Lieferung 28

Karl May

21. Februar 1885

Der verlorne Sohn
oder
Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.


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Er rutschte von dem Strohhaufen herab und stand nun vor dem jetzt erst Eingetretenen.

»Wer sind Sie?« fragte dieser.

»Hm! Wer sind denn Sie?«

»Ich bin es, der zu fragen hat!«

»Ich ebenso! Ist es überhaupt gebräuchlich, zu sagen, wer man ist?«

»Ah! So sind Sie also auch ein Anführer?«

»Jedenfalls.«

»Schön! Also, was wollen Sie?«

»Mich mit Ihnen über ein höchst lucratives Geschäft besprechen.«

»Ich stehe zu Diensten! Also, reden Sie!«

»Sind wir hier sicher?«

»Vollständig! Es befindet sich Niemand hier, der lauschen könnte. Es kommt auch Niemand, der uns überraschen möchte. Uebrigens habe ich Lauben befohlen, Wache zu halten. Wie kommen Sie zu ihm?«

»Ich kenne die Geheimnisse.«

»Die Eiche?«

»Noch weit mehr.«

»Sind Sie mit dem Schmiede im Einvernehmen?«

»Mit dem Helfensteiner? Ich habe keinen Grund, mich darüber zu äußern. Uebrigens haben Sie gestern schlechte Geschäfte gemacht!«

»Sehr, sehr schlechte! Dieser verdammte Fürst des Elendes!«

»Andere denken anders von ihm!«

»Wir aber nicht! Der Teufel mag ihn holen! Wer er nur eigentlich sein mag?«

»Ich bin ihm auf der Spur; er wird uns gewiß verfallen.«

»Ich will es hoffen! Aber, zu unserem Geschäft. Kennen Sie den Hauptmann?«

»Das ist Ihnen gleichgiltig! Verstanden? Ich habe einen Transport kostbarer Waaren über die Grenze zu schaffen und bedarf Ihrer Hilfe.«

»Auf Befehl?«

»Ja.«

»Wann soll es sein?«

»Ehe ich das sagen kann, muß ich vorher Anderes wissen. Ich nehme natürlich an, daß Sie der Anführer sind?«

»Eigentlich nicht.«

»Alle Teufel! Wer denn sonst?«

»Sein nächster Verwandter.«

»Das entschuldigt nicht! Warum kommen Sie und nicht er?«

»Er wird abgehalten!«

»Wie aber nun, wenn es sich um Hochwichtiges handelt? Er scheint nicht die gehörige Vorsicht zu besitzen!«

»Herr, Sie können doch nicht verlangen, daß er Tag und Nacht vor dem Drahte steht, um auf die Glocke zu warten! Er hat noch Anderes zu thun!«


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»Das mag sein! Aber ich muß mit ihm selbst sprechen.«

»Das ist jetzt wirklich unmöglich!«

»Wann sonst?«

»Heute nicht mehr!«

»Nicht mehr? Hm, das ist höchst unangenehm! Es handelt sich um einen Gewinn von - von -«

Er zog sein Notizbuch heraus und öffnete es. Zugleich griff er mit der anderen Hand in die Tasche und zog das chemische Laternchen hervor. Er leuchtete mit dem Letzteren auf das aufgeschlagene Blatt, blickte aber nicht auf dasselbe, sondern auf den vor ihm stehenden Mann.

Dieser war gar nicht darauf vorbereitet gewesen, angeleuchtet zu werden. Er fuhr schnell zurück; aber Arndt hatte doch bereits genug gesehen, nämlich die Spitze eines außerordentlich glatt rasirten Kinnes, welches unter der schwarzen Maske hervorblickte, und ein weißes Halstuch, welches den langen, hageren Hals nur halb bedeckte, obgleich es sehr weit über den Kragen der Jacke emporstieg. Der Fromme war erkannt.

»Also ein Gewinn von zwanzigtausend Gulden, wie hier zu lesen steht,« fuhr Arndt fort.

»Zwanzigtausend! Himmel! Das ist viel! Aber was war denn das für ein Fläschchen, Herr?«

»Eine Laterne.«

»Ich sah doch kein Lämpchen und kein Licht.«

»So haben Sie nicht aufgepaßt.«

»Zeigen Sie noch einmal heraus!«

»Was ich einmal wieder in der Tasche habe, kommt nicht mehr zum Vorschein. Ich bin nicht hier, um Laternenstudien zu treiben, sondern um mit Ihnen zu sprechen, oder vielmehr mit Dem, dessen Stellvertreter Sie heute sind.«

»Donnerwetter! Höflich sind Sie nicht!«

»Soll ich mich etwa freuen, wenn ich so weit herkomme und finde den Richtigen nicht?«

»Es ist nicht zu andern. Können Sie nicht morgen wiederkommen?«

»Das läßt sich noch nicht sagen.«

»Oder übermorgen?«

»Dann ist es fast zu spät.«

»Also ist es wirklich eilig?«

»Natürlich! Zumal Sie gestern eine solche Schlappe erhalten haben. Da werden die Grenzer es für ganz unmöglich halten, daß wir sofort wieder eine solche Summe wagen.«

»So machen Sie es doch möglich, morgen zu kommen!«

»Ich werde sehen.«

»Sagen Sie dem Wächter, daß er fünfmal klingeln soll, anstatt nur viermal, wie gewöhnlich!«

»Warum?«


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»Dann wissen wir sofort, daß Sie es sind, und lassen Sie nicht lange warten. Wir haben fast eine Viertelstunde zu laufen, ehe wir durch den alten Stollen kommen.«

»Gut! Werde mir's merken! Sonst noch Etwas?«

»Nein. Sie?«

»Auch nicht. Gute Nacht!«

»Gute Nacht!«

Arndt trat aus dem Schuppen heraus und verließ den Schacht, ohne sich ein einziges Mal umzusehen. Er war außerordentlich zufrieden über den Erfolg, den er errungen hatte.

Vorhin, als er Eduard verlassen hatte, war dieser in die Stube zu den Seinen zurückgekehrt, um das Mahl fortzusetzen. Sein Vater fragte ihn nicht, was er draußen gewollt hatte. Der alte Weber wußte, daß sein Sohn jetzt irgendein Geheimniß mit sich herumtrug; aber er war auch überzeugt, daß dieses Geheimniß nichts Böses sein werde.

Eben als das Mal beendet war und die Mutter die Schüsseln und Teller forttrug, hörte man draußen das Schellengeläute von Schlitten, welche vorüberfuhren.

»Da kommen die Städter!« meinte der Weber.

»Das Casino!« fügte seine Frau hinzu.

Bei diesen Worten warf sie einen besorgten Blick auf ihren Sohn, welcher sich Mühe gab, möglichst unbefangen auszuschauen.

»Wird Engelchen wirklich gehen?« fügte sie hinzu.

»Das wird Eduard wissen,« sagte der Vater.

»Sie geht,« antwortete der Sohn.

»Hast Du mit ihr gesprochen?«

»Ja.«

»Auch heute?«

»Ja. Ich gab ihr gute Worte.«

»Was antwortete sie?«

»Ich solle nach der Maskerade mit ihr sprechen.«

»Die Verblendete! Gott möge sie schützen! Aber wir haben unser Tischgebet vergessen!«

Er erhob sich, faltete die Hände und sprach, nachdem auch die Anderen aufgestanden waren, das gewöhnliche Gebet. Als er fertig war, wollten sich die Anderen wieder setzen; er aber sagte:

»Laßt uns auch für das Kind des Nachbars beten, damit Engelchen nicht von den Versuchungen umstrickt werde, denen sie entgegen geht.«

Er griff in den Spulkorb seines Arbeitsstuhles, nahm das alte Gesangbuch zur Hand, welches dort stets aufbewahrt wurde, schlug es auf und las:

»Oft klagt das Herz, wie schwer es sei,
     Den Weg des Herrn zu wandeln,
Und täglich, seinem Worte treu,
     Zu denken und zu handeln.


