Lieferung 40

Karl May

16. Mai 1885

Der verlorne Sohn
oder
Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.


// 937 //

»Alle gefangen - in die Falle gelockt!«

»Von ihm, von ihm! O, ich werde mit ihm abrechnen!«

»Wohin hat man sie geführt?«

»Ja, das ist die Frage! Und wo hat man sie in die Falle gelockt, Alle, vierzig Mann?«

»Jedenfalls hier in der Nähe, da von dem Stollen die Rede war. Welch ein Glück, daß Fritz entkommen ist!«

»Ist der alte Stollen gemeint, dessen Mundloch hier hinter der Mühle zu Tage tritt?«

»Ich wüßte keinen anderen.«

»Ah! Sagte der Kerl nicht, daß der Fürst des Elendes dem Waldkönige nachgefolgt sei?«

»Ja. Fritz hat sich in den Stollen gerettet, und der Fürst ist hinter ihm her.«

»Donnerwetter! Fort, fort! Wir haben ihn!«

Seidelmann verstand den Baron sofort.

»Ja, wir haben ihn!« stimmte er bei. »Fritz macht durch den Stollen nach Hause, hinter ihm der Fürst! Wenn wir noch zur rechten Zeit heimkommen könnten!«

»Wir müssen es, wir müssen! Mag alles Andere verloren sein, wenn ich nur diesen Fürsten fange! Vorwärts! Die Maske herunter! Sie ist uns nur gefährlich jetzt, sobald uns Jemand begegnet.«

Sie steckten die Betttücher zu sich und rannten durch den Wald dem Städtchen zu. Soeben wollten sie zwischen den letzten Bäumen heraus in das freie Feld treten, als Beide einen Schrei des höchsten Schreckes ausstießen und sich an den Stämmen festhielten. Die Erde wankte unter ihren Füßen; dann gab es einen unbeschreiblichen Knall, drüben stieg aus dem Gebäude, welches das Mundloch des Hauptschachtes beschirmte, eine dicke Feuergarbe bis hoch zum Himmel empor, und beim Scheine dieser Flamme sah man deutlich, daß die große Dampfesse in das Wanken gerieth und dann zusammenstürzte - ein fürchterliches Getöse und Geprassel, dann war es still. -

Die Beiden waren leichenblaß. Keiner vermochte, ein Wort hervor zu bringen. Da endlich stöhnte der Baron:

»Ein schlagendes Wetter! Welch ein Verlust!«

»Schlagendes Wetter? Nein!« flüsterte Seidelmann nur so vor sich hin.

»Was denn sonst?«

»Fritz!«

»Fritz? Ihr Sohn?«

»Ja.«

»Was ist mit ihm?«

»Er ist in den Stollen und der Fürst hinter ihm. Fritz hat sich nicht anders retten können!«

»Nicht anders? Wie hat er sich denn gerettet?«

»Durch die Mine.«


// 938 //

»Durch welche Mine?«

»Die Sie damals mit mir heimlich anlegten.«

Der Baron machte einen förmlichen Luftsprung. Seine Augen funkelten wie diejenigen eines wilden Thieres, und er nahm ganz die sprungbereite Stellung eines Tigers an, der sich auf eine Beute stürzen will.

»Jene Mine?« zischte er. »Weiß er davon?«

»Ja.«

»Verräther!«

»Er ist mein Sohn und konnte doch auch in Gefahr kommen. Damit er sich dann retten könne, habe ich es ihm gesagt.«

»O Du niederträchtiger, armseliger Thor! Glaubst Du denn, daß ich Dir damals die Wahrheit gesagt habe?«

»Nicht?« stöhnte Seidelmann.

»Nein. Die Mine hatte einen ganz anderen Zweck. Sie ist nicht mit Pulver, sondern mit Dynamit geladen.«

»Herr, mein Heiland! Mit Dynamit!«

»Ja. Mensch, Dein Sohn ist verloren; es hat ihn mit zerrissen. Er konnte von der Schnur sich unmöglich so weit entfernen, um nicht selbst auch getroffen zu werden.«

»Gott sei mir gnädig!«

»Ja, durch Deine Plauderei bist Du der Mörder Deines eigenen Sohnes geworden! Aber« - fügte er in teuflischer Freude hinzu - »auch noch Einer!«

»Noch Einer? Wer?«

»Der Fürst, mein Todfeind! Ihn hat es jedenfalls auch getroffen. Ah!«

Dieser Seufzer klang wie der eines Teufels, der sein Opfer in der Hölle empfängt.

»Der Fürst ist weg! Ich bin frei! Und bin ich noch nicht ganz frei, so werde ich es sein! Dein Sohn war ein gefährlicher Zeuge gegen mich; er ist fort! Ein Anderer ist ebenso gefährlich; er muß auch fort! Ich will frei sein, frei, frei! Weißt Du, wer der Andere ist?«

»Nein. Wer?« stammelte Seidelmann.

»Du, Du! Ist Dein Sohn zum Teufel, so fahre Du ihm nach! Ihr waret Beide reif zur Verdammniß!«

"Seidelmann war unfähig sich zu wehren."

Er zog das Pistol hervor, welches Seidelmann ihm vorher geborgt hatte. Der Hahn knackte. Der Fabrikant war unfähig, sich zu wehren. Er erhob die Hände und rief:

»Gnade! Gnade!«

»Nein, Dir nicht! Dir nicht! Lieber will auch ich einst keine finden! Fahre hin!«

Der Schuß krachte. Die Kugel schlug Seidelmann durch die erhobenen Hände und drang ihm in den Kopf. Er sank zur Erde nieder. Der Baron kniete zu ihm hin und untersuchte ihn. Dann flüsterte er befriedigt:

»Todt! Er fort; der Fürst fort; sein Sohn fort! Nun kommt an seinen


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Bruder die Reihe, an diesen scheinheiligen, gleißnerischen Verräther! Die beiden Schmiede stehen mir noch gut! Sie werden mich nicht verrathen, denn sie sind überzeugt, daß ich sie rette. Uebrigens werden sie bei der Explosion geflohen sein. Meines Bleibens ist hier nicht. Man darf mich nicht sehen, und den letzten Zeugen meiner Anwesenheit, den Wächter Laube, nehme ich mit. Hier, Waldkönig, hast Du Dein Pistol, damit man denken möge, Du seist Selbstmörder!«

Er warf die Waffe neben den Gefallenen hin und eilte im Fluge davon, sich in Acht nehmend, daß er nicht bemerkt werde.

Als er das Gehölz erreichte, stand der Wächter noch bei den Pferden, allerdings in höchster Aufregung.

»Endlich, endlich!« sagte er. »Ich muß fort!«

»Wohin?«

»Nach dem Schachte.«

»Weshalb denn?«

»Meine Frau! Meine Kinder! Dieses Unglück!«

»Sei ruhig! Den Deinen ist nichts geschehen!«

»Wirklich nicht?«

»Nein. Ich habe jetzt mit ihnen gesprochen; ich komme vom Schachte. Aber Dir selbst droht Unheil. Wir sind heute erwischt worden. Vierzig Mann sind gefangen. Auch Du bist verrathen. Man sucht Dich bereits.«

»Herrgott! Was thue ich?«

»Du fährst mit mir! Man wird denken, Du seeist bei der Explosion mit umgekommen, und wird Dich in Folge dessen nicht verfolgen. Deine Frau und Deine Kinder holst Du nach. Ich sorge für Dich! Vorwärts!«

Der vor Schreck förmlich consternirte Mann fand keinen Widerspruch; er band die Pferde los, hing die Stränge an, und dann flog der Schlitten lautlos dahin, als stamme er aus der Schattenwelt. -

Arndt hatte mit dem Offizier und dem Förster ganz dasselbe Ziel wie vorher der Baron mit Seidelmann. Es war daher auch gar kein Wunder, daß die drei Ersteren die Bahn der beiden Letzteren verfolgten. Arndt war den Anderen um einige Schritte voran. Durch die Bäume brechend, fuhr er zurück.

»Was ist das?« sagte er. »Da liegt Einer!«

»Wo?« fragte der Förster, indem er rasch folgen wollte.

»Halt! Zurückbleiben!«

»Warum?«

»Es liegt eine Pistole bei ihm. Ein Mord oder Selbstmord. Er blutet. Wir dürfen die Spur nicht verwischen, denn ich sehe, daß hier zwei Männer gestanden haben.«

Er trat neben den Spuren zu dem Gefallenen hin, faßte ihn an, hob ihn auf und trug ihn auf die Seite.

