Lieferung 59

Karl May

10. Oktober 1885

Der verlorne Sohn
oder
Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.


// 1393 //

»Sie sprechen von Mühe, von Anstrengung? Ich unterziehe mich jeder derselben.«

»Machen Sie sich auf besondere Anstrengungen gefaßt.«

»Welche sind es?«

»Zuvörderst strengste Verschwiegenheit.«

»Was sonst noch? Ich bin zu Allem bereit.«

»Ich hoffe das und will Ihnen die weiteren Schwierigkeiten, welche ich meine, bezeichnen. Zunächst werden Sie einsehen, daß Ihr Umgang mit meiner Bevollmächtigerin wenigstens in der ersten Zeit kein öffentlicher sein kann.«

»Das gebe ich unumwunden zu.«

»Die Zusammenkünfte müssen also heimlich geschehen.«

»Ich stimme bei.«

»Sodann hat eine Dame von so außerordentlicher Distinction viel andere Anschauungen als ein gewöhnlicheres Wesen.«

»Davon bin ich vollständig überzeugt.«

»Es wird unbedingte Hingabe in ihre Wünsche verlangt.«

»Versteht sich ganz von selbst.«

»Auch wenn diese Wünsche zuweilen besser Launen genannt werden sollten?«

»Ja. Eine solche Dame, zumal sie Künstlerin ist, ist ja innerlich ganz anders als andere Sterbliche.«

»Dieses Wort enthält eine Wahrheit, deren Befolgung Ihnen großen Segen bringen kann. Also, im Großen und Allgemeinen sind wir wohl einig, und dürfen wir den besten Erfolg erwarten.«

Er reichte ihr die Hand. Sie schlug ein, als ob sie eine Obsthändlerin sei, die einen Äpfelhandel abzuschließen hat. Er nickte ihr befriedigt zu und meinte dann:

»Wann dürften da wohl die Sitzungen beginnen?«

»Sobald es gewünscht wird.«

»Wenn ich nun sagte, heute Abend?«

»Ich bin bereit.«

»Schön! Doch eine sehr nothwendige Bemerkung: Wenn die betreffende Dame äußerst verschwiegen sein muß, so versteht es sich von selbst, daß auch Sie in demselben Grade Discretion üben.«

»Natürlich.«

»Auch Ihrem Herrn Gemahl gegenüber!«

»Auch er soll nichts wissen?«

»Er gar nichts! Er ist Chef der Claque! Verstehen Sie mich vollkommen, gnädige Frau!«

»Wohl! Auch er soll nichts erfahren.«

»Wird das möglich sein?«

»Gewiß! Unser Familienleben ist kein so inniges, daß er Alles wissen muß.«

»Aber wenn er Ihre Abwesenheit bemerkt?«

»So werde ich eine genügende Erklärung finden.«


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»Auch für heute?«

»Ja. Grad heute ist er sehr beschäftigt und hat mir bereits gestern mitgetheilt, daß er selbst nach der Vorstellung noch nicht im Besitze seiner Zeit sei. Ich stehe also zur Verfügung, und bitte, die Zeit zu bestimmen, wie es Ihnen, oder vielmehr der Dame beliebt.«

»Die Prinz - - die betreffende Dame kann Sie natürlich nicht in ihren Gemächern empfangen.«

»Ich sehe das ein.«

»Sie muß vielmehr, um Sie treffen zu können, ihre Wohnung verlassen.«

»Ist bereits ein Ort bestimmt?«

»Ja. Man hat im Bellevue ein Zimmer belegt.«

»Ah! In einem öffentlichen Hause!«

»Grad da ist man am Sichersten.«

»Mag sein. Ich verstehe das nicht und verlasse mich auf Sie.«

»Das können Sie getrost, da man mir auch von der anderen Seite her das beste Vertrauen schenkt.«

»Aber man wird uns dort erkennen.«

»Nein. Sie werden Halbmaske tragen.«

»Hm! Ist das nicht erst recht auffällig?«

»Nein. Der Wirth ist in's Vertrauen gezogen und von der Minute Ihrer Ankunft unterrichtet. Er sorgt dafür, daß Ihnen beim Eintritte kein Mensch begegnet.«

»Gut! Also bitte, die Zeit!«

»Sie sehen ein, daß die Dame sich zu früher Stunde nicht entfernen kann?«

»Gewiß.«

»Sie muß warten, bis die Corridore und Treppen passirbar sind, und das ist erst gegen zwölf Uhr der Fall.«

»Allerdings sehr spät!«

»Es geht nicht anders. Ueberdies handelt es sich ja nur um die ersten Male; später wird sich ein bequemeres Arrangement treffen lassen. Vielleicht läßt meine hohe Auftraggeberin sich bereit finden, Sie hier in Ihrer Wohnung aufzusuchen.«

»Das wäre allerdings das Beste; das würde herrlich sein.«

»Und bequemer auch für mich. Für heute habe ich Auftrag, Sie halb zwölf Uhr abzuholen. Halten Sie sich bereit Ich werde im Vorüberfahren mit der Peitsche klatschen. An der Straßenecke steigen Sie dann ein.«

»Sie selbst fahren?«

»Ja. Man will keinen Kutscher in's Vertrauen ziehen; darum wird man sich auch eines Privatfuhrwerks bedienen.«

»Das ist ja ein förmlicher Roman, ein schönes Märchen, in welchem Cavaliere und Prinzessinnen vorkommen!«

»Und eine ostindische Königin, gnädige Frau!«


// 1395 //

»Freilich!« lachte sie. »Aber bitte, würden Sie mir nicht vielleicht einen Fingerzeig in Beziehung auf meine Toilette angeben?«

»Natürlich! Das ist ja die Hauptsache.«

»Muß ich in Seide gehen?«

»O nein! Das ist nun eben das Interessanteste, das Romantischeste. Sie werden nicht als Dame gehen.«

»Nicht? Wie denn?«

»Als Herr.«

»Aber aus welchem Grunde?«

»Es giebt zwei Gründe. Erstens muß die Dame darauf sehen, daß Sie auf keinen Fall erkannt werden, und da ist Herrengarderobe am Besten geeignet. Und zweitens - ah, kennen Sie Kleopatra's Leben genauer?«

»Bis in alle Einzelnheiten nicht.«

Holm war überzeugt, daß sie gar nichts wußte. Er sagte:

»Das projectirte Bild soll nämlich diese Königin darstellen, als sie, als Sultan verkleidet, dem Großvezier den Kopf abschlug.«

»Wie Judith! Ein prächtiger Gedanke.«

»Sie müssen sich als Sultan prächtig ausnehmen. Messer und Pistolen im Gürtel und den krummen Säbel in der Faust.«

»Meinen Sie?«

»Ja. Willigen Sie ein?«

»Gewiß.«

»Nun handelt es sich nur um den Anzug.«

»Erlauben Sie, daß ich ihn mir selbst besorge?«

»Wird Ihnen das nicht zu schwierig werden?«

»O nein. Ich gehe selbst zum Maskenverleiher.«

»Aber er darf nicht wissen, daß das Kostüm für Sie ist.«

»Nein. Und wie wünscht die betreffende Dame meine Anrede?«

»Ganz nach Belieben. Sie werden ja unter vier Augen sein, und wenn Sie sich demaskirt haben, so findet sich Alles ganz von selbst. Sind Sie nun gehörig informirt?«

»Vollständig.«

»Dann erlauben Sie, daß ich mich verabschiede.«

»Wir sehen uns am Abend wieder. Vielleicht ist es mir später möglich, Ihnen die Ehre zu erweisen, auf welche Sie gerechten Anspruch haben.«

»Ja, mein Name wird Ihnen allerdings nicht lange unbekannt bleiben, gnädige Frau. Also bitte, pünktlich zu sein, damit ich nicht zu warten brauche.«

»So leben Sie wohl!«

Er küßte ihr höflich die Hand und entfernte sich.

Kaum waren seine Schritte verklungen, so klingelte sie dem Mädchen. Als dieses eintrat, ging ihre Gebieterin im Sturmschritte im Zimmer umher.

