Lieferung 52

Karl May

22. August 1885

Der verlorne Sohn
oder
Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.


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»Nur zuweilen.«

»So haben Sie auch keinen Stammplatz?«

»Nein.«

»Dann bitte! Wird es Ihnen bei mir gut genug sein?«

Er rückte einen Stuhl zurecht.

»Warum denn nicht?« fragte Holm, indem er sich setzte.

»Na, das ist doch begreiflich; Sie sind Reporter und ich bin nur ein Diener!«

»Pah! Was bin ich Anderes als auch nur Diener?«

»Hm! So sagen Sie, aber die Anderen nicht. Diese zählen sich zu den berühmten Journalisten, Literaten und Dichtern. Unsereiner verschwindet da.«

»Ich wüßte nicht, was man sich auf das Zusammentragen von Neuigkeiten einbilden sollte!«

»Wichtig ist es doch! Was wäre ein Journal ohne Reporter und Berichterstatter!«

»Man scheint uns aber an gewisser Stelle doch so ziemlich entbehrlich zu halten!«

»An gewisser Stelle? Meinen Sie den Chef?«

»Ja.«

»Nun, der hält ja Alle für entbehrlich, sich selbst aber für unersetzlich.«

»Ich habe es erfahren.«

»Ach ja! Sie hatten doch wohl heute früh eine ziemlich laute Verhandlung mit einander.«

»Fast zu laut.«

»Was gab es denn?«

»Meinungsverschiedenheiten. Wissen Sie es nicht?«

»Nein.«

»Ich denke, er hat es Ihnen gesagt?«

»Kein Wort!«

»Sollte mich aber wundern!«

»Wundern? Glauben Sie, er sei so mittheilsam? Um mir solche Mittheilungen zu machen, müßte er mich für gleichwerthig mit sich halten. Ein Bureaudiener aber ist für ihn gleich Null. Sie haben sich also förmlich mit ihm gezankt?«

»Ja.«

»Darf ich fragen, worüber?«

Holm traute dem Kleinen doch nicht so recht. Er hielt es für besser, zurückhaltend zu sein. Wenn der Diener nicht wußte, daß der Reporter abgesagt hatte, so war leichter eine nützliche Mittheilung aus ihm heraus zu bringen. Darum antwortete Holm:

»Der Chef hatte die Ansicht, daß ich ihn nicht mit genug Neuigkeiten versehe.«

»Unsinn! Sie können doch die Neuigkeiten nicht machen!«

»Freilich muß ich warten, bis Etwas geschieht!«


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»Er freilich macht es anders.«

»Wie denn?«

»Er fertigt sich seine Neuigkeiten selbst.«

»Seeschlangen und Enten?«

»Das nicht allein, sondern noch ganz Anderes.«

»Was zum Beispiel?«

»Lebensläufe, Characteristica.«

»Das habe ich noch nicht bemerkt.«

»Nicht? Auch heute nicht?«

»Nein.«

»Haben Sie die heutige Nummer gelesen?«

»Noch nicht. Ich hatte keine Zeit.«

»Nach Neuigkeiten gejagt?«

»Diesmal nicht. Ich bin blessirt. Sehen Sie!«

»Sapperment! Eine böse Hand! Wie ist das geschehen?«

»Nur ein Wenig geschnitten. Ich war beim Arzte. - Also, was ist's mit der heutigen Nummer?«

»Na, dort liegt sie. Die müssen Sie lesen!«

Er stand auf, holte das Blatt von einem anderen Tische herbei, schlug die betreffende Stelle auf und sagte:

»Hier! Ich bin neugierig, was Sie dazu meinen.«

Holm las die Stelle so aufmerksam, als ob er sie wirklich noch nicht zu Gesicht bekommen hätte; dann schob er die Zeitung fort und zuckte die Achsel, ohne aber ein einziges Wort zu bemerken.

»Nun, was sagen Sie dazu?« fragte der Kleine ungeduldig. »Ich bin neugierig auf Ihre Meinung.«

»Ich habe gar keine Meinung.«

»Nicht? Sapperment! Wie kommt denn das?«

»Was geht mich das Ballet an? Es ist nicht mein Ressort!«

»Das mag sein. Aber die Amerikanerin dauert mich?«

»Warum?«

»Weil er sie so schlecht macht.«

»Ist es denn nicht wahr, was er sagt?«

»Ich wette um meinen Kopf, daß er lügt!«

»Sie irren. Er muß doch die Wahrheit schreiben.«

»Da kennen Sie ihn noch sehr schlecht. Er will ihr Eins auswischen, weil - hm!«

»Weil -? Nun, warum?«

»Man darf nicht aus der Schule schwatzen.«

»So halten Sie den Mund! Dann aber ist es auch nicht nöthig, daß Sie überhaupt anfangen.«

»Es wurmt Einen aber doch.«

»So lassen Sie sich's wurmen. Mir thut es nichts.«

»So ein schönes, wunderschönes Frauenzimmer!«


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»Wer denn?«

»Die Amerikanerin.«

»Haben Sie sie denn gesehen?«

»Ei freilich! Sie war ja bei uns!«

»Wann?«

»Gestern Vormittags.«

»So! Ich halte von der Schönheit der Amerikanerinnen nichts. Sie sind meist lang, schwach und haben einen Kropf.«

»Die aber nicht. Das war ein Bild von einem Frauenzimmer. Die reine Melusine, die wahre Fee, der echte Engel!«

»Sie sind ja förmlich begeistert, Alter!«

»Ist's denn ein Wunder? Man hat auch seinen Geschmack und seine Gefühle, obgleich Andere Einem die Küsse vor dem Munde und der Nase wegschnappen!«

»Sie phantasiren.«

»Fällt mir nicht ein!«

»Ah, so haben Sie eine heimlich Geliebte und einen Nebenbuhler, von dem sie sich küssen läßt! Sie armes Wurm! Wie leid Sie mir thun! Folgen Sie meinem Rathe, und schaffen Sie sich eine Andere an.«

»Danke für den guten Rath! Habe ihn gar nicht nöthig! Ich bin in meinem ganzen Leben nur ein einziges Mal verliebt gewesen.«

»Also doch einmal?«

»Ja.«

»Wer war es?«

»Eine Ofenkehrerswittwe.«

»Puh!«

»Na, sie war nicht übel; aber einen Tag vor der Hochzeit erwischte ich sie mit ihrem Stubennachbar.«

»Das ist traurig!«

»Allerdings. Der Kerl sollte bei unserer Trauung den Brautführer machen.«

»So dürfen Sie es ihm gar nicht übelnehmen, daß er sich vorher mit ihr beschäftigt hat.«

»Aber in so eingehender Weise war es nicht nöthig!«

»Sie haben es sich natürlich verbeten?«

»Das versteht sich!«

»Und was geschah dann?«

»Was soll denn geschehen sein? Ein halbes Schock Maulschellen hat es gegeben.«

»Für den Stubennachbar natürlich?«

»Nein, sondern für mich, ganz verkehrter Weise.«

»O weh. Und das haben Sie sich gefallen lassen?«

»Ganz und gar nicht.«

»Sondern - -?«


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»Sondern ich habe mich dann zur Treppe herunterwerfen lassen, sonst wäre das Schock voll geworden.«

»Und was that denn Ihre Braut dabei?«

»Die haute eben zu!«

»Und der Nachbar?«

»Der hielt mich dabei fest. Herunter warfen sie mich dann gemeinschaftlich.«

»Und aus der Hochzeit wurde natürlich nichts?«

»O doch!«

»Was? Sie haben sie dennoch geheirathet?«

»Ich? Nein, sondern er.«

»Ach so!«

»Seit jener Zeit habe ich nicht wieder daran gedacht, mir eine Frau zu nehmen. Aber man ist Mensch, und in der Bibel steht: Liebet euch! So oft ich ein hübsches Mädchen sehe, denke ich an diese Stelle; stets aber ist's ein Anderer, der mir den Bissen vor dem Munde wegschnappt.«

