Lieferung 49

Karl May

1. August 1885

Der verlorne Sohn
oder
Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.


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»Entschuldigung! Aber wenn ich mir die Tänzerin vorstelle, wie sie Ihnen die Perrücke umdreht, so ist das wirklich köstlich. Das haben Sie von Ihrem Kratzen.«

»Kratzen? Wieso?«

»Sie haben die Angewohnheit, sich hinter dem Ohre zu kratzen, sobald Ihnen einmal Etwas nicht nach Wunsch und Willen geht. Jedenfalls ist das vorhin ebenso gewesen.«

»Ich könnte mich aber nicht erinnern, gekratzt zu haben.«

»O, das thun Sie, ganz ohne es zu bemerken. Was sagte sie denn dazu?«

»Denke Dir! Sie wußte ganz genau, wie alt ich bin!«

»Niederträchtig!«

»Ja. Sie nannte mich Großvater und Urgroßvater!«

»Noch niederträchtiger!«

»Und sodann wollte - horch, es klingelt wieder! Ich bin auf keinen Fall zu sprechen.«

»Auch nicht, wenn vielleicht eine Schönheit - -?«

»Danke heute für Schönheiten! Sie haben doch Alle den Teufel im Leibe!«

Er legte sich in die bequemste Stellung, und Jean entfernte sich. Als er zurückkehrte, lag ein höchst undefinirbares Lächeln auf seinem glatten Gesicht.

»Nun, wer war es?« fragte sein Herr.

»Noch eine Dame!«

»Ah! Abgewiesen?«

»Nein.«

»Aber, ich habe Dir doch soeben befohlen -«

»Es ging nicht, gnädiger Herr! Sie ist so jung, so schön, so reizend. Und dabei gab sie so gute Worte.«

»Wer ist es denn? Gewiß irgend eine kleine Näherin, welche Statistin werden will?«

»O nein, sondern etwas Besseres, viel Besseres.«

»Nun?«

»Mademoiselle Leda.«

»Die Leda! Ah! Das ist allerdings etwas Anderes. Hast Du sie Dir genau angesehen?«

»Ja.«

Er mußte sie beschreiben. Dann fragte der Intendant:

»Welche ist schöner, sie oder die Amerikanerin?«

»Jedenfalls die Letztere, aber die Leda ist ohne allen Zweifel nachgiebiger und vergnüglicher.«

»So laß' sie herein. Du aber bleibst draußen, bis ich klingele.«

Als die Tänzerin eintrat, warf sie zunächst einen schnellen Blick auf den Intendanten. Sie schien sich sofort über ihn im Klaren zu sein, denn sie machte einen feschen Knix, chassirte auf ihn zu und sagte in halblautem, einschmeichelndem Tone:


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»Verzeihung, Excellenz, daß ich Sie störe! Aber meine Pflicht zwang mich dazu.«

Excellenz war er noch nie genannt worden. Er war ja gar nicht von Adel, auch war er nicht Beamter des Königlichen Hoftheaters. Desto mehr fühlte er sich geschmeichelt. Er verglich die frostige Erscheinung der Amerikanerin mit dem warmen, lächelnden Wesen, welches er jetzt vor sich sah, und dabei entfuhr es ihm:

»Soeben ist sie fort!«

Sie wußte nicht, was er meinte, fragte aber ganz ungenirt:

»Wer ist fort?«

»Ihre Rivalin.«

»Die Starton?«

»Ja.«

»O weh! So ist sie mir also doch bei Ihnen zuvorgekommen! Das thut mir unendlich leid!«

»Vielleicht können Sie es einholen.«

»Wie sollte das möglich sein?«

»Eine Zeitversäumniß läßt sich doch vielleicht durch verdoppelte Aufmerksamkeit ausgleichen.«

»Gewiß Excellenz; aber dennoch bin ich untröstlich!«

»Das bringt mich in Verlegenheit, da ich nicht weiß, ob ich der Mann bin, Sie zu trösten!«

»Wer sollte es sonst sein, wenn nicht Sie. Sie sind doch der Jupiter, welchem ich mein Schicksal anvertrauen muß.«

»Ah, treffender Vergleich! Und Sie sind die Leda, welcher der Gott in Gestalt eines Schwanes erscheint, um sich von ihr beglücken zu lassen.«

»Pfui!«

»Wieso? Ist diese griechische Mythe nicht schön?«

»Nein, gar nicht,« antwortete sie schmollend.

»Warum nicht?«

»Weil Leda kein Weib sein kann, wenn sie mit der Liebe eines Schwanes zufrieden ist. Der Schwan ist ein Wasservogel, kalt und halb Fisch.«

»Ah! Sie lieben die Wärme?«

»Sogar die Gluth.«

»Und nicht die Gestalt eines Schwimmvogels?«

»Nein, sondern die menschliche Gestalt.«

»Aber in jugendlicher Form?«

»Nein. Wird Zeus, wird Jupiter etwa als Jüngling dargestellt? Ich liebe das Fertige, das Ausgebildete, das Vollendete. Aber nur ein Mann in den reiferen Jahren kann sagen, daß er nicht noch im Unfertigen sich abmühen muß.«

»Mademoiselle, Sie entwickeln da wahrhaft großartige, künstlerische Anschauungen!«

»Könnte ich ohne diese Anschauungen Künstlerin sein?«


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»Nein. Niemals. Wissen Sie, was zu einer echten Künstlerin gehört, Mademoiselle?«

»Ich glaube, es zu wissen.«

»Nun?«

»Zunächst die erforderliche technische Schulung.«

»Ganz gewiß. Die körperliche Fertigkeit. Ganz dasselbe habe ich der Amerikanerin gesagt.«

»War sie einverstanden?«

»Ja,« antwortete er in gedehntem Tone.

»Hat sie Ihnen gezeigt, daß sie diese Fertigkeit besitzt?«

»Nein.«

»Wie unpractisch und rücksichtslos, da doch Sie es sind, welcher das allein untrügliche Auge dafür haben kann. Sehen Sie, Excellenz!«

Sie schlug eine Pirouette, welche nicht toller sein konnte, und da sie denselben Anzug trug, mit welchem sie auch bei dem Chefredacteur gewesen war, so blieb bei diesem Wirbel, den sie um ihre eigene Achse schlug, dem gierigen Auge des alten Intendanten kaum ein Wunsch versagt.

»War das so gut gemacht?« fragte sie.

»Gewiß, gewiß! Pepita hat es nicht besser gemacht!«

»Sie schmeicheln, Excellenz!«

»Nein, nein! Und da sie die Anmuth einer Fanny Elßler besitzen, so - -«

Er lächelte verheißungsvoll vor sich hin.

»Warum schweigen Sie? Sprechen Sie weiter!«

»Noch nicht! Fast hätte ich mich von dem Zauber Ihres Wesens hinreißen lassen, eine Entscheidung auszusprechen, welche jetzt noch nicht am Platze ist.«

»Und die mich doch so glücklich gemacht hätte!«

»Noch weiß ich ja gar nicht, ob Sie eine echte Künstlerin sind. Das Technische besitzen Sie; da wird es wohl keine Schwierigkeiten geben. Aber das andere -«

»Sie meinen die Conception?«

»Noch mehr. Ich meine den Geist, die Seele, das Empfinden, das Gefühl!«

»Sollten Sie mich für geistlos halten können?«

»Schwerlich!«

»Oder für gefühllos?«

»Das wäre zu beweisen.«

»So betheure ich Ihnen, daß ich Gefühle besitze, Excellenz, sehr natürliche Gefühle sogar.«

»Zum Beispiel?«

»Appetit.«

»Sie Schalk!«


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»Wer kann Wein und Caviar sehen, ohne den Wunsch zu fühlen, sich einladen zu dürfen.«

»Im Ernste?«

»Gewiß!«

»So kommen Sie! Aber hier neben mich.«

»Danke! Da sitze ich schon. Aber ich weiß nicht, ob Ihnen meine Art und Weise, zu essen, behagen wird.«

»Nun, welche Weise ist dies?«

»Ich speise in Gegenwart von Herren stets als Dame des Hauses. Sie müssen also jetzt einmal denken, daß ich Ihre Gemahlin bin.«

»Köstlicher Gedanke!«

»Ich lege Ihnen vor.«

»Darf ich nehmen, was mir schmeckt?«

»Gewiß!«

»Und wenn ich nun an Ihnen selbst mehr Geschmack fände als an diesen prosaischen Dingen?«

