrheit grenzt an das Wunderbare!«

»Bleibt aber trotzdem Wirklichkeit!«

»Wen soll ich denn da Alles entdecken!«

»Alle, die ich genannt habe.«

»Also den Pascherkönig, den Hauptmann, den Thäter eines Mordes, welcher vor einundzwanzig Jahren begangen wurde - - unglaublich, unglaublich!«

»Bitte, behalten wir unsere Fassung! Sie wollten wissen, wen Sie heute bei mir sehen werden. Sie werden endlich noch Alle sehen, welche damals bei Brandt's Verurtheilung in irgendeiner amtlichen Weise thätig waren.«

Jetzt öffnete der Gerichtsrath wirklich den Mund, so erstaunt, ja fast bestürzt war er.

»In Wirklichkeit?« fragte er.

»Ja, natürlich.«

»Aber, Durchlaucht, ich darf doch sagen, daß eine solche Zusammenkunft, eine so ungewöhnliche, außerordentliche Veranstaltung auf ganz eigenthümliche und ebenso gewisse Gründe und Absichten schließen läßt.«

»Allerdings, Herr Gerichtsrath.«

»Bitte, bitte, nennen Sie mir diese Absichten!«

»Ich habe Ihnen bereits eine, die einzige genannt: Wir wollen uns ein wenig über jene früheren Zeiten unterhalten.«

»Nein, das ist es nicht. Unterhalten? Das ist zu allgemein. Sie haben etwas Besonderes, Bestimmteres vor.«

»Ich will Ihnen den Gefallen thun, dies einzugestehen. Uebrigens aber ersuche ich Sie, Geduld zu haben.«

»Noch eins: Wissen die erwähnten Herren, daß sie wegen Brandt zu Ihnen kommen sollen?«

»Nein?«


// 1535 //

»Weiß Einer von dem Anderen, daß sie sich bei Ihnen treffen werden, Durchlaucht?«

»Auch nicht. Also kommen Sie um acht Uhr und bringen Sie den Herrn Assessor von Schubert mit.«

»Ich werde bis dahin keine Ruhe haben. Das will ich Ihnen aufrichtig gestehen.«

Der Fürst ging. Er nahm eine Droschke und ließ sich nach der Wohnung Alma's von Helfenstein fahren. Im Vorzimmer fand er Magda Weber, welche ja seit ihrer Errettung aus dem Hause der Melitta in Rollenburg im Dienste der Baronesse stand. Sie theilte ihm mit, daß ihre Herrin zum Oberst von Hellenbach auf Besuch gefahren sei. In Folge dessen blieb ihm nichts übrig, als sich ebenfalls dorthin zu begeben.

Er fand nur Familienzirkel vor und wurde mit herzlicher Freude empfangen. Die bleichen Wangen der Baronesse Alma rötheten sich, als sie ihn erblickte. Der Oberst streckte ihm in seiner biederen Weise die Hand entgegen und sagte:

Der Oberst reichte dem Fürsten die Hand.

»Willkommen, Durchlaucht! Wissen Sie, daß wir Ihretwegen uns in großer Sorge befunden haben?«

»Das thut mir leid, wirklich leid!«

»Und doch sind Sie selbst schuld daran. Sie lassen sich nicht sehen und wenn nicht Herr Bertram zuweilen käme, um uns zu sagen, daß Sie noch leben, so hätten wir längst denken müssen, daß Sie zu Ihren Vätern versammelt worden seien.«

»Dann verzeihen Sie! Also Robert kommt oft, wie ich jetzt höre, Herr Oberst?«

»Ja. Seit neuerer Zeit hat er begonnen, mit unserer Fanny zu musiciren. Dieser junge Mann ist von der Natur sehr reich ausgestattet. Immer neue Talente entdeckt man an ihm. Jetzt singt er wie ein Kammervirtuos. Darf ich Durchlaucht vielleicht einladen, mit uns zu soupiren?«