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Wahr ist's: die Tugend kostet Müh;
     Sie ist der Sieg der Lüste;
Doch richte selbst: Was wäre sie,
     Wenn sie nicht kämpfen müßte?« -

In diesem Augenblicke hörte man, daß draußen die Hausthür geöffnet wurde; der Weber aber fuhr ungestört fort:

»Des Lasters Bahn ist anfangs zwar
     Ein breiter Weg durch Auen;
Allein, sein Fortgang bringt Gefahr,
     Sein Ende Nacht und Grauen.
Der Tugend Pfad ist anfangs steil,
     Läßt nichts als Mühe blicken;
Doch weiter führet er zum Heil
     Und endlich zum Entzücken!« -

Jetzt war die Stubenthür aufgegangen. Es trat Jemand ein, auf den sich Aller Blicke richteten, nur derjenige des Vaters nicht. Dieser Letztere fuhr vielmehr unbeirrt fort:

»Lern nur Geschmack am Wort des Herrn
     Und seiner Gnade finden,
Und übe Dich, getreu und gern,
     Dein Herz zu überwinden!
Wer Kräfte hat, wird durch Gebrauch
     Von Gott noch mehr bekommen;
Wer aber nicht hat, dem wird auch
     Das, was er hat, genommen. -
Gieb Kraft, Gott, da, wo keine ist,
     Gieb Kraft, das Fleisch zu dämpfen!
Gieb Kraft, wenn Satan's Macht und List
     Uns schwächen will im Kämpfen!
Wenn uns die Welt viel Anstoß stellt,
     Gieb Kraft sie zu vernichten!
So wird in Noth, ja, selbst im Tod,
     Uns Deine Kraft aufrichten!« -

Jetzt erst machte er das Gesangbuch zu und warf einen Blick nach der Stubenthüre. Dort stand - Nachbar Hofmann.

»Guten Abend!« sagte dieser, aber nicht etwa in einem sehr freundlichen Tone.

»Guten Abend!« antworteten Alle.

Selbst die Kleinen, auch die Kinder des todten Schreibers, die sich ja hier in Pflege befanden, stimmten mit ein. Der alte Hauser schob einen Stuhl an den Tisch und sagte:

»Setze Dich, Nachbar, und sei uns willkommen!«

Der Angeredete trat zögernd näher, setzte sich wie Einer, der sofort wieder gehen will, nur auf die eine Hälfte des Sessels und meinte, indem er mit den Augen in die Ecke blickte:

»Danke! Ich will nicht incommodiren und werde auch gar nicht lange hier bleiben!«


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»Incommodiren? Wo denkst Du hin! Wie werden Nachbarsleute sich incommodiren können?«

»O, doch vielleicht! Ich komme nämlich, um zu fragen -«

Er stockte doch. Er wußte ganz genau, daß der Grund seines Besuches kein sehr nachbarlicher war.

»Nun? Was willst Du fragen?«

»Nach dem Holze wollte ich fragen.«

»Ah, nach den Stückchen Holz, welche Du uns am Sonnabend geborgt hast, Nachbar?«

»Ja.«

»Hat meine Frau sie nicht hinübergebracht?«

»Nein. Es waren acht Stücke.«

»Also für ungefähr einen Pfennig! Willst Du das Holz haben oder das Geld?«

»Das Holz ist mir lieber.«

»So mag es Dir ein Kind hinüberbringen.«

»Aber bald! Ich brauche das Meinige selbst nothwendig. Noch besser aber ist es, ich nehme es selbst gleich mit.«

»Warum? Es sind ja Kinder genug da.«

»Das sehe ich. Aber, Nachbar, daß ich es Dir nur gleich sage: Es liegt mir gar nichts daran, wenn Jemand von Euch noch einmal zu mir hinüber kommt.«

Der alte, brave Hauser horchte hoch auf.

»Wie?« fragte er. »Nichts daran liegt Dir? Das begreife ich nicht, und das verstehe ich nicht! Wir sind ja so lange Zeit gute und getreue Nachbarn gewesen, fast so lange ich nur denken kann!«

»Wir brauchen ja auch nicht gerade Feinde zu werden; aber es kann nichts nützen, wenn es so fortgeht, wie es bisher war!«

»Warum? Was haben wir Dir gethan?«

»Das fragst Du noch? Hat hier der Eduard nicht heute wieder mit meiner Angelica gesprochen?«

»Ja. Er selbst hat es mir gesagt. Soll er das nicht?«

»Nein. Ich verbiete es ein für alle Male!«

»Warum?«

»Er schamerirt mit ihr; aber er ist kein Mann für meine Tochter.«

»Ist es das! Nun, da kann ich allerdings nicht mit Dir rechten. Du bist Engelchens Vater und hast Deine Pflicht zu thun.«

»Das denke ich auch! Es freut mich, daß Du das einsiehst. Uebrigens hat mir Seidelmann verboten, mit Euch zu verkehren.«

»Der? Warum der?«

»Nun, das ist seine Sache. Zudem wird Engelchen in Seidelmanns Haus ziehen.«

»Ist's möglich? Was soll sie dort?«

»Sie bekommt da eine Stelle, eine sehr schöne Stelle.«


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»Als was?«

»Als - hm, wie sagte er nur gleich! Es ist so etwas Vornehmes. Stütze der Hausfrau, glaube ich, heißt es.«

»Das verstehe ich nicht. Ich kenne nur zwei Ausdrücke, nämlich Kindermädchen und Magd. Eine Magd hat Seidelmann schon, und ein Kindermädchen braucht er nicht.«

»Aber eine Stütze!«

»Er!«

Da blickte der Nachbar zornig auf und antwortete:

»Willst Du mich etwa beleidigen?«

»Nein, das fällt mir nicht ein. Aber, Nachbar, warnen möchte ich Dich!«

»Ich brauche weder eine Warnung, noch einen Rath von Dir! Ich weiß selbst, was ich zu thun und zu lassen habe!«

»Nun, so wollen wir es in Gottes Hand legen!«

»Das ist das Beste, was ihr thun könnt.«

»Wir haben es bereits gethan. Du hast die Worte gehört, welche ich vorgelesen habe?«

»Ja.«

»Nun, sie galten Deinem Engelchen. Wir haben für sie gebetet.«

Da stand Hofmann auf und sagte in zornigem Tone:

»Gebetet? Für sie! Wer hat Euch das erlaubt? Wer giebt Euch das Recht, für meine Tochter zu beten?«

»Das Recht? O, nicht allein dieses haben wir, sondern es ist sogar unsere Pflicht, für unseren Nächsten zu beten.«

»Aber Ihr habt keine Veranlassung dazu!«

»Darüber zu urtheilen, das überlasse uns, Nachbar. Ich bete, wenn ich das Herzensbedürfniß dazu habe.«

»So betet denn in des Kukuks Namen fort; aber kommt mir ja nicht wieder in mein Haus!«

Er erhob sich und wollte gehen. Da aber legte Eduard ihm die Hand auf den Arm und fragte:

»Weiß Engelchen schon, daß sie zu Seidelmanns zieht?«

»Nein. Ich habe es ihr noch nicht gesagt. Warum?«

Der junge Mann athmete erleichtert auf und antwortete:

»Weil ich mir denke, daß sie es nicht thun wird.«

»Oho! Warum?«

»Sie würde sich einem bösen Gerüchte aussetzen.«

»Das laß' nur ganz meine Sorge sein, Bursche! Der Lohn, welchen sie bekommt, ist mitzunehmen. Und was das böse Gerücht betrifft, so giebt es sicherlich keine schlimmere Nachrede, als die, daß mein Engelchen mit Dir verkehrt. Gute Nacht!«

Er bückte sich am Ofen nieder, nahm einige Scheite Holz auf und ging. Frau Hauser schlug die Hände zusammen und sagte:

»Haben wir schon einmal so etwas erlebt, Vater?«


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»Noch nicht, Mutter. Der Teufel des Hochmuths hat ihn ergriffen. Aber laß' das gut sein. Wir wollen noch nicht richten!«

Im Inneren Eduard's gab es eine große Unruhe. Er hatte sich in den letzten Tagen alle Mühe gegeben, sie nicht bemerken zu lassen. Sie wurde gesteigert durch das, was er jetzt gehört hatte. Es litt ihn nicht in der Stube. Er ging hinaus, um kühle Luft einathmen zu können.

Er schritt langsam die Gasse hinauf, bis er die Schänke erreichte. In dieser ging es gar lustig her. Der Saal war hell erleuchtet. Musik erschallte. Und auch die untere Gaststube schien bereits ziemlich gefüllt zu sein.

Er holte tief Athem und kehrte zurück. Eine Gestalt kam ihm entgegen, eine weibliche Gestalt, tief in ein Tuch gehüllt. Sie wollte schnell an ihm vorüber; aber er erkannte sie doch. Sollte er sie anreden oder nicht? Sein Zorn sagte 'Nein', sein Herz aber gebot ihm das Erstere.

»Engelchen!« sagte er.

Sie ging weiter, ohne zu antworten.