»Anna,« sagte sie, »hast Du diesen Herrn schon bereits einmal gesehen?«

»Er kommt mir bekannt vor.«

»Dummkopf! Bekannt! Er ist ein Graf.«


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»Herr Jesus! Und ich habe ihn so angeschnauzt!«

»Das wirst Du in Zukunft unterlassen, dummes Ding. Es ist überhaupt ein Geheimniß, daß er bei mir gewesen ist.«

»Auch für den gnädigen Herrn?«

»Kein Wort darf er erfahren! Ist er noch zu Hause?«

»Ich denke, ja.«

»Melde mich an!«

Sie folgte dem Mädchen in Kurzem nach. Ihr Mann stand am Fenster und beobachtete die Passanten.

»Léon!« sagte sie.

Er drehte sich langsam und verdrießlich um.

»Was?« fragte er.

»Kennst Du die Kleopatra?«

»Nein.«

»Mein Gott! Die Kleopatra nicht zu kennen!«

»Kennst Du sie denn?«

»Natürlich!«

»Hast Du sie gesehen?«

»Nein.«

»Mit ihr gesprochen?«

»Nein.«

»Also kennst Du sie nicht. Sie ist ja längst todt!«

»Wie dumm! Ich kenne sie trotzdem.«

»Hm! Wirklich? Wie kommst Du auf die Kleopatra?«

Sie überhörte absichtlich diese letztere Frage und sagte:

»Sie war Königin von Ostindien.«

»Unsinn!«

»Was denn?«

»Königin von Ägypten.«

»Unsinn! Sie besiegte den Kalifen!«

»Nein. Sie besiegte mit ihrer Schönheit erst Cäsar und dann auch den Antonius.«

»Ah! Was Du nicht Alles weißt! Ich aber habe die Beweise in den Händen. Hast Du einmal ihr Bild gesehen?«

»Einige Male.«

»So sieh mich einmal an!«

Er fixirte sie mit erstaunten Blicken.

»Warum?«

»Findest Du nichts?«

»Was soll ich denn finden?«

»Eine ungemeine Ähnlichkeit zwischen mir und Kleopatra.«

Da fiel er in ein lautes Lachen und rief aus:

»Bist Du etwa toll geworden! Du und Kleopatra!«

»Nicht?«


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»Wie Tag und Nacht!«

»Welch ein Geschmack! Ich weiß, daß Du meine Vorzüge niemals anerkennst. Aber ich bin dieser Königin von Ostindien ähnlich. Ich habe den Beweis in den Händen!«

»Weib, Du bist ja ganz und gar umgewechselt!«

»Das wird noch ganz anders werden!«

»Alle Teufel! Sie ist verrückt, wirklich verrückt!«

»Schweig! Beleidige mich nicht! Denke an die Kleopatra, wie sie, mit Messer und Pistolen im Gürtel und das krumme Schwert in der Faust, dem Großvezier den Kopf abschlug!«

Sie strich mit der Faust durch die Luft, als hätte sie einen Kopf vor sich, den sie absäbeln müsse. Herr Léon Staudigel trat auf sie zu und fragte sie:

»Frau, bist Du etwa - betrunken?«

Da richtete sie sich hoheitsvoll empor, warf ihm einen vernichtenden Blick zu und antwortete.

»Du, Du wirst betrunken sein, vor Freude betrunken darüber, daß Du so eine Frau hast!«

»Welche Reden! Sie hat den Sonnenstich im Winter. Sie bekommt den Hirnschlag.«

»Schwachkopf!«

Dieses Wort donnerte sie ihm noch entgegen, dann verließ sie das Zimmer. Er aber blickte noch lange Zeit kopfschüttelnd nach der Thür, hinter welcher sie verschwunden war, und konnte sich das Räthsel nicht erklären. -

Max Holm war nachdem zu dem Theaterdiener Werner gegangen, um ihn für heut Abend zu instruiren. Dann begab er sich nach Hause. Der Vater saß, wie gewöhnlich, schlafend in seinem Stuhle; aber die Schlafstubenthür stand offen, jedenfalls damit aus der geheizten Wohnstube ein wenig Wärme hinausdringen möge. Und als Max, seine Schwester da draußen vermuthend, hinaustrat, fand er zwar diese Letztere, aber zu gleicher Zeit auch - die Amerikanerin. Sie hatten eine Menge Stoff und Zeug vor sich liegen und schienen sich dabei in sehr angeregter Unterhaltung zu befinden.

»Entschuldigung!« bat er, indem er zurücktreten wollte.

Ellen Starton aber nickte ihm freundlich zu und sagte:

»Warum fliehen Sie uns? Papa schläft. Man darf ihn nicht wecken. Bitte, treten Sie doch näher!«

Jetzt konnte er nicht anders. Er mußte gehorchen. Sie gab ihm das schöne Händchen und fragte:

»Nicht wahr, so muß man sich in Deutschland begrüßen?«

»Nur unter Bekannten!« stotterte er.

»Ach? Und wir kennen uns nicht?«

Was sollte er sagen? Einer gewöhnlichen, nichtssagenden Antwort schämte er sich, und vielsagend zu sein, das erlaubte er sich nicht. Er schwieg. Die Amerikanerin drohte ihm mit dem Finger und wendete sich wieder der Schwester


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zu. Er trat an die Kommode und blätterte, um doch Etwas zu thun, in den dort liegenden Noten herum. Vielleicht wäre eine peinliche Pause entstanden, wenn Ellen nicht gar so viel über die Arbeit zu fragen und zu sagen gehabt hätte. Aber Hilda war zartfühlend genug, nach einem Vorwande, sich zu entfernen, zu suchen. Und sucht ein weibliches Wesen nach einem Vorwande, so läßt er sich sicher finden.

Als die Beiden sich allein befanden, stützte Ellen die beiden Hände auf den Tisch und richtete sich in eine entschlossene Haltung empor.

»Herr Holmers!« bat sie.

Er wendete sich mit fragendem Blicke ihr zu.

»Ich möchte meine vorige Frage wiederholen,« fuhr sie fort. »Kennen wir uns, oder nicht?«

Sie hielt den Blick ihres wunderschönen Auges fest, aber warm auf ihn gerichtet. Sie stand da vor ihm in all ihrer jugendlichen Pracht und Herrlichkeit. Es umstrahlte sie der Glanz einer engelhaften Reinheit. Er hätte vor ihr niederfallen mögen, um sie anzubeten, er, der arme Musikus, sie die Millionärin! Nein! Sie durfte nicht merken, daß er sie mit tausend Herzen und abertausend Leben liebte.

»Ja, wir haben uns gesehen,« antwortete er höflich, aber doch mit fühlbarer Kälte.

»Gesehen haben wir uns,« nickte sie in düsterem Ernste. »Weiter nichts, Herr Holmers?«

»Was sonst?«

»Ich habe Sie nicht nur gesehen, sondern ich habe Sie auch gehört. Kennen Sie den Klang Ihrer Violine? Kennen Sie die Macht Ihrer brillanten Phantasieen? Pah, Sie mögen recht haben, wir haben uns gesehen.«

Ihre Worte schnitten ihm tief in die Seele ein. Aber er suchte nach einem Grunde, stark zu bleiben, und er fand ihn. Er sagte:

»Ich habe Sie gesehen, nur gesehen, nie aber gehört.«

Sie war ihm ja so unnahbar gewesen. Er hatte nie ein Wort mit ihr sprechen können.

Ihre Brauen zogen sich ein wenig empor. Sie schüttelte den Kopf, als ob sie ihn nicht verstehe.

»Nur gesehen haben Sie mich?« fragte sie.

»Leider!«

»Nun wohl! Tausende haben mir gesagt, daß sie mich nicht blos gesehen haben. Ist meine Kunst nur eine Kunst für das Auge? Kann die Kunst überhaupt nur für einen besonderen Sinn vorhanden sein? Hat sie nicht ihre tiefsten Wurzeln in der Seele, im Gemüthe, und reift sie nicht ihre besten Früchte eben auch wieder für das Herz, für das Gemüth? Sie haben mich nur gesehen. Sie haben mich nicht verstanden. Sie waren mir der von Gott begnadete Künstler, und ich war für Sie die - Ballettänzerin.«

»Miß Ellen!«

»O bitte!«


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»Nein, lassen Sie mich sprechen! Ich hörte, daß Sie nicht tanzen um des schnöden Gewinnes willen. Man sagte mir, Sie tanzten, getrieben von der Götterkraft des Genies. Und nun -«

»Was?«

»Nun treten Sie doch für Geld auf!«

»Wer sagt Ihnen das?«

»Würden Sie sonst hier auf dem Continente erscheinen?«

Sie senkte die Wimper. Ihre Wangen waren bleich geworden. Und als sie das Auge wieder erhob, glänzte es in feuchtem Schimmer.