»Ich danke! Für die Zeit des Soupers bin ich beschäftigt.«

»Ah, pah! Fräulein von Helfenstein hat auch zugesagt.«

»Und doch komme ich nur in der Absicht, gerade diese Dame Ihnen zu entführen.«

»O weh! Ich hoffe, daß sie sich nicht entführen läßt!«

»Und ich hoffe das grade Gegentheil. Gnädige Baronesse, darf ich annehmen, daß meine Bitte Erhörung findet?«

Diese Frage war an Alma gerichtet. Ihr Auge richtete sich forschend auf ihn und sie fragte:

»Vielleicht darf ich vorher erfahren, wohin ich eigentlich entführt werden soll.«

»Zu mir.«

Diese Antwort brachte Aufsehen hervor. Noch Niemand war bei dem Fürsten gewesen, von dessen glanzvoller Einrichtung man sich so Außerordentliches erzählte.

»Zu Ihnen selbst?« sagte der Oberst. »Ah, Fräulein von Helfenstein,


// 1536 //

da dürfen wir Sie freilich nicht zurückhalten. Sie haben Kunstgenüsse zu erwarten, um welche wir Alle Sie sehr, sehr beneiden.«

Der Fürst schüttelte sehr ernst den Kopf und bemerkte:

»Von Genüssen wird wohl kaum die Rede sein. Es handelt sich vielmehr um etwas sehr -«

Er hielt inne, blickte nachdenklich im Kreise umher und fuhr dann fort:

»Da kommt mir allerdings ein Gedanke. Wollen Sie uns vielleicht begleiten, Herr von Hellenbach?«

»Ich, ich?« fragte dieser erstaunt.

»Ja.«

»Sapperlot! Was soll denn Saul unter den Propheten? Haben Sie etwa Empfangsabend?«

»Ja.«

»Nun, so laden Sie lieber meine Frau und Tochter ein. Diese Beiden passen besser zu Fräulein von Helfenstein als ich.«

»Für heute doch nicht. Es handelt sich um ein Thema, welches so ernst ist, daß ich die Damen nicht mit demselben beschäftigen darf.«

»Aber Fräulein Alma ist doch auch eine Dame!«

»Das Thema steht in inniger Beziehung zu ihrer Person.«

»Vielleicht auch zu meiner Person, da Sie mich einladen?«

»Ja.«

»Schön, schön! Darf ich denn nicht wenigstens um eine kleine Andeutung bitten, wie dieses Thema lautet?«

»Ja. Dieses Thema lautet: Ihr Bruder.«

Der Oberst sprang auf und fragte ganz erstaunt:

»Mein Bruder?«

»Ja.«

»Der ist doch todt!«

»Allerdings. Gerade mit seinem Tode wollen wir uns beschäftigen.«

»Durchlaucht! Was sagen Sie? Was wissen Sie von ihm?«

»Sie werden es heute Abend hören.«

»Wissen Sie vielleicht - oh, Verzeihung, Fräulein Alma! Ich weiß ganz wohl, wie außerordentlich peinlich Ihnen diese Sache ist, aber Durchlaucht haben sie erwähnt und so ist das Unglück einmal geschehen!«

Auch Alma hatte eine Bewegung des Erstaunens nicht zu unterdrücken vermocht. Ihr schönes, engelgleiches Angesicht war um einen Ton bleicher geworden, aber ihre Stimme klang ruhig, als sie jetzt antwortete:

»Es ist wahr, daß ich von jenen Tagen nicht gern sprechen höre, aber Durchlaucht haben ein- für allemal Erlaubniß, mich an jene Ereignisse zu erinnern.«

»Ach so! Das ist mir neu. Durchlaucht interessiren sich also für jene unglücklichen Geschehnisse?«

»Ja,« antwortete der Fürst. »Ich will Ihnen aufrichtig gestehen, daß ich Brandt für unschuldig halte -«


Ende der vierundsechzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der verlorne Sohn

Karl May – Forschung und Werk