»Engelchen!«

Auch hierauf hörte sie nicht. Da eilte er ihr nach, ergriff sie am Arme und fragte:

»Sag' mir das Eine! Wirst Du wirklich zu Seidelmanns ziehen?«

Das hielt sie fest.

»Zu Seidelmanns?« fragte sie schnell. »Was soll ich dort?«

»Eine Stelle sollst Du haben.«

»Als was?«

»Als Stütze der Frau.«

»Und wer hat das gesagt?«

»Dein Vater. Weißt Du nicht, daß er jetzt bei uns war?«

»Nein. Er ist am Nachmittage bei Seidelmanns gewesen und hat Garn zu Schuß und Kette geholt.«

»Da werden sie von dieser Stelle gesprochen haben. Er kam zu uns, holte sich das Holz, welches er uns geborgt hat, und verbot mir, jemals wieder mit Dir zu sprechen.«

»Davon weiß ich wirklich kein Wort.«

»Nun, so weißt Du es jetzt. Also, ich darf nicht mehr mit Dir reden. Dir ist das natürlich recht. Gute Nacht, Engelchen!«

Er wollte gehen. Jetzt aber hielt sie ihn zurück und fragte:

»Hat er das wirklich gesagt, wirklich?«

»Ja.«

»Und Du willst - willst ihm gehorchen?«

»Natürlich! Du willst doch auch nichts mehr von mir wissen!«

»Wer hat das gesagt?«

»Das braucht gar Niemand zu sagen; das bemerke ich schon ohne dieses. Was hast Du hier unter dem Umschlagtuche, Engelchen! Nicht wahr, den italienischen Anzug?«

»Ja,« antwortete sie leise und zögernd.


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»Du gehst auf das Maskenfest?«

»Ja; ich kann nicht anders.«

»Und wenn ich Dich nun abermals bitte, zum letzten Male bitte, es nicht zu thun?«

»Der Vater hat's befohlen!«

»Kann er Dich dazu zwingen?«

»Er ist jetzt so streng, und ich - ich - ich habe mich selbst sogar sehr darauf gefreut. Du darfst nicht zu viel verlangen.«

»Engelchen, ein braves Mädchen geht nur dahin, wohin sie gehört!«

Da hob sie schnell das Köpfchen und sagte:

»Meinst Du etwa, daß ich nicht im Casino verkomme?«

»Warum nicht! Aber Du findest dort Deine Gesellschaft nicht!«

»Wenn sie es nicht ist, so kann sie es noch werden. Gute Nacht!«

Sie eilte fort. Er hatte wieder jenen Punkt berührt, an welchem sie so empfindlich war. Um diese wunde Stelle zu heilen, mußte die Sonde des Schmerzes oder der Enttäuschung angesetzt werden. Engelchen hatte einen Theil des väterlichen Hochmuthes geerbt.

Als sie die Schänke erreichte, zog sie ihre seidene Halbmaske, welche sie mit dem Anzuge erhalten hatte, aus der Tasche und befestigte sie vor das Gesicht. Dann stieg sie die Treppe empor.

Oben an der Thür stand die Magd des Wirtes, um die Ueberkleider in Empfang zu nehmen. Engelchen wurde von ihr nicht erkannt. Sie gab ihr Tuch ab und trat in den Saal.

Es war doch ein eigenes Gefühl, mit welchem sie diesen Schritt that. Fast war es ihr, als ob sie wieder umkehren solle. Es war ihr jetzt beinahe ängstlich zu Muthe. Aber zum Umkehren gab es keine Zeit mehr, denn Aller Augen waren auf sie gerichtet.

In demselben Augenblicke begannen die Musikanten einen flotten Walzer. Eine männliche Maske kam auf Engelchen zu, verbeugte sich und sagte:

»Endlich, endlich! Ich habe mit herzlicher Sehnsucht auf Dich gewartet, schöne Italienerin. Bitte, diesen Walzer!«

Er legte den Arm um sie, und sie flog mit ihm durch den Saal. Während sie dann ruhten, nahm er den Arm gar nicht von ihrer Taille. Er flüsterte ihr zu:

»Sie ahnen, daß ich es bin, der Sie eingeladen hat?«

»Ja,« nickte sie.

»Sind Sie gern gekommen?«

»Sehr gern!«

»Ihre Eltern haben es erlaubt?«

»Sonst hätte ich ja nicht wagen können, zu kommen!«

»Aber Ihr Bräutigam, Ihr Geliebter?«

Ihr Köpfchen senkte sich. Sie zögerte, zu antworten. Darum wiederholte ihr Tänzer in dringlichem Tone:

»Was sagte er?«


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»Ich habe keinen!« antwortete sie jetzt.

»Keinen Bräutigam und auch keinen Geliebten?«

»Nein.«

»Wie herrlich! Da engagire ich Sie für den ganzen Abend! Darf ich das? Sind Sie damit einverstanden, Fräulein Hofmann?«

Fräulein Hofmann! Wie vornehm das klang! Welch eine prächtige Maske er trug, und die Ringe an seinen Fingern funkelten! Konnte sie anders antworten, als:

»Gern! Sie sind es ja, der mich eingeladen hat!«

»So kommen Sie!«

Wieder ging es zum Tanze, und dann führte er sie an einen Tisch, an welchem Wein und andere Erfrischungen zu haben waren. Sie mußte trinken und von Delicatessen kosten, deren Namen sie nicht kannte, ja, die sie in ihrem Leben noch nicht gesehen hatte.

Dann wurde sie in die Unterhaltung gezogen. Männliche und weibliche Masken kamen, um sie zu necken oder auch ein paar ernste Worte zu sagen. Diese vornehmen Damen und Herren hatten zwar Alle ihre Gesichter verhüllt, aber sie waren so freundlich, so lustig, so zutraulich! O, wer doch auch so reich und so vornehm sein und immer an solchen Vergnügungen Theil nehmen könnte!

Wer aber war ihr Tänzer? Sie vermochte nicht, dies zu errathen; aber sie bemerkte, daß er bei den Anderen in Ansehen stand und daß er oft um Rath oder gar um Genehmigung gefragt wurde. Er mußte also in dem Vereine Casino Etwas zu bedeuten haben.

Jetzt saß sie an seiner Seite, und er hielt ihre Hand in der seinigen. Am Eingange lehnte eine Maske, welche die Augen nicht von den Beiden ließ. Seidelmann hatte sie noch nicht bemerkt; jetzt aber fiel sein Blick zufällig nach jener Richtung, und da erhob er sich schnell.

»Ah, endlich!« sagte er. »Ich glaubte schon, daß er gar nicht nachkommen werde.«

»Wer?« fragte Engelchen.

»Der dort an der Thür.«

»Wer ist es?«

»Ein Freund von mir. Als er abgeholt werden sollte, hatte er erklärt, daß er noch nicht könne, aber bald folgen werde.«

Er schritt über den Saal hinweg, auf die Maske zu, gab ihr die Hand und sagte:

»Willkommen! Ich verzichtete schon darauf, Dich zu sehen. Aber mit welcher Gelegenheit bist Du gekommen?«

Er glaubte natürlich, den jungen Kaufmann Strauch vor sich zu haben, und ahnte nicht, daß es Der sei, dem er in letzter Zeit so feindselig gegenüber getreten war. Eduard bemerkte aus diesen Worten, daß Seidelmann gewußt habe, welche Maske Strauch tragen werde. Er sah ein, daß es am Besten sei, so ungenirt wie möglich aufzutreten; darum antwortete er frisch weg:


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»Es paßte gerade, daß ich mit einem hiesigen Geschirr fortkommen konnte, sonst hätte ich mich wohl in Verlegenheit befunden. Auf dem Rückweg wird es wohl ein Plätzchen für mich bei den Anderen geben.«

Er war öfters bei Strauch's gewesen und wußte, daß der junge Strauch ein Wenig mit der Zunge anstieß. Dies ahmte er, so gut es gehen wollte, nach. Uebrigens verstand es sich ganz von selbst, daß die Stimme durch die Larve verändert wurde.