»Wollen Sie mich deshalb verurtheilen?« fragte sie. »Weshalb geigten Sie? Weshalb kamen Sie nach den Vereinigten Staaten? Nicht um Geld zu verdienen, viel Geld? Warum üben Sie auch jetzt wieder Tag und Nacht? Etwa nicht um des Mammons willen?«

»Ich bin arm, bitter arm; das sehen Sie!«

Er deutete dabei auf die ärmliche Ausstattung des kleinen Kämmerchens.

»Und mich halten Sie für reich?«

»Man sagte mir so. Hatte man vielleicht nicht recht?«

»Man hatte recht. Ich besaß Millionen. Aber was ist dieser Besitz werth? Macht er das Herz glücklich?«

Sie schwieg eine kleine Weile-, dann fuhr sie fort:

»Ich habe da drüben jenseits des Oceans viel, viel besessen. Es ging mir Alles verloren, Alles. Nun bin ich arm, ärmer als Sie, das können Sie mir glauben.«

»Und dennoch tragen Sie Brillanten!«

Er deutete dabei nach ihren Ringen und Armbändern, an denen kostbare Diamanten funkelten. Sie zuckte die Achsel und schwieg.

»Warum treten Sie mit dieser Leda in die Schranken, Miß Ellen?« fragte er.

»Thue ich das?« warf sie ein.

»Dieses Weib ist nicht werth, Sie auch nur anzublicken, und doch ringen Sie mit ihr um die Anstellung an dem zweiten Theater dieser deutschen Stadt!«

Ein abermaliges Achselzucken war ihre einzige Antwort.

»Ich möchte diese Concurrenz zur Hölle wünschen,« knirschte er. »Man weiß ja im Voraus, daß Sie besiegt werden.«

»Wirklich?« fragte sie lächelnd. Und sich hoch und stolz emporrichtend, fügte sie hinzu: »Mich besiegt man nicht!«

»Die Leda hat das Anstellungsdecret so gut wie in der Hand. Ich weiß es.«

»Und das nennen Sie eine Niederlage für mich?«

»Doch jedenfalls.«

»Das ist wieder ein Beweis, daß Sie mich nicht verstehen. Ah, da kommt Ihre Schwester.«

Hilda's Eintreten machte dem unerquicklichen Gespräche ein Ende. Die


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Amerikanerin gab sich keine Mühe, ihre Anwesenheit besonders zu verlängern. Als sie sich dann verabschiedete, reichte sie ihm die Hand mit den Worten:

»Vergessen Sie nie, was ich Ihnen sagte: Ich bin arm, sehr arm, viel, viel ärmer als Sie!«

Als sie die dunkle Treppe hinabstieg, kam ihr der Hausverwalter entgegen. Sie passirten an einander vorüber. Dann blieb er murmelnd stehen:

»Wer war das? Eine vornehme Dame. Aber es klang ja ganz so, als ob sie weine, als ob sie ein Schluchzen unterdrücke! Ich muß mich verhört haben!«

Unten zog sie den dichten Schleier vor das Gesicht. So konnte man das letztere nicht deutlich erkennen.

Später trat sie in den Laden des bekanntesten und reichsten Juweliers. Sie trug selbst auf der Bühne stets nur echten Schmuck und hatte ihm einiges Geschmeide anvertraut, um eine oder mehrere kleine Änderungen daran vornehmen zu lassen.

Er befand sich mit einem ältlichen Herrn im Gespräch, bei welchem er sich durch eine tiefe Verbeugung entschuldigte, um sie bedienen zu dürfen. Dieser Herr betrachtete die Kostbarkeiten des Ladens, hörte aber dabei aufmerksam dem Gespräche zu, welches sie mit dem Juwelier führte.

Dieser glaubte, seine Kenntnisse zeigen zu müssen, indem er den Werth ihres Schmuckes taxirte. Der ältliche Herr trat hinzu und fragte:

»Wie sagen Sie? Ein Bracelet im Werthe von über sechzigtausend Gulden? Bitte, darf ich es mir anschauen, Fräulein?«

Ellen streifte das Armband ab und gab es ihm in die Hand. Der Juwelier öffnete bereits den Mund zu einer Bemerkung, welche er für nothwendig hielt, aber der Herr gab ihm einen von Ellen unbemerkten Wink.

»Herrlich!« sagte er. »Wirklich entzückend! Wo ist dieser Schmuck gefertigt worden?«

»In St. Louis.« Jetzt blickte er sie forschend an, dann fragte er: »Sie sind Amerikanerin?«

»Ja.«

»Erst seit kurzem hier?«

»Seit sehr kurzem.«

»So irre ich mich wohl kaum, wenn ich annehme, daß Ihr Name Ellen Starton ist?«

»Ich heiße so.«

»Ich habe von Ihnen gehört. Sie werden heut Abend hier auftreten. Ich möchte Sie gern sehen, bin aber leider nie in der Lage, das zweite Theater zu besuchen.«

Sie kamen in ein recht animirtes Gespräch mit einander. Natürlich war die Kunst der Gegenstand. Er hörte ihre Urtheile, und es war ihm anzusehen, daß er von Secunde zu Secunde mehr Sympathie für sie gewann. Das zeigte sich, als sie ging. Er nahm Gelegenheit, zugleich mit ihr den Laden


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zu verlassen und wies den demüthigen Gruß des Juweliers mit einem scharfen Wink zurück. Draußen vor der Thür fragte er.

»Wo logiren Sie, Fräulein?«

»Im Hotel Union.«

»Werden Sie dieses Haus zu Fuß erreichen?«

»Ich beabsichtige es.«

»So bitte ich um die Erlaubniß, Sie begleiten zu dürfen. Mein Weg führt mich da vorüber.«

Sie gingen neben einander her, er zur Linken und sie zur Rechten. Sie setzten das begonnene Gespräch fort. Ellen bemerkte, daß man allüberall die Köpfe entblößte und daß ihr Begleiter dankend nickte, aber sie hatte keine Zeit darüber nachzudenken, so fesselte er sie durch seine tiefen, geistreichen Bemerkungen.

Am Thor des Hotels blieben sie stehen. Der Portier präsentirte seinen goldbeknauften Stock und zog sich dann in ehrerbietige Entfernung zurück. Im Hintergrunde des tiefen Flures sammelte sich die Bedienung, um mit verwunderten Blicken die Beiden zu beobachten.

»Da sind wir viel zu schnell am Ziele angekommen,« sagte er. »Der Weg hätte doch noch länger sein können. Wissen Sie, daß man während des Gespräches genau hört, wie Sie tanzen?«

Sie erröthete.

»Bitte, keine Verlegenheit, mein Fräulein! Ich habe vor einer halben Stunde von Ihnen gehört. Ich traf ganz zufälliger Weise den Fürsten von Befour, der Sie jenseits des Oceans gesehen hat. Wollen Sie sich hier im Residenztheater engagiren lassen?«

»Nein.«

»Warum treten Sie dann auf?«

Sein Blick war so voll und gut auf sie gerichtet, daß sie nach keiner Ausrede suchte. Sie gestand offen:

»Ich wollte hier auftreten, nur um mich sehen zu lassen. Ich suche eine mir theure Person, welche mir verlorenging.«

»Haben Sie sie gefunden?«

»Ja.«

»Also bereits vor dem Auftreten. Das freut mich. Wie ich höre, legt man Ihnen Hindernisse. Man ist Ihrer nicht werth. Könnten Sie sich nicht entschließen, sich einmal auf der Hofbühne sehen zu lassen?«

Sie zuckte leicht die Achsel.