»Wer?«

»Der Chef.«

»Was Sie sagen!«

»Die Wahrheit!«

»Sie meinen doch nicht, daß er in der Redaction -?«

»Was denn sonst?«

»Das wäre!«

»Was wäre es denn? Verflucht? Ja! Sobald ich ihm eine Dame melde, fragt er, ob sie hübsch ist.«

»Kann er sich denn auf Ihr Urtheil verlassen?«

»Das versteht sich! Da kommen Künstlerinnen, Malerinnen, Schauspielerinnen, Tänzerinnen und Andere, welche lobend erwähnt sein wollen, nämlich im Blatte. Dieses Lob müssen sie natürlich bezahlen.«

»Womit? Wie theuer?«

»Je nach dem Course, nach ihrer Schönheit oder nach der Laune, in der er sich befindet. Daß die Amerikanerin getadelt werden würde, das wußte ich bereits gestern.«

»Das wundert mich.«

»Warum?«

»Sie wird als eine Künstlerin geschildert, welche keinen Schritt thut, um sich einen Redacteur geneigt zu machen.«

»Sie hat das vielleicht ursprünglich gar nicht beabsichtigt. Sie ist unten in der Expedition gewesen, wie ich dann erfuhr, und da ist es ihr wohl nur so in den Sinn gekommen, auch einmal in die Redaction zu steigen.«

»War sie lange da?«

»Nein. Sie können kaum zehn Worte gewechselt haben.«

»Feindselig?«


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»Ja. Als er hörte, daß sie ihn sprechen wolle, glänzte sein Gesicht vor Entzücken; als es aber so schnell aus war, da zitterte er vor Grimm.«

»Und sie?«

»Na, die hätten Sie sehen sollen! Die rauschte hinaus wie eine Kaiserin, die von einer Höckersfrau gefragt wird, ob sie ihr einmal ihr seidenes Kleid borgen will.«

»Ihre Vergleiche sind vortrefflich!«

»Nicht wahr? Das macht, weil ich zur Redaction gehöre.«

»Worüber mögen sich die Beiden wohl erzürnt haben?«

»Jedenfalls über die Liebe.«

»Wieso?«

»Er hat es natürlich mit ihr ebenso machen wollen, wie mit der Anderen, und da hat sie ihn gehörig angebellt. Es kann ihm nichts schaden! Ich aber dachte sofort, daß er sich tüchtig rächen werde. Sie scheint eben keine Leda zu sein.«

»War diese auch dort?«

»Gleich gestern früh.«

»Sie haben sie gesehen?«

»Ja.«

»Wie ist sie denn?«

»Na, nicht übel. Jung ist sie nicht mehr, aber fleischig. Wenn sie noch fünf Jahre lang so fortmacht, kann man einige Tonnen Fischthran aus ihr pressen. Aber das thut nichts. Es giebt ja Männer genug, welche das Ueppige, das Uebervolle lieben.«

»Zum Beispiel Sie! Nicht wahr?«

»Möglich. Uebrigens hatte sie einige Pfund Puder im Gesicht und einige Centner falsches Haar auf dem Kopfe.«

»Sie übertreiben!«

»Auf ein Pfund mehr oder weniger kommt es bei dieser Sorte nicht an. Die Schuhe hatte sie schief getreten.«

»Sie scheinen sie sehr genau betrachtet zu haben?«

»Warum nicht? Bei einer Tänzerin sind doch die Füße das Erste, was man sich ansieht.«

»Wie war sie? Stolz oder freundlich?«

»Freundlich.«

»Gegen Sie?«

»Ja.«

»Also jedenfalls noch viel freundlicher gegen den Chef.«

»Das versteht sich ganz von selbst!«

»War sie lange bei ihm?«

»Ja. Und heute kam sie wieder.«

»Das ist auffällig.«

»O, nicht im Geringsten. Es versteht sich ganz von selbst, daß Sie sich hat dafür bedanken wollen, daß er ihre Gegnerin abgekanzelt hat.«


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»War sie auch da lange Zeit bei ihm?«

»Ja. Dann kamen doch Sie dazu. Als ich Sie anmeldete, hatten sich die Beiden beim Kopfe und küßten sich nach Noten.«

»Das ist toll!«

»Freilich, zumal wenn Unsereiner das Zusehen hat. Es läuft Einem dabei das Wasser im Munde zusammen; aber es bringt doch nicht mehr ein als sechs Silberkreuzer.«

»Wieso? Haben Sie ein so hohes Trinkgeld erhalten?«

»Ja,« lachte der Redactionsdiener. »Der Chef hatte nämlich zu der Leda gesagt, daß die Amerikanerin nicht bei ihm gewesen sei, und das glaubte sie nicht.«

»Da erkundigte sie sich bei Ihnen?«

»Ja. Ich sagte ihr die Wahrheit, und dafür gab sie mir - sechs Kreuzer. Ja, diese Künstlerinnen sind wohl höchst splendit mit ihrer Gunst, nicht aber mit ihrem Gelde. Ah, da kommt mein Special! Willkommen, Monsieur Jean! Wie geht es Ihnen?«

Der Neueingetretene war nämlich kein Anderer als der Diener des Intendanten des Residenztheaters. Er trat herbei, reichte dem Kleinen die Hand und sagte:

»Danke! Bei Unsereinem geht es immer gut. Wer ist denn dieser Herr?«

»Ein sehr guter Freund von mir, fast möchte ich sagen, ein College, da sich unsere Thätigkeit beiderseits auf die Redaction des Residenzblattes bezieht. Herr Holm, Reporter, und Herr Jean, Kammerdiener des Intendanten der Residenzbühne!«

Holm verbeugte sich höflich. Jean aber nickte ihm nur herablassend zu und sagte:

»Ein saures Brod, Reporter zu sein! Ich darf doch bei den Herrschaften Platz nehmen?«

»Mit dem größten Vergnügen!« antwortete der Kleine in sehr verkehrter Weise.

Jean setzte sich nieder, ergriff Holms Kaffeetasse, beschnüffelte deren Inhalt und meinte in wegwerfendem Tone:

»Schneidermokka! Das ist für Unsereinen nichts! Darf ich die Herren bitten, mit mir eine Flasche Wein zu trinken?«

»Sehr obligirt!« meinte der Kleine.

»Und Sie, Herr Holm?«

Der Gefragte belachte innerlich das gespreizte Wesen des Kammerdieners, da er aber wünschte, ihn auszuhorchen, so antwortete er in devotem Tone:

»Sie erzeigen mir eine große Ehre, Monsieur Jean.«

»Bitte, bitte! Sie als Reporter werden selten zu einem Glase Wein kommen. Da macht es mir Vergnügen, Ihnen diesen Genuß zu verschaffen.«

Und als der Wein servirt worden war und er eingeschänkt hatte, fuhr er fort:


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Hoffentlich erfährt man dafür von Ihnen einige Neuigkeiten. Es ist ja Ihr Amt, nach solchen zu suchen. Prosit!«

Holm nippte, machte eine Miene, als ob er dabei den bisher größten Genuß seines Lebens habe, und antwortete:

»Leider kann ich für dieses Mal nicht dienen!«

»Nicht? Es muß doch täglich Etwas geschehen!«

»Gewiß; aber das Geschehene muß interessant genug sein, um es erzählen zu können. Es ist gerade jetzt für Unsereinen eine sehr faule Zeit.«

»Nun, morgen werden Sie eine desto reichere und interessantere Ausbeute haben.«

»Wo?«

»Im Residenztheater.«

»Sie meinen das Ballet?«

»Ja. Wenn sich zwei solche Rivalinnen messen, so giebt es auf alle Fälle eine Ernte für sie.«

»Wir sprachen soeben von den beiden Tänzerinnen,« bemerkte jetzt der Kleine.