»So! Jetzt könnt Ihr her! Ihr werdet Euch wundern!«

Die beiden Anderen traten hinzu und beugten sich nieder.


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»Alle guten Geister!« rief der Förster. »Seidelmann!«

»Ja. Er ist erschossen worden.«

»Wie? Kein Selbstmord?«

»Nein. Seht her! Die Kugel ist ihm durch beide Hände in das Gehirn gedrungen. Er ist todt.«

»Gott sei seiner armen Seele gnädig! Wer mag der Mörder sein.«

»Vielleicht entdecken wir es. Hier ist etwas Weißes.«

Er zog das Tuch hervor.

»Ah! Oh!« rief der Förster. »Ein Bettuch! Sehen Sie einmal nach der Ecke!«

»Hier! Ein T. und M. Es stimmt. Ah, Teufel! Ich ahne, wer der Mörder ist!«

»Wer?«

»Jetzt nicht davon! Vetter Wunderlich, bleiben Sie einige Augenblicke hier bei der Leiche. Wir Beide gehen nach dem Schachte, wo die Gensd'armen sind. Ich schicke Ihnen zwei her, welche die Leiche bis auf Weiteres bewachen werden. Aber verbieten Sie ihnen, den Platz zu betreten oder die Spur zu zerstören! Kommen Sie, Herr Lieutenant! Der Mörder ist hier nach dem Dorfe gegangen, und zwar sehr eilig. Gehen wir neben der Fährte her, um zu sehen, wohin sie führt!«

Die Tapfen im Schnee waren deutlich zu erkennen, so daß es leicht wurde, sich von ihnen an das Gehölz führen zu lassen. Dort untersuchte Arndt Alles genau.

»Jetzt weiß ich es!« sagte er. »Drei sind mit dem Schlitten gekommen. Zwei gingen fort, und Einer stieg über Seidelmann's Zaun. Dieser Eine ist der Mörder. Er kam mit Seidelmann zurück und ging mit ihm in den Wald, aus welchem er allein wiederkehrte. Ein Anderer kam von Seidelmann's, um bei den Pferden zu bleiben, und ist dann mit ihm fortgefahren. Gehen wir ein Wenig weiter, um zu sehen, welche Richtung der Schlitten eingeschlagen hat.«

Als sie dem Geleise entlang bis vor das Städtchen kamen, nickte er mit dem Kopfe und sagte:

»Meine Vermuthung wird wohl richtig sein. Ich werde diese Fährte nicht aus den Augen lassen. Gehen wir jetzt nach dem Kohlenwerke.«

Als sie dort anlangten, bot sich ihnen ein schauderhafter Anblick. Alle Bewohner des Städtchens, welche laufen konnten, waren herbeigeeilt. Die eingestürzte Esse bildete einen wüsten Trümmerhaufen. Statt Schnee sah man ringsum nur Schutt und Ruß. Die Kohlenarbeiter, welche Pause gehabt hatten, waren angefahren, um zu sehen, was da unten zu retten sei. Die Steiger befanden sich in der Tiefe, und der Obersteiger leitete die Arbeit. Er sprach soeben mit dem Obergensd'arm.

»Sie wissen also ganz genau,« sagte dieser, »daß für heute keine Sprengung angeordnet war?«

»Ganz genau. Für heute und auch die nächsten Tage nicht.«

»Es könnte aber doch vielleicht Einer -«


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»O nein. Das ist unmöglich. Ich selbst halte das Sprengmaterial in sehr strenger Verwahrung.«

»Also doch Grubengase?«

»Nein. Es ist gesprengt worden.«

»Aber Sie sagen ja selbst, daß nichts Derartiges befohlen worden sei.«

»Allerdings! Und dennoch hat eine Sprengung stattgefunden, und zwar nicht mit Pulver, sondern mit Dynamit! Unsereiner weiß das zu unterscheiden.«

»Aber dann ist mir unbegreiflich -«

Arndt hatte dies mit angehört. Er fiel schnell ein:

»Bitte, noch zu warten, Herr Obergensd'arm! Ich habe eine Ahnung. Vielleicht gelingt es mir, Licht in diese Angelegenheit zu bringen. O weh! Wie schrecklich!«

Man brachte nämlich einige Leichen aus der Tiefe. Sie waren ganz verbrannt und zerrissen, so daß es schwer war, zu bestimmen, wer sie seien. Die herbei geeilte Bevölkerung erhob ein lautes Klagegeschrei. Arndt aber, stets practischen Sinnes, rief Einigen zu:

»Wollt Ihr die Todten in den Schutt legen? Kommt dort nach dem Schuppen; dort ist Stroh genug!«

Er selbst eilte voran und öffnete die Thür. Andere folgten, um zu helfen. Trotz des Geräusches, welches sie hinter ihm verursachten, fiel ihm doch ein Rascheln auf, welches er gehört zu haben meinte. Er war Polizist und pflegte nichts zu übersehen und nichts zu versäumen.

»Paßt auf, hier unten,« sagte er daher, »daß Niemand entkommen kann! Da oben scheint Jemand sich versteckt zu haben. Wollen doch einmal sehen!«

Er stieg hinauf, erblickte aber nichts. Nach einigem Tasten aber fühlte er einen Stiefel und zu seiner anderen Hand einen zweiten. Diese beiden Stiefel waren nicht leer, sondern es steckten Füße darin.

»Holt einmal Polizei und Licht herbei,« sagte er. »Es sind hier wirklich Personen vorhanden, welche sich verbergen.«

Es kamen bald einige Gensd'armen, und auch Laternen wurden herbeigebracht. Sofort verbreitete sich die Kunde, daß die Urheber der Explosion entdeckt worden seien, und in Folge dessen war die Menschenmenge, die sich vor dem Schuppen zusammendrängte, nach Hunderten zu zählen. Hätten die beiden Versteckten den Gedanken gehabt, sich durch einen forcirten Ausbruch zu befreien, diese Anzahl hätte es ihnen unmöglich gemacht.

Sie wurden aus dem Stroh hervorgezogen, und nun sah man beim Scheine der Laternen einen älteren und einen jüngeren Mann, der Eine mit einem Pelze, der Andere mit einem Havelock bekleidet und Beide Vollbärte tragend.

Der Obergensd'arm war auch herbeigekommen. Er betrachtete sich die Zwei, schüttelte den Kopf und sagte:

»Diese Männer sind mir unbekannt. Sie können nicht aus dieser Gegend sein.«

Und sich direct an die beiden Schmiede wendend, fragte er:


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»Wer sind Sie?«

Die Gefragten hielten es in ihrer Verlegenheit für das Beste, die heute bereits einmal gespielte Rolle beizubehalten; darum antwortete der Sohn:

»Nix deutsch.«

»Ah, keine Deutschen. Was aber dann?«

»Franzos, Franzos!« antwortete der Alte.

Er dachte gar nicht daran, daß seine Ausrede vollständig hinfällig sei, falls einer der Anwesenden französisch sprechen konnte. Der Obergensd'arm war dieser Sprache mächtig. Er fragte also:

»Eh bien! Vous êtes des français?«

»Wui, wui!« nickte der Schmied, der den Sinn dieser Frage leicht errathen hatte.

»Comment vous appelez vous?«

»Nix deutsch!«

Der Obergensd'arm blickte den Sprecher erstaunt an. Er hatte doch nicht deutsch, sondern französisch gesprochen. Arndt legte ihm die Hand auf den Arm und sagte:

»Sie brauchen sich nicht zu wundern. Die Sprache und Stimme dieses Franzosen, der nicht französisch versteht, kommt mir bekannt vor. Wollen Sie die Güte haben, mir das Verhör zu überlassen?«

»Sehr gern.«

»Nun gut! Sind Sie wirklich Franzosen, meine Herren?«

Diese Frage war an die Schmiede gerichtet.

»Wui!« antwortete der Sohn sofort.