»Ah, Sie wollen sich nicht anbieten! Recht so! Dann aber wäre es wenigstens dankenswerth von Ihnen, einmal am Hofe zu beweisen, daß Ihr Ruf die Wahrheit spricht.«

»O,« lächelte sie. »Ich bin unbekannt, ohne Protection und - Republikanerin.«

»Doch nicht etwa gar zu roth und radical?«


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»O nein. Wir Frauen sind im Grunde genommen doch alle gut monarchisch gesinnt.«

»Schön, schön! Für Protection wollen wir schon sorgen. Ich gestehe Ihnen nämlich endlich, daß ich der - König bin.«

Sie erschrak keineswegs. Sie richtete ihr Auge voll und warm auf ihn und antwortete:

»Majestät, glücklich das Land, welches einen so herzensguten Vater hat!«

»Danke! Leider haben wir Väter nicht immer von großem Glück zu sagen. Ihr Künstler versteht es, die Töne, Farben, Formen und Bewegungen in glückliche Harmonie zu bringen, während wir vergeblich mit den Disharmonieen kämpfen. Kennen Sie ein Mittel dagegen?«

Es war ein wirklich seelensgutes Lächeln, mit welchem er sie bei dieser Frage anblickte.

»Ja, Majestät,« antwortete sie, zugleich erhoben und gerührt. »Ich werde für Sie beten, und ich wünsche, daß alle Ihre vielen Kinder dasselbe thun möchten. Dann wird Eintracht im Hause sein!«

»Amen!« sagte er. »Miß Ellen, Sie sind ein braves Herz; Sie sind ein Diamant. Wer mag der Meister sein, dem das große Glück beschieden sein wird, Sie in goldene Façon zu nehmen? Gott segne Sie!«

Er gab ihr die Hand und entzog sie ihr sofort wieder, als sie dieselbe küssen wollte.

»Ein edler, edler Monarch!« flüsterte sie, als sie in ihrem Zimmer den Pelz ablegte. Und auf den anderen Gedanken eingebend, fuhr sie fort: »Wer wird der Meister sein? O, ich weiß, wer es sein sollte und sein könnte! Aber er spart die kostbare Façon, weil er den Diamanten für unecht hält.«

Und in einem Hintergebäude des Altmarktes, drei Treppen hoch, saß Max Holm, den Kopf in die Hand gestützt, in trübes Sinnen versunken. Er dachte an die letzten Worte, welche sie ihm gesagt hatte.

»Vergessen Sie nie, was ich Ihnen sagte: Ich bin arm, sehr arm, viel ärmer als Sie!« -

Der König war noch nicht weit vom Hotel Union fortgekommen, so begegnete ihm eine jugendliche Reiterin. Sie senkte Kopf und Reitgerte respectvoll, und er zog grüßend den Hut. Er kannte das schöne Mädchen. Es war Fanny, die Tochter des Obersten von Hellenbach.

Sie war jetzt immer recht sehr beschäftigt. Robert Bertram war ein- für allemal zu ihren Eltern geladen und machte von dieser Erlaubniß den ausgiebigsten Gebrauch. Er las mit ihr, musicirte mir ihr, spielte Schach und Dame mit ihr und durfte sie auf ihren Ausflügen begleiten. Jetzt wollte sie ihn zu einem Spazierritte abholen. Der Fürst hatte ihm ein Pferd zur Verfügung gestellt, und er war in sehr kurzer Zeit ein sehr guter Reiter geworden.

Fräulein Hellenbach hielt vor dem kleinen Häuschen.

Freilich holte sie ihn nicht in der Palaststraße ab, sondern sie ritt nach der Siegesstraße, wo sie vor dem Häuschen Papa Brandts abstieg. Einen Diener hatte sie nicht mit. Sie band also das Pferd an die Ladenangel und trat ein.


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Mutter Brandt kam ihr mit glänzendem Gesicht entgegen. Es war allemal wie Sonnenschein, wenn Fanny sich hier sehen ließ. Nur hütete sie sich, es dem Fürsten allzusehr merken zu lassen, daß sie gern hier in dem Häuschen sei. Warum, das wußte sie selbst nicht recht.

»Guten Morgen, Mama Brandt,« grüßte die schöne Oberstentochter. »Ist er da?«

»Ja,« lächelte die Alte schlau.

»Wo befindet er sich?«

»Drinn im Stübchen. Er sitzt im Großvaterstuhle und raucht seine Pfeife Rolltabak mit Portorico.«

»Wer? Der wird doch nicht Pfeife rauchen und im Großvaterstuhle sitzen!«

»Warum denn nicht? Er hat sonst ja nicht viel zu thun.«

»Ach, Sie meinen Ihren Papa Brandt?«

»Ja. Wen soll denn ich sonst wohl meinen?«

Doch dabei sah man es ihr deutlich an, daß sie ganz wohl wußte, auf wen sich Fanny's Frage bezogen hatte.

Diese gab ihr einen liebevollen Klapps und sagte:

»Garstigkeit und Schabernack! Nun gehe ich aber doch grad hinein zu Ihrem Brummbär, und sollten Sie auch vor Eifersucht schier platzen!«

Sie blieb aber doch nicht lang drinnen; denn schon nach einer Minute kam sie wieder und meinte hustend:

»Puh! Dieser Portorico! Oder ist's der Rollentabak?«

»Beides, beides, liebes Kind!«

»Desto schlimmer! Schütten Sie ihm doch Pfeffermünzöl hinein. Dann riecht der Tabak besser. Ist Herr Bertram oben in seinem Zimmer?«

»Ja, gnädiges Fräulein.«

»Nun, so wollen wir ihn schleunigst einmal überfallen!«

Sie stieg die Treppe empor, klopfte an und fand Robert mit einer schriftlichen Arbeit beschäftigt. Die Röthe der Freude stieg in seine schönen, geistvollen Züge, als er die Freundin, die heimlich Geliebte, erblickte. Sie reichte ihm zum Gruße die Hand entgegen, und er drückte dieselbe leicht in ehrerbietiger Weise.

»Nicht so!« sagte sie. »Wissen Sie, lieber Herr Bertram, daß ich fast verzweifle, meine Erziehung von Erfolg gekrönt zu sehen.«

»Das haben Sie wohl nicht dem Mangel an gutem Willen meinerseits zuzuschreiben, gnädiges Fräulein,« antwortete er.

»O doch! Was sollte denn sonst die Ursache sein?«

»Vielleicht besitze ich nicht das richtige und ausreichende Verständniß für Ihre lobenswerthen Bemühungen. Habe ich vielleicht jetzt wieder einen Fehler begangen?«

»Natürlich, und zwar einen ganz bedeutenden.«

»Dann bitte ich um Erklärung.«

»In dem Sie das thun, machen Sie sich bereits wieder einer Unterlassungssünde schuldig!«


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»Sie sehen mich in größter Verzweiflung.«

»Gewiß, weil Sie nicht einsehen, welche Sünde das ist.«

»Ja, so ist es freilich.«

»Nun, Sie fordern eine Erklärung und lassen mich dabei stehen. Wollen Sie mir denn nicht einen Sitz anbieten? Oder wünschen Sie etwa, daß ich mich schleunigst entferne?«

»Nein, o nein! Hier, bitte, nehmen Sie Platz!«

Er schob ihr einen Sessel hin, und während sie sich in graziöser Weise darauf niederließ, fuhr er fort:

»So, der zweite Fehler ist gut gemacht. Nun aber darf ich wohl auch den ersten erfahren.«

»Gewiß. Wissen Sie, wem man beim Empfange die Hand in der Weise drückt, wie Sie es bei mir gethan haben?«

»Nun, wem?«

»Irgend einer Person, welche man nur oberflächlich kennt, die Einem aber sehr gleichgiltig ist. Man sollte doch denken, daß es einem Dichter nicht so schwer fallen kann, ein Damenherr zu werden!«

»O bitte, diese Bezeichnung ist mir nicht geläufig,« meinte er lächelnd. »Was habe ich unter einem Damenherrn zu verstehen?«

Sie schlug im komischen Erstaunen die Hände zusammen und antwortete:

»Mein Gott, auch das wissen Sie nicht?«

»Leider, nein! Sie sehen, wie wenig ich gelernt habe!«

»Und wie weit ich Ihnen an Kenntnissen überlegen bin. Nun, ich will Sie gern belehren. Ein Damenherr ist ein Cavalier, welcher es versteht, sich bei Damen beliebt zu machen.«

»Bei allen?«

»Ja, natürlich.«

»O weh! Das werde ich niemals lernen!«

»Warum nicht? Ich will Ihnen aufrichtig gestehen, daß ich Sie für ganz gelehrig gehalten habe.«

»Hm! Hier fehlt es wohl weniger an dem intellectuellen Können als vielmehr am guten Willen.«