»Kennen Sie sie denn?«

»Freilich. Beide meldeten sich selbstverständlich gestern auf unserer Redaction.«

»Welche gefällt Ihnen besser?«

»Hm! Schöner ist die Amerikanerin, aber -!«

»Was aber -?«

»Ob auch interessanter und liebenswürdiger, das möchte ich nicht behaupten.«

»Ganz so, wie auch ich denke.«

»Sie haben dieselbe Erfahrung gemacht?«

»Gewiß. Erst kam die Miß. Ich kann wohl sagen, daß ihre Schönheit auf mich einen sehr günstigen Eindruck machte. Ich habe noch kein solches Mädchen gesehen, und das ist sehr viel gesagt bei den Erfahrungen, welche Unsereiner gesammelt hat.«

»Da haben Sie Recht. Sie ist eine Venus.«

»Das möchte ich nicht behaupten. Sie ist halb Juno und halb Diana, nämlich echt jungfräulich und doch dabei bereits üppig genug, um Herzen zu erobern.«

»Hm! Sie lieben also auch das Ueppige!«

»Eine fette Ente ist mir stets lieber, als eine magere Gans oder Henne. Freilich wird dieser günstige Eindruck, welchen die Amerikanerin macht, nie lange von Dauer sein. Sie ist ohne Geist.«

»Ohne Seele und Gemüth.«

»Ja, sie hat keine Gefühle, sie ist Eis. Der Herr Intendant war sehr wißbegierig, sie kennen zu lernen, hat sich aber schließlich sehr enttäuscht gefühlt.«

»Ihr Äußeres hat ihm nicht gefallen?« fragte Holm.

»O, das muß einem Jeden gefallen. Ich bin zwar nicht mehr der


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Allerjüngste, möchte aber doch ein Schäferstündchen mit ihr auf's Feinste honoriren; aber sie ist, wie gesagt - Eis. Ich habe Wort für Wort der Unterhaltung belauscht, welche mein Herr mit ihr führte. Er hat Alles gethan, um dieses Eis aufzuthauen, doch vergebens. Wissen Sie, was sie ihm antwortete, als er sie um einen Kuß bat?«

»Nun?«

»Er sei zu alt.«

»Das ist stark!« meinte der Kleine.

»Sie nannte ihn Großvater und Urgroßvater.«

»Das ist noch stärker; das ist fast frech!«

»Und sodann warf sie ihm vor, daß er falsches Haar trage. Denken Sie sich!«

»Da weiß man wirklich nicht, was man dazu sagen soll! Trägt denn der Herr Intendant wirklich eine Perrücke?«

»Hm! Sie wissen, daß Unsereiner discret sein muß. Aber sie hat sogar die Verwegenheit gehabt, sein Toupet zu berühren, um es, da es sich verschoben hatte, in die richtige Lage zurückzubringen.«

»Echt amerikanisch, bei Gott!«

»Und dann, als sie ging, da leuchteten ihre Augen nur so vor Vergnügen über die Dummheiten, welche sie begangen hatte.«

»Eine Tänzerin sollte klüger sein!«

»Und zutraulicher!«

»Aufmerksamer und hingebender! Die Leda hat sich dagegen ganz anders benommen.«

»War sie nach oder vor der Amerikanerin bei Ihnen?«

»Gleich nach ihr.«

»Wie gefiel sie Ihnen?«

»Hm! Sie ist bereits etwas abgestanden. Sie hat Erfahrungen; aber das schadet ja nichts. Ihr kommt es auf einige Dutzend Küsse ganz und gar nicht an.«

»Sie übertreiben!« meinte Holm, in der Absicht, ihn zu näherer Mittheilung zu reizen.

»Oho! Wenn Sie wüßten, was im Cabinet des Herrn Intendanten passirt ist!«

»Können denn Sie es wissen?«

»Warum nicht? Hat denn ein Reporter keine Ahnung, daß es Schlüssellöcher giebt?«

»Ach so! Sie haben gelauscht?«

»Gelauscht und gesehen.«

»So ist der Herr Intendant also wohl sehr zufrieden mit der Leda gewesen?«

»Er war höchst befriedigt von ihr, grad ebenso wie ich.«

»Auch Sie! Hm!«

Holm machte bei diesen Worten eine Miene, als ob er Zweifel hege.


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»Was meinen Sie mit diesem Hm, Herr Holm?« fragte der Diener in strengem Tone.

»Ich denke vergeblich darüber nach, in welcher Weise auch Sie befriedigt sein könnten.«

»Nun, in ganz derselben Weise wie der Herr Intendant. Das versteht sich ganz von selbst.«

»Sie wollen damit sagen, daß die Leda auch gegen Sie liebenswürdig gewesen sei?«

»Ja, gewiß.«

»Das soll natürlich heißen, freundlich.«

»Nein, sondern zärtlich.«

»Oho!«

Monsieur Jean strich sich die glatt rasirten Wangen und fragte in selbstgefälligem Tone:

»Sie wollen zweifeln?«

»Vielleicht doch wohl.«

»Unsinn! Sie scheinen die Verhältnisse, welche man in vornehmen Häusern findet, nicht zu kennen!«

»Ich glaube, gerade in dieser Beziehung nicht ununterrichtet und unerfahren zu sein.«

»Dann aber müßten Sie wissen, daß der Kammerdiener meist mehr zu sagen hat, als der Herr.«

»Das soll allerdings vorkommen.«

»Wer sich die Gunst des Herrn erringen will, muß sich erst die Sympathie des Kammerdieners erwerben.«

»Und das hat die Leda gethan?«

»Sie glücklicher Mann!«

»O, sie hat mich sogar freiwillig geküßt!«

»Sapperment!«

»Und mir für die Zukunft noch weitere Zärtlichkeiten versprochen, Herr Holm!«

»Das soll ich glauben?«

»Ich kann es beschwören. Sie ist eben Tänzerin, voll Feuer und Gluth. Sie erweckt nicht bloß Gefühle, sondern sie stillt und befriedigt sie auch. Ich verspreche mir köstliche Augenblicke von ihr.«

»Dann bin ich wirklich begierig, sie zu sehen.«

»Gehen Sie morgen in's Theater. Wie ich sie kennen gelernt habe, wird sie während des Tanzes mit ihren Reizen und Schönheiten nicht geizen.«

»Von der Amerikanerin aber erwarten Sie das wohl nicht?«

»Wie sie mir vorgekommen ist, bin ich wirklich begierig, von dem Kostüm zu hören, in welchem sie auftreten wird. Es ist mir fast unmöglich, sie mir in Tricots, kurzem Balletröckchen und tiefausgeschnittener Taille zu denken.«


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Ueber Holms ernstes Gesicht flog ein stilles Lächeln. Er zuckte die Achsel und sagte:

»Wenn sie etwa als Nonne auftritt, so mag sie ihr Debüt lieber ganz unterlassen.«

»Sie mag auftreten wie sie will, der Ausgang dieser Concurrenz ist nicht zweifelhaft.«

»Wirklich? Bereits jetzt?«

»Bereits jetzt!« nickte Jean mit wichtiger Miene.

»Nun, wie denken Sie sich diesen Ausgang?«

»Die Leda wird siegen.«

»Ist das wirklich so unzweifelhaft?«

»Ganz und gar unzweifelhaft.«

»Ich denke, man wird abzuwarten haben, für wen sich das Publicum entscheidet.«

»Das Publicum?« fragte der Kammerdiener in höhnischem Tone. »Wen oder was denken Sie sich denn unter diesem berühmten Publikum, mein verehrtester Herr Holm?«

»Nun, die Gesammtheit der Zuschauer.«

»Schön! Und Sie meinen wohl, daß diese Gesammtheit ein Urtheil, eine Stimme habe?«

»Natürlich.«

»Da irren Sie sich sehr, junger Mann. Man hört, daß Sie noch jung sind und sich erst Erfahrung zu sammeln haben.«

»Aber man spricht und schreibt doch von der Stimme des Publikums!«

»Das ist Larifari; glauben Sie es mir. Das Publikum ist ein willenloses, urtheilsloses - Ungeziefer!«

»Hm! Drücken Sie sich da nicht ein wenig zu kräftig aus, geehrter Herr?«

»Nein. Die Stimme des Publikums ist stets eine gemachte. Der Pöbel ist stets unselbständig; er wird geleitet. Ein einziger kluger und willensstarker Character zwingt der ganzen Menge seine Meinung auf, ohne daß diese Menge es nur bemerkt. Das Publicum schwatzt nach, was ihm dictirt oder soufflirt wird.«