»Vielleicht aus Paris?«

»Wui!«

»Sind Sie auf Besuch in Deutschland?«

»Nong, nong!«

»Also in Geschäften?«

»Wui!«

»Es freut mich, daß Sie mich so sehr gut verstehen, obgleich ich deutsch frage. Haben Sie doch nun auch die Güte, mir deutsch zu antworten! In welchen Geschäften reisen Sie?«

»Nix deutsch!«

»Unsinn! Halten Sie uns doch nicht für so dumm! Ich kenne Ihre Geschichte. Sie sind Pascher!«

»Nong, nong!«

»Allerdings eigentlich nicht Pascher, sondern Schmiede.«

»Nong!«

»Pah! Ihre Bärte können mich nicht täuschen. Herr Obergensd'arm, befehlen Sie, daß diesen Leuten die falschen Bärte und Perrücken abgenommen werden. Es ist der Schmied Wolf aus Helfenstein nebst seinem Sohne.«

»Was? Wäre das möglich?«

»Gewiß! Ueberzeugen Sie sich!«


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Die beiden Gefangenen sträubten sich zwar, aber dennoch wurden ihnen die falschen Haare abgenommen. Nun erkannte man sie allerdings.

»Wirklich! Die beiden Helfensteiner Schmiede!« sagte der Obergensd'arm. »Kerls, wie kommt Ihr in diese Kleider?«

»Sie sind unser!« antwortete der Alte trotzig.

»Und zu den falschen Bärten?«

»Wir wollten uns einen Spaß machen.«

»Mit wem?«

»Mit - na, das brauchen wir nicht zu sagen.«

»Da irrt Ihr Euch sehr. Ihr werdet es schon sagen müssen. Nennt Ihr eine Grubenexplosion einen Spaß?«

»Diese Explosion geht uns nichts an.«

»Nichts? Das wird sich finden. Warum habt Ihr Euch denn hier im Stroh versteckt?«

»Wir wollten Laube erschrecken.«

»So! Und Ihr denkt, daß wir dieser Ausrede Glauben schenken werden? Legt ihnen Fesseln an! Sie sind arretirt und werden in's Gefängniß geschafft!«

Die Schmiede sahen ein, daß Gegenwehr ihre Lage nur verschlimmern würde. Sie ließen sich also binden. Als sie dann aus dem Schuppen gebracht wurden, erhob sich unter der anwesenden Menge eine große Aufregung. Sie wurden für die Urheber der Explosion gehalten.

»Schlagt sie todt! Verbrennt sie! Werft sie hinab in den Schacht!« riefen viele Stimmen.

Arndt nahm sich ihrer an. Er erklärte mit lauter Stimme, daß die Anwesenheit dieser beiden Männer mit der Explosion ganz und gar nichts zu thun habe. Das wirkte.

Der Staatsanwalt hatte auch die Ansicht, daß die Schmiede nur in Absicht einer Schmuggelei heute hierher gekommen seien, und erklärte sich mit ihrer Gefangennahme einverstanden.

»Wir müssen uns auch noch eines Anderen versichern,« sagte Arndt, »nämlich des Wächters Laube.«

»Warum?«

»Er ist Mitschuldiger und Vertrauter des Waldkönigs.«

»Gut! Man suche ihn! Aber, Herr Arndt, wie steht es denn mit eben diesem Waldkönige? Sie sind ihm in den Stollen gefolgt. Haben Sie ihn ereilt?«

»Nein. Die Explosion kam dazwischen. Aber dennoch bin ich beinahe überzeugt, daß er nicht entkommen ist.«

»Das verstehe ich nicht. Sie haben ihn nicht ergreifen können, und dennoch soll er nicht entkommen sein?«

»Er ist wahrscheinlich bei der Explosion mit verunglückt. Er hat sie hervorgerufen, um sich zu retten.«

»Alle Teufel! Wäre es so?«


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»Ich vermuthe es. Der junge Seidelmann war es. Seinen Vater hat die Strafe auch ereilt. Er ist todt.«

»Todt? Wie? Wo?«

»Er ist ermordet worden und liegt da unten am Waldesrand.«

»Ermordet? Herr Arndt, das ist wirklich eine verhängnißvolle Nacht. Ein Ereigniß drängt das andere. Wer soll ihn denn ermordet haben?«

»Ich habe eine Vermuthung, kann aber nichts beweisen. Der Förster Wunderlich steht bei der Leiche. Senden Sie ein oder zwei Ihrer Leute hin, um ihn abzulösen.«

»Ich werde selbst mitgehen.«

»Bitte, zu bleiben. Sie werden hier gebraucht.«

»Ich denke, es handelt sich um einen Mord; das ist doch wichtig genug, und ein triftiger Grund, den Ort aufzusuchen?«

»Dazu ist später auch noch Zeit. Sehen wir zunächst, ob wir diesen Wächter Laube erwischen! Und dann müssen wir sofort nach Seidelmann's Wohnung.«

»Warum dahin?«

»Sie steht, wie ich ahne, nicht nur durch einen Klingelzug, sondern auch durch einen verborgenen Gang mit dem Kohlenwerke in Verbindung. Laube muß das wissen. Wir sind gezwungen, zu Seidelmann's zu gehen, um uns des Sohnes zu versichern, falls er doch noch entkommen wäre.«

Diese Gründe waren überzeugend. Man suchte nach dem Wächter, konnte ihn aber nicht finden. Seine Frau erklärte, daß er bereits seit etlichen Stunden abwesend sei.

»Wo ist er hin?« fragte Arndt.

»Ich weiß es nicht.«

»Sie lügen. Ich sehe es Ihnen an. Ihr Mann ist verdächtig, ein Helfershelfer des Waldkönigs zu sein. Es steht zu vermuthen, daß auch Sie davon wissen, also die Mitschuldige sind. Ich sehe mich gezwungen, Sie arretiren zu lassen.«

Die Frau erschrak. Sie zitterte am ganzen Leibe und sagte:

»Mich arretiren? Ich bin ja gänzlich unschuldig. Ich kann gar nichts dafür; ich habe ihn viele, sehr viele Male gewarnt.«

»Ah, gewarnt haben Sie ihn?«

»Ja.«

»Wovor denn?«

Sie wurde verlegen; sie sah ein, daß sie sich gefangen hatte, und antwortete stockend:

»Vor - vor dem Klingelzuge.«

»Vor welchem Klingelzuge?«

»In unserer Stube.«

»Schön! Zeigen Sie uns denselben doch einmal!«

Sie führte die Männer in ihre Wohnung. Hinter einem Schranke war


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eine Klingel zu bemerken und daneben ein Klingelzug, welche aber Beide nicht in Verbindung mit einander standen.

»Wohin führt der Klingelzug?« fragte Arndt. »Und woher kommt der Draht, der diese Klingel bewegt?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wirklich nicht? Nun, so müssen wir Sie solange einsperren, bis Sie die Güte haben, es zu gestehen.«

Sie erbleichte. Man sah ihr an, daß ihr angst und bange wurde.

»Ich bin ja nicht schuld,« antwortete sie.

»Das wird sich finden!«

»Ich habe gehört, daß eine Frau ihren Mann nicht anzuzeigen braucht, meine Herren!«

»Das ist doch nicht ganz so, wie Sie zu denken scheinen. Zwischen einer Frau, die ihren Mann nicht anzeigt, und einer, welche die Mitschuldige ihres Mannes wird, ist sehr schwer eine Grenze zu ziehen. Ich rathe Ihnen, aufrichtig zu sein. Haben Sie Kinder?«

»Ach ja, viere!«

»Nun, wollen Sie etwa, daß Sie von diesen Kindern weggerissen werden? Reden Sie die Wahrheit! Ich will ja gar nicht streng sein; ich will annehmen, daß Sie keine directe Schuld tragen; aber wohin dieser Klingelzug geht, das wissen Sie?«

»Ja,« gestand sie.

»Nun, wohin?«

»In das Schreibzimmer des Herrn Seidelmann. Die Klingel befindet sich dort an der hinteren Wand in einem Schranke.«

»Ihr Mann und Seidelmann gaben sich Signale?«

»Ja.«

»Zu welchem Zwecke?«

»Wenn Seidelmann meinen Mann brauchte, klingelte er, und mein Mann klingelte auch zuweilen, wenn fremde Männer kamen.«

»Wer waren diese?«

»Ich kannte sie nicht. Sie kamen auch selten in die Stube.«

»Was wollten sie?«

»Das weiß ich nicht.«

»Aber Sie ahnten es?«

»Ich dachte mir, daß sie vielleicht - Pascher seien. Aber ich durfte zu meinem Manne kein Wort davon sagen.«

»Ich sehe Ihnen an, daß Sie damit die Wahrheit sprechen. Ich will Sie nicht unglücklich machen; darum lasse ich Sie nicht arretiren. Aber bleiben Sie stets zu Hause. Vielleicht habe ich noch mit Ihnen zu sprechen. Ein Fluchtversuch würde Ihnen nur schaden!«

Die Frau fühlte sich außerordentlich erleichtert, als die Männer gingen. Diese Letzteren sahen erst einmal nach dem Treiben am Schachte, und dann


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begab sich Arndt mit dem Staatsanwalt und einigen Gensd'armen nach dem Städtchen. Der Obergensd'arm blieb zurück.