»So ein Geschmack kann die Hausfrau doch nur beglücken. Excellenz.«

»Gut, so speisen wir jetzt als Ehepaar. Leiten wir das Mahl durch einige Küsse ein.«

»Hier, Excellenz! Ich hoffe, daß Sie eine gute Hausfrau an mir finden werden.«

Das Frühstück nahm eine längere Zeit in Anspruch, als der Intendant sonst auf dasselbe zu verwenden pflegte, und als er dann der Tänzerin erlaubte, sich zu verabschieden, fragte diese:

»Und wie lange haben Sie mit der Amerikanerin gespeist?«

»Keine Minute.«

»Nicht doch!«

»Ich sage die Wahrheit.«

»Ich will es glauben. Wann frühstücken wir wieder?«

»Morgen, mein liebes Kind.«

»Um dieselbe Zeit?«

»Ja, kommen Sie immerhin. Wir werden da Gelegenheit finden, uns über die Art und Weise zu besprechen, wie Ihre Existenz sich am Angenehmsten gestalten läßt.«

»O, diese Existenz hängt noch zwischen den Wolken!«

»Nein, nein; sie ist bereits beschlossene Sache.«

»Die Hand darauf!«

»Hier!«

»Herrlich! Nun aber tausend Küsse zur Belohnung!«

Sie zog ihn an sich und bemühte sich, ihm zu beweisen, daß sie ein höchst dankbares Herz besitze.

Draußen stand Jean in gebückter Haltung vor dem Schlüsselloche und beobachtete das küssende Paar.

»Tausend Donner!« brummte er mißvergnügt vor sich hin. »Der alte


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Galgenstrick ist doch ein beneidenswerther Kerl! Diese Leda hat Geist und Temperament. Ein Kuß von ihr muß nicht übel sein.«

Als er hörte, daß sie sich verabschiedete, zog er sich von der Thür zurück. Sie kam, drückte die Thür zu, blieb bei ihm stehen und griff in die Tasche. Sein auf sie gerichteter, lüsterner Blick sagte ihr, daß sie mit einem Trinkgelde hier nicht die größte Freude anrichten könne. Darum fragte sie schnell entschlossen:

»Wie nennt man Sie?«

»Jean.«

»Gut, mein lieber Jean. Geld und Gut habe ich nicht, aber was ich habe, das gebe ich Ihnen. Hier, nehmen Sie!«

Sie hielt mit beiden Händen seinen Kopf fest und gab ihm zwei - drei Küsse.

»So! Sind Sie zufrieden?«

»Königlich!« antwortete er, sich den Mund abwischend.

»Nächstens mehr, wenn Sie verständig sind!«

Damit war sie zur Thür hinaus. Zu gleicher Zeit erklang aber auch die Glocke des Intendanten. Jean mußte zu ihm hinein. Sein Herr sah ihn an und fragte sogleich:

»Was hast Du? Was ist mit Dir?«

»Mit mir? Was soll sein?«

»Du bist ganz roth im Gesichte.«

»Wirklich?«

»Ja. Was hat das für einen Grund?«

»Ich habe mich tief gebückt, um einen Schlüssel aufzuheben.«

»Ach so! Hat Dir die Leda ein Trinkgeld gegeben?«

»Nein.«

»Das wundert mich, da sie so angenehme Umgangsformen besitzt. Was sagst Du zu ihr?«

»Kein Wort.«

»Wie? Kein Wort? Warum?«

»Ich kann kein Wort zu ihr sagen, weil sie nicht da ist.«

»Wortklauber! Ich denke, daß Du mich verstanden hast.«

»Nun, sie ist eine ganze Künstlerin.«

»Gewiß!«

»Nicht nur Tänzerin, sondern auch Schauspielerin.«

»Das ist wahr. Und was für eine berückende Stimme sie hat. Ich glaube, daß auch eine tüchtige Sängerin aus ihr zu machen wäre. Sie ist ein sehr vielseitiges Talent. Was denkst Du? Wollen wir sie engagiren?«

»Hm! Was wollen wir mit dieser kalten Amerikanerin!«

»Richtig! Sie mag dahin gehen, woher sie gekommen ist. Mademoiselle Leda electrisirt. Sie ist nicht blos Künstlerin, sondern auch Weib, und das Letztere ist nicht weniger werth als das Erstere.«


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Und Diejenige, welche auf diese Weise gelobt wurde, lachte draußen vor sich hin und sagte zu sich:

»Diese beiden alten Gecke habe ich im Sacke. Einer ist so widerlich wie der Andere, aber man muß sich fügen. Jetzt nur noch zum Director, zum Capell- und zum Balletmeister, damit die Amerikanerin mir nicht abermals zuvorkommt.«

Sie traf den Director zu Hause und wurde sofort vorgelassen. Sie trat in ihrer kecken, zuversichtlichen Weise auf, knixte in koketter Weise und zeigt dann, auf seine Anrede wartend, ein bezaubernd sein sollendes, siegesgewisses Lächeln.

Der Beamte machte einen bedeutenden Eindruck. Von hoher Gestalt, besaß er eine geistig ausgearbeitete Physiognomie und scharf ausgeprägte Züge, welche von Nachdenken und anhaltender Arbeit erzählten. Doch wurde dieser Ernst durch einen Zug des Wohlwollens gemildert, welcher das Gesicht verschönerte.

Dieser Zug verschwand, als er jetzt sein Auge auf der Tänzerin ruhen ließ.

»Setzen!« sagte er kurz, indem er mit der Hand nach einem Stuhle deutete.

»Haben Sie bereits Besuche gemacht?« fragte er dann, als sie Platz genommen hatte.

»Nein,« antwortete sie. »Sie sind natürlich der Erste, welchen ich von meinem Eintreffen unterrichte.«

Sein Blick nahm eine sofortige Schärfe an.

»Wie kommt es dann, daß ich vom Redactionsboten erfuhr, daß Sie bei dem Chefredacteur gewesen sind?«

»Ah, der ist nicht zu rechnen! Ich hatte eigentlich nur in der Expedition zu thun und benutzte die Gelegenheit, meine Karte abzugeben.«

»Und als ich vorhin über den Markt ging, sah ich Sie beim Intendanten einsteigen.«

Sie erröthete.

»Er war nicht zu Hause,« versuchte sie, sich zu entschuldigen.

»Er war daheim, denn er hatte gleich vorher Miß Starton empfangen gehabt.«

»Ah, haben Sie mit ihr gesprochen?« fragte sie schnell, um von dem unangenehmen Thema abzukommen.

»Ja. Sie war bereits vorher bei mir gewesen. Sie hat die ganz richtige Ansicht gehabt, daß der Director denn doch Derjenige ist, in dessen Hand die Fäden zusammenlaufen. Kennen Sie die Dame persönlich?«

»Noch nicht.«

»Aber per Renommé natürlich?«

»Nicht gar zu sehr,« antwortete sie leichthin.

»Das ist schade. Sie ist nicht nur eine Künstlerin ersten Ranges, sondern


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auch eine durch und durch edle Weiblichkeit, was leider unter den Damen des Ballettes nicht oft gesagt werden kann.«

»Ich hoffe, nicht hinter ihr zurückstehen zu müssen!«

»In welcher Beziehung?«

»In beiden Beziehungen, als Weib und als Künstlerin.«

»Mademoisselle, ich sage Ihnen offen, daß es keine Empfehlung ist, sich bei mir mit Unwahrheiten einzuführen. Miß Starton würde so Etwas verschmähen. Und sodann ist die künstlerische Auffassung dieser Dame eine wahrhaft geniale. Sie ist in äußerer Beziehung eine Schönheit, aber eine unnahbare. So ist auch jede Figur, welche sie tanzt, von bezaubernder Schönheit, und doch getragen und verklärt von einer sittlich strengen Reinheit, welche der göttlichen Natur der Kunst entspricht. Ich sage Ihnen aufrichtig, daß Sie eine Gegnerin haben werden, welche sehr schwer oder unmöglich zu besiegen sein wird.«

Sie zuckte die Achseln und antwortete kurz:

»Ich vertraue trotzdem!«

Er nickte leise mit dem Kopfe und meinte dabei:

»Worauf?«

»Auf den Erfolg.«

»In Ihrer Kunst oder in Ihrer Intrigue?«

»Sie irren sich, Herr Director, wenn Sie mich für eine Intriguantin halten!«

»Wollen es hoffen. Ich verhehle es nicht, daß man mich vor Ihrem diplomatischen Talente gewarnt hat.«

»Die Starton etwa?« brauste sie auf.