»Und aus diesem Grunde meinen Sie, daß die Leda morgen siegen werde?«

»Ja, das meine ich.«

»Dann muß ich folglich annehmen, daß es einen Mann oder gar einige Männer giebt, deren Urtheil und Wille sich hier als maßgebend erweist?«

»Natürlich.«

»Ich wäre wohl wißbegierig, diese Männer kennen zu lernen. Ich weiß Keinen.«

»Herr Holm, Sie sind wirklich spaßhaft. Sie arbeiten für die Oeffentlichkeit; Sie selbst sollen zu Denjenigen gehören, welche das Urtheil des Pub-


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licums - fabriciren, und nun zeigen Sie sich so unwissend! Nehmen Sie es mir nicht übel, daß ich mich dieses Ausdruckes bediene! Es giebt keinen treffenderen.«

»Uebel nehmen? Ganz und gar nicht! Ich bin, wie Sie ganz richtig sagen, noch jung und unerfahren. Ich muß also dankbar sein, wenn ich von irgendeiner Seite her Belehrung finde.«

»Das ist sehr verständig von Ihnen, und so will ich Ihnen gleich einige Fingerzeige geben. Haben Sie im heutigen Residenzblatte den Aufsatz gelesen, welcher von den beiden Tänzerinnen handelt?«

»Vorhin erst.«

»Kennen Sie den Verfasser?«

»Jedenfalls ist's unser Chefredacteur.«

»Natürlich! Glauben Sie, daß dieser Aufsatz ohne Wirkung bleiben werde?«

»Wohl nicht, obgleich ich mich fragen möchte, ob der Verfasser sich genau an die Wahrheit gehalten hat.«

»Selbst wenn er geflunkert haben sollte, wird die Wirkung nicht auf sich warten lassen. Wissen Sie, was das beste Mittel ist, einen Menschen öffentlich todt zu machen?«

»Seine Moralität in Zweifel ziehen.«

»O nein! Wer verlangt zum Beispiele von einer Tänzerin Moralität? Es giebt auch auf anderem Felde höchst unmoralische Menschen, welche dennoch ein hohes Ansehen genießen. Nein; die beste, fürchterlichste Waffe ist die Lächerlichkeit. Sie siegt über Alles, selbst über die Wissenschaft, die Schönheit, den Ruhm. Wer die Liebe eines Weibes gewinnen will, kann Alles wagen, alles thun; aber er muß sich sehr hüten, sich lächerlich zu machen. Das Publicum nun ist ein Weib; es kann Alles verzeihen und vergessen, nur nicht die Lächerlichkeit. Verstehen Sie mich?«

»Ich beginne allerdings, Sie zu begreifen.«

»Ihr Chefredacteur ist ganz meiner Meinung, und er handelt darnach. Er hat die Absicht, die Amerikanerin lächerlich zu machen, und diese Absicht wird er erreichen. Sie mag ihre Pas noch so schön tanzen, man wird doch an die Bauernmagd und an das Butterfaß denken, von denen der Artikel erzählt. Der Verfasser ist also einer von Denjenigen, welche die Stimme des Publicums fabriciren. Das sehen Sie doch ein.«

»Ich muß Ihnen Recht geben.«

»Denken Sie sodann an meinen Herrn, den Intendanten. Die Amerikanerin hat ihn beleidigt, mit Geringschätzung behandelt; Mademoiselle Leda aber ist im höchsten Grade liebenswürdig gegen ihn gewesen. Welche wird er also vorziehen?«

»Die Letztere.«

»Allerdings. Nun geben Sie vielleicht zu, daß der Intendant den höchsten Einfluß besitzt, nicht nur im Allgemeinen, sondern auch in Beziehung auf jede einzelne Vorstellung. Er vermag es, einem Künstler, einer Künstlerin tausend


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Hindernisse in den Weg zu legen. Der Herr Intendant ist seiner Sache so sicher, daß er der Leda bereits das Engagement fest zugesagt hat.«

»Es werden also solche Hindernisse, wie Sie erwähnten, vorhanden sein?«

»Wollen Sie es ihm verdenken?«

»Von seinem Standpuncte aus nicht. Strafe muß sein.«

»Also ist auch der Herr Intendant ein Fabrikant der öffentlichen Meinung. Ferner, denken Sie doch an die Claque. Herr Léon Staudigel, der Chef des bezahlten Beifalles, hat es ganz in der Hand, einen Künstler zu halten oder fallen zu lassen.«

»Natürlich ist die Leda bei ihm gewesen?«

»Ja.«

»Hat sie ihm gefallen?«

»Außerordentlich.«

»Hat er das vielleicht Ihnen gesagt?«

»Nein. Er war vorhin bei meinem Herrn, und ich wurde Zeuge der Unterredung.«

»Natürlich wieder durch das Schlüsselloch?«

»Spaßen Sie immerhin! Es ist das eine meiner kleinen Schwächen. Man muß doch wissen, wie man in dem Kreise hält, in welchem man thätig ist.«

»So scheint die Leda also auch mit Herrn Léon Staudigel liebenswürdig gewesen zu sein?«

»Natürlich! Der Herr konnte es gar nicht genug beschreiben. Es soll ein wahres Kußfeuerwerk gewesen sein. Und er beschrieb alle Formen und Heimlichkeiten ihres Körpers so genau, daß Beide wirklich ganz intim mit einander gewesen sein müssen.«

»Ich beneide Sie, Monsieur Jean!«

»Warum?«

»Es muß ein Hochgenuß sein, zwei so alte Herren über ein so zartes Thema verhandeln zu hören.«

»Allerdings. Das Ergebniß war natürlich, daß die Leda festgehalten werden soll. Herr Léon Staudigel wollte sich auch zum Director, zum Dirigenten und sodann endlich zum Balletmeister begeben, um sie auch für seine Meinung zu gewinnen. Ich zweifle keinen Augenblick daran, daß es ihm gelingen werde.«

»Ist denn Miß Starton nicht auch bei ihm gewesen?«

»Nein, denken Sie sich!«

»Wie dumm!«

»O, nicht nur dumm ist das. Sie hat sich gegen ihn so hochmüthig und geringschätzend benommen, daß die Absicht, seine Feindschaft herauszufordern, gar nicht zu verkennen gewesen ist.«

»Also in eine gewisse Beziehung ist sie doch zu ihm getreten?«

»Nicht sie zu ihm, sondern er zu ihr.«

»Wieso?«


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»Er hat ihr seine Hilfe und Unterstützung brieflich angeboten.«

»Und sie hat wohl verzichtet?«

»Ja. Sollte man das für möglich halten?«

»Allerdings kaum glaublich!« sagte Holm, indem er sich vom Stuhle erhob und das Geld für den Kaffee auf den Tisch legte. »Ich kann mich über eine solche Dummheit so sehr ärgern, daß ich gar nichts Weiteres hören mag, ich gehe also. Besten Dank für den Wein, Monsieur Jean. Leben Sie wohl, meine Herren!«

Er ging. Draußen unter der Thür blieb er stehen und holte tief, tief Athem.

»Pack, Pack und zum dritten Male Pack!« seufzte er. »Die Luft erscheint Einem förmlich von Gemeinheit geschwängert! Ja, so ist sie, diese herrliche Ellen, stolz, keusch, rein und erhaben über alle Niedrigkeit! Also ein förmliches Complott bildet sich gegen sie! Was thue ich dagegen? Soll ich sie warnen, oder soll ich heimlich über sie wachen und im Stillen gegen diese Herren zu Felde ziehen? Ich werde es mir überlegen!«

Er schritt gedankenvoll dem Altmarkte zu, in dessen Hinterhäusern ja seine Wohnung lag. Er mußte dabei am Hotel zum Kronprinz vorüber. Er hatte dasselbe noch nicht ganz erreicht, so kam ihm ein Mann entgegen, welcher eine Art von Livrée trug, alt und abgetragen zwar, aber dennoch sehr reinlich gehalten. Seine Züge waren gedrückt und wehmüthig, sein glatt rasirtes Gesicht hager und bleich. Man sah es ihm an, daß er mit der Noth und den Sorgen des Lebens auf einem vertrauteren Fuße stand, als es ihm eigentlich lieb sein konnte.