Eben, als sie das Kohlenwerk verließen, trafen sie auf den alten Förster, welcher abgelößt worden war. Als er hörte, daß sie nach Seidelmann's Wohnung gehen wollten, schloß er sich ihnen an.

»Vielleicht ist da das Betttuch zu gebrauchen, welches wir bei dem todten Seidelmann fanden,« sagte er. »Ich habe es mitgebracht.«

Da das ganze Städtchen sich in Aufregung befand, so war es kein Wunder, daß auch Seidelmann's Fenster Licht zeigten. Die Frau war zu Hause. Sie erschrak sichtlich, als sie zwei Herren in Begleitung von Gensd'armen eintreten sah.

»Kennen Sie mich?« fragte der Staatsanwalt.

»Ja,« antwortete sie in wahrnehmbarer Bangigkeit.

»Wo ist Ihr Mann?«

»Ausgegangen.«

»Und Ihr Sohn?«

»Auch er ging einmal fort.«

»Wohin?«

»Das weiß ich nicht.«

»Das ist doch kaum zu glauben. Eine Frau pflegt doch stets zu wissen, wohin Mann und Sohn gegangen sind.«

»Ich weiß es wirklich nicht.«

»Gingen die Beiden öfters des Nachts vom Hause fort?«

»Ich habe es nicht bemerkt.«

»Gut! Sie brauchen ja nichts zu gestehen. Wir werden dennoch erfahren, was wir wissen wollen. Führen Sie uns doch einmal in die Schreibstube Ihres Mannes.«

Die Frau nahm den Schlüssel von der Wand und schritt voran. Dort angekommen, erblickte man einen Schreibtisch, einen Waarentisch und zwei Pulte. Neben einem dieser Letzteren, an welchem der unglückliche Schreiber Beyer gearbeitet hatte, sah man einen Schrank, an welchem die Blicke Arndt's haften blieben.

»Was befindet sich in dem Schranke?« fragte er.

»Einige Bücher und -«

»Nun - und?«

»Und eine Klingel.«

»Wozu diese Letztere?«

»Ich weiß es nicht. Sie muß schon da gewesen sein, bevor wir hier einzogen.«

»Haben nicht Sie das Haus neu gebaut?«

»Ja.«

»Wie kann da diese Klingel vorher da gewesen sein.«

»Diese Stube war bereits im alten Hause, und mein Mann hat sie beibehalten.«


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»Ach so! Sie haben es oft klingeln hören?«

»Niemals?«

»Hm! Oeffnen Sie!«

»Ich habe keinen Schlüssel.«

»So, so! Da werden wir uns selbst helfen müssen. Es ist keine Zeit vorhanden, einen Schlosser zu holen.«

Er nahm ein eisernes Lineal, welches auf dem Schreibtische lag, und sprengte damit die Thür des Schrankes auf. An der hinteren Wand desselben gewahrten sie eine Klingel und einen Klingelzug, ganz so, wie in der Stube des Nachtwächters Laube.

»Richtig!« sagte der Staatsanwalt. »Dieser Klingelzug hier bewegt die Klingel des Wächters, und dessen Klingelzug setzt diese Klingel hier in Bewegung. Man braucht gar keine Probe anzustellen. Aber die beiden Drähte unter der Erde nach dem Kohlenschuppen zu leiten, das muß sehr schwierig gewesen sein.«

»Nicht sehr!« antwortete Arndt.

»Sie vergessen, daß diese Vorrichtung Geheimniß bleiben mußte. Wie hat man die Drähte legen können, ohne daß es von den Leuten bemerkt worden ist?«

»Man hat sie nicht gelegt, sondern gezogen.«

»Wie meinen Sie das? Beides ist wohl gleich.«

»O nein! Die Leitung in die Erde zu legen, das wäre allerdings aufgefallen. Man hat sie gezogen, nämlich durch einen Raum, der bereits vorhanden war.«

»Welcher Raum sollte das sein?«

»Jedenfalls ein Stollen, auf welchem dieses Haus steht und welcher nach dem Kohlenwerke läuft.«

»Sollte es wirklich einen solchen geben? Anzunehmen ist es allerdings.«

»Es ist jedenfalls einer da.«

Und sich an die Frau wendend, fragte er:

»Giebt es hier einen unterirdischen Gang?«

»Nein.«

»Sie lügen!«

Sie erröthete, aber sie schwieg. Darum fuhr Arndt fort:

»Haben Sie Theil an Dem, was Ihr Mann und Ihr Sohn thaten, so wird heute die Strafe kommen. Ich will nicht Ihr Richter und auch nicht Ihr Ankläger sein. Sie sollen nicht gezwungen werden, Etwas zu verrathen. Aber sagen Sie uns einmal, welcher Raum sich hinter diesem Zimmer befindet. Ich meine nämlich hinter dieser Mauer, an welcher der Schrank steht?«

»Die Kellertreppe.«

»Schön! Jetzt, Herr Staatsanwalt, wäre es von großem Vortheil, wenn wir Eduard Hauser's Rock und die Spitzen hier bei uns hätten.«

Der Staatsanwalt lächelte selbstbewußt und antwortete:

»Glauben Sie, daß ich nicht daran gedacht habe? Das, was Sie haben wollen, befindet sich hier. Geben Sie her!«


// 948 //

Diese letzten Worte waren an einen der Gensd'armen gerichtet, welcher ein Paket trug und dasselbe jetzt dem Staatsanwalte überreichte.

»Hier sind die Spitzen mit dem Rocke,« sagte der Letztere.

»Sehr gut,« meinte Arndt im Tone der Befriedigung. »Jetzt, Frau Seidelmann, führen Sie uns einmal nach dem hinteren Zimmer der oberen Etage!«

Die Frau mußte gehorchen. Oben angekommen, wurde sie von Arndt gefragt:

»Giebt es hier vielleicht ein heimliches Versteck?«

»Wozu sollte das sein? Ich kenne keines.«

»So werden wir uns abermals selbst helfen.«

Er stieg auf einen Stuhl und nahm das Bild herab, hinter welchem das Versteck sichtbar wurde.

»Haben Sie das wirklich nicht gewußt?«

»Nein.«

»Es ist gleichgiltig, ob ich Ihnen das glaube oder nicht. Sehen wir einmal, was da zu finden ist!«

Er griff in die Oeffnung und langte zunächst einen kleinen, dunklen Gegenstand hervor.

»Ah! Ein Knäuel von schwarzem Zwirn! Wie klug, und doch auch wieder wie dumm von Herrn Fritz Seidelmann! Und hier sind auch die Spitzen. Lassen Sie uns vergleichen!«

Er stieg wieder vom Stuhle herab, und bald zeigte es sich, daß der Zwirn ganz derselbe war, mit welchem man den Schnitt im Futter des Rockes zugemacht hatte.

»Und nun die Spitzen!« meinte der Staatsanwalt.

Da, wo diese letzteren zerschnitten worden waren, paßten sie so genau zusammen, daß gar kein Zweifel möglich war.

»Sie feiern da allerdings einen großen Triumph, Herr Arndt,« sagte der Staatsanwalt. »Es ist genau so, wie Sie combinirt haben. Fritz Seidelmann hat die Spitzen dem Hauser in den Rock gesteckt, um ihn zu verderben.«

»Fritz? Mein Sohn?« fragte die Frau. »Nein, nein; das hat er nicht gethan! Er wird es beweisen!«

»Dieser Beweis wird ihm sehr schwerfallen,« sagte Arndt. »Brennen Sie jetzt zwei Laternen an, und führen Sie uns in den Keller! Haben Sie ein Beil?«

»Mehrere.«

»Auch Hacke und Schaufel?«

»Auch.«

»Schaffen Sie es zur Stelle.«

»Warum Hacke und Schaufel?« fragte der Staatsanwalt.