»Der Anzug sitzt Dir ausgezeichnet,« sagte Seidelmann, indem er ihn vom Kopfe bis zum Fuße herab musterte. »Ich bin neugierig, ob Dich Deine Marie erkennen wird! Aber, ich sehe doch Deine Ringe nicht.«

»Die habe ich abgezogen, eben damit sie mich nicht erkennen soll.«

»Schlaukopf! Aber mich fragst Du nicht?«

»Was sollte ich fragen?«

»Ob es mir gelungen ist!«

Eduard ahnte, daß es sich um Engelchen handle; aber er durfte nicht mit der Thür in's Haus fallen; er mußte vorsichtig sein; darum sagte er:

»Da wäre Fragen unnütz. Ich werde es ja sehen.«

»Hast Du es nicht schon gesehen?«

»Hm! Ich errathe! Ist sie es?«

»Natürlich! Wie gefällt sie Dir?«

»Na, so leidlich.«

»Leidlich? Bist Du blind? Vergleiche sie mit den Anderen! Sie ist unbedingt die Schönste von Allen. So frisch, so reizend, rein zum Anbeißen. In diesem Anzuge sieht man erst, was sie werth ist.«

»Hm! Eine Weberstochter!«

»Das genirt nicht! Siehe ihr Haar, ihren Mund, der unter der Maske hervorblickt, diesen Hals, diesen Busen, der das römische Mieder zu zersprengen droht, diese vollen Arme, schneeweiß und doch ohne Puder!«

Eduard hustete. Er hätte den Sprecher niederschlagen mögen. Er selbst sah ja jetzt erst, wie schön Engelchen war. Und gerade jetzt sollte er sie aufgeben und verlieren!

»Was hustest Du?« fuhr Seidelmann fort. »Weil ich so begeistert bin und Du nicht? Ja, Du hast Fischblut. Ich aber gehe in Flammen auf, wenn ich eine solche Schönheit sehe. Sie muß mein werden!«

»Oho! Dazu sind diese Weberstöchter zu - zu - zu sittsam!«

»Papperlapapp! Man weiß diese Sittsamkeit zu besiegen. Sie wird Champagner trinken. Uebrigens wird sie in unserem Hause in Dienste treten. Ich machte dieses Anerbieten heute ihrem Vater.«

»Und er ist darauf eingegangen?«

»Ja.«

»Wird auch sie ihre Zustimmung geben?«

»Natürlich. Erstens wird sie müssen, weil ihr Vater will, und zweitens ist der Eintritt in unser Haus für sie eine ebenso große Ehre wie die Erlaubniß,


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am heutigen Feste theilzunehmen. Sie scheint ein Wenig eingebildet zu sein und wird ebenso gern in unsere Dienste treten, wie sie heute hierher gekommen ist.«

»Damit ist noch nichts erreicht!«

»Du scheinst mir wirklich nicht zuzutrauen, daß ich im Stande bin, eine solche Eroberung zu machen!«

»Mädchen dieses Standes pflegen hartnäckig und fest zu sein!«

»Pah! Wollen wir wetten, daß ich sie heute noch besiege?«

»Das gelingt Dir nicht!«

»Ich frage, ob Du mit mir wettest!«

»Wie hoch?«

»Fünfzig Gulden!«

»Da thue ich allerdings mit. Aber es handelt sich um die Sicherheit; ich muß mich überzeugen können.«

»Das sollst Du. Also, ich sage, daß ich noch heute, hier, dieses Mädchen besiegen werde, und Du bestreitest es?«

»So ist es! Nur fragt es sich, was Du mit dem Worte 'besiegen' bezeichnen willst.«

»Das bedarf eigentlich gar keiner Erklärung. Sie wird mein werden, wie die Frau dem Manne gehört.«

»Das bestreite ich allerdings. Also, die Wette gilt. Aber wie willst Du mir Sicherheit und Ueberzeugung bieten?«

»Du sollst Zeuge sein.«

»Sakkerment! Ich soll dabeisein?«

»Ja.«

»Da wirst Du erst recht nichts erreichen!«

»Dennoch! Sie wird Dich nicht bemerken. Da drüben über dem Gange giebt es nämlich ein kleines Gastzimmerchen mit Sopha, Bett, Tisch und zwei Stühlen. Da ich mir vorgenommen hatte, mit dem hübschen Mädchen heute ein Stündchen allein zu sein, so habe ich das Stübchen für mich gemiethet. Der Schlüssel steckt bereits hier in meiner Tasche. Wenn sie einige Gläser Champagner getrunken hat, wird sie warm und liebevoll geworden sein. Dann wird man uns, selbst wenn man uns vermißt, nicht finden.«

»Verdammt gut ausgedacht!« knirschte Eduard.

»Nicht wahr, Alter? Glaubst Du nun immer noch nicht, daß das Mädchen mir gehören wird?«

»Nein.«

»Du hältst also die Wette aufrecht?«

»Ja.«

»Nun gut! Einige Augenblicke, bevor ich mich zurückziehe, werde ich es Dir sagen, Du gehst dann in das Zimmer und versteckst Dich, so daß Du von ihr nicht gesehen wirst.«

»Wohin?«

»Das Bett ist ein Himmelbett mit Vorhängen. Zwischen ihm und der


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Fensterwand ist so viel Raum, daß Du einen Stuhl einschieben kannst, um Dich darauf zu setzen.«

»Schön! Da werde ich es sehr bequem haben.«

»Das Sopha steht so, daß Du von dort aus gar nicht gesehen und bemerkt werden kannst, falls es Dir nicht etwa einfällt, zu husten, zu nießen oder sonst irgend eine Dummheit zu machen.«

»Das wird mir gar nicht einfallen. Aber sage, wird Dich meine Anwesenheit denn nicht geniren?«

»Ganz und gar nicht. Der Sieger kann sich nur freuen, wenn er weiß, daß er einen Zeugen seines Sieges, einen Bewunderer hat.«

»Kerl, Du bist scham- und gewissenlos!«

»Pah! Ich werde fünfzig Gulden gewinnen! Aber wann die Wette zu zahlen ist, darüber haben wir noch nichts gesagt!«

»Bestimme Du!«

»Morgen Abend!«

»Gut. Wie aber finde ich das Zimmer?«

»Du gehst an der Treppe vorüber und über den Gang hinweg. Es ist die zweite Thür.«

»Wäre es nicht besser, Du gäbst mir gleich den Schlüssel?«

»Warum?«

»Weil ich ihn doch einmal eher brauche, als Du.«

»Gut, hier! Aber stecken lassen mußt Du ihn natürlich, sonst können wir nicht hinein. Ich werde ihn dann abziehen.«

»Und wenn Ihr wieder geht, so lässest Du offen, damit auch ich mich dann entfernen kann.«

»Das versteht sich ganz von selbst. Aber, ich glaube, meine Kleine wird ungeduldig. Und auch Deine Marie giebt sich Mühe, Dich unter den Masken zu erkennen. Halten wir uns jetzt fern von einander, damit Niemand meint, daß wir einen Plan haben!«

Er kehrte zu Engelchen zurück, und Eduard war gezwungen, trotz seiner mehr als ernsten Stimmung an dem Vergnügen theilzunehmen. Er tanzte; er trank zuweilen einen Schluck Wein, welcher zur Disposition Jedermanns stand, ließ aber dabei Seidelmann und Engelchen so wenig wie möglich aus dem Auge. Er hatte sich noch nie in solcher Gesellschaft befunden, aber er fand, daß es ihm nicht schwer fiel, sich ohne alle Fehler zu bewegen.

Erst war er höchst begierig gewesen, zu erfahren, wer es war, der Engelchen eingeladen hatte. Nun wußte er es. Er hatte Seidelmann an seinem großen Siegelringe erkannt, und nun war ihm auf einmal Vieles klar. Seidelmann betrachtete ihn als Nebenbuhler, und darum hatte er ihm in letzter Zeit auf alle mögliche Weise zu schaden gesucht.

Eduard war mit dem festen Vorsatze hergekommen, die Geliebte zwar zu beobachten, sonst aber ganz und gar nicht handelnd einzugreifen. Sie war für ihn verloren. Jetzt aber, da er Den erkannt hatte, dem sie zum Opfer fallen sollte, regte sich ein fürchterlicher Grimm in ihm, und zugleich ward er


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sich der ganzen Größe und Innigkeit seiner Liebe bewußt. Nein, dieser Seidelmann, dieser Mensch sollte nicht über die Reinheit Angelica's triumphiren; dieser Bube am Allerwenigsten!

Die Zeit verging, und die Gesellschaft wurde immer lustiger und lustiger. Einige Paare hatten sich erkannt, Andere wieder nicht. Um Mitternacht sollte Demaskirung sein. Jetzt war es zehn Uhr. Da trat Seidelmann zu Eduard heran und raunte ihm zu:

»Jetzt kannst Du gehen!«

»Will sie denn mit?«

»Ja. Ich glaube, daß der Champagner gewirkt hat. Also mache schnell, denn ich komme gleich nach!«

Er wendete sich ab, und Eduard folgte der erhaltenen Weisung. Er verließ den Saal. Draußen war die Magd, welche die Garderobe zu besorgen hatte, nicht zu sehen. Sie mochte geglaubt haben, sich entfernen zu können, da man ihrer Dienste wohl erst beim Aufbruche der Gesellschaft wieder bedurfte. Darum erreichte Eduard vollständig unbemerkt die Thür des betreffenden Stübchens, zog den Schlüssel hervor, öffnete und trat ein. Er verschloß die Thür natürlich nicht wieder.