»Und das gestehen Sie so aufrichtig und unbefangen ein!«

»Ich mag es nicht leugnen.«

»Nun, warum fehlt es denn am guten Willen?«

»Ich mag nicht allen Damen gefallen.«

»Haben Sie denn einen gar so triftigen Grund dazu?«

»Ja, einen sehr triftigen.«

»Darf man ihn erfahren?«

»Ja. Ich wünsche nämlich, nur einer Einzigen zu gefallen.«

»Was haben Ihnen denn die Anderen gethan?«

»Nichts, gar nichts.«

»Warum bevorzugen Sie da diese Eine nur?«


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»Sie ist es werth. Sie ist die Schönste, Reinste, Beste und Anbetungswürdigste von Allen.«

»Was Sie sagen! So ein anbetungswürdiges Wesen möchte ich kennen lernen, Herr Bertram.«

»Sie kennen sie.«

»So wohnt sie hier in der Residenz?«

»Ja.«

»Wohl gar in meiner Nähe.«

»Sehr.«

»Bitte, bitte, sagen Sie mir den Namen.«

»Gnädiges Fräulein, das wäre eine Indiscretion, zu welcher ich mich nicht berufen fühle.«

»Sie Garstiger! Geben Sie mir doch wenigstens die Hoffnung, daß ich noch erfahren werde, wer sie ist.«

»Ja, das will ich Ihnen gern versprechen.«

»Schön! Und da sagen Sie mir doch einmal aufrichtig, ob Sie diese bevorzugte Dame auch so begrüßen wie mich.«

»Ganz genauso.«

»Mit einem bloßen Händedruck.«

»Ja.«

»Aber da sind Sie ihr gegenüber doch auch nicht Damenherr!«

»Ein solcher würde sie wohl anders begrüßen?«

»Natürlich!«

»In welcher Weise wohl?«

»Nun, nehmen wir an, sie giebt Ihnen die Hand -«

»Schön, schön!«

»Oder das Händchen, denn eine Angebetete hat niemals eine Hand, sondern ein Händchen, ein süßes, kleines, liebes, warmes, weiches und weißes Händchen. Nicht wahr?«

»Gewiß, gewiß! Sie haben sehr, sehr recht!«

»Also sie giebt Ihnen das Händchen, grad so, wie ich es so eben that. Das dürfen Sie doch nicht drücken!«

»Was denn?«

»Hm! Nun ja, drücken dürfen Sie es allerdings, aber nur an Ihre Lippen oder an Ihr Herz!«

»Also küssen?«

»Ja, das meine ich.«

»Aber ich weiß ja gar nicht, ob sie dies erlaubt!«

»Haben Sie sie denn noch nicht gefragt?«

»Nein.«

»Nun, so thun Sie es doch einmal ohne vorherige Bitte um Erlaubniß! Ein Herr darf Etwas wagen.«

Sie blickte ihm so gut und so treuherzig in das Gesicht. Er fühlte fast sein Herz klopfen. Er antwortete:


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»Das möchte ich wohl, denn muthlos bin ich eben nicht; aber es geht leider nicht, es geht nicht.«

»Warum nicht?«

»Ich möchte wohl das kleine, süße Händchen küssen, aber -«

»Was, aber?«

»Aber sie hat fast immer Handschuhe an.«

Sie stieß ein helles, silbernes Lachen aus und meinte:

»So küssen Sie ein wenig oberhalb des Handschuhes!«

»Da ist die Manschette, und dann folgt der Spitzenbesatz. Ich bin wirklich recht übel daran.«

»Nun, so müssen Sie schlau sein und den Augenblick abwarten, an welchem sie einmal den Handschuh entfernt hat. Das wird doch einmal der Fall sein!«

»Ja, gewiß. Aber dann bin ich vielleicht grad abwesend.«

»Dann würde ich es ihr doch einmal recht deutlich zu verstehen geben, daß der Handschuh so störend wirkt!«

»Wird das helfen?«

»Ich bin überzeugt. Sie ist ja die Angebetete!«

»Aber sie betet mich jedenfalls nicht wieder an.«

»Hm! Ich sehe ein, daß Sie sich in einer nicht sehr angenehmen Lage befinden.«

»O, sogar in einer sehr unglücklichen!« lächelte er.

»Dann ist es meine Pflicht, Ihnen Ihr Unglück wenigstens für kurze Zeit vergessen zu machen. Ich werde dafür sorgen, daß Sie sich ein wenig zerstreuen. Bemerken Sie vielleicht, daß ich im Reitkleide bin?«

»Gewiß, gnädiges Fräulein.«

»Nun, mein Pferd steht unten. Wollen Sie mit?«

»Wohin?«

»Ein wenig vor die Stadt.«

»Wenn Sie befehlen, ja.«

»Nun, ich befehle es allerdings auf das Allerstrengste.«

»So werde ich gleich satteln lassen.«

Er entfernte sich für einige Augenblicke. Sie nahm auf seinem Schreibsessel Platz, zog einen der beiden Reithandschuhe aus und griff nach einem Buche.

»Sie sehen, daß ich mich bei Ihnen daheim befinde,« sagte sie, als er zurückkehrte. »Ich bemächtige mich Ihrer Lectüre, ohne Sie vorher um Erlaubniß gefragt zu haben.«

»Ich wünsche, daß Sie etwas Interessantes getroffen haben mögen.«

»Gewiß, sehr interessant, besonders für eine junge Dame!«

Sie schlug den Titel auf und las:

»Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren - und - Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen. Vom Immanuel Kant.«


// 1407 //

»O weh!« lachte Bertram.

»Diese Sachen lesen Sie?«

»Ich studire sie sogar.«

»Und ich hielt Sie vorhin für ungelehrig! Was mich betrifft, so weiß ich ganz und gar nicht, was ich unter diesen vier syllogistischen Figuren zu verstehen habe; auch weiß ich nicht, was eine negative Größe ist, mag es auch gar nicht erfahren. Ich interessire mich mehr für - ah, wie steht es mit dem zweiten Bandes Ihrer 'Heimaths-, Tropen- und Wüstenbilder'? Ist er begonnen?«

»Beinahe fertig.«

»Schön. Diese Bilder sind mir weit sympathischer als die syllogistischen Figuren. Und, da fällt mir ein: ich habe Ihnen doch vorgestern ein Thema gegeben. Haben Sie daran gedacht?«

»Hm! Ich habe es wieder vergessen.«

Sie machte ein erstauntes Gesichtchen und sagte in einem sehr ernsten, verweisenden Tone:

»Das hätte ich allerdings nicht gedacht. Ich werde nachdenken, wie ich Sie zu bestrafen habe. Also, das ganze Sujet haben Sie vergessen?«

»Das ganze! Leider!«

»Nun, ich wollte ein Lied zum Componiren.«

»Darauf besinne ich mich.«

»Nur drei Strophen sollte es haben.«

»Auch das weiß ich.«

»Alle drei sollten ähnlich anfangen und auch einen gleichen Refrain haben. Wissen Sie, das macht sich besser.«

»Gewiß. Es ist symmetrischer.«

»Ich sagte Ihnen auch, welchen Refrain ich wünschte.«

»Und grad das ist mir entfallen!«

»Die Hauptsache, grad die Hauptsache.«

»Ich habe mir alle Mühe gegeben, mich zu erinnern.«

»Und wirklich vergebens?«

»Hm! Es hat in meinem Gedächtniß ein wenig getagt; aber ich kann nicht behaupten, ob ich mich irre oder nicht. Vielleicht ist mir etwas Falsches eingefallen.«

»Nun, wie war der Refrain der drei Strophen?«

»Ich glaube, es war so: Spielst Du vielleicht, schielst Du vielleicht und stiehlst Du vielleicht?«

Da schlug sie die Hände zusammen und sagte im Tone gut gespielter Entrüstung:

»Welch ein Mensch! Einen Refrain auf spielst, schielst und stiehlst. Und das soll ich componiren?«

»Ich glaubte wirklich, es sei so gewesen.«

»Was denken Sie! Ich muß Ihrem Gedächtnisse wirklich zu Hilfe kommen. Der Refrain sollte bei allen drei Strophen lauten: Liebst Du vielleicht.«


// 1408 //

»Richtig, richtig! Ah, und darauf konnte ich mich beim allerbesten Willen nicht wieder besinnen!«

»Unbegreiflich! Auch erbat ich mir das Gedicht so bald wie möglich, mein Herr Hadschi Omanah!«

»Ich sagte zu, in sechs Wochen fertig zu sein.«

»Sechs Wochen? Heut, heut wollten Sie mir es geben. Ich komme ja grad deshalb zu Ihnen.«

»Das Gedicht wollen Sie?«

»Jawohl.«

»Ich denke, Sie kommen, um mich zu einem Spazierritte abzuholen! So kann man sich täuschen!«

»Der Spazierritt sollte die Belohnung für das Gedicht sein. Nun es nicht fertig ist, werden Sie daheim bleiben müssen!«

»O bitte, nicht gar zu streng!«

»Wie denn sonst? Euch Dichter darf man nicht verziehen.«

»Nun, so will ich es lieber wagen - - -«

»Was?«

»Ich habe mit ihrem Refrain allerdings einen Versuch gemacht. Ich glaube aber leider, daß er mißlungen ist.«

»Sie haben das Gedicht fertig?«

»Ja.«

»Wo ist es! Schnell, schnell!«

»Bitte, lassen Sie mich lesen!«

Er zog unter seinen Schreibereien einen Zettel hervor und las:

»Hast Du geseh'n auf grüner Au
     Sich öffnen leis der Knospe Pracht,
Wenn schimmernd im brillant'nen Thau,
     Im Osten Strahl um Strahl erwacht.