»Ich vermuthe, daß wir diese Werkzeuge brauchen. Also vorwärts, damit wir die Zeit benutzen.«


// 949 //

Sämmtliche Spitzen, der Rock und auch der Zwirn wurden eingepackt und dem Gensd'arm wieder in Verwahrung gegeben. Dann ging es in den Keller hinunter, nachdem zwei Laternen, Beil, Hacke und Schaufel herbeigebracht worden waren.

Während sie die Treppe hinabstiegen, ging Arndt voran und beleuchtete die Mauer. Einige Stufen abwärts bereits blieb er halten und sagte:

»Sehen Sie! Hier kommen die zwei Drähte aus der Wand und gehen in den Keller hinab. Wir brauchen ihnen nur zu folgen, so finden wir ganz sicher den Stollen.«

Sie erreichten den Keller und wurden von den Drähten nach der Thür geführt, durch welche Seidelmann seinen Weg zu nehmen pflegte. Arndt wendete sich an die Frau:

»Wohin geht diese Thür?«

»Ich weiß es nicht.«

»Das ist jedenfalls nicht wahr!«

»Ich habe niemals den Schlüssel gehabt, und mein Mann hat mir verboten, zu fragen oder heimlich nachzuforschen.«

»So ist also jetzt kein Schlüssel da?«

»Nein.«

»Dann wird das Beil seine Dienste thun müssen.«

Er nahm das Beil und sprengte die Thüre auf. Ein finsterer Stollen gähnte ihnen entgegen.

»Nun, da haben wir ja, was wir suchen! Sind Sie wirklich niemals in diesem Gange gewesen, Frau Seidelmann?«

»Niemals.«

»So wissen Sie wohl auch nicht, was sich hier in dieser Kiste befindet?«

»Nein.«

»Sehen wir nach!«

Er öffnete den Deckel und zog den Inhalt hervor.

»Donnerwetter!« rief der alte Förster, welcher sich hinzugedrängt hatte. »Das ist ja eine ganze Diebs- und Schmugglerausrüstung. Wer hätte das bei diesen Seidelmanns gesucht.«

Die Frau schlug die Hände vor das Gesicht, schwieg aber.

»Falsche Perrücken und falsche Haartouren,« fuhr der alte Förster fort. »Schwarze Masken, Betttücher - - ah, Vetter Arndt, sehen wir doch einmal nach!«

Die Tücher waren mit T.M. gezeichnet, und als Arndt das letzte aus der Kiste zog und es öffnete, stieß Wunderlich einen lauten Schrei aus.

»Herrgott, es stimmt! Hier ist die Ecke ausgerissen, welche wir im Walde gefunden haben. Der eine Buchstabe in der Ecke, der andere hier - es ist gar kein Zweifel: Einer der beiden Seidelmanns hat den Grenzofficier erschossen!«


// 950 //

Die Frau brach, ohne einen Laut zu geben, zusammen. Es entstand unter dem Einflusse dieser wichtigen Entdeckung eine minutenlange Stille, dann fragte der Staatsanwalt:

»Was nun?«

»Ist die Frau ohnmächtig?« gegenfragte Arndt.

»Ja,« antwortete der Gensd'arm, welcher das Packet trug und sich zu ihr niedergebückt hatte, um sie zu betrachten.

»So bleiben Sie hier zurück, um diesen Eingang und die Ohnmächtige zu bewachen, bis wir zurückkehren. Wir müssen in den Stollen eindringen. Kommen Sie, meine Herren!«

Sie fanden den Weg noch recht gangbar, auch die Luft war gar nicht schlecht. Die beiden Laternen reichten aus für sie.

»Es scheint allerdings, daß wir die Richtung nach dem Kohlenwerke haben,« meinte der Staatsanwalt nach einer längeren Weile.

»Ganz sicher,« antwortete Arndt.

»Aber der Weg ist lang. Wir sind bereits über zehn Minuten gegangen.«

»Darum denke ich, daß wir in kurzer Zeit - horch!«

Sie blieben stehen. Es drang ihnen ein Laut entgegen, den sie unmöglich zu definiren verstanden.

»Was mag das sein?« fragte der Staatsanwalt.

»Fast wie ein wildes Thier!« antwortete Wunderlich.

»Wie ein überschnappendes Blasinstrument.«

»Nein, meine Herren,« sagte Arndt. »Das ist etwas ganz Anderes. Das ist das Heulen eines Menschen, der sich in der höchsten Todesangst befindet.«

»Herrgott! So liegen verunglückte Bergleute dort!«

»Wohl nicht. So nahe am Kohlenwerke sind wir noch nicht. Wenn mich meine Vermuthung nicht täuscht, so ist es - der Waldkönig, der mir vorhin entgangen ist.«

»Der Waldkönig? Also Fritz Seidelmann?«

»Ja. Er hat, um sich zu retten und den Gang zu verschütten, eine Miene entladen. Das vermuthe ich. Dabei aber ist er selbst von dem hereinbrechenden Gestein getroffen worden.«

»Dann schnell vorwärts!«

Sie eilten weiter. Von Secunde zu Secunde wurde das Geheul fürchterlicher. Die brüllende Stimme war ganz heiser und machte in dieser Umgebung einen doppelt schauerlichen Eindruck, so daß den Hörern die Haare zu Berge hätten steigen mögen.

»Hilfe, Hilfe!« brüllte es.

Aber dieses Wort wurde so hinausgeschrieen, daß es in Buchstaben gar nicht wiedergegeben werden kann. Die erste Sylbe klang kurz und quickend, während die zweite wie ein langes Äh hinausgedehnt wurde, ungefähr wie


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Hilfäääähhh! Der, welcher in dieser Weise schrie, mußte sich in größter Noth befinden oder die fürchterlichsten Schmerzen leiden.

Arndt, welcher mit seiner Laterne voran war, beschleunigte seine Schritte soviel wie möglich.

»Wir kommen, wir kommen!« rief er laut.

»Endlich! Endlich!« antwortete es.

Dann ging das Geschrei in ein herzzerreißendes Stöhnen über.

Nach kurzer Zeit blieb Arndt halten. Der Stollen war verschüttet, er konnte also nicht weiter. Das Stöhnen war verstummt. Er leuchtete auf den Boden nieder und stieß einen Ruf des Entsetzens aus.

»Herr im Himmel! Ein Mensch verschüttet!«

»Bis an die Brust!« fügte der Förster hinzu. »Wer mag es sein? Man kennt ihn gar nicht. Das ganze Gesicht ist blau angeschwollen.«

»Jedenfalls Fritz Seidelmann. Schnell Hacke und Schaufel her!«

Sie begannen wortlos zu arbeiten. Erde, Schutt und Steine flogen nur so von dem halb Begrabenen hinweg. Dieser war still geworden. Er hatte die Besinnung verloren.

Es dauerte aber doch fast eine halbe Stunde, ehe es gelang, seinen Körper ganz frei zu bekommen.

»Nun zunächst, wer ist es?« fragte der Staatsanwalt.

»Jetzt nicht; jetzt nicht,« antwortete Arndt.

»Warum nicht?«

»Ich habe nichts gesagt, um die Rettung nicht zur Unmöglichkeit zu machen. Aber sehen Sie nicht das Gestein nachbröckeln?«

»Herrgott, ja! Wir selbst befinden uns in größter Gefahr, verschüttet zu werden. Schnell zurück, schnell!«

Der Ausgegrabene wurde angefaßt, und dann flohen sie so weit von der Unglücksstelle, bis die Beschaffenheit des Stollens Sicherheit gab, daß nichts mehr zu befürchten sei. Dort legten sie den besinnungslosen Körper nieder und leuchteten ihm in's Gesicht.

»Ganz dick angeschwollen und schwarzblau!« sagte der Förster. »Gerade wie Einer, den der Teufel geholt hat!«

»Er sieht allerdings gräßlich aus,« stimmte Arndt bei; »aber es ist ganz sicher Fritz Seidelmann.«

»Lebt er noch?«

»Ja. Die Brust bewegt sich, und der Athem geht. Aber - schrecklich - beide Beine sind ihm zermalmt.«

»Recht so!« brummte der Förster. »Das hatte er Ihnen zugedacht, Vetter Arndt!«

»Still, Alter! Wer Sie so sprechen hört, der muß denken, daß Sie weder Gefühl noch Religion im Herzen haben.«

»Hm! Es fuhr mir so heraus. Der liebe Gott ist ein gerechter Richter. Das zeigt er hier auf's Deutlichste. Was machen wir mit dem Menschen?«


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»Wir tragen ihn in das Haus. Seine Mutter braucht ihn nicht sofort zu hören. Gehen Sie voran, Vetter Wunderlich, und sagen sie dem Gensd'arm, daß er sich mit ihr in die Schreibstube zurückziehen soll. Dann laufen Sie nach dem Schachte und holen den Arzt!«

So geschah es. Fritz Seidelmann wurde nach der hinteren Oberstube getragen, in welcher die Spitzen versteckt worden waren, und dort niedergelegt. Er regte sich nicht, holte aber leise Athem. Dicker Schaum stand vor seinem Munde.