Auf dem Tische stand ein Licht, welches, seit man es hierher gestellt hatte, fast ganz herabgebrannt war. Die Möbel waren dieselben, wie Seidelmann angegeben hatte. Zwischen dem Seitenvorhange des Bettes und der Fensterwand gab es einen freien Raum, welcher ungefähr zwei Fuß breit war. Da hinein schob Eduard einen der Stühle und nahm darauf Platz.

Der Bettvorhang verbarg ihn vollständig, und nun wartete er der Dinge, die da kommen sollten.

Bereits nach kurzer Zeit hörte er nahende Schritte. Die Thür wurde geöffnet, und Eduard vernahm Engelchens Stimme:

»Hier herein? Ich wollte doch hinab, um Luft zu schöpfen.«

»Das würde nicht gerathen sein, Fräulein Hofmann,« antwortete Seidelmann. »Da unten würde Ihre Maske eine Menge neugieriger Augen auf sich ziehen. Uebrigens haben Sie zur Genüge frische Luft. Es ist ja nicht geheizt. Bitte, tretet Sie ein!«

Er zog sie sanft in das Zimmer, nahm den Schlüssel herein, steckte ihn ein, und daß er dann den Riegel vorschob, bemerkte das Mädchen gar nicht. Er führte Engelchen nach dem Sopha und sagte:

»Bitte nehmen Sie einige Minuten hier Platz!«

Sie ergriff einen Stuhl, um sich darauf zu setzen, er aber zog ihr denselben weg und bemerkte dabei:

»O nein! Die Königin des Festes auf einem Holzstuhle! Das könnte ich gar nicht verantworten. Bitte, bitte!«

Er schob sie bei diesen Worten auf das Sopha. Das war freilich nicht so, wie sie wollte; aber er war so höflich. Durfte sie ihn beleidigen? Das wäre undankbar gewesen. Um nur etwas zu sagen, strich sie sich mit der Hand über die feuchte Stirn und sprach:


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»Es war so heiß. Das viele Tanzen macht drehend, wenn man es nicht gewöhnt ist.«

»Sie tanzen also wenig?« fragte er.

Dabei setze er sich neben sie auf das Sopha. Sie rückte so weit wie möglich zur Seite und antwortete:

»Sehr wenig. Vater ist kein Freund davon.«

»Um so mehr muß ich mich geehrt fühlen, daß er es Ihnen erlaubt hat, hierher zukommen! Aber bitte, wollen Sie nicht die Güte haben, Ihre Maske abzunehmen? Sie schwitzen doch!«

Er langte selbst hin, knüpfte die Schnur auf und zog ihr die Verhüllung vom Gesichte. Ein von der Anstrengung des Tanzes und vor Verlegenheit rothes Gesicht blickte ihm entgegen.

"Wie schön sind Sie!"

»Wie schön Sie sind, liebes Engelchen!« sagte er, indem er ihre Hand ergriff und an sein Herz drückte.

Sie erglühte noch mehr, antwortete nicht, gab sich aber alle Mühe, ihm ihre Hand zu entziehen.

»Nein, nein, lassen Sie mir dieses reizende, kleine Händchen! Ich wollte, es wäre mein Eigenthum! Sie sagten mir vorhin, daß Sie keinen Verlobten hätten. Ist das wirklich wahr?«

»Ja.«

»Auch keinen Geliebten?«

»Auch nicht.«

»So ist also Ihr Herzchen völlig frei?«

Sie blickte zur Seite und antwortete, erst nach einem Weilchen:

»Ja.«

»Aber ich habe doch von Anderen gehört, daß es Einen gebe, den Sie lieb haben, liebes Engelchen!«

»Wer sollte das sein?«

»Der junge Hauser. Hat man mich da falsch berichtet?«

»Sehr falsch!«

»Das freut mich mehr, als Sie denken können! Ich habe Sie schon seit Langem beobachtet. Ich habe gesehen, wie schön, wie lieb, wie reizend Sie sind. Ich habe gewünscht, einmal mit Ihnen allein sein zu können. Und nun heute ist dieser Wunsch in Erfüllung gegangen. Ich fühle mich so glücklich wie noch nie in meinem ganzen Leben!«

Er wollte den Arm um sie legen: aber es gelang ihr doch, sich ihm zu entziehen.

»Sie scherzen nur mit mir!« antwortete sie.

»Ich scherzen? In diesem Augenblicke ist es mir ganz und gar nicht wie Scherz. Ich fühle, wie lieb, wie unendlich lieb ich Sie habe; Sie sind es werth, die Frau eines reichen, gebildeten Mannes zu sein, und wenn ich wüßte, daß Sie meine Liebe erwiedern könnten, so würde ich den heutigen Abend segnen!«

Er wollte sie näher an sich heranziehen; sie jedoch entzog ihm ihre Hand und antwortete:


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»Wer sind Sie? Ich kenne Sie nicht!«

»Soll ich die Maske abnehmen, Engelchen?«

»Ich bitte darum. Ich muß doch wissen, bei wem ich mich befinde.«

»Nun, da; sehen Sie!«

Er nahm die seidene Maske ab; sie erblickte sein Gesicht und - erbleichte. Doch bereits im nächsten Augenblicke kehrte das Blut verrätherisch in ihre Wangen zurück.

»Herr Seidelmann!« rief sie überrascht.

»Pst, Kind! Nicht so laut! Man soll uns doch nicht hören! Sind Sie erschreckt, mich hier zu sehen?«

»Nein. Aber bitte, lassen Sie uns gehen!«

»Wohin? Nach dem Saale?«

»Nein. Ich muß nach Hause.«

Sie erhob sich und wollte den Tisch von sich schieben, um vom Sopha fort zu können. Er aber erfaßte sie, zog sie sanft wieder neben sich nieder und sagte in bittendem Tone:

»Bleiben Sie! Bleiben Sie wenigstens noch einige Augenblicke, bis Sie Alles gehört haben, was ich Ihnen sagen muß. Seien Sie einmal aufrichtig! Fürchten Sie sich vor mir?«

Sie blickte ihm fest in das Gesicht und antwortete:

»Nein.«

»Nun, warum wollen Sie da fliehen?«

»Weil ich nicht zu Ihnen gehöre.«

»Das bestreite ich. Ich habe Ihnen ja bereits gesagt, daß ich Sie liebe. Gehören Leute, welche sich lieben, nicht zu einander?«

»Daß Sie mich lieben, sagen Sie; aber ich glaube es nicht!«

»Soll ich es Ihnen beweisen?«

Sie war ernst geworden. Hatte der Champagner wirklich eine Wirkung auf sie hervorgebracht, so war dieselbe jetzt verschwunden. Sie sah das trotz seiner Jugend bereits ziemlich abgelebte Gesicht des Kaufmannes hart neben dem ihrigen; sie sah seine Augen mit unkeuschem, gierigem Ausdruck auf sich gerichtet, und da nun, diese Blicke erst brachten sie zu der Erkenntniß, daß die Warnung Eduard's guten Grund gehabt hatte. Noch nie, nie in ihrem Leben hatte sie sich so entblößt getragen!

Sie schämte sich jetzt vor sich selbst. Eine tiefe Gluth bedeckte ihr Gesicht und lief bis zum Nacken hin.

»Bitte, antworten Sie!« sagte er.

»Herr Seidelmann, lassen Sie mich fort! Ich wiederhole, daß ich nicht zu Ihnen gehöre.«

Er glaubte, sie sage dies in Rücksicht auf ihre Armuth und seinen Reichthum. Er deutete ihr Erröthen zu seinem Gunsten. Darum ergriff er ihre beiden Hände und hielt sie fest.

»Engelchen, Sie haben Unrecht! Ich liebe Sie von ganzem, aufrichtigem Herzen! Wollen Sie meine Frau werden?«


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Sie schüttelte langsam den Kopf und antwortete:

»Ihre Frau? Die kann ich niemals sein!«

»Warum nicht?«

»Sie sind reich!«

»Aber ohne Sie würde ich mich dennoch arm fühlen. Ich werde Ihnen beweisen, wie lieb ich Sie habe. Hat Ihnen Ihr Vater nicht gesagt, worüber ich heute mit ihm gesprochen habe?«

»Nein.«

»Ich habe zwar nicht von meiner Liebe gesprochen, aber ich habe eine Verabredung mit ihm getroffen, welche im Stande ist, den Unterschied zwischen mir und Ihnen nach und nach zu beseitigen.«

Sie blickte ihn erwartungsvoll an. Sie mußte an die Worte denken, welche Eduard unten auf der Gasse gesprochen hatte.