»Nein. Diese Dame hat kein Wort von Ihnen gesprochen. Morgen hoffentlich werden Sie sich vorgestellt werden. Meine Weisungen werden Ihnen durch den Theaterläufer zugehen. Adieu, Mademoiselle!«

Sie mußte sich unter einer tiefen Verbeugung zurückziehen. Draußen ballte sie die Hände.

»Hier ist sie mir also zuvorgekommen!« murrte sie. »Dieser Director ist ein Pedant ohne Geist und Kenntniß. Er wird nie mein Freund sein, aber auch ich nie seine Verbündete. Jetzt nun zum Capellmeister. Er soll geizig und habsüchtig sein. Fassen wir ihn bei dieser Handhabe an.«

Sie fand ihn zwischen Stößen von Partituren vergraben. Er schrieb eilfertig Noten. Vielleicht hatte er Etwas zu arrangiren. Sie hatte ihren Namen sagen lassen, dennoch aber fragte er bei ihrem Eintritte, ohne von seinen Noten aufzusehen:

»Wer?«

»Mademoiselle Leda.«

»Gleich.«

Sie blieb geduldig an der Thür stehen, obgleich er noch einige Seiten schrieb. Endlich spritzte er den Gänsekiel aus und drehte sich zu ihr herum. Er hatte ein hageres, wachsbleiches Gesicht und große, dunkle Virtuosenaugen.


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Seine lange Nase hatte einen breiten Rücken, der Mund war sehr breit und fast ohne sichtbare Lippen, und das Kinn fast übermäßig entwickelt. Sein Gesicht war dasjenige eines Geizigen. Seine Stimme klang kalt und ohne Metall, als er sagte:

»Sie konnten sich setzen. Was wollen Sie?«

»Ich hielt es für meine Pflicht, mich Ihnen vorzustellen, Herr Capellmeister.«

»Schön. Und wozu?«

Diese Frage brachte sie in Verlegenheit, doch antwortete sie:

»Es ist doch wohl nöthig, daß Sie mich vor meinem Auftreten kennen lernen.«

»Keineswegs.«

Sie blickte ihn erstaunt an. Daher erklärte er:

»Es wird das Ballett 'Königin der Nacht' gegeben, zweimal hinter einander. Erst treten Sie auf und dann die Amerikanerin. Sie Beide haben die 'Königin' schon oft getanzt, darum ist eine Probe nicht für nöthig gehalten worden. Welche besser gefällt, die wird nach kurzem Gastspiele engagirt. Eigentlich hatten Sie also nicht nothwendig, mich zu incommodiren.«

»Und doch. Es war meine Absicht, Ihnen eine Frage vorzulegen, welche allerdings rein geschäftlicher Natur ist.«

Da horchte er auf.

»Welche Frage meinen Sie?«

»Ohne Umschweife gesagt, die Geldfrage.«

Da bekam sein Gesicht auf einmal Farbe, und als er sie jetzt forschend anblickte, war es ihr, als ob er eigentlich schielende Augen habe.

»Was könnte es in dieser Beziehung zwischen Ihnen und mir zu erörtern geben?« erkundigte er sich.

»Das ahnen Sie nicht?«

»Nein.«

»Giebt es denn hier keine Orchestertantiéme?«

»Nein.«

»Wirklich nicht?« fragte sie noch einmal, und zwar im Tone sehr hoher Verwunderung.

»Ich habe noch nie Etwas davon gehört. Was hat man unter dieser Orchestertantiéme zu verstehen?«

»Nun, zunächst versteht es sich doch ganz von selbst, daß von der Orchesterbegleitung das Gelingen eines Vortrages, überhaupt jede künstlerische Darstellung ganz außerordentlich abhängig ist.«

»Sehr richtig!«

»Insbesondere ist dies beim Tanze der Fall. Ohne die Intelligenz des Capellmeisters ist es selbst der größten Künstlerin unmöglich, das zu leisten, was sie wirklich zu leisten vermag.«

»Sehr gut, sehr gut!« sagte er unter demonstrativem Kopfnicken. »Ich sehe, Sie haben nachgedacht, Mademoiselle; Sie befinden sich im Besitze der Ansichten und Erfahrungen, welche man bei Ihren Coleginnen meist vergebens sucht.«


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»Leider! Und grad weil ich diese hohe Bedeutung des Capellmeisters anerkenne, habe ich die Gepflogenheit, bei jedem Auftreten eine Orchesterprämie zu berechnen.«

»Wie hoch ist diese?«

»Je nach Uebereinkunft.«

»Wem wird sie ausgezahlt?«

»Dem Capellmeister.«

»Nimmt das ganze Orchester daran Theil?«

»Das ist lediglich Sache des Dirigenten. Ich zahle ihm die Prämie. Was er damit thut, das ist nicht meine Sache.«

»Weiß der Director davon?«

»Kein Mensch.«

»So bleibt diese Gepflogenheit also Geheimniß zwischen Ihnen und dem Dirigenten?«

»Vollständiges Geheimniß.«

»Mademoiselle, ich habe von dieser Prämie noch nie Etwas gehört; aber es ist sehr leicht begreiflich, daß wir uns Beide mit ihr besser stehen würden als ohne sie.«

»Sehr richtig. Ich kam zu Ihnen, um Sie darüber zu verständigen. Jetzt darf ich Ihre kostbare Zeit nicht länger in Anspruch nehmen. Ueberlegen Sie sich aber immerhin, welchen Procentsatz wir vereinbaren wollen.«

Er streckte ihr die Hand entgegen und sagte mit gewinnender Freundlichkeit:

»Mademoiselle, Ihr Ruf als Künstlerin ist ein bedeutender. Daß Sie aber auch das Geschäft verstehen, freut mich. Künstler pflegen schlechte Rechner zu sein. Es sollte mir lieb sein, wenn Sie Engagement finden. Meiner Hilfe dürfen Sie gewiß sein. Leben Sie wohl!«

Sie ging, innerlich frohlockend, daß er an den ihm hingeworfenen groben Köder gebissen habe.

Nun stand ihr noch bevor, den Balletmeister aufzusuchen. Als sie an dessen Vorsaalthür klingelte, wurde von einem langen, starkknochigen Weibe geöffnet.

»Was wollen Sie?« fragte diese Person.

»Ist der Herr Balletmeister zu sprechen?«

»Sie meinen den Herrn Balletmeister und Kunstmaler, meinen Mann?«

»Ja.«

»Was wollen Sie von ihm?«

»Ich beabsichtige, mich ihm vorzustellen.«

»Dazu hat er keine Zeit. Er malt jetzt.«

»Ich werde den Herrn Balletmeister nur auf eine Minute in Anspruch nehmen.«

»Bitte, den Herrn Balletmeister und Kunstmaler meinen Sie?«

»Ja, Madame.«

»Wer sind Sie denn eigentlich?«


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»Man nennt mich Mademoiselle Leda.«

»Kenne ich nicht.«

»Desto besser werde ich von dem Herrn Balletmeister gekannt -«

»Vom Herrn Balletmeister und Kunstmaler meinen Sie?«

»Ja. Er kennt mich, wenigstens dem Rufe nach. Ich habe übermorgen die Königin der Nacht zu tanzen.«

»Ah, so sind Sie eine der beiden Künstlerinnen, welche mit einander kämpfen sollen?«

»Ja.«

»Schön. Das ist etwas Anderes. Ich werde Sie führen. Kommen Sie mit!«

Der Weg ging durch zwei Zimmer, welche eine wahrhaft chaotische Unordnung zeigten. Die Frau des Herrn Balletmeisters und Kunstmalers schien kein bedeutendes häusliches Talent zu sein.

Dann öffnete sie eine Thür. Man erblickte mehrere Staffeleien, eine Menge großer Farbentöpfe, Leinwandstücke, Bilderrahmen und Anderes. Vor einer der Staffeleien stand der Künstler. Er war eine kleine, hagere Figur, trug ein fürchterliches Pince-nez auf der Nase und schien von der geöffneten Thür gar nichts zu bemerken.

»Arthur!« sagte sie.