»Jetzt sind wir hier eigentlich überflüssig,« sagte der Staatsanwalt. »Meinen Sie nicht?«

»Nein. Ich meine im Gegentheile, daß unsere Gegenwart hier sehr nöthig ist,« antwortete Arndt.

»Warum?«

»Ich vermuthe, daß dieser Verwundete die Besinnung wieder erlangen wird, nur um nach wenigen Augenblicken zu sterben. Diese Augenblicke müssen wir benützen. Vielleicht sagt er noch einige Worte, welche von Wichtigkeit sind.«

Sie warteten schweigend. Es herrschte die Stille des Todes in der Stube. Wunderlich hatte recht. Gott hatte gerichtet. Als Fritz Seidelmann den Gedanken gefaßt hatte, die Mine zu entzünden, hatte er gewünscht, daß sein Verfolger so lange wie möglich die höchsten Qualen zu erdulden habe. Sein Wunsch war auf ihn selbst zurückgefallen.

Endlich hörte man Schritte auf der Treppe. Förster Wunderlich brachte den Arzt.

»Es ging nicht eher, meine Herren,« entschuldigte sich der Letztere. »Es gab der Hilfsbedürftigen auf dem Schachte genug.«

»Hat man denn nicht auch nach anderen Ärzten geschickt?« fragte ihn Arndt.

»Allerdings. Es sind zwei Collegen angekommen. Nur dadurch wurde es mir möglich, Ihrem Rufe zu folgen. Ich wollte es nicht glauben. Ist es wirklich Seidelmann junior?«

»Sehen Sie selbst!«

Der Arzt zog sein Bestek hervor und kniete an der Seite des Verunglückten nieder.

»Wahrhaftig, er ist es!« sagte er. »Wie aber kommt er denn unter die Erde hinab?«

»Das wird sehr bald ruchbar werden. Bitte, untersuchen Sie ihn. Ich glaube nicht, daß er zu retten ist.«

Die Untersuchung begann, und das Resultat lautete:

»Beide Beine sind zerschmettert und der Brustkasten so eingedrückt, daß an eine Rettung gar nicht zu denken ist.«

»Wie lange kann er vermuthlicher Weise nach seinem Erwachen noch leben?«


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»Nur wenige Minuten, vielleicht aber auch nur einen Augenblick. Ich möchte Ihnen rathen, nicht hier zu bleiben.«

»Warum?«

»Es wird entsetzlich sein. Er wird brüllen, wie Sie wohl noch keine menschliche Stimme gehört haben. Dazu gehören sehr starke Nerven.«

»Wir haben ihn bereits gehört,« antwortete Arndt. »Uebrigens halte ich es doch auch für möglich, daß er ruhig bleibt.«

Der Doktor warf ihm einen mißmuthigen Blick zu und fragte:

»Sind Sie Arzt?«

»Nein. Aber ich habe viele Menschen unter den verschiedensten Umständen sterben sehen.«

»Nun, ich will Ihnen nicht widersprechen. Es wird sich zeigen, wer Recht hat. Ich habe auf dem Schachte sehr viel zu thun; hier bin ich überflüssig; die Herren werden mir hoffentlich erlauben, mich zu entfernen?«

»Wenn wirklich hier jede Hilfe unmöglich ist?«

»Vollständig unmöglich!«

Er ging, und die Anwesenden erwarteten nun unter den eigenthümlichsten Gefühlen das Erwachen des Besinnungslosen.

»Wollen wir nicht seine Mutter rufen?« fragte der Anwalt.

»Nein!« antwortete Arndt in bestimmtem Tone.

»Aber es wäre doch Menschenpflicht!«

»Schwerlich! Wollen Sie der Mutter die Qual bereiten, ihn in dieser Weise sterben zu sehen?«

»Hm! Vielleicht haben Sie Recht!«

»Nicht nur vielleicht. Uebrigens haben wir Anspruch auf die letzten lichten Augenblicke dieses Verbrechers.«

»Wegen eines Geständnisses?«

»Ja. Sein Vater ist todt. Er kann nicht mehr reden. So müssen wir also versuchen, hier etwas Entlastendes zu hören.«

»O, er wird sich wohl schwerlich entlasten können!«

»Sich nicht, aber Andere!«

»Ah, Sie meinen Eduard Hauser?«

»Ja, obgleich dessen Unschuld bereits erwiesen ist; ich meine aber auch Angelica Hofmann und Auguste Beyer. Für diese Beiden ist es vortheilhaft, wenn - Herrgott!«

Er war von einem Schrei unterbrochen worden, von einem so entsetzlichen Schrei, daß Alle von ihren Sitzen emporgerissen wurden. Sie hatten während der letzten Worte Seidelmann nicht beobachtet. Jetzt lag er da, ruhig und bewegungslos, mit offenen Augen - er vermochte kein Glied zu rühren; aber in seinem Blicke lag der Ausdruck einer wahrhaft höllischen Qual, und seine Zähne knirschten zusammen, daß es klang, als würde auf einer Drehbank ein Stück Stahl zerschnitten. Er hatte nur diesen einen Schrei ausstoßen können, weiter reichten seine Kräfte nicht aus.


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»Er ist wach!« sagte der Anwalt. »Fürchterlich! Wird er uns erkennen?«

»Ja,« antwortete Arndt.

»Ich bezweifle es!«

»Ich nicht. Die Schmerzen wollen ihm allerdings den Verstand nehmen, dennoch aber ist er bei Gedanken. Ich werde es Ihnen beweisen.«

Er kniete neben dem Elenden nieder und fragte ihn:

»Wissen Sie, wo Sie sich befinden?«

Der Gefragte bewegte die blutigen Lippen. Er wollte antworten, brachte aber kein Wort hervor.

»Antworten Sie mit dem Kopfe, indem Sie schütteln oder nicken! Hören Sie, was ich spreche?«

Ein leises Nicken war die Antwort.

»Können Sie sich auf Alles besinnen, was geschehen ist?«

Abermals ein Nicken.

»Ihr Vater ist von dem Hauptmanne erschossen worden, und auch Sie haben nur noch wenige Augenblicke zu leben. Gehen Sie nicht als ein reueloser Sünder dem ewigen Richter entgegen! Wir wissen Alles, auch daß Sie der Waldkönig gewesen sind. Beantworten Sie mir nur noch drei Fragen! Hat Auguste Beyer den Ring gestohlen?«

Er schüttelte mit dem Kopfe.

»Haben Sie Eduard Hauser die Spitzen in seinen Rock genäht, um ihn in Verdacht zu bringen?«

Er nickte.

»Und wünschen Sie, daß Angelica Hofmann wegen des Schusses auf Sie bestraft werde?«

Er schüttelte mit dem Kopfe.

»So will ich als Christ wünschen, daß Gott Ihnen verzeihen möge. Sie haben schwer gefehlt. Dem irdischen Richter entgehen Sie; dem himmlischen können Sie nicht entgehen. Doch wissen wir Alle, daß er gnädig und barmherzig ist. Haben Sie noch einen Wunsch?«

Er nickte zweimal hinter einander.

»Welchen? Vielleicht errathe ich ihn.«

Der Sterbende richtete seine blutunterlaufenen Augen nach der Thür, als ob er von dort Jemand erwarte.

»Ah, Sie wünschen, Ihre Mutter zu sehen?«

Ein Schütteln war das Zeichen der Verneinung.