»Welche Verabredung wäre das?« fragte sie.

»Hätten Sie nicht Lust, in unser Haus zu ziehen?«

»In Ihr Haus? Was sollte ich da?«

»In irgend einer lohnenden Stellung in meiner Nähe sein.«

»Das geht nicht. Ich kann nicht von zu Hause fort. Ich bin das einzige Kind meiner Eltern; sie können mich nicht entbehren.«

»O, doch! Ihr Vater hat versichert, daß er es Ihnen erlaube, zu uns zu ziehen.«

»Als Dienstmädchen?«

»Wo denken Sie hin! Sie, eine wahre Königin an Schönheit, und Dienstmädchen? Das wäre die größte Sünde, welche ich mir nur denken kann! Nein. Wissen Sie, in der Residenz giebt es Stellungen, welche man mit dem Ausdrucke 'Stütze der Hausfrau' bezeichnet. Eine junge Dame in dieser Stellung kommt gleich nach der Hausfrau. Sie erhält ein sehr hohes Salair, gehört mit zur Familie und ist die Gebieterin über sämmtliches Gesinde. Hätten Sie nicht Lust, eine solche Stellung zu begleiten?«

»Nein.«

»Ah! Warum nicht?«

»Weil mich meine Eltern brauchen, wie ich Ihnen bereits sagte.«

»Aber ich sagte Ihnen bereits, daß Ihr Vater einwilligt, daß Sie als Stütze der Hausfrau zu uns ziehen.«

»Ich bleibe dennoch daheim!«

»Aber Sie erhalten hundert Gulden Gehalt!«

»Hundert Gulden? Das ist viel!«

»Und von mir erhalten Sie heimlich noch eben so viel!«

Ihre Augen richteten sich groß und erschrocken auf ihn. Sie fragte:

»Von Ihnen? Wozu?«

»Hm! Für eine Kleinigkeit. Eben, weil ich Sie liebe!«

»Was meinen Sie mit dieser Kleinigkeit?«

»Ich hege den Herzenswunsch, daß Sie meine Frau werden möchten. Dieser Wunsch kann leider jetzt noch nicht in Erfüllung gehen, da Vater und


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Mutter noch nichts davon wissen dürfen. Auch kennen wir Beide uns noch zuwenig. Damit wir uns nun einander ohne Aufsehen nähern können, sollen Sie eben zu uns ziehen. Abends, wenn Sie schlafen gehen, würde ich Sie dann bitten, zuweilen Ihre Thür nicht zu verschließen.«

Ihr Auge flammte auf, und Ihr Busen hob und senkte sich unter der Empfindung des Abscheus, welchen sie in diesem Augenblicke nicht zu überwältigen vermochte. Dies machte sie begehrenswerther, als sie so bereits war. Er sah es; er legte die Arme um sie, wollte sie an sich ziehen und fragte:

»Nicht wahr, Engelchen, Sie willigen ein?«

Sie aber stieß ihn mit einer Gewalt, die er ihr gar nicht zugetraut hatte, von sich ab und antwortete:

»Ah! Das also ist Ihre Absicht! Ich würde wohl die Kammer bekommen, in welcher Gustel Beyer geschlafen hat?«

»Ja. Diese Kammer liegt so abgelegen und bequem.«

»Und dort soll ich Sie des Nachts einlassen?«

»Ja, meine Seele!«

»Für zweihundert Gulden jährlich?«

»Für zweihundert Gulden und viele Geschenke obendrein!«

»Nicht für zwei Millionen, Herr Seidelmann!«

Ihr Gesicht drückte jetzt den ganzen Abscheu aus, den sie vor ihm und seinem Antrage empfand. Er bemerkte das, fuhr betreten zurück und fragte im Tone des Erstaunens:

»Wieso? Ich begreife Sie nicht!«

»O, das ist sehr leicht zu begreifen! Soll ich etwa dasselbe Schicksal erleiden, wie Beyer's Gustel?«

»Wo denken Sie hin!«

»Die hat Sie eingelassen!«

»Das hat sie gelogen!«

»Sie haben ihr auch Geschenke gemacht, welche sie dann gestohlen haben soll.«

»Auch das ist Lüge!«

»Jetzt nun sitzt sie im Gefängniß! Vater und Mutter sind todt! Warum? Wer ist der Mörder?«

»Sie sprechen wahrhaftig in Räthseln! Glauben Sie doch, daß ich Sie liebe und daß ich Sie glücklich machen will!«

»Ich verzichte auf dieses Glück!«

Sie erhob sich von ihrem Sitze, und er that dasselbe. Er wußte, daß diese so unerwartete Scene einen Zeugen hatte. Sollte er die Wette verlieren und bezahlen? Auf die fünfzig Gulden wäre es ihm schließlich nicht angekommen; aber Engelchen war gerade in ihrem Zorne so schön, so entzückend, daß seine Begierde, sie zu besitzen, sich verdoppelte. Er beschloß, sie sich jetzt auf keinen Fall entgehen zu lassen.

Sie standen vor einander, sie mit zornigen und er mit lüstern glühenden


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Augen. Er stand so, daß sie nicht an ihm vorüber konnte. Sie befand sich, wie er meinte, in seiner Hand.

»Sie verzichten?« sagte er. »Sie wissen nicht, was Sie thun!«

»Ich weiß es im Gegentheil sehr genau!«

»Wissen Sie, was es heißt, meine Frau zu sein? Hunderte, ja, Tausende sehnen sich, es zu werden!«

»Heirathen Sie diese Tausend, oder vielmehr, betrügen Sie sie! Sie wollen nicht eine Frau, sondern eine Geliebte!«

»Pah! Und wenn das wäre, so bezahle ich gut!«

»Ja, mit dem Gefängnisse! Sie haben mich hierher gelockt, um mich ins Unglück zu stürzen:; aber das wird Ihnen nicht gelingen! Ich hasse, ich verachte, ich verabscheue Sie!«

Da nahmen seine Züge plötzlich den Ausdruck eisiger Kälte an. Er bohrte sein Auge herausfordernd in das ihrige und sagte:

»Das ist mir gleichgiltig, denn Ihr Haß wird mir doch das gewähren müssen, was ich mir von Ihrer Liebe vergeblich erbat!«

»Da täuschen Sie sich! Lassen Sie mich fort!«

»Bleiben Sie noch eine Minute! Ich habe noch ein Wort mit Ihnen zu sprechen, ein kleines Wort zwar, aber doch ein sehr folgeschweres. Also, Sie hassen mich wirklich?«

»Ja.«

Ihr Gesicht war bei diesem Worte ein solches, daß er sehen mußte, wie sehr sie die Wahrheit redete.

»Und Sie wollen nicht zu mir ziehen?«

»Auf keinen Fall!«

»Nun gut, so will ich darauf verzichten. Aber auf die Erfüllung eines anderen Wunsches werde ich nicht verzichten. Ich habe Sie für heute eingeladen; Sie sind meine Dame; Sie gehören mir. Ich will meinen Lohn haben!«

Sie verstand ihn vollständig, und dennoch fühlte sie weder Furcht noch Angst. Sie blickte ihn ruhig und überlegen an und sagte:

»Welchen Lohn meinen Sie?«

»Es ist jetzt nicht mehr meine Liebe, welche zu Ihnen spricht, sondern mein Wille, mein fester, unerschütterlicher Wille! Sie setzen sich jetzt wieder und bleiben noch eine Viertelstunde hier, bei ausgelöschtem Lichte natürlich!«

»Was fällt Ihnen ein?«

»Mir fällt nie Etwas ein, was ich nicht durchführen kann!«

»Sie wollen mich mit Gewalt zurückhalten?«

»Ja.«

»Ich werde um Hilfe rufen!«

»Das werden Sie nicht!«

»Ich werde es sicher! Lassen Sie mich vorüber!«

»Sie bleiben! Und wenn Sie ein einziges Wort reden, welches lauter ist, als ich es wünsche und gestatte, so haben Sie das Unglück Ihrer Eltern auf dem Gewissen!«


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Es kam doch wie eine Art Schreck über sie. Auch abgesehen davon, daß sie ihn ja bereits kannte - wie er so finster und drohend vor ihr stand, mußte sie es ihm ansehen, daß es ihm mit seiner Drohung ernst sei, daß er sie rücksichtslos ausführen werde.