Max Holm blieb, als er diesen Mann erblickte, stehen.

»Guten Tag, Papa Werner!« sagte er in freundlichem Tone. »Wie geht es?«

»Danke!« antwortete der Gefragte. »Gut leider nicht!«

»O weh! Immer noch das alte Lied?«

»Ja, immer noch! Es wird wohl auch nicht anders werden, mein lieber Herr Holm!«

Dabei schüttelte er sich und blies sich in die Hände, indem er hinzufügte:

»Heute ist's wieder kalt, bitter kalt!«

»Einfeuern, einfeuern! Innerlich und äußerlich!« meinte Max in aufmunternder Weise.

»Womit denn?«

»Äußerlich mit Kohlen und Holz, innerlich aber mit Kaffee, Thee oder Grog, was gerade zur Hand ist!«

»Potztausend, sprechen Sie aus einem vollen Geldbeutel!«

»O, ich bin reich,« lachte der Violinist. »Sie nicht?«

»Ich?« fragte der Andere wehmüthig. »Bei einem Theaterdienergehalt von zwanzig Gulden monatlich, Vater, Mutter, Frau und fünf Kindern?«

»Da ist zwanzig zu wenig. Sind Sie denn nicht wieder einmal um Zulage eingekommen?«


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»Ja, aber umsonst. Der Intendant will mir nicht wohl, weil der Director mir freundlich gesinnt ist. Dieser Letztere befürwortet mein Gesuch, und darum wird dasselbe von dem Ersteren stets abgeschlagen.«

»Das ist freilich höchst bedauerlich, mein lieber Papa Werner!«

»Bedauerlich bloß? Oh, es ist sogar schlimm, sehr schlimm! Ich sage Ihnen, daß meine Kinder Hunger haben, Hunger, o Gott! Emilie hat bis übermorgen zu stricken; da lösen wir erst Geld, aber auch wenig genug.«

»Was? Ihre Kinder haben Hunger? Da läßt sich denken, daß Sie als Vater noch länger gehungert haben als sie?«

»Da haben Sie freilich nicht unrecht, Herr Holm. Wenn man nur ein paar Kohlen hätte, um feuern zu können.«

»Kohlen sollen sie haben; ich denke, daß -«

»Kohlen? Von wem denn?«

»Von mir.«

»Von Ihnen? Ich weiß, daß Sie gut sind, aber Sie machen doch nur Spaß. Sie sind ja gerade so arm wie ich.«

»Aber einige Kreuzer für Kohlen habe ich für Sie.«

»Nein, nein! Das könnte ich von einem Jeden annehmen, nur von Ihnen nicht. Sie haben es wohl vergessen, daß ich Ihnen noch Geld schuldig bin?«

»Schuldig? Mir?« fragte Max, scheinbar erstaunt. Er wußte aber gar wohl, daß Werner Recht hatte.

»Ja. Wissen Sie, damals, als ich kein Geld zur städtischen Steuer hatte! Ich traf Sie auf der Straße und klagte Ihnen meine Noth. Sie nahmen mich mit in's Kaffeehaus, ließen mir warmen Kaffee und Buttersemmeln geben und borgten mir vier Gulden, obgleich Sie nur sechs hatten. Den Kaffee habe ich getrunken, die Semmeln aber mit nach Hause genommen. Und die vier Gulden? Tausendmal habe ich an sie gedacht, aber bezahlt sind sie leider noch nicht. Sie werden sehr böse sein, aber ich gebe Ihnen die heilige Versicherung, daß es mir bis jetzt ganz unmöglich gewesen ist, sie zu erübrigen!«

»Machen Sie sich keine Sorge! Ich brauche sie jetzt nicht.«

»Das sagen Sie auch nur, um mich zu beruhigen. Ich weiß ja, daß Sie zu kämpfen haben.«

»Das ist wahr. Aber der liebe Gott hilft doch immer wieder. Wollen Sie ein Gläschen Grog mit trinken?«

Das matte Auge des Mannes belebte sich.

»Grog?« sagte er. »Sie scherzen!«

»Nein. Es ist mein Ernst!«

»Grog habe ich seit Jahren nicht gerochen, viel weniger getrunken!«

»Nun, so kommen Sie! Wir gehen auf einige Minuten hinein in den Kronprinzen.«

»Wirklich? Ist's Ihr Ernst?«

»Natürlich!«


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»Gerade wie damals, als Sie mir Kaffee und Semmeln geben ließen, Herr Holm, Sie haben ein gutes Herz!«

»Und Sie sind ein braver Mann, dem man schon eine kleine Erquickung gönnen kann. Kommen Sie!«

Sie gingen in das Restaurationszimmer des Hotels, und Holm bestellte zwei Glas Grog. Dann nahm er die Speisenkarte, schlug sie auf, legte sie dem Theaterdiener hin und sagte:

»Da, Papa Werner, suchen Sie sich etwas aus!«

Der Genannte machte ganz erschrockene Augen und fragte:

»Aussuchen?«

»Natürlich.«

»Von diesen Speisen?«

»Was denn sonst?« lachte Holm.

»Herr, sind Sie des Teufels?«

»Wie kommen Sie zu dieser Frage?«

»Da steht: Gänsebraten achtzig Kreuzer, Hasenbraten einen Gulden, Rehrücken, Wildschweinskeule, auch zu einem Gulden. Dann Schnitzel, Rumpfsteak, Coteletts, Goulasch und Paprikafleisch, jedes zu siebzig Kreuzer! So etwas kann nur Einer essen, dem das Geld aus der Tasche purzelt!«

»Nun, mir purzelt es heraus!«

»Wie, was, wirklich? Haben Sie im Lotto gewonnen?«

»Das nicht; aber ich habe mich engagiren lassen und ein gutes Draufgeld erhalten.«

»So, so! Das freut mich um Ihretwillen von ganzem Herzen. Aber Sie dürfen sich meinetwegen nicht berauben!«

»Haben Sie keine Sorge, Papa Werner. Es reicht zu. Also, suchen Sie sich etwas aus.«

»Na, wenn Sie durchaus wollen! Hunger habe ich wie ein Nußknacker. Da unten steht: Hamburger Butterbrod, dreißig Kreuzer. Darf ich mir das geben lassen?«

»Nein. Warum suchen Sie sich das Billigste heraus? Wenn Sie so lange gehungert haben, werden Sie von einer Hamburger Stolle nicht satt. Nehmen Sie Etwas von da oben!«

»Das ist zu theuer!«

»Das geht Sie nichts an!«

»Hm! Soll ich so eine Delicatesse nehmen, und die Meinen sitzen zu Hause und hungern!«

»Still! Ihre Familie soll nicht hungern. Sehen Sie hier diese zehn Gulden! Ich borge sie Ihnen.«

Er nahm die angegebene Summe heraus und schob sie dem Theaterdiener hin; dieser aber fuhr zurück, streckte die Arme wie abwehrend aus und sagte:

»Gott soll mich behüten, Sie um ein solches Geld zu bringen! Sie brauchen es selbst!«


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»Nein, ich brauche es jetzt nicht.«

»O doch! Ich weiß es!«

»Nichts wissen Sie!«

»Alles, Alles weiß ich!«

»So? Wirklich? Wissen Sie etwa auch, daß ich jetzt über hundert Gulden einstecken habe?«

»Hun - hun - hundert Gul - gul - gul - den?!« stieß der Mann vor Erstaunen stotternd hervor.

»Ja. Sie sehen also, daß ich Ihnen ganz gut und gern zehn Gulden leihen kann. Sie sollen Holz und Kohlen kaufen und auch Essen für Ihre Familie.«

»Ist das die Wahrheit? Oder sagen Sie das nur, damit ich die zehn Gulden annehmen soll?«

»Es ist die Wahrheit. Da, sehen Sie!«

Er öffnete das Portemonnai und hielt es ihm hin.