»Ja, mein Liebling!«

»Eine Dame.«

»Schön! Ist sie jung?«

»Ja.«

»Vielleicht doch endlich eine Psyche.«

»Dazu ist sie zu fett.«

»O weh!«

Er drehte sich um und musterte die Tänzerin. Dann fragte er:

»Wieviel verlangen Sie pro Stunde?«

Sie bemerkte, daß er sie für ein Modell hielt. Sie zuckte also lächelnd die Achseln, ohne zu antworten. Er fuhr unbeirrt fort:

»Ich gebe Ihnen für die Stunde dreißig Kreuzer. Das ist bei Ihren Formen, die man so oft angeboten erhält, vollauf genug.«

»Arthur!« legte sich da seine Frau in's Mittel.

»Mein Liebling!«

»Diese Dame ist kein Modell.«

»Was will sie denn sonst?«

Er hatte den Beiden wieder den Rücken zugekehrt und ließ sich nicht stören. Er war dabei, eine Leinwand zu grundiren, und strich die Farbe auf, ohne seinen Besuch wieder anzublicken. Dabei nahm er eine theatralische Stellung ein, eine Pose gleich einem Schauspieler, welcher sich im Zweikampfe in den Ausfall legt.

»Kämpfen,« antwortete seine Frau.

»Kämpfen? Alle Teufel! Mit wem denn?«


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»Mit der Andern.«

»Wo denn?«

»Na, im Ballet.«

»Ach so. Wie heißt sie denn?«

»Es ist eine Mademoiselle -«

»Leda,« ergänzte die Tänzerin.

»Leda,« rief er, nun schnell herumfahrend und sie noch einmal genau betrachtend. »O, Mademoiselle, Verzeihung! Sie sind doch nicht ganz so fett, wie ich vorhin dachte.«

»Das meine ich auch,« lachte sie. »Ich brauche nun wohl auch nicht pro Stunde dreißig Kreuzer zu verdienen?«

»Nein, nein! Das ist jetzt anders. Das werden Sie nun ganz umsonst thun.«

»Umsonst?« fragte sie verwundert.

»Gewiß!«

»Arthur?« fragte seine Frau.

»Mein Liebling?«

»Kann ich wieder gehen?«

»Ja. Kehre in Dein trautes Heim zurück. Später bringst Du mir eine Käsebemme mit Nordhäuser.«

Sie ging, und er fuhr, zu Leda gewendet, fort:

»Ich heiße Sie im Tempel meiner zweiten Kunst herzlich willkommen, Mademoiselle. Das Uebungszimmer für meine Balletschüler liegt eine Treppe höher!«

»Unter dem Dache?«

»Ja. Die Kunst kann ihre Heimath nicht hoch genug aufschlagen. Je näher sie dem Himmel rückt, desto verklärender, beseligender und veredelnder wirkt sie auf ihre Jünger.«

»Auch bei diesem Froste?«

»Pah! Was wollen Sie! Die Kunst ist eine firmamentale Potenz, welcher eine unvergleichliche Hitze entströmt. Bitte, Sie haben mir da meinen Bleiweißtopf umgeworfen. Sind gerade elf Kreuzer futsch!«

»Ich werde sie Ihnen ersetzen. Hier sind zwanzig.«

»Ich kann nicht wiedergeben.«

»Thut nichts. Behalten Sie!«

»Danke! Giebt einen geräucherten Hering zum Abendbrod, natürlich für meine Frau. Sie ist eine, so zu sagen, ätherische Natur und kann Käsebemmchen nicht vertragen. Was nun Sie betrifft, so habe ich mich gefreut, Sie kennen zu lernen. Ich hoffe, wir werden einander gefällig sein können. Nicht?«

»Gern.«

»Da ist zum Beispiel, was ich vorhin erwähnte, das Modellsitzen. Das kostet Geld. Es giebt Modelle, denen ich fünfzig Kreuzer pro Stunde bezahle. Und in Ausnahmefällen - sehen Sie, ich will eine Psyche malen; sie ist


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bestellt. Aber woher das passende Modell nehmen? Es giebt hier ein junges Mädchen, welches göttlich paßt, ein ganz himmlisches Wesen; aber das dumme Ding will nicht, obgleich ich zunächst pro Stunde einen Gulden geben würde. Sie beißt aber sicher noch an.«

»Lassen sich Ihre Gemälde gut verwerthen?«

»Ich arbeite nur auf Bestellung. Da wurde kürzlich eine Medea bestellt. Ich würde hundertundfünfzig Gulden erhalten, aber woher eine Medea - Donnerwetter!«

Er legte Pinsel und Palette fort und ließ sein Auge prüfend über Leda's Gestalt gleiten.

»Nun, was wollten Sie sagen?«

»Hm! Sie kennen leider die Verhältnisse nicht.«

»So erklären Sie mir dieselben.«

»Die Sache ist nämlich die, daß ich ein höchst gefälliger Mann bin, und so sind meine Damen vom Corps de Ballet mir wieder gefällig. Kann mir Eine als Modell behilflich sein, so thut sie es gern und ohne Bezahlung, denn, wissen Sie, eine Hand wäscht die andere.«

»Das läßt sich leicht begreifen.«

»Auch die letzte Diva, Ihre Vorgängerin, hat mir einige Male gesessen. Sagen Sie einmal, Mademoiselle Leda, sind Sie sehr penibel?«

»Gar nicht.«

»Sie wären eine prächtige Medea!«

»Freut mich!«

Er hatte »Ihre Vorgängerin« gesagt, geradeso, als ob ihr das Engagement ganz sicher sei. Das schmeichelte ihr. Zudem konnte sie seiner Hilfe und Unterstützung bedürftig werden, und da sie ja überdies keineswegs zurückhaltend mit ihren Schönheiten zu sein pflegte, so hielt sie es für gerathen, auf seine Intention einzugehen.

»So? Das freut Sie?« meinte er, indem er im ganzen Gesicht lachte. »Bitte, würden Sie wohl geneigt sein, mir einige Male als Medea zu sitzen?«

»Gern.«

»Danke, danke! Bin natürlich zu jedem Gegendienst auf der Stelle bereit. Ich hoffe doch nicht, daß Sie sich vor mir geniren?«

»Keineswegs,« lachte sie. »Weshalb geniren?«

»Das ist brav und ohne Vorurtheil. Ich bin ganz begeistert von der Idee. O, wenn Sie jetzt Zeit hätten, nur ein Viertelstündchen Zeit!«

»Wozu? Sie wollen doch nicht gleich an der Medea zu arbeiten beginnen?«

»Nein, das wäre unmöglich. Aber das Sujet möchte ich mir im Geiste fixiren. Ich möchte die Formen Ihrer, ja Ihrer Medea prüfen. Ich möchte nur einige leise Striche, einige leichte Contouren auf die Leinwand werfen. Wollen Sie?«

»Hm! Eigentlich bin ich jetzt beschäftigt.«

»O, nur eine Viertelstunde?«


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»Aber das An- und Auskleiden nimmt ebenso viel Zeit in Anspruch.«

»Doch nicht. Meine Ansprüche erstrecken sich heute nur auf Ihren Oberkörper. Und das Haar möchten Sie ein wenig auf griechische Manier ordnen. Ich sage Ihnen, daß ich sehr, sehr dankbar sein werde.«

»Na, da Sie es sind, so will ich mich fügen.«

»Herrlich! Kommen Sie! Legen Sie ab! Hier auf dem rothen Divan nehmen Sie dann Attitude, da in den Wiener Shawl drappirt. Es wird prächtig sein. Sie werden sich entzückend ausnehmen, wie ich bereits jetzt constatiren kann.«

Sie ließ sich nicht lange bitten. Sie legte ungescheut sämmtliche Hüllen ihres Oberkörpers ab, brachte das Haar in andere Ordnung und streckte sich sodann auf den alten, verschossenen Divan nieder, um sich dann mit den Falten des Wiener Wunderwerkes schmücken zu lassen.

Der Balletmeister war nicht etwa ein Stümper. Er verstand seine Sache sehr gut, und er hatte Recht gehabt. Als sie jetzt in liegender Stellung auf dem Divan ruhte, den Kopf in die eine Hand gestützt und den andern vollen Arm in leichter Biegung dem üppigen Körper leise angeschmiegt, während eine der vollen Flechten sich liebkosend über den Busen schlängelte, welcher schneeweiß zwischen den Falten des Tuches hervorleuchtete, war sie eine treffliche Darstellung von Medea, jener wollüstigen und rachsüchtigen Königstochter aus der Zeit des Argonautenzuges.