»Wieso das Unglück meiner Eltern?« fragte sie.

»Ich werde Ihrem Vater keine Arbeit mehr geben!«

»Herrgott! Das werden Sie nicht thun!«

Sie wußte, daß es in der weiten Umgegend keinen Menschen gab, bei dem anderweite Arbeit zu bekommen war.

»O doch, werde ich es thun! Ihr Vater hat heute Kette und Schuß bekommen. Bleiben Sie jetzt nicht hier bei mir, so lasse ich morgen früh Alles wieder holen.«

»Das wäre teuflisch!«

»Sie haben es gewollt! Wer meine Liebe von sich stößt, der lernt mich von der entgegengesetzten Seite kennen. Also, entscheiden Sie sich! Wir haben keine Zeit zu verschwenden!«

Da ballte sich ihr kleines Fäustchen. Sie trat furchtlos hart zu ihm heran und fragte:

»Also, Sie werden dem Vater wirklich keine Arbeit geben?«

»Nein.«

»Nun, so wird der liebe Gott für uns sorgen! Sie sind ein Bösewicht, und ich will lieber verhungern, verschmachten und erfrieren, ehe ich mich von Ihnen ernähren lasse!«

»Ah! Sie spielen die Heldin! Aber ich weiß, woher das kommt. Sie leugnen zwar, einen Geliebten zu haben, aber der Hauser, der Nichtsnutz, steckt Ihnen doch im Kopfe. Das giebt ein sauberes Paar!«

Diese Worte waren im Tone der tiefsten Verachtung gesprochen. Das empörte Engelchen und trieb sie zu dem tapferen Geständnisse:

»Ich habe nicht nöthig, dem ersten Besten zu sagen, ob ich einen Geliebten habe oder nicht. Hauser's Eduard ist ein ganzer Kerl; er ist tausendmal mehr werth als Sie. Ich habe ihn beleidigt und gekränkt, weil ich noch gar nicht wußte, wie lieb ich ihn habe. Jetzt aber, da ich Sie vor mir sehe, fühle ich erst, daß ich zu ihm gehöre wie der Tag zur Woche und wie die Erde zur Sonne. Ich werde nicht von ihm lassen. Gehen Sie! Lassen Sie mich vorüber! Und nehmen Sie meinem Vater die Arbeit, so ist das doch noch nicht so schlimm, als wenn ich mir Das von Ihnen nehmen lasse, was mir höher steht, als all Ihr Reichthum - meine Ehre!«

Sie streckte ihre Arme aus, um ihn bei Seite zu schieben. Da aber umfaßte er sie schnell und rief:

»Unsinn! Hier bleibst Du! Mein mußt Du werden, und wenn Du wie eine Löwin nach Hilfe brüllen solltest!«

Sie brauchte gar nicht nach Hilfe zu rufen, denn diese stand bereits vor ihr: Eduard hatte sein Versteck verlassen, war rasch hinzugetreten, legte Seidelmann die Hand auf den Arm und befahl:


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»Weg von ihr!«

Seidelmann blickte ihn bestürzt an.

»Strauch! Alle Teufel! Was fällt Dir ein?«

»Weg von ihr!« gebot abermals der vermeintliche Kaufmann.

»Aber, Mensch, ich begreife Dich nicht!«

Er hielt Engelchen, welche über das Erscheinen eines Zweiten so bestürzt war, daß sie sich gar nicht rührte, noch immer in den Armen. Da aber faßte ihn Eduard bei der Brust, holte mit der anderen Hand aus und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige.

»Herr Jesus!« rief Engelchen erschrocken. Die Ohrfeige hatte ihr die Beweglichkeit wiedergegeben.

Seidelmann ließ die Arme von dem Mädchen, fuhr sich mit den Händen nach der getroffenen Wange und brüllte:

»Kreuzdonnerwetter! Das ist zu arg! Bist Du etwa verrückt geworden, Mensch?«

»Verrückt nicht, aber ein Anderer bin ich geworden! Sehen Sie her!«

Eduard nahm die Maske vom Gesichte.

»Eduard!« rief das glückliche Mädchen. »Du hier? O, Gott sei Dank! Jetzt bin ich sicher und gerettet!«

Seidelmann starrte den Weberssohn an, als ob er ein Gespenst vor sich stehen sehe. Dann stürzte er sich mit einem wahrhaft brüllenden Schrei auf ihn.

Eduard hatte das erwartet. Er hatte das Mädchen an seiner Brust, wendete sich deshalb mit ihr halb zur Seite, holte mit der rechten Faust aus und empfing Seidelmann mit einem solchen Faustschlage in's Gesicht, daß dieser zurücktaumelte und zu Boden stürzte. Er war dem Kaufmanne an Körperkraft überlegen.

»Komm, Engelchen, laß uns gehen!«

Bei diesen Worten schritt er mit ihr nach der Thür. Da aber schnellte sich Seidelmann empor, faßte ihn am Arme und rief:

»Halt, Bube! Nicht von der Stelle! Erst sollst Du gestehen, wie Du herein gekommen bist!«

Eduard bewahrte seine Kaltblütigkeit. Er antwortete:

»Frag' nicht so albern, dummer Mensch! Du selbst hast mich ja hergeschickt und mir den Schlüssel gegeben!«

»Wie kommst Du nach dem Saale?«

»Durch die Thür.«

»Wie darfst Du es wagen, Dich für Strauch auszugeben?«

»Wer kann sagen, daß ich das gethan habe? Du hast mit mir gesprochen und mit mir gewettet. Ich habe die Wette gewonnen. Morgen Abend werde ich nach den fünfzig Gulden schicken. Nun aber die Hand von meinem Arme, sonst kommt noch etwas Gepfeffertes!«

Seidelmann vermochte den Hergang der Sache nicht zu begreifen; aber er sah, daß er der Betrogene, der Blamirte sei. Das verdoppelte seinen Grimm


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über den mißlungenen Anschlag. Er versuchte es, Eduard zu schütteln und rief dabei:

»Du hast Dich ohne Erlaubniß in unsere Gesellschaft eingeschlichen! Vorwärts! Hinüber in den Saal! Wir werden Rechenschaft fordern!«

»Mach Dich nicht lächerlich, alter Fritze! Ihr habt mein Mädchen eingeladen, und zum Mädchen gehört auch stets der Bursche; das ist eine alte Sache! Gehe Du in den Saal, wir aber gehen nach Hause!«

»Das wird sich finden! Fort! Hinüber!«

»Laß los, sage ich!«

Und, als auch jetzt Seidelmann die Hände nicht von ihm nahm, ließ er Engelchen für einen Augenblick fahren, faßte den Wüthenden mit Gedankenschnelle und warf ihn zu Boden, daß Alles krachte.

»Komm, Engelchen! Jetzt hat er genug!«

Er nahm das Mädchen beim Arme, zog den Riegel zurück und trat hinaus.

Im Saale war eine Musikpause eingetreten, und so hatte man die lauten Stimmen gehört. Mehrere Masken traten heraus auf den Gang. Sie erblickten die Beiden; sie kannten Eduard nicht, und Einer fragte, ganz verblüfft:

»Was ist denn los? Wer zankt sich da?«

»Der Teufel ist los! Da drinnen steckt er!« antwortete Eduard, nach der offenen Thür hinter sich deutend.

Und während die Neugierigen in das Zimmerchen traten, nahm er Engelchen's Tuch vom Tische und sagte:

»Komm, hülle Dich ein! Wir wollen machen, daß wir fortkommen, sonst wird es noch schlimmer, als es gewesen ist.«

Sie folgte seiner Aufforderung. Als sie eben die Treppe hinabstiegen, ertönte hinter ihnen ein lautes Brüllen:

»Haltet sie auf! Haltet sie auf! Der Kerl muß seine Keule kriegen, fürchterliche Keule!«

Seidelmann war es, welcher sich mittlerweile vom Boden aufgerafft hatte und ihnen nacheilte.

»Schnell, schnell!« bat Eduard. »Daß wir nur wenigstens in's Freie kommen. Dann läufst Du voraus, und ich nehme ihn auf mich. Das soll ihm gut bekommen!«

Als sie durch den Hausflur eilten, befand Seidelmann sich nur noch einige Schritte hinter ihnen. Da öffnete sich die Thür des Gastzimmers, und ein Mann trat heraus, welcher die Situation im Momente überschaute.