»Wirklich, wirklich! Herrgott, welch ein Geld! Ja, ich möchte das Darlehn recht gerne annehmen; aber ich bin Ihnen doch bereits vier Gulden schuldig!«

»Das thut nichts!«

»Dann sind es vierzehn!«

»Sie werden sie mir ja wieder geben!«

»Ich sage es Ihnen aufrichtig, daß dies nicht so sehr bald geschehen wird!«

»Nun, so zahlen Sie dann, wenn Sie können. Also bitte, stecken Sie das Geld ein!«

Dem Theaterdiener standen die Thränen der Freude im Auge. Er hielt dem Reporter die Hand hin und sagte:

»Herr Holm, ich weiß nicht, was ich sagen soll; darum will ich lieber gar nichts sagen. Ja, ich will das Geld annehmen. Sobald ich kann, gebe ich es Ihnen wieder, und unser Herrgott, der es sieht, welche Hilfe Sie mir bringen, mag tausendfältige Zinsen zahlen.«

Auch Max war gerührt. Er schüttelte dem braven Manne die Hand und sagte:

»Nun suchen Sie sich aber auch ein Essen aus.«

»Auch das noch! Aber - essen Sie nicht auch?«

»Hm! Sie denken wohl, es schmeckt Ihnen nicht, wenn Sie allein essen sollen?«

»Ja, so ist es. Es würde mir so schmecken, als ob ich ein Almosen hinunterschlucke. Essen Sie aber mit, dann ist's ja eine Freundesgabe.«

»Nun gut, ich esse mit.«

Das Auge des Theaterdieners war mit Begierde auf den oberen Theil der Speisenkarte gerichtet. Doch wagte er nicht, sich von da Etwas zu wählen. Daher fragte er lieber:

»Was werden Sie sich bestellen?«


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Max errieth ihn und antwortete daher lächelnd:

»Werden Sie essen, was ich auch esse?«

»Soll ich denn?«

»Ja.«

»Gut! Ich darf doch nicht Nein sagen, mein lieber Herr Holm.«

»Schön! Ich werde mir also erst Gänsebraten und dann Rehrücken geben lassen.«

»Sapristi!« rief Werner indem er halb von seinem Stuhle emporfuhr. »Und das soll ich auch bekommen?«

»Natürlich!«

»Gänsebraten habe ich vor acht Jahren einmal gegessen, nämlich auf einer Hochzeit, Rehrücken aber in meinem ganzen Leben noch nicht. So Etwas kann Unsereiner sich nicht bieten!«

»Nun, so sollen Sie es heute haben!«

Er bestellte das Genannte. Als es servirt wurde, sog der Theaterdiener den Duft des Bratens gierig ein und sagte:

»Schon der bloße Geruch ist einen Gulden werth. Herr Holm, Sie bauen sich heute nicht nur eine Stufe, sondern eine ganze Treppe zum Himmel empor!«

»So steigen Sie hinter mir her! Es ist besser, wir kommen mit einander hinauf.«

»Ja. Und oben will ich es dem Herrgott erzählen, was für ein guter Kerl Sie sind.«

Er machte sich an den Braten, und bei jedem Bissen, den er in den Mund steckte, sah man es ihm an, welch eine außerordentliche Güte er sich daran that.

Auch Holm hatte seit langer Zeit so Etwas nicht gegessen. Vier Gulden für ein Mittagsessen, das hatte er sich in letzter Zeit nicht bieten können. Dennoch hatte er auf seinen Gast mehr Acht, als auf den Braten. Er freute sich königlich, dem braven Manne diesen seltenen Genuß bieten zu können. Er störte ihn nicht während des Essens. Dann aber, als der Theaterdiener, nachdem der Rehrücken verschwunden war, sich mit der Serviette den Mund wischte und mit der Zunge schnalzte, fragte er:

»Habe ich Sie mit meiner Einladung vielleicht in der Ausübung Ihres Berufes gestört?«

»O nein! Es ist nicht nothwendig. Ich sollte nach dem Theaterarchiv, von wegen der Königin der Nacht.«

»Ah, das Ballet, welches gegeben werden soll?«

»Ja. Ich soll die Partitur holen und dann dem Herrn Capellmeister hintragen.«

»Wozu?«

»Ich glaube, daß er Etwas zu ändern hat.«

»Wer sagte das?«

»Der Herr Intendant.«


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»Soll denn vor der Aufführung geprobt werden?«

»Nein. Die Capelle ist eingeübt, und die beiden Tänzerinnen sind es auch. Wozu also die Probe?«

»Wozu da aber auch die Veränderung der Musik?«

»Das weiß ich nicht.«

»Und ich begreife es nicht. Haben Sie die Tänzerinnen vielleicht schon gesehen?«

»Nein. Mir kann es sehr gleichgültig sein, welche von den beiden Frauenzimmern engagirt wird. Die Stelle bringt zehntausend Gulden ein, und ich bleibe doch bei meiner armseligen Gage. Mein Gott, wenn man da so in Gedanken einen Vergleich anstellt! So eine einzelne, ledige Person zehntausend Gulden, ohne die Spielgelder und die Summen, welche die Gastreisen ergeben. Und ich mit meiner Familie - da möchte man mit beiden Fäusten dreinschlagen! Sie sind arm, Herr Holm; aber kommen Sie einmal erst zu mir! Es ist ein Elend, wie es kein größeres geben kann! Sie haben keinen Begriff davon! Nicht wahr, Sie sind drei Personen?«

»Vier, der Vater, die Schwester, ich und ein Bruder, welcher sich auf dem Gymnasium befindet.«

»Da will allerdings gesorgt und gearbeitet sein! Sagten Sie nicht, daß Ihren Vater der Schlag getroffen habe?«

»Leider! Er ist gelähmt!«

»Das ist schlimm, sehr schlimm, aber geht doch noch!«

»Es geht noch? Wie kommen Sie zu dieser verwunderlichen Rede? Gelähmt sein ist doch ein großes Unglück!«

»Das wohl; aber es ist doch keine widerwärtige, ekelhafte, sondern eine reine Krankheit. Aber bei mir! Du lieber Heiland! Sie sollten einmal bei mir nur die Stubenthüre aufmachen!«

»Was wäre da?«

»Sie würden sofort wieder davon laufen.«

»Warum?«

»Habe ich es Ihnen noch nicht gesagt?«

»Nein.«

»Ja, von solchen Sachen spricht man nicht. Ich halte es soviel wie möglich geheim; aber zu Ihnen kann ich davon sprechen. Sie werden es nicht ausreden. Wenn der Intendant es erführe, wäre es um uns geschehen. Ich würde sofort meine Stelle verlieren.«

»Ist es denn etwas so sehr Böses?«

»Leider ja! Es ist das Böseste, was es giebt. Meine Frau hat den Krebs.«

»O weh! Wo denn?«

»Im Gesichte. Er ist unheilbar.«

»So ist er bereits alt?«

»Mehrere Jahre. Kein Arzt kann helfen. Das Gesicht ist vollständig zerstört. Wir müssen ihr den Kopf und das Gesicht mit vier, fünf Tüchern


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umwickeln, und dennoch ist es vor - verzeihen Sie - vor Gestank kaum auszuhalten. Und zwanzig Gulden monatlich! Denken Sie!«

»Armer, armer Teufel!«

»Und meinen Vater und meine Mutter dazu, die so alt sind, daß sie keinen Kreuzer verdienen können.«

»Kann denn nicht eins von Ihren fünf Kindern wenigstens eine Kleinigkeit verdienen? Sie sprachen vorhin von einer Emilie, welche strickt?«

»Ja. Das ist nämlich so: Ich hatte sechs Kinder. Der Älteste war Steinmetz. Er wurde von einem Sandsteinblocke erschlagen. Er war bereits verheirathet. Seine Frau mit ihren zwei kleinen Kindern habe ich auch noch bei mir.«

»Also fünf Kinder und zwei Enkel?«

»Ja.«

»Dann sind Sie allerdings nicht zu beneiden.«

»Wo wollte die Wittwe hin? Sie war von Auswärts und noch nicht ganz zwei Jahre hier wohnhaft. Hätte ich sie nicht zu mir genommen, so hätte sie fort gemußt. Sie ist eine fleißige, ordentliche Person. Sie hat gelernt, Seelenwärmer zu stricken, wissen Sie, das sind wollene Tücher, welche die Frauen um die Schultern und den Leib binden. Das hat sie Emilie, meiner zweiten Tochter, gelernt. Und nun arbeiten diese Beiden Tag und Nacht, um mir unter die Arme zu greifen. Aber leider ist der Lohn so gering, daß er nicht zum trockenen Brode reicht.«

»Und die anderen Kinder verdienen nichts?«

»Nein.«

»Aber Sie sagten doch, daß Emilie Ihre zweite Tochter sei?«

»Allerdings!«

»Also haben Sie noch eine ältere Tochter?«

»Ja,« antwortete Werner zögernd, indem sich sein Gesicht augenblicklich verdüsterte.