»So wollen Sie eine andere Person sehen. Ich werde Ihnen mehrere nennen und dann -«

Er hielt inne, denn Seidelmann machte eine Bewegung mit den Armen, als ob er sich aufrichten wolle. Seine Augen rollten; seine Lippen verzogen sich, und da - da gelang es ihm, wenn auch röchelnd, aber doch die Worte hervorzustoßen:

»Vater - todt?«


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»Ja.«

»Erschossen -? Hauptmann -?«

»Ja, der Hauptmann hat ihn erschossen. Draußen am Waldesrande liegt die Leiche.«

»Hauptmann - gefangen?«

»Nein.«

»Ent - kommen?«

Sein ganzer Körper, soweit er nicht zermalmt war, begann zu beben. Sein Gesicht, so bereits entstellt genug, nahm einen geradezu unbeschreiblich gräßlichen Ausdruck an. Er schnappte nach Luft, ballte die zerquetschten Fäuste und schrie:

»Hauptmann - verdammt sei - ewig - Fluch - Fluch - Hölle - Fluch!«

Der Kopf fiel ihm nach hinten. Ein Blutstrahl schoß aus seinem Munde - ein sägendes Röcheln - ein convulsivisches Zucken - dann war es aus.

Die Anwesenden holten tief, tief Athem.

»Herrgott!« stöhnte der alte Förster. »Wer eines solchen Todes sterben muß! Der Herr behüte uns in Gnaden!«

»Er hat wenigstens noch Reue gezeigt,« sagte der Staatsanwalt. »Er hat die Wahrheit gestanden.«

»Das beabsichtigte ich,« bemerkte Arndt. »Hoffentlich werden Sie die Güte haben, Ihre drei Gefangenen zu entlassen.«

»Sobald ich nach Hause komme und die Bureaustunden begonnen haben. Aber bitte, Herr Arndt, was war das denn mit dem Hauptmanne, der Seidelmann erschossen hat.«

»Eine Vermuthung.«

»O, Ihre Vermuthungen scheinen stets Gewißheiten zu sein. Wen aber meinen Sie mit diesem Hauptmanne?«

»Davon später! Jetzt wollen wir uns dem Augenblicke nicht entziehen. Wie steht es mit Frau Seidelmann? Werden Sie sich vielleicht Ihrer versichern?«

»Wie denken Sie darüber?«

»Ich halte es nicht für nöthig. Die Ärmste hat zwei Todte; ist sie schuldig, so ist sie hart genug bestraft. Uebrigens, wenn Sie ihrer bedürfen, wird sie zu erlangen sein. Schließen wir hier zu und begeben wir uns nach dem Schachte. Dort sah ich den Pfarrer. Ihm geben wir den Schlüssel; er mag dann kommen und die Frau auf das, was ihrem Manne und Sohne geschehen ist, vorbereiten.« - -

Am anderen Morgen, als die Zellenthüren des Gefängnisses geöffnet wurden, damit die Insassen ihre Morgensuppe erhalten sollten, wunderte sich Eduard Hauser nicht wenig, als der Wachtmeister sagte:

»Ihre Suppe essen Sie bei mir.«

»Warum?«


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»Das werden Sie hören. Kommen Sie!«

Als er in die Wohnung des Beamten eintrat, entfuhr ihm ein Ruf der freudigsten Ueberraschung:

»Engelchen! Du hier?«

»Eduard! Du?«

Sie sprang von ihrem Stuhle auf und eilte ihm entgegen. Sie hatte sich allein im Zimmer befunden, und da der Wachtmeister mit Eduard nicht eingetreten war, so befanden sich die beiden Liebenden ganz allein. Engelchen warf Eduard die Arme um den Hals, legte den Kopf an seine Brust und sagte:

»Ach, was habe ich für Angst um Dich gehabt!«

»Um mich?«

»Ja.«

»Und ich um Dich!«

»Nicht um Dich selbst?«

»Nein. Um mich brauche ich keine Sorge zu haben, denn ich bin unschuldig. Du aber hast geschossen. Herrgott, was soll daraus werden! Ich konnte nichts Anderes thun, als Gott recht innig bitten, daß er die Herzen der Richter lenken möge! Warum aber holt man uns hierher?«

»Ja, warum?«

»Hat man es Dir nicht gesagt?«

»Nein. Die Wachtmeisterin holte mich und sagte, ich solle heute die Morgensuppe hier essen.«

»Höre, Engelchen, das scheint ein sehr gutes Zeichen zu sein.«

»Meinst Du?«

»Ja, gewiß! Man pflegt in einem Gefängnisse Liebesleuten, welche unter Anklage stehen, nicht Zusammenkünfte unter vier Augen zu gestatten. Das ist ganz ungewöhnlich!«

»Vielleicht ist Etwas geschehen, was unsere Angelegenheit zum Besten lenkt, lieber Eduard.«

»Gott gebe es! Du bist nur meinetwegen gefangen. Wie mir das in der Seele weh thut!«

»Ich konnte nicht anders, denn ich habe Dich ja lieb!«

»Wirklich? So ist Alles vergessen? Der Seidelmann, die Maskerade und - auch die Italienerin?«

Sie erröthete.

»Vergieb mir!« sagte sie. »Ich werde niemals wieder so thörigt sein. Ich habe Dich recht sehr gekränkt.«

Da wurde die Thür geöffnet, und die Wachtmeisterin trat ein, mit einem Topfe und Tellern in der Hand.

»Darf ich stören? Ist die Begrüßung vorüber?« fragte sie unter einem freundlichen Lächeln.

»Ja; wir sind fertig,« antwortete Eduard, einigermaßen verlegen.

»Nun, so kann ich die Suppe auftragen.«


// 957 //

Sie setzte die Teller auf den Tisch und goß die Suppe ein.

»Sie werden sich wundern, daß es drei Teller giebt, und Sie sind doch nur Zwei,« fuhr sie fort. »Ich wollte Ihnen nur Gelegenheit geben, sich ungestört einige Worte zu sagen; jetzt will ich die dritte Person holen.«

Sie entfernte sich. Eduard nickte froh vor sich hin und sagte:

»So freundlich! Das hat gewiß nur Gutes zu bedeuten! Ich konnte gar nicht schlafen; ich mußte immer an Dich denken. Du gefangen! Mein Engelchen in der Zelle!«

»O, das war nicht so schlimm. Ich hatte Gesellschaft. Ich war mit Beyer's Gustel zusammen.«

»Mit der? Das arme Mädchen! Wie erträgt sie ihr Geschick?«

»Sehr schwer! Es war mir fast unmöglich, sie zu trösten.«

»Sie ist unschuldig. Gott wird auch ihr beistehen!«

Da kehrte die Wachtmeisterin zurück und brachte - Die, von der die beiden soeben gesprochen hatten. Auguste Beyer war halb verwundert und halb beschämt, hier mit Hauser zusammen zu treffen. Er gab ihr die Hand und sagte:

»Grüß Dich Gott, Gustel! Du brauchst nicht zu erröthen. Alle Welt weiß, daß Du unschuldig bist.«

Sie antwortete mit keinem Worte. Sie dankte nur mit einem leisen Nicken ihres Kopfes. Ihr Gesicht behielt den düsteren, muthlosen Ausdruck bei.

»Jetzt setzen Sie sich und essen Sie!« sagte die Wachtmeisterin. »Gefängnißsuppe ist keine Delicatesse, und kalt schmeckt sie vollends gar nicht.«

»Denken Sie wirklich, daß wir essen können?« fragte Eduard.

»Warum denn nicht?«

»Aus mehreren Gründen, meist aber aus Wißbegierde dafür, was es zu bedeuten hat, daß wir zusammengebracht worden sind.«

»Ich kenne den Grund auch nicht. Der Herr Staatsanwalt hat es befohlen. In einer halben Stunde soll ich Sie in seine Expedition bringen lassen!«

»Alle Drei?«

»Ja. Sorgen Sie sich aber nicht. Solche Befehle werden nur gegeben, wenn es sich um etwas Gutes handelt.«

Die Frau blieb bei ihnen, darum konnten sie sich nicht so unterhalten, wie es geschehen wäre, wenn man sie allein gelassen hätte. Nach einer halben Stunde trat der Schließer ein, um sie zu dem Staatsanwalte zu führen.

Ihre Herzen klopften. Hatte Eduard Gutes erwartet, so wurde diese Vermuthung zur Gewißheit, als er neben dem Staatsanwalte - - Arndt stehen sah, welcher ihnen freundlich entgegenlächelte und ihnen zum Gruße die Hand reichte.