Der Balletmeister klatschte vor Entzücken in die Hände.

»So, so, Mademoiselle!« rief er. »Sie sind eine Medea, wie ich sie selbst im Traume nicht gesehen habe. Bleiben Sie nur einige Minuten in dieser Stellung, damit ich die Contouren fixire.«

In diesem Augenblicke der Freude wurde er abermals von seiner Frau unterbrochen. -

Nämlich in einem Hinterhause des Altmarktes, drei Treppen hoch klebte an einer der vielen Stubenthüren eine Karte mit der Bezeichnung 'Max Holm, Reporter'. In dem Zimmer hinter der Thür war es recht still. In einem alten Lehnstuhle saß ein schlafender Mann, dessen gelähmter und geschwollener Körper mittelst eines Tuches fest an die Lehne gebunden war.

Am Tische saß ein junges, vielleicht achtzehn Jahre altes Mädchen und neben ihr eine alte Frau von gutmüthigem Aussehen, welche eine altmodische Klemmbrille auf der Nase trug und fleißig an einem Strumpfe strickte. Diese Beiden sprachen mit einander, aber leise, so daß sie den Schläfer nicht weckten.

»Also Ihr Bruder weiß nichts davon?« fragte die Frau in Fortsetzung ihres Gespräches.

»Kein Wort.«

»Warum haben Sie ihm denn nichts gesagt?«

»Weil der gute Max so schon genug Sorgen hat. Aber er wird es doch noch erfahren müssen. In acht Tagen wird der Jude Levi den Wechsel präsentiren.«

»Ja, Wechselsachen sind schlimme Sachen. Sie konnten das Geld wohl nicht auf eine andere Weise bekommen?«


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»Nein. Der Jude kam und schrieb Alles auf. Wir mußten es ihm scheinbar verkaufen und unterschrieben den Wechsel. Er gab uns dann einen Revers. Wenn wir nicht mit der Stunde zahlen können, nimmt er uns den Revers und Alles, was wir noch haben.«

»Sollte es denn keine Hilfe geben? Wieviel verdient Ihr Bruder denn?«

»Er bringt es als Reporter zuweilen auf nicht ganz einen Gulden. Dann macht er täglich für dreiviertel Gulden Musik. Nun denken Sie, daß wir leben müssen; Vater ist vom Schlage getroffen, und der andere Bruder soll doch nicht vom Gymnasium fort. Es wäre doch gar zu Schade!«

»Das kostet freilich Geld, viel Geld, und es ist gar kein Wunder, daß Sie Tag und Nacht so fleißig nähen.«

»Ich thue es gern. Ja, wir haben auch bessere Zeiten erlebt, damals als der Vater noch gesund war.«

»Nicht wahr, er war Musikdirector?«

»Ja. Max studirte und erlangte die Doctorwürde. Aber die Musik hatte es ihm angethan. Er liebte die Violine und brachte es sehr, sehr weit damit. Er ging nach Amerika, um Concerte zu geben und verdiente sehr viel Geld. Er galt für einen Virtuosen. Dann kam das doppelte Unglück.«

»Ihr armen Leute! Wie kam denn das Alles?«

»Nun, Mutter wurde krank und starb; dann wurde der Vater vom Schlage gelähmt. Wir schrieben an Max; aber da sah es fast ebenso schlimm aus. Er hatte seine Ersparnisse in einer Bank angelegt; sie machte Bankerott und er verlor Alles. Er wollte von Neuem beginnen, da aber kam die Verwundung, und nun war Alles aus.«

»Wie ist er denn zu dieser Hand gekommen?«

»Sie ist zerschossen worden.«

»Doch nicht im Kriege?«

»Nein.«

»Ist er angefallen worden?«

»Auch nicht. Er hat - - ein Duell gehabt.«

Das sagte sie so leise, daß es kaum zu hören war.

»Herrgott! Ein Duell! Warum denn?«

»Das sollen wir eigentlich gar nicht wissen.«

»Aber Sie wissen es doch?«

»Ja.«

»Wer hat es Ihnen denn verrathen?«

»Er hat da drüben in Amerika ein Tagebuch geführt, in welchem Alles steht. Er läßt es uns nicht lesen; aber einmal hat er vergessen, es einzuschließen, und da habe ich es verstohlen geöffnet.«

»Und gelesen?«

»Ja.«

»Was stand denn drin?«

Die Alte rückte vor Erwartung auf ihrem Stuhle hin und her. Das war ja so das richtige Thema. Ein Geheimniß, ein Duell - vielleicht gar noch mehr!


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»Ja, davon soll man eigentlich gar nicht sprechen,« antwortete das Mädchen.

»Nun ja, ganz recht! Aber mir können Sie es ja mittheilen. Nicht wahr?«

»Vielleicht ist's Unrecht; aber Sie sind so gut gegen uns, fast wie eine Mutter. Sie nehmen sich des Vaters an, damit ich mehr arbeiten und verdienen kann, und da wäre es wohl undankbar, wenn ich kein Vertrauen hätte.«

»Ganz richtig, meine liebe Hilda! Sie können volles Vertrauen zu mir haben. Ich werde Sie nicht enttäuschen. Und Ihnen wird ja auch das Herz leicht, wenn Sie einen Theil der Last auf mich übertragen.«

»Ach ja. Sie haben Recht. Es ist so bös, jung sein und schon solche Sorgen haben!«

»Also das Duell, das Duell!«

»Nun, liebe Frau Nachbarin, es war so eine - eine - Liebe dabei.«

»Eine Liebe? O, wie interessant! Unser Herr Max ist verliebt gewesen?«

»Ja.«

»Hat er davon gesprochen?«

»Kein Wort. Aber im Tagebuch steht es, ach, so herzbrechend. Ich habe geweint, als ich es las.«

»Wer war sie denn? Eine Amerikanerin?«

»Ja.«

»Und was war sie denn? Doch braver Leute Kind?«

»Sie war eine - eine - - Tänzerin.«

»Herr, mein Heiland! Kind, sind Sie klug? Eine Tänzerin? Also vom Ballet?«

»Ja.«

»Und die hat er lieb gehabt? Er, der sonst so ernst und vorsichtig ist?«

»O, sie ist brav gewesen, sehr brav!«

»Gehen Sie! Eine Tänzerin ist niemals brav!«

»Diese aber doch. Sie hat nämlich nicht um Geld getanzt, sondern im Drange ihres Talentes.«

»Nun höre Einer! Das Talent soll zum Tanze drängen! Schiller und Göthe, Mozart und Beethoven, das waren auch Talente; das waren sogar Genies; aber haben sie sich von ihrem Genie zum Tanz verleiten lassen?«

»Das ist etwas Anderes!«

»Nein. Mein seliger Mann war auch ein bedeutendes Talent. Er war Obermeister der Tischlerinnung, Feldwebel bei der Scheibenschützengesellschaft und Schriftführer im Scatvereine. Aber von Allen diesen hat er sich niemals verleiten lassen, zum Ballet zu gehen!«

»Meine liebe Frau Nachbarin, unter dem Talente, von welchem ich spreche, verstehe ich ja die angeborene und zwingende Begabung zum Tanze.«

»Gutes Kind! Diese angeborene und zwingende Begabung haben wir Alle, Männer wie Weiber, Bursche wie Mädels. Aber zum Ballette gehen wir schon lange nicht.«


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»Nun, es muß unter dem künstlerischen Tanze doch noch etwas Anderes zu verstehen sein als nur Walzer und Hopser und das Drehen und Springen wie im Ballette. In Maxens Tagebuche steht wörtlich, daß der Tanz dieser Amerikanerin ein mehr geistiger als körperlicher gewesen sei.«

»Das verstehe ich erst recht nicht! Wie soll der Geist tanzen? Das ist ja der reine Gespensterspuk!«

»Ja, wir mögen es nicht verstehen, aber Max versteht es sicherlich besser als wir. Er ist nicht der Mann dazu, sein Herz an ein niedriges Frauenzimmer zu verschenken. Er ist rein und edel. Er hat einen wirklich vornehmen Character. Nicht?«