»Ich meine, daß diese Tochter noch lebt?«

»Sie lebt noch.«

»Nun, so kann sie doch auch mit arbeiten und etwas verdienen helfen.«

Werner blickte einige Augenblicke lang vor sich nieder; dann sagte er, indem er schmerzlich aufseufzte:

»Das thut sie auch. Sie hat uns vor zwei Jahren einen Gulden geschickt und vor einem Jahre zwei Gulden. Vielleicht bekommen wir wieder Etwas!«

»Drei Gulden in zwei Jahren? Das ist wenig. Was arbeitet sie denn da?«

»Sie näht Gorl.«

»Das ist Perlenzeug.«

»Ja.«

»Aber da muß sie doch mehr verdienen?«

»Nein, mein bester Herr Holm. Sie verdient so wenig, daß es mir


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trotz der Noth, in welcher ich stecke, lieber wäre, wenn sie mir nichts, gar nichts schickte. Aber die gute Seele will doch auch zeigen, daß sie unser Kind ist.«

»Ist sie denn nicht bei Ihnen?«

»Nein.«

»Also auswärts?«

»Ja. Wissen Sie denn nicht, wo sie ist?«

»Nein, gar nichts weiß ich.«

»Ich glaubte, es Ihnen bereits gesagt zu haben!«

»Kein Wort!«

»Ja, man spricht natürlich nicht davon. Aber es sollte mich doch wundern, wenn Sie nichts davon gehört oder gelesen hätten. Damals waren ja alle Zeitungen von diesem traurigen Ereignisse voll.«

»Sie müssen sich erinnern, daß ich Jahre lang nicht in der Heimath gewesen bin.«

»Aber dann, dann kann man davon gesprochen haben.«

»Auch nicht. Ich habe überhaupt mit Niemandem von Ihnen oder den Ihrigen gesprochen. Was Ihnen als Einzelperson höchst wichtig sein kann, das verschwindet ja im Leben einer so großen Stadt.«

»Ja, ja. Und das ist ein großes Glück. Ich konnte ja nichts, gar nichts dafür, aber dennoch hätte es mich beinahe um meine Stelle gebracht. Der Intendant wollte mich entlassen, ohne Gnade und Barmherzigkeit, aber der Director, der überhaupt der einzige Brave der ganzen Residenztheaterverwaltung ist, brachte es so weit, daß ich doch noch bleiben durfte.«

»So war es also etwas - etwas Ungutes, was sich damals ereignete?«

»Ungut, sagen Sie? Es war mehr, viel mehr. Es war so traurig, daß ich beinahe vor Herzeleid gestorben wäre.«

Vorhin hatte er vor Freude geweint; jetzt wischte er sich die Tropfen weg, welche ihm der Schmerz der Erinnerung auspreßte. Das that Holm wehe. Er sagte in theilnehmendem Tone:

»Lassen wir das! Brechen wir von diesen Gegenstande ab! Bitte, denken Sie nicht daran! Es stimmt Sie traurig, und das können wir vermeiden!«

»Recht haben Sie!« seufzte der Theaterdiener. »Es ist besser, man versucht es zu vergessen; aber leider vergißt es sich nicht. Man wird tausend- und tausendmal daran erinnert; es läßt Einem keine Ruhe; es geht mit Einem schlafen, es steht mit Einem auf, es setzt sich mit Einem zu Tische und vergällt Einem das trockene Brod, mit welchem man den Hunger stillt. Und doch thut es Einem wohl, zu einem mitleidigen Menschen davon zu sprechen. Ein theilnehmendes Wort ist wie Balsam auf die Wunde. Und die Laura hat dieses Schicksal doch nicht verdient. Ich gebe meinen Kopf zum Pfande, daß sie es nicht gethan hat!«

»Was?«


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»Ach so, Sie wissen es nicht! Nun, erschrecken Sie nicht, mein guter Herr Holm - meine Tochter ist in Rollenburg.«

»In Rollenburg? Herrgott! In der Irrenanstalt?«

»Nein, sondern, sondern -«

Er stockte. Es fiel ihm so sehr schwer, das böse Wort auszusprechen.

»Nicht im Irrenhause, also im - im - - Sie wollen doch nicht sagen, daß sie gefangen ist?«

»Leider, leider! Das ist es gerade, was ich sagen will. Sie ist im - im - Zuchthause.«

»Schrecklich!«

»Ja. Ich wundere mich, daß ich damals nicht gestorben bin; aber, es ist ein Nagel zu meinem Sarge; ich gehe dennoch daran zu Grunde!«

»Und Sie sagten, daß sie es nicht gethan habe?«

»Ja. Ich stehe für mein Kind.«

»Sie ist unschuldig?«

»Wie die liebe Sonne am Himmel!«

»Was hat man ihr denn zur Last gelegt?«

»Man hat sie verurtheilt als - als Kindesmörderin.«

»Du lieber Heiland!«

Werner weinte still vor sich hin. Glücklicher Weise saß er so, daß er von den anderen anwesenden Gästen nicht beobachtet werden konnte.

»Nicht wahr,« sagte er unter Thränen, »man sagt, daß es im Himmel Engel gäbe, welche die Thränen zählen und in ihren Krügen sammeln. Wieviel hundert, hundert Krüge müssen sie da haben, welche voll von unseren Thränen sind! Wäre meine Tochter schuldig, so könnte man sich trösten; man könnte sich sagen, daß sie es verdient habe. Aber sie ist unschuldig, es war nicht ihr Kind.«

»Nicht ihr Kind? Wie meinen Sie das? Soll sie das Kind einer anderen ermordet haben?«

»Nein, sondern ihr eigenes.«

»Aber Sie sagen, daß es nicht ihr Kind gewesen sei!«

»Nein, es war ein fremdes Kind.«

»Ich verstehe Sie nicht. Wenn sie ihr Kind getödtet haben soll, so muß sie doch eins gehabt haben; sie muß Mutter gewesen sein.«

»Ja, das war sie; das hat sie auch eingestanden, und auch wir haben es nicht geleugnet.«

»So war sie wohl nicht verheirathet?«

»Nein. Sie stand bei der Baronin von Helfenstein im Dienste. Sie wurde ganz plötzlich entlassen, und als wir sie nach dem Grunde fragten, gestand sie uns nach langem Zögern, daß sie sich Mutter fühle und ihre Stunde erwarte.«

»O weh!«

»Ja. Sie können nicht wissen, was Eltern bei so einer Kunde fühlen! Man hat die Tochter brav erzogen, und dann kommt sie nach Hause und -«


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Er hielt inne. Dann ballte er die Faust und knirschte:

»Könnte ich es ihm heimzahlen! Aber das Mädchen durfte ja nichts sagen; er hatte ihr goldene Berge vorgemalt!«

»Von wem sprechen Sie?«

»Von ihrem Herrn, dem Baron von Helfenstein!«

»Ah! Er war der Vater?«

»Ja. Er war Laura immer in den Weg getreten, sie aber hatte ihn abgewiesen. Dann aber war es ihr einmal nach einer Tasse Thee unwohl geworden. Sie hatte sich niederlegen müssen. Es war ihr ganz so gewesen, als ob sie betrunken sei. In der Nacht dann war sie erwacht, und da hatte sie bemerkt, daß sie nicht allein sei. Der Baron hatte sich bei ihr befunden.«