»Ah, Sie kennen einander!« sagte der Beamte. »Nun, diesem Herrn haben Sie es zu verdanken, daß ich jetzt die Freude habe, Ihnen eine gute Nachricht zu geben. Ihre Unschuld ist erwiesen.«


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Ein dreifaches »Ah!« entfuhr ihren Lippen. Und Eduard stieß ganz unwillkürlich hervor:

»So schnell!«

»Ja, schnell genug ist es gegangen, Herr Hauser. Es hat sich nämlich herausgestellt, daß Fritz Seidelmann sich in Ihre Stube geschlichen und die Spitzen in Ihren Rock genäht hat.«

»Dieser Schurke!«

»Er hat seine Strafe gefunden. Er ist todt.«

»Todt? Mein Gott!«

»Ja, todt. Er und sein Vater spielten den Waldkönig. Der Vater wurde gestern Abend erschossen, und den Sohn verschüttete im Stollen das zusammenbrechende Gestein. Dieser Letztere gestand vor seinem Ende, daß Sie den Ring nicht gestohlen haben, Fräulein Beyer, und er sagte auch, daß er Sie nicht bestraft wissen will, Fräulein Hofmann. Sie sind also entlassen, alle Drei!«

Die Freude des Liebespaares läßt sich nicht beschreiben. Auguste Beyer aber stand bleich und stumm dabei, ohne ihren Gefühlen Worte zu geben. Das frappirte den Staatsanwalt.

»Nun, freuen Sie sich nicht?« fragte er.

Sie schüttelte traurig den Kopf.

»Ihre Unschuld ist erwiesen; das ist doch ein Glück!«

»Ein Glück giebt es für mich nicht mehr, Herr Anwalt.«

Arndt kannte die Verhältnisse. Er sah es auch ihrer Körperbildung an, daß ihre Stunde nahe sein müsse. Ihn dauerte das brave Mädchen, darum sagte er begütigend:

"Fassen Sie Muth."

»Fassen Sie Muth! Noch gehört ja das ganze Leben Ihnen. Und ich werde für Sie ebenso sorgen wie für diese Zwei hier! Ja,« fügte er hinzu, sich an Eduard wendend, »Sie werden in Zukunft ein reicher Kaufmann sein!«

»Ich? Wieso?« fragte Eduard erstaunt.

»Nun, die beiden Seidelmanns sind ja todt. Das Geschäft muß fortgeführt werden. Die armen Weber müssen doch einen Verleger haben. Dazu paßt Keiner besser als Sie?«

»Ich? O nein. Dazu gehört Geld oder Credit bei den großen Fabrikanten.«

»Geld haben wir, und Credit verschaffen wir uns auch. Morgen suchen wir die Fabrikanten auf, mit denen die beiden Seidelmanns in Geschäftsverbindung gestanden haben; sie werden mit Ihnen keinen schlechten Tausch machen.«

»Mein Heiland! Ist das wahr?«

»Freilich. Jetzt aber fahren wir nach Hause. Der Schlitten wartet unten. Ich bringe Euch im Triumph heim, und wir wollen sehen, ob der alte Starrkopf, der Hofmann, auch jetzt noch den Seidelmann seinem braven Nachbarssohne vorzieht!«


// 959 //

Da konnte Eduard sich nicht mehr halten; er zog sein Engelchen an sich und sagte:

»Siehst Du, Engelchen, daß der alte Gott noch lebt! Herr Arndt ist sein Engel! Was er verspricht, das hält er. Wir werden glücklich sein!«

Die Drei wurden vom Staatsanwalte mit einem herzlichen Händedruck entlassen und stiegen mit Arndt in den unten wartenden Schlitten. Arndt hatte bereits mit dem alten Hofmann gesprochen, welcher sein Unrecht einsah und seine Tochter mit väterlicher Zärtlichkeit empfing. Wie Eduard von seinen Eltern bewillkommnet wurde, braucht gar nicht beschrieben zu werden.

Auguste war mit bei Hauser's eingetreten, um ihre Geschwister zu begrüßen. Sie sagte kein Wort. Sie konnte nur weinen. Arndt legte ihr die Hand auf den Kopf und sagte:

»Für Sie ist auch gesorgt. Einstweilen fahren Sie mit mir in das Forsthaus. Frau Barbara freut sich außerordentlich, Sie bei sich zu sehen.«

Als sie dann am Gottesacker vorüberfuhren, bat Auguste, für einige Augenblicke aussteigen zu dürfen, um das Grab ihrer Eltern zu sehen. Er selbst führte sie hin, um es ihr zu zeigen. Sie warf sich in den Schnee nieder und weinte zum Herzbrechen. Er ließ sie einige Zeit gewähren und sagte dann:

»Beruhigen Sie sich nun, liebes Kind. Ihren Eltern ist es wohl, denn ihre Sorgen sind gestillt, und sie ruhen aus von ihrer Arbeit. Ihr Segen gehört auch Ihnen!«

»Aber meine Sorgen sind nun doppelt groß!« weinte sie.

»Ich sagte bereits, daß ich für Sie sorge!«

Sie schüttelte langsam und traurig den Kopf und sagte:

»Und doch wäre es für mich am Allerbesten, wenn ich da unten bei Vater und Mutter läge!«

»Dieser Gedanke ist Sünde! Kommen Sie!«

Als Mutter Barbara das Schellengeläute hörte, eilte sie an die Thür. Sie kam die Stufen herab und hob das Mädchen aus dem Schlitten.

»Willkommen, herzlich willkommen, Kind!« sagte sie. »Wir wollen sehen, ob wir Das gut machen können, was Andere an Dir verbrochen haben. Komm herein!«

Auch der Förster kam ihr väterlich entgegen. Sie thaten alles, um sie aufzuheitern und Lebenshoffnung in ihr zu erwecken. Sie aber blieb traurig.

Sie erhielt ein Stübchen angewiesen, wo sie den Tag über blieb. Nur erst zum Abendessen ließ sie sich sehen, aß aber nur ganz wenig und kehrte dann in ihr Stübchen zurück.

Dort saß sie am Fenster und blickte weinend zu den Sternen des Himmels empor. Sie hörte die Anderen schlafen gehen. Sie fühlte sich so allein; es war ihr so weh um das Herz. Auch war sie körperlich so ermüdet, als ob sie lange, lange Zeit Tag und Nacht gelaufen sei. Es wurde ihr übel; es kam über sie wie Fieberschauer. Es litt sie nicht in dem Stübchen. Sie verließ dasselbe, stieg die Treppe hinab und öffnete leise die Hausthür. Sie


// 960 //

wollte zu den Eltern. Sie wollte noch einmal am Grabe des Vaters und der Mutter beten und dann sehen, ob sie sich mit ihrem Schicksale auszusöhnen vermöge. -

In der Nacht hörte der Todtengräber ganz eigenthümliche Töne. Er weckte seine Frau.

»Horch! Was ist das?«

»Ein kleines Kind schreit.«

»Aber auf dem Gottesacker? Da ist Etwas passirt! Brenne die Lampe an! Wir müssen nachsehen!«

Die beiden Leute kannten keine Furcht. Die Kinderstimme war zwar verstummt, aber sie durchsuchten dennoch den Kirchhof. Auf dem Grabe des Beyer'schen Ehepaares lag die Tochter ohne Besinnung, in ihrem Schooße ein kleines Kind. Ihre Hände waren fest um den Hals des zarten Wesens gekrallt - das Kind war zwar noch warm aber leblos.

Der Todtengräber und seine Frau schafften die ohnmächtige Mutter und das todte Kind zu sich in die Stube. Dann ging der Erstere zum Gemeindevorstand, um diesen zu wecken und Meldung zu machen. Wegen der vielen auf dem Schachte Verunglückten befanden sich zwei Ärzte im Orte. Zu ihnen gesellte sich am Morgen der Gerichtsarzt. Die Drei begaben sich in das Haus des Todtengräbers, um das Kind zu untersuchen.

Auguste Beyer lag still und theilnahmslos im Bette. Die Ärzte erklärten, das Kind habe nach der Geburt gelebt und geathmet und sei erdrosselt worden.

»Haben Sie das gethan?«

Sie nickte mit dem Kopfe. Sollte sie etwa leugnen? Es war ja nun doch Alles gleich.

Bereits am Nachmittage zog sie als Kindesmörderin wieder in das Untersuchungsgefängniß ein, welches sie gestern verlassen hatte. Die Ärzte hatten begutachtet, daß sie transportabel sei, wenn man die nöthige Vorsicht anwende. Sie sagte kein Wort, und sie weinte auch nicht. Warum auch weinen? Es war nun doch Alles aus! -

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Ende der vierzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der verlorne Sohn

Karl May – Forschung und Werk