»Ja, den hat er. Aber sie war dennoch Tänzerin!«

»Nun, sie ist doch auch noch etwas Anderes gewesen.«

»Was denn?«

»Die einzige Erbin eines steinreichen Pflanzers.«

»Gott, ist's möglich?«

»Ja. Die Eltern waren todt. Sie hat die Pflanzung verpachtet gehabt.«

»Das ist freilich etwas ganz Anderes! Warum hat er sie denn nicht geheirathet?«

»Er hat ja nie mit ihr gesprochen!«

»Wie dumm! Man muß doch mit der Liebsten reden!«

»Er hat ja gar nicht wagen können, zu denken, daß sie ihn wieder liebe!«

»Unsinn! So einen hübschen, kräftigen Kerl!«

»Er hat das wohl am Besten gewußt. Er hat sie zum ersten Male während eines Concertes gesehen, welches er gab. Dann hat sie alle seine Concerte besucht, und er ist stets da gewesen, wenn sie eine Vorstellung gegeben hat. Aber sie haben sich nur immer von Weitem gesehen.«

»Das habe ich mit meinem Seligen doch besser gemacht. Einander sehen, mit einander reden, und einander kriegen, das war Eins!«

»Es muß doch nicht gegangen sein.«

»Aber was hat das mit dem Duell zu thun?«

»Sehr viel.«

»Nun also! Schnell! Ich vergehe vor Neugierde!«

»Er ist nämlich einmal dabeigewesen, daß ein Anderer übles von ihr gesprochen hat, so ein echter amerikanischer Raufbold ist es gewesen, der sie haben wollte, sie aber hat ihn abgewiesen. Darum hat er sie verleumdet.«

»Der schlechte Kerl!«

»Nicht wahr? Max hat das nicht gelitten. Da ist es zu einem Duell gekommen. Es hat gleich geheißen: es wird so lange geschossen, bis Einer von Beiden todt ist.«

»Allmächtiger! Welche Sündhaftigkeit!«

»Das ist da drüben nicht anders.«

»Dieser Amerikaner wird doch nicht etwa unsern Max todtgeschossen haben!«

»Wie wäre das möglich! Max lebt ja noch!«


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»Ach ja, das ist wahr! Die Angst vor dem Duell hat mich ganz confus gemacht. Also weiter.«

»Sie haben also auf einander geschossen. Max ist gleich von der ersten Kugel in die linke Hand getroffen worden. Der Andere ist nämlich schlecht gewesen und hat das Commando gar nicht abgewartet, sonst hätte er den Bruder doch nicht in die Hand schießen können.«

»Der Bösewicht! Er muß erschossen werden!«

»Natürlich. Er ist auch todt!«

»Wie? Max hat ihn erschossen?«

»Ja.«

»Herrgott! Ich falle in alle Ohnmachten! Nun wird Max doch geköpft!«

»Sie haben ihm freilich an's Leben gewollt; aber er ist geflohen und zu Schiffe herübergekommen. Aber diese Flucht hat seine wenigen neuen Ersparnisse verzehrt. Er kam ganz arm zurück.«

»Welch' ein Malheur!«

»Und nun war die Hand so caput, daß er die Violine ganz aufgeben mußte. Das hat ihm am bittersten wehe gethan. Er war ja bereits als Virtuos berühmt.«

»Das ist freilich ein schweres Schicksal. Aber die Amerikanerin?«

»Von der weiß ich weiter nichts.«

»Sie konnte sich doch seiner annehmen!«

»Sie war doch nicht seine Braut, und sie konnte auch nicht wissen, wo er hin war.«

»Richtig; daran dachte ich nicht!«

»Nun kam Max nach Hause, verwundet und arm. Mutter war todt und der Vater gelähmt. Der Bruder mußte auf dem Gymnasium erhalten werden. Da galt es, zu sorgen und zu arbeiten!«

»Warum hat sich Max nicht um eine Anstellung beworben?«

»Weil er eben Künstler ist. Er kann und will der Violine nicht entsagen. Er glaubt, es wieder so weit wie vorher zu bringen.«

»Kind, das ist unmöglich. Mit den zerschossenen Fingern kann er doch die Saiten nicht greifen!«

»Nein; aber er kann doch mit ihnen den Bogen halten.«

»Dann müßte er die Geige in die rechte Hand nehmen.«

»Freilich.«

»Das ist verkehrt; das geht gar nicht.«

»Und doch geht es. Er hat es bewiesen. Er hat die vier Saiten gerade umgekehrt auf die Geige gezogen. Nun streicht er mit der linken und greift mit der rechten Hand.«

»Das ist wunderbar.«

»Gerade so, wie Leute, welche um ihre rechte Hand gekommen sind, lernen müssen, mit der Linken zu schreiben.«

»Ich habe noch nichts gehört. Bringt er es denn fertig?«

»Ja. Der Hauswirth hier duldet keine Musik; darum darf Max hier nicht


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spielen; aber er geht alle Abende nach einem Saale, wo er mit zum Tanze aufspielt.«

»Ist's die Möglichkeit!«

»Erst hatte er die dritte und dann die zweite Geige. Jetzt spielt er schon bereits die erste Violine; solche Fortschritte hat er gemacht. Er sagt, nach Verlauf von anderthalb Jahren werde er wieder öffentlich auftreten können. Dann haben die Sorgen ein Ende.«

»Gott sei Dank! Was haben Sie heute gegessen?«

»Wir werden erst am Abende essen. Horch! Da kommt Jemand!«

Sie lauschte und ihr Gesicht erhellte sich. Sie hatte den Bruder am Schritte erkannt. Er trat leise ein, um den Vater nicht zu wecken. Er kam zur Schwester heran, küßte sie auf das weiche, lockige Haar und sagte im Flüstertone:

»Hier, liebe Hilda, hast Du zu essen für Dich und den Vater!«

Dabei legte er ihr ein Packet hin.

»Aber Du?« fragte sie.

»O, ich bin satt!« antwortete er leuchtenden Auges. Es lag ein solcher Ausdruck des Glückes auf seinen intelligenten Zügen, wie sie es seit Langem nicht bemerkt hatte.

»Und hier,« fuhr er fort, »ist auch der gestrige Zins.«

Dabei legte er einige Gulden aus dem Portemonnaie hin.

»Soviel auf einmal?« fragte sie erfreut.

»Ja. Ich habe heute bei einem Geheimrath zum Piano zu geigen. Es ist eine Verlobung, und man hat mich gleich vorher bezahlt. Gott wird helfen, daß wir in acht Tagen so viel zusammen bringen, wie der Bruder braucht.«

Sie senkte den Kopf und seufzte verstohlen. Dann aber hob sie ihn rasch empor und fragte:

»Lieber Max, Du bist heute so froh. Ist's wegen diesem Gelde?«

»Nicht allein. Ich habe heute nach langer Zeit einen lieben, lieben Freund wieder gesehen, den ich im ganzen Leben nicht mehr zu erblicken glaubte.«

Er sagte 'Freund', und doch war Ellen Starton, die Tänzerin, gemeint.

»Kenne ich ihn auch?« fragte Hilda.

»Nein. Ich lernte ihn während meiner Concertfahrten kennen.«

»Bringst Du ihn vielleicht einmal her?«

Sein Gesicht wurde um einen Schatten düsterer, als er zögernd antwortete:

»Wohl nicht. Sein Lebensweg ist ein anderer, als der meinige. Nun muß ich aber wieder fort. Ich will sehen, ob ich so glücklich bin, auch Etwas für das Blatt zu erbeuten.«

Er gab ihr die Hand, nickte der Nachbarin freundlich zu, trat zum Vater, um auf dessen ruhige Athemzüge zu lauschen und ging dann leise fort.

»Der Gute!« flüsterte die Frau.

»Gott wird helfen, hat er gesagt!« bemerkte Hilda gedankenvoll vor sich hin.


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Sie legte den Kopf in die Hände und verharrte eine Weile in dieser Stellung. Dann, als sie das Gesicht wieder erhob, lag es wie ein fester Entschluß auf demselben. Die Alte bemerkte es und fragte:

»Sie denken an etwas Wichtiges, liebes Kind?«

»Ja.«

»Was ist es?«

»Der Bruder sorgt und plagt sich ab. In acht Tagen müssen wir fünfzehn Gulden nach dem Gymnasium schicken. Ich darf und kann ihm von dem Wechsel nichts sagen.«

»Aber er muß es ja doch erfahren!«

»Nein. Er hat gesagt, Gott werde helfen. Ja, Gott hilft, aber nur durch uns selbst. Ich kenne einen Weg, aus dieser Sorge zu kommen.«

»Das sollte mich freuen. Darf ich es erfahren?«

»Später werde ich es Ihnen sagen.«

Sie hatte einen schweren, schweren Entschluß gefaßt. Sie war gewillt, ihn auszuführen; aber sie befürchtete, durch die Nachbarin wankend gemacht zu werden; darum verschwieg sie es ihr lieber.