»Schuft!«

»O, tausendfacher Schurke!«

»War Ihre Tochter denn hübsch?«

»Ja; sie war fast so schön wie die Emilie, die jetzt noch zu Hause ist. Das einzige Glück nämlich, welches ich besitze, ist, daß ich gesunde und wohlgestaltete Kinder habe. Bei Laura aber war die Schönheit kein Glück, sondern sie wurde ihr Verderben.«

»Sie haben natürlich den Baron als Vater genannt?«

»Nein.«

»Warum denn nicht?«

»Ich wußte es nicht. Er hatte meiner Tochter gesagt, daß sie ihn nicht nennen solle; in diesem Falle wolle er fürstlich für sie sorgen. Damit hatte er ihr den Kopf verdreht. Wir waren arm, und sie glaubte, daß er Wort halten werde. Sie sagte zu uns, daß sie nicht wisse, wer sie in ihrer Kammer überfallen habe; sie sagte, sie hätte den Menschen nicht erkannt. Dabei blieb sie auch später. Erst als ich sie in Rollenburg besuchte, nachdem sie sich bereits ein Jahr lang dort befunden hatte, erzählte sie mir aufrichtig, wie es sich zugetragen hatte.«

»Und das Kind -? Sie soll es getödtet haben?«

»Ja. Aber Gott im Himmel weiß es, daß sie es nicht gethan hat!«

»Sie machen mich wißbegierig. Ist sie denn auf bloße Indizien hin verurtheilt worden?«

»Freilich, freilich! Sie konnte ja nichts, gar nichts eingestehen!«

»Wie ist das gekommen?«

»Die eigentliche, unglückliche Ursache war, daß ich nicht daheim gewesen bin. Hätte ich mich zu Hause befunden, so wäre es nicht geschehen, so wäre es ganz anders geworden. Ich hätte die Geburt unbedingt angemeldet.«

»Das ist wohl unterlassen worden?«

»Leider Gottes, ja!«

»Welch eine Unvorsichtigkeit!«

»Ja, eine große Unvorsichtigkeit ist es gewesen. Das ist aber auch das Einzige, was man den beiden Mädchen vorwerfen konnte.«

»Den beiden Mädchen? Wen meinen Sie noch?«


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»Ihre Schwester, die Emilie. Das arme Mädchen hat ja auch monatelang mit in Untersuchung gesessen!«

»Das wird immer trauriger.«

»Es war zum Sterben, wie gesagt. Das Personal des Residenztheaters ging auf Gastreisen, und ich als Diener mußte mit. Während meiner Abwesenheit kam Laura's Stunde. Sie gebar einen Knaben. Sie fühlte sich von der Geburt fast gar nicht angegriffen; sie war stark und kräftig; aber das Kind war desto schwächlicher, wohl deswegen, weil sie sich bis zum letzten Augenblicke, um ihren Zustand nicht merken zu lassen, sehr fest geschnürt hatte. Der Knabe war so schwach, daß er gar nicht schrie. Die Mitbewohner des Hauses merkten also nicht, daß ein neuer Erdenbürger angekommen war.«

»Und die Hebamme?«

»Man hatte keine geholt.«

»Aber warum nicht?«

»Aus falscher Scham. Die Geburt war so schnell und so glücklich von Statten gegangen, daß keine Hilfe nothwendig gewesen war, und dann, als Laura sah, daß das Kind wohl nicht fortleben werde, kam sie auf den unglücklichen Gedanken, gar Niemandem Etwas zu sagen.«

»Aber Ihre Frau mußte doch wissen, was das Gesetz in diesem Falle vorschreibt?«

»Meine Frau? Sie wußte ja gar nicht einmal, daß das Kind geboren war!«

»Wie ist das möglich?«

»Ach so! Sie wissen nicht, daß meine Frau nicht hört. Der Krebs hat ihre Ohren angegriffen. Vom Sehen war schon längst auch keine Rede mehr.«

»Das ist Unglück über Unglück!«

»Die Kleinen verstanden nichts, und Emilie, die Ältere von ihnen, ließ sich von den Bitten der Schwester bethören. Sie sagte sich, daß das Elend in unserer Familie groß genug sei. Sie schwieg mit.«

»Aber Ihre Schwiegertochter, die doch bei Ihnen wohnt?«

»Die war damals noch nicht bei uns. Kurz und gut, das Kind starb nach einigen Tagen. Laura bettete es in eine alte Schachtel und schlich sich damit des Nachts nach dem Kirchhofe. Dort wollte sie es begraben.«

»Welch unüberlegtes Beginnen!«

»Sie haben Recht. Die Strafe folgte auch sofort. Es war ein Mann am Tage begraben worden, dessen Grab man noch nicht ganz zugeworfen hatte. Die Erde war locker. Laura grub ein Loch -«

»Mit den Händen?«

»Sie hatte die Kohlenschaufel mitgenommen. Sie grub also ein Loch in das neue Grab und legte die Schachtel hinein. Als sie es zumachen wollte, wurde sie angeredet -«

»Himmel! Von wem?«

»Sie wäre vor Schreck beinahe des Todes gewesen. Ein anderes Frauen-


// 1248 //

zimmer stand hinter ihr. Was nun zwischen den Beiden vorgekommen ist, muß für Laura schrecklich gewesen sein. Sie hat gestehen müssen, was sie hier beabsichtigte; sie hat ihren Namen nennen müssen; sie hat die Andere um Gottes und des Himmels willen auf den Knieen gebeten, sie nicht zu verrathen, und Diese hat es ihr endlich auch versprochen.«

»Wer ist diese Andere denn gewesen?«

»Ja, wer das wüßte!«

»Nicht vielleicht die Todtengräberin?«

»Nein.«

»Aber Ihre Tochter wird doch gefragt haben?«

»Leider nicht. In ihrer Seelenangst ist sie gar nicht auf diesen Gedanken gekommen. Sie ist dann fortgegangen und über die Kirchhofsmauer gestiegen.«

»Die Andere mit?«

»Nein; diese ist in dem nächtlichen Dunkel verschwunden gewesen.«

»Wunderlich!«

»Am anderen Morgen hat die Polizei einen Brief erhalten, in welchem gestanden hat, daß die Laura Werner ein heimlich geborenes Kind ebenso heimlich an dem und dem Orte vergraben habe. Man hat nachgesucht und das Kind gefunden. Laura wurde verhaftet.«

»Das Kind ist doch jedenfalls untersucht worden?«

»Natürlich!«

»So haben die Ärzte doch finden müssen, daß es eines natürlichen Todes gestorben sei.«

»Nein, es war erwürgt worden.«

»Wieso denn?« fragte Holm erstaunt. »Sie sagten doch, daß es an Schwäche gestorben sei?«

»Ja. Aber dieses Kind war erwürgt worden. Es hatte sogar noch die rothe Gardinenschnur um den Hals.«

»Das begreife ein Anderer, aber ich nicht!«

»Ich auch nicht. Und das Wunderbarste, nämlich das Kind war kein Junge, sondern ein Mädchen.«

»Unsinn!«

»O doch! Ein hübsches, allerliebstes, kräftiges Mädchen.«

»Wie könnte das möglich sein!«

»Sehr einfach, lieber Herr Holm: Es ist ja gar nicht das Kind meiner Tochter gewesen!«

»Hat man es denn an derselben Stelle gefunden?«

»An ganz derselben.«

»Wohl gar auch in derselben Schachtel?«

»Unglücklicher Weise, ja.«

»Und Ihre Tochter hat zugeben müssen, daß sie diese Schachtel kenne?«

»Sie hat es nicht leugnen können und auch gar nicht leugnen wollen. Das aber hat ihr den Hals gebrochen.«


Ende der zweiundfünfzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der verlorne Sohn

Karl May – Forschung und Werk