Was mag das für ein Falter sein,
     Der fächelnd um die Haide streicht?
Lieb Röselein, lieb Röselein,
     O sag, o sag, liebst Du vielleicht?«

»Sehr schön, sehr schön!« sagte Fanny. »Das ist es ja, was ich mir gewünscht habe. Bitte, weiter!«

Sie nickte ihm aufmunternd zu, und er fuhr fort:

»Hast Du gehört im grünen Haag
     Der Nachtigall bezaubernd Lied,
Wenn sich zur Rüste neigt der Tag
     Und Licht um Licht im West verglüht?

Was mag das für ein Nestchen sein,
     Um das der kleine Sänger streift?
Lieb Vögelein, lieb Vögelein,
     O sag, o sag, liebst Du vielleicht?«

»Prächtig!« rief sie, in die Hände klatschend. »Das war erst die Rose und dann die Nachtigall. Das sind natürlich nur die Analogieen. Nun aber kommt das Richtige.«


// 1409 //

»Was?«

»Hm! Man kennt Euch Dichter nur zu gut. Erst die letzte Strophe bringt Das, was Ihr eigentlich sagen wollt.«

»Nun, was will ich hier sagen?«

»Sagen nicht, sondern fragen.«

»Aber was?«

»Liebst Du vielleicht! Was denn anderes! Bitte, spannen Sie mich nicht auf die Folter. Das Gedicht ist sehr gut entworfen, und ich bin sicher, daß die letzte Strophe ebenso meinen Beifall finden wird, wie das Vorhergehende. Also lesen Sie nur immer weiter, Herr Bertram.«

Er recitirte, ihrer Aufforderung gemäß, noch die Strophe:

»Hast Du gefühlt in tiefer Brust
     Des Herzens Klopfen, wenn ein Arm
Sich halb bewußt, halb unbewußt
     Um Dich gelegt so treu, so warm?

Was mag das für ein Auge sein,
     Deß' Blick zu Dir herniedersteigt.
Lieb Herzelein, lieb Herzelein,
     O sag, o sag, liebst Du vielleicht?«

»Ich dachte es mir,« bestätigte sie. »Erst die Rose, dann die Nachtigall, und nun das Herz. So mußte es kommen.«

»Also sind Sie zufrieden?«

»Hm. Eigentlich nicht.«

»Was haben Sie zu tadeln, gnädiges Fräulein?«

»Sie fragen immer: Liebst Du vielleicht?«

»Aber das ist ja die Aufgabe, welche Sie mir ertheilten!«

»Gewiß; aber so streng dürfen Sie sich doch nicht an sie halten: Sie dürfen doch nicht blos fragen, sondern Sie müssen ja auch antworten.«

»Ich wußte wirklich nicht, welche Antwort ich in aller Geschwindigkeit geben solle.«

»Was das betrifft, so muß ein Dichter allwissend sein. Das Genie darf eben nie in Verlegenheit kommen.«

»Ganz richtig, das Genie! Aber - - - ich!«

»Hm. Sie halten sich also für -«

»Für ein Genie - nicht.«

»Das freut mich.«

»Daß ich kein Genie bin? Wirklich?«

»Nein. Es freut mich, daß Sie sich für kein Genie halten. Sie sind bescheiden und das liebe ich. Uebrigens will ich Ihnen sagen, daß ich mit Ihrem Gedicht sehr zufrieden bin. Ich bin sehr geneigt, Ihnen eine kleine Anerkennung dafür zu widmen. Nur fällt mir leider nicht einmal in der Geschwindigkeit ein, wie ich das anfangen soll.«

»O, ich wüßte Rath, gnädiges Fräulein.«

»Was?«

»Er ist endlich herunter.«


// 1410 //

»Wer?«

»Der da.«

Er deutete auf den Handschuh, den sie ausgezogen hatte. Sie schlug ein wohltönendes Lachen auf und sagte:

»Ich brauche ihn ja noch?«

»O, ich mag ihn ja gar nicht!«

»Nicht? Ich denke doch!«

»Nein, ich mag ihn wirklich nicht; ich will überhaupt nichts haben, gar nichts, sondern ich will lieber geben.«

»Was denn?«

»Das.«

Er zog ihre Hand an seine Lippen und küßte sie mehrere Male. Sie erröthete ein Wenig, sagte aber doch scherzend:

»Ich glaube, Sie fangen an, gelehrig zu werden.«

»Ich habe mir gelobt, mir Mühe zu geben.«

»Aber doch nicht mit mir!«

»Ist das verboten?«

»Gewiß! Was würde Ihre 'Angebetete' dazu sagen!«

»O, die ist auf alle Fälle mit Ihnen einverstanden.«

»Das will ich doch noch dahingestellt sein lassen. Aber, bleiben wir ernsthaft! Wollen Sie mir das Gedicht lassen?«

»Gern.«

»Ich darf es in Musik setzen?«

»Thun Sie damit, was Ihnen beliebt. Sie können es meinetwegen in's Feuer werfen und verbrennen.«

»Nein, das thue ich nun freilich nicht. Ich finde, daß es melodiös ist und sich leicht componiren lassen wird.«

»Dann singen Sie es mir vor.«

»Gewiß. Ich muß doch Ihr Urtheil hören!«

»Wann ungefähr wird das sein?«

»Ich fange noch heute an.«

»Und werden auch heute noch fertig?«

»Vielleicht.«

»Nein, sondern gewiß. Ich weiß, wie schnell Sie arbeiten.«

»Nun, es ist möglich, daß ich noch fertig werde. Also, wollen Sie es dann gleich hören?«

»Wenn möglich heute noch.«

»So kommen Sie heute Abend.«

»Ich danke.«

»O nein, ich habe zu danken. Sie sollen mein Beschützer sein.«

»Wieso?«

»Weil ich ohne Sie ganz allein sein würde. Papa und Mama gehen in das Theater. Gehen Sie auch? Dann dispensire ich Sie allerdings.«


// 1411 //

»Nein. Ich habe den Freischütz bereits im vorigen Monate gesehen, gnädiges Fräulein.«

»Ich meine nicht das Hof-, sondern das Residenztheater. Die Eltern wollen sehen, welche von den beiden Tänzerinnen die Andere besiegen wird.«

»Ich mag kein Ballet sehen.«

»Ich auch nicht. Darum bat ich, zu Hause bleiben zu dürfen. Nun kommen Sie zu mir. Das ist viel besser als diese Königin der Nacht. Nicht?«

»O gewiß! Ich bin doch so gern, so gern bei Ihnen.«

»Noch lieber aber bei der - - Angebeteten!«

»Lieber nicht, sondern gerade und genau so lieb. Doch, man ruft unten. Das Pferd ist gesattelt.«

»Schön. Also das Gedicht nehme ich mit?«

»Ja.«

Sie faltete das Blatt zusammen und schob es in den Brustaufschlag ihres Reitkleides. Er war entzückt, daß seinem Gedichte ein so reizender Ort angewiesen wurde und zog ihr Händchen abermals an seine Lippen. Sie drohte ihm lächelnd mit der anderen Hand und sagte:

»Gelehrig soll man sein, aber nicht zu sehr!«

»O, man muß sich doch üben!«

»Ueben Sie sich doch bei Mama Brandt.«

»Schön. Aber darf ich Ihnen zuweilen zeigen, daß ich Das, was ich einmal gelernt habe, nicht wieder vergesse?«

»Ich will es mir überlegen. Kommen Sie!«

Sein Pferd stand neben dem ihrigen. Er half ihr in den Sattel, und dann trabten sie wohlgemuth in den heiteren Wintermorgen hinein.