Sie nähte noch ein halbes Stündchen fleißig fort, dann war sie fertig. Sie legte das, was Max mitgebracht hatte, für den Vater bereit und fragte dann:

»Liebe Frau Nachbarin, ich will die Näharbeit abliefern, können Sie beim Vater bleiben, bis ich wiederkomme?«

»Ja, gern.«

»Auch wenn ich ein Wenig länger bleibe als gewöhnlich?«

»Auch das. Es bleibt sich ja gleich, ob ich hier sitze oder drüben in meinem Stübchen.«

»Ich danke Ihnen! Geben Sie dem Vater zu essen, wenn er erwacht.«

Sie kleidete sich etwas sorgsamer an, als es sonst zu geschehen pflegte, und packte die Arbeit ein.

»Für wen ist es?« fragte die Nachbarin.

»Für die Frau Balletmeister.«

Zunächst ging sie zum Wirthe, um die rückständige Miethe zu entrichten, und dann wanderte sie, allerdings in gedrückter Stimmung, der Wohnung des »Herrn Balletmeisters und Kunstmalers« zu.

Die Frau desselben empfing sie in freundlicher Weise, lobte die Arbeit und bezahlte diese. Dann aber fragte sie:

»Haben Sie vielleicht wieder einmal an das Anerbieten meines Mannes gedacht, Fräulein Holm?«

Sie erglühte im ganzen Gesichte; doch hatte sie einmal den Entschluß gefaßt und wollte ihn nun auch ausführen. Der unglückselige Wechsel mußte eingelöst werden, ohne das Max etwas davon zu erfahren brauchte.

»Sagen Sie einmal, Frau Balletmeister, ist es sehr schwer?« fragte sie ängstlich.

»Wo denken Sie hin! Gar nicht.«

»Und doch stelle ich es mir so ungeheuer schwer vor.«


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»Es ist im Gegentheile sehr leicht. Wenn Sie einmal krank werden, dürfen Sie sich vor den Blicken des Arztes auch nicht fürchten. Mein Mann ist kein junger Bursche, sondern er ist alt und ein Künstler. Im ersten Augenblicke mögen Sie sich wohl ein ganz klein wenig schämen; aber das ist sehr schnell vorüber.«

»Und wieviel wollte er zahlen?«

»Einen Gulden für die Stunde.«

»Und wann bekomme ich das Geld?«

»Allemal am Schlusse jeder Sitzung. Soll ich zu ihm gehen, um es ihm zu sagen?«

Das Wort wollte nicht heraus, aber doch gab sie heldenmüthig die zustimmende Antwort.

»So kommen Sie gleich mit!«

Sie führte das Mädchen nach dem Atelier, öffnete, wie sie es gewöhnt war, die Thür desselben und sagte:

»Arthur?«

»Mein Liebling!« ertönte seine Antwort.

»Hast Du Zeit?«

»Ich bin soeben bei der Medea. Was willst Du?«

»Es ist etwas noch viel Besseres da.«

»Was denn?«

»Die Psyche.«

»Die Psyche? Mohrenelement! Wo ist sie?«

»Hier!«

»Laß sie sofort herein! Das ist eine sehr freudige Ueberraschung!«

»Treten Sie ein, und fürchten Sie sich nicht,« sagte die Frau in aufmunterndem Tone zu Hilda, nachdem sie dieselbe in das Atelier schob und hinter ihr die Thür zumachte.

Der Maler kam dem Mädchen entgegen. Als Hilda, vor Scham fast vergehend, jetzt doppelt lieblich vor ihm stand, sagte er sich, daß er in der ganzen Welt keine prachtvollere Psyche finden könne.

»Willkommen, willkommen, liebes Kind,« sagte er. »Recht so, daß Sie Ihre falschen Bedenken besiegt haben! Kommen Sie weiter nach hinten. Ich bin augenblicklich fertig und stehe dann zu Diensten.«

Er schob sie vor sich her. Da fiel ihr Auge auf die Tänzerin Leda, welche noch in ihrer üppigen Attitude auf dem Divan lag. Ihr Fuß wollte nicht weiter. Das Blut schien ihr im Herzen zu stocken.

»Sehen Sie hier diese Dame,« erklärte der Künstler. »Sie thut ganz dasselbe, was Sie thun werden, aber es fällt ihr gar nicht ein, sich zu schämen. Nehmen Sie einstweilen dort auf dem Stuhle Platz. Sie werden nicht lange zu warten haben.«

Hilda setzte sich, vermochte aber nicht, einen einzigen Blick auf die Tänzerin zu werfen. Endlich erklärte Herr »Arthur« in befriedigtem Tone:


// 1173 //

»So mag es für dieses Mal genug sein, Mademoiselle. Sobald Sie Zeit haben, bin ich bereit.«

Leda erhob sich, betrachtete die Contouren und sagte überrascht:

»Herr Balletmeister, Sie sind wirklich ein Künstler!«

»Wieso?« fragte er, erfreut über dieses Lob.

»Sie haben meine Züge mit photographischer Ähnlichkeit getroffen.«

»Ist das Ihnen vielleicht nicht lieb? Soll ich der Medea andere Züge geben?«

»Nein. Es mag so bleiben. Wer hat das Bild bestellt?«

»Baron Franz von Helfenstein. Er ist ein Liebhaber der sogenannten Fleischmalerei. Badende Frauen und Ähnliches kauft er am Liebsten.«

»Kauft er mich, so mag er nur zahlen. Hundertfünfzig Gulden ist da viel, viel zu wenig.«

»Gut, ich werde meine Preise machen. Wollen Sie sich im Cabinet ankleiden?«

»Pah! Wozu wäre das nöthig! Diese hübsche Kleine da ist wohl noch Novize?«

»Ja.«

»Sie hat noch nicht Modell gesessen?«

»Es soll heute zum ersten Male sein.«

»Und da schämt sie sich?«

»Leider!«

»Unsinn! Ich werde sie sogleich heilen.«

Sie hatte, vor dem Bilde stehend, bisher das Tuch an sich gehalten. Jetzt ließ sie dasselbe fallen, so daß sie am ganzen Oberkörper ohne jedwede Hülle war. So trat sie zu Hilda hin.

»Sehen Sie mich einmal an!« gebot sie ihr.

Hilda hob die Augen, senkte sie aber sofort wieder. Es war ihr, als ob sie vor einem tiefen, schwarzen Abgrund stehe. Sie schauderte und fühlte einen Schwindel, als müsse sie vom Stuhle fallen.

»Was sind Sie denn eigentlich?« fragte die Tänzerin.

»Nähterin,« hauchte Hilda.

»Und da wollen Sie sich schämen? Lassen Sie sich doch nicht auslachen! Ich bin viel, viel mehr als Sie, stehe in unerreichbarer Höhe über Ihnen, und doch fällt es mir gar nicht ein, so albern zu sein, mich zu schämen.«

Sie wendete sich wieder von ihr weg. Dafür aber nahm der Maler Hilda bei der Hand und führte sie in ein kleines, anstoßendes Cabinet. Er deutete auf ein großes, aber sehr dünnes rothes Tuch und sagte:

»Jetzt legen Sie Ihre Bekleidung vollständig ab; hören Sie, vollständig! Dann hüllen Sie sich in dieses Tuch. In fünf Minuten können Sie fertig sein.«

Sie warf ihm einen Blick zu, wie der Vogel die Schlange anblicken würde, von welcher er verschlungen werden soll, und fragte leise:

»Und nachher?«


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»Nachher hole ich Sie ab und gebe Ihnen die für das Bild geeignete Stellung.«

»Im Tuche?«

»Nein. Das nehmen wir fort.«

Er ließ sie allein. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und stöhnte:

»Gott wird helfen, hat Max gesagt. Was wird er sprechen, wenn er erfährt, was ich hier gethan habe! Wird er es mir verzeihen? Und Gott, der mich hier sieht, kann er wollen, daß ich mir durch solche Schande Hilfe suche, oder hat er die Barmherzigkeit, uns auf andere Weise aus der Noth und Sorge zu befreien? Ich will niederknieen; ja, ich will beten. Gott mag mich erleuchten!«

Die Tänzerin kleidete sich im Atelier an. Als sie fertig war, sagte sie leise zu dem Balletmeister:

»Ich möchte gern sehen, wie sich die Kleine benimmt. Geht das an?«

»Warum nicht? Sie bleiben einfach hier.«

»Aber da wird sie sich vielleicht doppelt scheuen!«

»Gerade das Gegentheil. Sie hat gesehen, daß Sie nicht prüde sind. Ihre Gegenwart wird ihr also eher Muth verleihen als ihr denselben rauben.«

»Hm! Ich bezweifle es. Ich werde jetzt laut Abschied nehmen; aber nicht gehen, sondern mich dort hinter jener Staffelei verstecken.«

»Meinetwegen auch!«

»So, fertig!« sagte also nun die Leda laut. »Soll ich Ihnen melden, wenn ich wieder Zeit habe?«

»Ich bitte Sie darum!«

»Dann entlassen Sie mich jetzt! Ich wünsche, daß die Psyche Ihnen ebenso gelingen möge wie die Medea. Leben Sie wohl, Herr Balletmeister!«

»Besten Dank und meine Empfehlung, Mademoiselle!«

Sie ging lauten Schrittes nach der Thüre, öffnete dieselbe, zog sie aber sogleich wieder zu und schlich sich leise hinter die Staffelei. Nach einiger Zeit fragte der Maler laut:

»Sind sie fertig, Fräulein Holm?«

»Nein,« antwortete es drin.

»Bitte, sputen Sie sich!«

Es vergingen wieder über fünf Minuten; da wiederholte er seine Frage:

»Sind Sie zu Ende?«

»Ja.«

»So kommen Sie heraus!«

Die Thür wurde geöffnet. Der Maler trat ihr in gespannter Erwartung entgegen, blieb aber enttäuscht stehen. Sie war noch - - vollständig angekleidet.

»Was soll das heißen?« fragte er entrüstet. »Halten Sie mich etwa für Ihren Narren?«

Sie war leichenblaß. In ihrem Gesichte schien sich kein Tropfen Blut mehr zu befinden.


// 1175 //

"Ich kann nicht!" hauchte sie.

»Ich kann nicht,« hauchte sie.

»Larifari!«

»Nein, es geht nicht. Ich müßte sterben. Und wenn ich es überlebte, so müßte ich dann doch in's Wasser springen.«

»Ich denke, Sie brauchen so nöthig Geld!«

»Ja, sehr nöthig.«

»Nun, hier können Sie es sich leicht und schnell verdienen.«

»Gott wird helfen!«

»Glauben Sie das nicht. Die Legenden von den Engeln, welche auf die Erde kommen, um die Menschen aus Noth und Trübsal zu befreien, sind Dichtung, aber keine Wahrheit. Es giebt keine Engel.«

»So giebt es gute Menschen.«

»Unsinn! Kein Mensch wird Ihnen Geld geben, bevor Sie es verdient haben. Ziehen Sie sich aus!«

»Ich kann nicht! Lieber lasse ich das Leben!«

»O sancta simplicitas - o heilige Dummheit!«

So erklang es hinter der Staffelei hervor, und die Tänzerin verließ ihr Versteck. Hildas Augen leuchteten zornig auf. Sie sagte:

»Sie wollten mich beobachten!«

»Ja freilich, liebe Kleine.«

»Sie thaten, als ob Sie fortgingen!«

»Das war eine Kriegslist.«

»Nein, das war Betrug!«

»Brause hier nicht auf, Kleine; Du kommst an die unrechte Adresse. Schäme Dich vielmehr über Deine alberne Zimperlichkeit. Kein kluges Mädchen wird heut zu Tage sich bedenken, sich auf eine so leichte und mühelose Weise Geld zu verdienen!«

»Ich mag dieses Geld nicht!«

»Wie kommst Du denn auf einmal zu dieser Entsagung? Vorhin sagtest Du, daß Du Geld so sehr nöthig hättest! Was sollst Du denn hier thun? Was wird von Dir verlangt? Nichts, gar nichts! Kein Mensch wird Dich berühren. Kein Mensch wird davon erfahren. Tausende haben es ohne Scheu gemacht und haben dann Grafen und Barone geheirathet!«

»Das ist wahr,« fiel der Maler ein. »Manches Modell ist berühmt geworden und hat sein Glück gemacht. Zieren Sie sich nicht länger. Ziehen Sie sich aus!«

Er faßte sie am Arme und wollte sie nach dem Cabinet führen. Sie aber entzog sich ihm.

»Lassen Sie mich!« bat sie. »Es ist mir unmöglich!«

Da trat die Tänzerin näher. Sie blickte zornig auf das brave Mädchen und sagte:

»Geben Sie doch keine solchen guten Worte, Herr Balletmeister! Es fragt sich, hat sie Modell sitzen wollen?«

»Ja,« antwortete er.


// 1176 //

»Es wurde auch das Honorar stipulirt?«

»Ja.«

»So hat sie Wort zu halten, und thut sie das nicht freiwillig, so haben Sie das Recht, sie zu zwingen.«

Da leuchteten auch Hilda's Augen zornig auf.

»Wer will mich zwingen?« fragte sie.

»Wir! Ich!« antwortete die Tänzerin.

»Versuchen Sie es!«

Es war eine feste Entschlossenheit über sie gekommen. Sie hatte erkannt, was sie als ihr höchstes und kostbarstes Gut zu hüten habe, und war gewillt, diesen Schatz auf's Äußerste zu vertheidigen.

»Oho! Diese kleine Mücke will stechen! Ich habe Modell gesessen, ohne bezahlt zu werden. Will die Schneidermamsell etwa etwas Besseres sein, als ich? Herunter mit den Fetzen, sage ich!«

Sie griff zu und riß Hilda den Hut vom Kopfe. Da ballte diese in höchster Erregung ihre kleinen Fäustchen und rief drohend:

»Wagen Sie weiter nichts, Sie Unverschämte! Ich werde mich zu vertheidigen wissen!«

Der Maler blieb stiller Zuschauer. Er wollte seinerseits jeden Gewaltact vermeiden, aber auch nicht auf das famose Modell verzichten.

»Was bin ich? Was?« schrie die Tänzerin auf. »Eine Unverschämte? Warte, Würmchen, jetzt werde ich Dich zertreten!«

Sie sprang auf Hilda zu. Diese hatte in ihrer Angst ihr Augenmerk auf einen großen Farbentopf geworfen, welcher neben ihr auf der Treppenleiter stand. Im Nu hatte sie diesen Topf ergriffen und der Angreiferin in das Gesicht geworfen.

Diese erhob ein entsetzliches Geschrei. Sie konnte nicht aus den Augen sehen; ihr Gesicht war nicht zu erkennen, und die Farbe troff auf ihren Anzug hernieder. In ihrer Wuth wollte sie Hilda dennoch fassen. Sie that einen wahren Tigersprung, hatte sich aber, da sie geblendet war, in der Richtung versehen und sprang in die Staffelei hinein, riß dieselbe mit dem Bilde der Medea um, stürzte selbst zu Boden, wo eine ganze Menge von Düten mit trockenen, und Flaschen, Gläser, Büchsen und Töpfe mit nassen Farben lagen und standen, und wälzte sich, ohne augenblicklich wieder aufkommen zu können, in diesem Chaos von allen möglichen und unmöglichen Couleuren herum.

Der Maler geriet bei dieser Verwirrung und dieser Verwüstung ganz außer sich. Er griff zu, um zu retten. Unglücklicher Weise aber bekam die Tänzerin zufällig seinen Arm in ihre Hände. Sie hielt ihn krampfhaft fest, und in dem Bestreben, sich an ihm aufzurichten, zog sie den Tanz- und Farbenkünstler mit in das in allen Färbungen schillernde Verderben hinein.

Sie schien zu glauben, ihre Feindin gefaßt zu haben, und bearbeitete den armen Ballettisten nun mit einer Energie, gegen welche Widerstand ganz und gar vergeblich war. Die nassen Farben spritzten und die trockenen stäubten


Ende der neunundvierzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der verlorne Sohn

Karl May – Forschung und Werk