Die Stadt lag bald hinter ihnen. Sie fühlten sich unbeobachtet und ungestört und plauderten so lebhaft und laut mit einander, als ob sie sich ganz allein in der schönen Gotteswelt befänden. Sie fühlten sich glücklich, und sie verdienten das.

Vor ihrem Wege, mitten in der Chaussee hielt ein Schlitten, welcher nur mit einem Pferde bespannt war. Darin saß ein Frauenzimmer. Ein Mann war ausgestiegen, um sich beim Pferde zu schaffen zu machen. Es war irgend Etwas am Geschirr in Unordnung gerathen.

Dieser Mann war der Jude Salomon Levi. Die im Schlitten saß, war Judith, seine Tochter.

Er hatte auf einem Nachbardorfe zu thun gehabt, und Judith war sogleich bereit gewesen, von der Parthie zu sein, zu welcher er sich das Geschirr von einem Bekannten geborgt hatte. Er war kein berühmter Rosselenker; aber der Gaul war alt und abgetrieben, und so durfte keine Gefahr befürchtet werden.

Aber auf dem Rückwege begann das Pferd doch allerlei ungewöhnliche Bewegungen zu machen, und da er sich dieselben nicht zu erklären vermochte, so wendete er sich an Judith:

»Siehst, wie da wackelt der Gaul mit dem Kopfe?«

»Ja.«


// 1412 //

»Und wie er wirft auf die Seite das Bein?«

»Ja, Vater.«

»Wie er schnauft mit die Nüstern und legt hinten hinüber alle seine beiden Ohren?«

»Er hat Etwas.«

»Oder hat er Etwas nicht. Was will er haben? Er hat den Schlitten und er hat uns Beide. Wenn er will haben noch Etwas, so kann er bekommen die Peitsche.«

»Um Gotteswillen, Vaterleben, schlage ihn nicht.«

»Warum soll ich ihn nicht schlagen? Habe ich ihn doch geborgt für drei Gulden fünfzig Kreuzer.«

»Aber er wird Dich schlagen mit dem Hufeisen.«

»Das ist allerdings gefährlich! Aber warum läuft er denn nicht, wie er hat zu laufen, wenn er ist gehängt an den Schlitten?«

»Vielleicht ist ein Riemen entzwei?«

»Möglich.«

»Sieh einmal nach!«

»Schön. Werde ich aussteigen, um zu bringen die Sache in Ordnung.«

Er stieg aus dem Schlitten und wollte sich dem Pferde nähern; da aber warnte ihn Judith in ängstlichem Tone.

»Vaterleben, was willst Du thun! Willst Du Dich begeben in die Gefahr Deines eigenen Lebens!«

»Wo denn?«

»Hast Du doch die Peitsche in der Hand!«

»Natürlich. Soll ich etwa haben die Peitsche in der Westentasche?«

»Aber Du sollst nicht mit ihr so nahe an das Pferd gehen. Wenn es sieht die Peitsche, wird es denken, daß es erhalten soll Prügel, und dann wird es anrichten ein Unglück.«

»Gut, so werde ich sie weglegen.«

»Gieb sie mir! Ich werde sie halten.«

»Ja, mein Tochterleben. Hier hast Du sie. Aber schlage nicht mit ihr nach dem Gaule, sonst läuft er davon mit dem Schlitten und mit Dir, und ich muß laufen nach Hause in meinen Stiefeln, welche ich habe gekauft in voriger Woche für einen Gulden achtzig Kreuzer.«

Er gab ihr die Peitsche und näherte sich dann vorsichtig dem Pferde, um zu sehen, welcher Fehler zu verbessern sei.

»Siehst Du, welche Augen mir macht der Rappe?« fragte er.

»Nein.«

»Er dreht die Augen heraus wie ein Leviathan. Er dreht sie nach vorn und nach hinten. Jetzt weiß ich nun nicht, mit welchen Beinen er wird schlagen nach mir, ob mit den vorderen oder mit den hinteren.«

»Streichle ihn, Vaterleben! Schnalze mit der Zunge und rede mit ihm mit lieblicher Stimme!«

»Denkst Du, daß er dann bekommen werde auch liebliche Gedanken?«


// 1413 //

»Ja, er wird sie bekommen.«

Er befolgte ihren Rath und fand endlich, was ein jeder Andere sofort gesehen haben würde, nämlich, daß einer der beiden Stränge ausgekettelt war. Er besserte den Schaden aus und wollte eben wieder in den Schlitten steigen, da deutete Judith nach vorn und sagte:

»Vaterleben, siehst Du die beiden Reiter?«

»Ja. Gott Abrahams! Warum kommen die denn geritten gerade auf dieser Straße.«

»Du glaubst, daß wir Angst haben müssen?«

»Natürlich. Wenn nun unser Gaul nicht leiden kann das Reiten, so wird er werden scheu und mit uns davonrennen in alle Lüfte.«

»So halte fest die Zügel. Ah, es ist eine Dame dabei!«

Salomon Levi hatte sein Pferd wieder in Bewegung gesetzt. Er betrachtete sich die beiden Entgegenkommenden und antwortete:

»Ja, es ist dabei ein Frauenzimmer. Wie kann reiten ein Frauenzimmer, da sie doch muß halten beide Beine zugleich nach nur einer Seite. Wenn ihr abrutschen die Beine, so läuft der Gaul fort ohne sie, und sie sitzt unten im Schnee ohne Sattel. Mögen die Frauenzimmer doch lieber spinnen oder stricken oder kochen für ihre Männer, wobei niemals abrutschen beide Beine!«

Da, jetzt gab Judith dem Alten einen plötzlichen Stoß und sagte:

»Kennst Du sie? He, kennst Du sie?«

»Nein. Hat sie doch vor dem Gesicht einen Schleier.«

»Aber ihn kennst Du?«

»O Abraham, Isaak und Jakob! Ist es wahr, daß es ist dieser Dichter, dessen Namen wir suchen vergebens?«

»Ja, er ist es.«

»Und wer ist sie?«

»Es ist die Hellenbach. Sie will ihn haben; sie will ihn heirathen; sie will mich bringen um den Jüngling meiner Liebe.«

»Soll ich ihr vielleicht schneiden ein Gesicht, daß sie bekommt Leibschneiden und Bauchgrimmen auf drei Wochen?«

»Nein. Ziehe Deine Mütze tief herein. Sie brauchen uns nicht zu erkennen.«

Er folgte ihr; und auch sie zog ihre Caputze so weit in die Stirn, daß eben nur noch die Augen zu sehen waren.

Sie hatte immer noch die Peitsche in der Hand. Sie schwirrte dieselbe hin und her und fragte:

»Soll ich geben dieser Hellenbach einen Hieb über die Nase?«

»Gott der Gerechte! Was fällt Dir ein! Wenn sie nun steigt ab und prügelt Dich mit der Reitpeitsche!«

»Meine Peitsche ist länger.«

»Aber dieser Bertram hat auch eine und wird ihr helfen.«

»So nimmst Du ihn auf Dich und hältst fest seine Hände.«

»Dann aber werden sie gehen auf das Gericht und uns anzeigen wegen


// 1414 //

Mordversuch und Verletzung mit Instrumenten, welche sind gefährlich für das Leben des Menschen. Nein, Judithleben! Lassen wir ruhig dahintrollen unsern Gaul, und thun wir gar nicht, als ob wir kennen diese Leute.«

Jetzt kamen sie aneinander vorüber. Da zuckte es doch in Judiths Hand. Sie hatte zuviel vom Orient in sich; sie war feurig, jähzornig und rachsüchtig. Noch waren die beiden Reiter nicht ganz am Schlitten vorbei, da holte sie aus. Sie schlug nicht nach der Reiterin, sondern nach dem Thiere derselben. Die scharfe Schmitze ihrer Peitsche traf unglücklicher Weise die Weiche des Pferdes, die empfindlichste Stelle desselben. Es schlug vor Schmerz hinten aus, stieg vorn empor und schoß dann mit der Reiterin, welcher, da sie auf so etwas nicht gefaßt gewesen war, die Zügel entfallen waren, in rasendem Galopp davon.

»Au waih, au waih!« rief der Jude. »Was hast Du gethan?«

»Was ich hab' gethan?« antwortete sie. »Geschickt habe ich sie zum Teufel. Sie wird stürzen vom Pferde und brechen den Hals und sämmtliche Beine.«

Aus ihren Augen blitzte die Freude über Das, was sie gethan hatte. Während der Schlitten seinen Weg verfolgte, blickte sie rückwärts und referirte:

»Siehst Du, wie sie sich Mühe giebt, sitzen zu bleiben.«

»Aber sie wird fallen.«

»Sie soll fallen; sie muß fallen. Er reitet hinter ihr her, so schnell er kann!«

»Ah! Gott der Gerechte! Jetzt stürzt sie.«

»Ja, sie ist gestürzt; sie liegt auf der Straße.«

»Sie bewegt sich nicht. Sie ist todt; aber ihr Pferd rennt weiter und immer weiter.«

»Und Bertram kommt bei ihr an. Er hält an und steigt ab. Er kniet zu ihr hin. Jetzt wird er sie nehmen in seine Arme und sie vielleicht gar küssen auf den Mund.«

Sie knirschte vor Wuth mit den Zähnen; er aber nahm ihr die Peitsche aus der Hand und sagte in warnendem Tone:

»Du hast gehandelt wie eine Heldin. Du hast sie gebracht zum Falle von ihrem Pferde. Nun aber laß uns auch sein vorsichtig wie die Feldherren, welche sich nicht fangen lassen vom Feinde. Wir wollen geben dem Gaule einen Klapps mit der Peitsche, daß er schleunigst rennt nach Hause, damit uns nicht nachkommt Robert Bertram, wenn er uns stellen will zur Rede.«

Er gab dem Pferd einen kleinen Hieb, so daß es ausgriff und den Schlitten so schnell davonzog, wie es seinen spärlichen Kräften möglich war.

Robert Bertram war fürchterlich erschrocken, als er das Pferd Fanny's mit der Reiterin so ventre-à-terre davon rennen sah. Er konnte natürlich nichts Anderes thun, als im schnellsten Galopp nachfolgen. Er sah, daß sie die Zügel verloren hatte und sich vergebens an der Mähne zu halten suchte. Als sie vom Pferde stürzte, stieß er einen Schrei des Entsetzens aus und grub seinem Pferde die Sporen in die Seiten. Es flog windschnell dahin. Im nächsten Augenblicke war er dort, hielt an, sprang ab und kniete bei ihr nieder.

»Fräulein! Gnädiges Fräulein! Fanny, Fanny!« rief er voller Angst.


// 1415 //

Sie hatte die Augen geschlossen und antwortete nicht.

»Fanny! Fanny! Meine Seele, mein Leben!«

Vergeblich! Sie regte sich nicht, sie blieb stumm!

»Herrgott, sie ist todt!«

In seiner Angst nahm er sie fest und fester in die Arme; er drückte sie an sich; er küßte sie auf Stirn, Mund und Wangen, wieder und immer wieder. Er gab ihr die süßesten, die zärtlichsten Namen und schrie dann wieder vor Entzücken laut auf, als er einen Athemzug bemerkt zu haben glaubte.

»Fanny, Fanny!« wiederholte er. »Um Gotteswillen, stirb nicht! Wache auf! Ich kann ja ohne Dich nicht leben!«

Da öffnete sie langsam ihre Wimpern, und es traf ihn ein Blick, erst seelenlos, dann aber bewußter und immer bewußter. Er bog sich wieder zu ihren Lippen nieder, um sie zu küssen.

»Lebst Du, meine Fanny, lebst Du?« fragte er. »Siehst Du mich? Hörst Du mich?«

»Robert!« hauchte sie.

»Herrgott!« jauchzte er auf. »Sie lebt! Sie spricht!«

Er zog sie in seinem Entzücken so fest an sich, als ob er sie erdrücken wolle. Dabei hörte er die leise Frage:

»Was war's! Was ist's mit mir?«

»Gestürzt bist Du, vom Pferde gestürzt! Ob, welch' eine Angst habe ich ausgestanden, welch' eine Angst!«

Er holte tief, tief Athem.

»Um mich?« flüsterte sie ihm zu.

»Ja, Du bist ja mein Alles, mein Leben, meine Seligkeit!«

Da ging es weich und warm über ihr vorher so bleiches, erstarrtes Angesicht.

»Sein Leben, seine Seligkeit!« flüsterte sie. »Ist's wahr?«

»Ja, ja, und tausendmal ja, millionenmal ja!«

Das schöne Mädchen legte in süßer Vergessenheit des Ortes, an welchem sie sich befanden, die Arme um ihn und sagte:

»Ist das wahr?«

»Ja, meine Fanny! Aber sag, bist Du verletzt?«

Diese Worte brachten sie zur Gegenwart zurück. Sie erröthete in tiefer Gluth und nahm die Arme von ihm.

»Wir wollen sehen,« meinte sie.

Er unterstützte sie und sie erhob sich.

»Geht es? Geht es?« fragte er in größter Besorgniß.

»Ja, es geht, ich kann stehen.«

»Aber nicht gehen?«

Sie raffte die Schleppe des Kleides auf und versuchte, einige Schritte zu thun.

»Gott sei Dank, es ist nicht schlimm!« sagte sie. »Es geht!«

»Und hast - hast -«


// 1416 //

Er stockte. Die Aufregung war fast vorüber und das klare Denken kam wieder über ihn. Sie war die Tochter eines altadeligen Geschlechtes, und er -

»Und haben Sie Schmerzen?« verbesserte er sich.

»Nein.«

»Welch ein Glück! Ich hielt Sie für todt. Es war ein gefährlicher Sturz.«

»Wie kam es nur? Das Pferd ist ja sonst so fromm.«

»Das Frauenzimmer, welches dort im Schlitten saß, schlug mit der Peitsche nach ihm.«

»Ah, dieses Frauenzimmer?«

»Ja. Ich bemerkte es noch von der Seite, mit einem halben Blicke. Ganz da hinten fahren sie noch. Ich werde ihnen sofort nachreiten und -«

Sie ergriff ihn beim Arme und sagte:

»Halt! Wollen Sie mich hier zurücklassen?«

»Ah! Verzeihung! Ich dachte nur daran, diese Beiden zur Rechenschaft zu ziehen.«

»Haben Sie sie vielleicht gekannt?«

»Nein. Ich habe sie fast gar nicht angesehen.«

Das war allerdings in der Wahrheit so. Sein Auge hatte nur an seiner schönen Begleiterin gehangen. Diese aber meinte:

»Ich glaubte, diese beiden Personen seien Ihnen bekannt!«

»Wer war es?«

»Der Jude Salomon Levi aus der Wasserstraße.«

»Wie? Was? Und vielleicht seine Tochter?«

»Ja.«

»Kennen Sie diese Beiden, gnädiges Fräulein?«

»Ja. Ich bin diesem Mädchen einmal unter Umständen begegnet, welche ein Vergessen zur Unmöglichkeit machen.«

Das war damals gewesen, als Robert Bertram als Gefangener nach dem Kirchhofe geführt worden war. Das wollte sie ihm natürlich nicht sagen.

»Und Sie sind überzeugt, daß sie es wirklich gewesen sind?« erkundigte er sich.

»Vollständig überzeugt«

»Gut, so werden wir sie zur Rechenschaft ziehen!«

»Nein, das thun wir nicht!«

»Nicht?« fragte er erstaunt. »Warum nicht?«

Sie erinnerte sich an das eigenthümliche, feindselige Verhalten des Judenmädchens und antwortete:

»Man darf lieber mit solchen Menschen gar nicht in Berührung kommen. Bitte, holen Sie mir lieber mein Pferd herbei!«

Das Thier war eine Strecke weit fortgaloppirt und dann ruhig stehengeblieben.

»Werden Sie reiten können?« fragte er besorgt.

»Gewiß. Ich fühle, daß ich unverletzt bin. Bitte, erzählen wir daheim


Ende der neunundfünfzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der verlorne Sohn

Karl May – Forschung und Werk