»Halt!« sagte er. »Bleiben Sie!«

Dabei ergriff er Seidelmann am Arme und schleuderte ihn mit solcher Gewalt zurück, daß er wieder bis zur Treppe flog und dort niederstürzte. Er war ein Fremder. Selbst Eduard, welcher zurückgeblickt und den blitzesschnellen Vorgang beobachtet hatte, kannte ihn nicht. Der Bursche entfernte sich mit seinem Mädchen.

Seidelmann raffte sich auf und wollte sich auf den Fremden stürzen. Dieser aber hatte eine so kampfbereite, drohende Haltung angenommen, daß es


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keineswegs gerathen schien, mit ihm anzubinden. Ueberdies kam dem Kaufmann ein Gedanke, dessen Ausführung keine Versäumniß duldete. Er wendete sich also ab und eilte die Treppe empor.

Droben standen die Mitglieder der Gesellschaft.

»Was war es?« rief der Eine.

»Was hat's denn gegeben?« fragte der Andere.

»Prügelei! Das ist stark! Weshalb aber?« rief der Dritte.

»Wartet bis nachher, bis ich wiederkomme!« antwortete er.

Dabei riß er seinen Ueberrock vom Tische, zog ihn ab und eilte wieder die Treppe hinab und auf die Gasse hinaus.

Der Fremde unten war verschwunden. Das Liebespaar aber war im Lichte des Schnees von Weitem noch zu erkennen.

»Er führt sie nach Hause!« knirschte Seidelmann für sich. »Wie ist das Alles gekommen? Er wird es ihr erzählen, und ich muß es hören! Auf der Straße bleiben sie nicht stehen; da ist es zu kalt. Sie werden in das Haus gehen. Springe ich hinter den Gärten hinab, so komme ich eher und kann mich verstecken. Ich kenne ja das Haus und seine Winkel!«

Er kehrte in den Hausflur der Schänke zurück, ging in den Hof und Garten derselben, sprang über den Zaun und rannte dann hinter den Gärten hinab, bis er die Stelle erreichte, wo Engelchen heute den Schnee fortgekehrt und dabei mit Eduard gesprochen hatte. Er stieg über den Zaun, durcheilte das kleine Gärtchen und trat in den Hof.

Hier lauschte er, ob etwa noch Leben in dem Hause sei. Es war Alles still, und als er dann am Laden horchte, bemerkte er, daß die Eltern des Mädchens schlafen gegangen seien. Einen Hund gab es nicht; er konnte also ohne besondere Besorgniß handeln.

Die Hinterthür hatte eine hölzerne Klinke, welche mittelst einer Schnur von Außen zu öffnen war. Er zog an der Schnur, trat in den Flur, machte die Thür wieder zu und kroch dann in den tiefen Winkel, welcher sich unter der Treppe befand. Hier konnte er Alles hören, was in dem Hausflur gesprochen oder auch nur geflüstert wurde.

Er hatte gar nicht lange gewartet, so hörte er Schritte.

Eduard war mit Engelchen nicht sehr rasch gegangen. Beiden war das Herz so voll, daß sie schweigend neben einander herschritten. Als sie das Haus erreichten, fragte der Bursche:

»Hier sind wir angekommen. Nicht wahr, nun muß ich schleunigst gute Nacht sagen?«

Es folgte eine Pause, dann hörte er halblaut:

»Eduard!«

»Was, Engelchen?«

»Du willst mich strafen!«

»Nein. Aber es wird Dir lieb sein, wenn ich nun gehe.«

»Warum?«


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»Du bist ja eine reiche, schöne Italienerin, und ich bin blos ein armer Webergeselle.«

»Eduard! Ich bin recht bös mit Dir gewesen! Du darfst nicht im Zorne von mir gehen! Willst Du mir einen Gefallen thun?«

»Welchen«

»Tritt eine Minute mit herein! Hier ist's so kalt!«

»Wenn Du willst, ja. Aber, Dein Vater?«

»Wir gehen ja nicht in die Stube. Und er wird wohl auch längst schlafen gegangen sein. Komm!«

Sie zog ihn hinter das Haus und an die Thüre, durch welche vor zwei Minuten Seidelmann eingetreten war. Sie öffnete die Thür und flüsterte dabei:

»Da neben der Treppe steht heute die Waschbank. Darauf können wir uns setzen. Willst Du, Eduard?«

»Wie Du denkst!«

Das klang immer noch zurückhaltend. Er konnte eben den Gram der letzten Tage nicht gar so schnell vergessen, wie sie es wollte.

Sie nahmen sich in Acht, Geräusch zu machen, und setzten sich auf die Bank, eng neben einander. Sie ahnten nicht, daß sich zwei Schritte von ihnen ein so gefährlicher Lauscher befinde.

»Und nun sage mir, lieber Eduard, wie Du zu der Maskerade gekommen bist!« bat sie leise.

»Davon nachher, Engelchen. Vorher giebt's etwas Nothwendigeres!«

»Was?«

»Weißt Du, daß ich in den letzten Tagen recht unglücklich war?«

»Ich glaub's! Ich war schuld! Kannst Du mir vergeben?«

»Gern, wenn Du einsiehst, daß ich Recht gehabt habe!«

»Du hattest Recht, wie immer. Ich kann mich jetzt gar nicht begreifen! Glaubst Du das?«

»Ich glaube es, denn ich begreife es. Dein Vater wollte es haben; das ist das Erste. Der schöne, flimmernde Anzug hatte es Dir angethan; das ist das Zweite. Nicht wahr?«

»Ja, Du hast's errathen.«

»Aber das Dritte, Engelchen, das ist das Schlimmste!«

»Was ist's?«

»Fast möchte ich es Dir nicht sagen!«

»Warum nicht?«

»Weil Du mir sonst wieder bös werden möchtest.«

»O nein! Habe keine Sorge! Was ich heute erlebt habe, das ist genug, um mir als gute Lehre zu dienen.«

»Gott segne Dich für dieses Wort, liebes Engelchen! Du machst mir dadurch das Herz sehr leicht. Weißt Du, Dein Vater ist ein guter, ordentlicher und frommer Mann, aber er hat Etwas von dem Pharisäer an sich, welcher Gott dankt, daß er besser ist, als andere Leute. Giebst Du mir da Recht?«


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»Es mag sein! Und nun weiß ich auch, was das Dritte ist, von dem Du nicht gern sprechen wolltest.«

»Nun, was denn, mein Engelchen?«

»Ich habe auch gedacht, daß ich besser bin als Du.«

»Ist das denn wahr?«

Sie zögerte einige Augenblicke mit der Antwort, dann sagte sie:

»Wenn ich reden wollte, da müßte ich eine förmliche Beichte ablegen. Das wird Dich nicht interessiren.«

»O doch! Gar sehr!«

»Das kann ich doch nicht glauben.«

»Wieso?«

»Nun, den Seidelmann würde es wohl interessiren, denn er sagte, daß er mir gut sei und mich heirathen wolle.«

»Da meinst Du wohl, ich hasse Dich und mag Nichts von Dir wissen?«

»Ja.«

»Nun, so komm, mein Engelchen! Lege Dein Köpfchen einmal hierher an mein Herz! Darf ich meine Arme um Dich legen?«

»Ja, thue es, lieber Eduard!«

»So! Und nun will ich Dir sagen, daß Du mir lieb bist über Alles, Alles, was sich nur denken läßt! Erst kommt der liebe Gott, und dann kommt - mein Vater und meine Mutter etwa? Das kann ich doch nicht sagen. Ich glaube, wenn ich so recht in meine Seele blicke, da kommst Du gleich nach dem lieben Gott. Ich bin kein Dichter und kein erfahrener Mädchenjäger. Ich kann nicht schöne Worte machen; aber wenn ich einmal für Dich sterben soll, da sage es getrost; ich thue es auf der Stelle!«

Es war eine kleine Weile still; dann ließ sich Engelchens Stimme hören, vor Freude zitternd:

»Eduard, ist das denn auch wahr?«

»Ja, wahr ist's; der Himmel weiß es!«

»Dann habe ich doppelt Unrecht an Dir gethan. Auch ich habe Dich recht, recht sehr lieb, wie sehr, das habe ich gar nicht gewußt. Aber, hörst Du, da habe ich gedacht, daß ich ein hübsches Mädchen bin und daß der Vater reicher ist, als Ihr. Das war Beides eine Sünde gegen Dich und Euch. Aber heute habe ich eingesehen, was für ein böses Ding ich da gewesen bin, so ganz voller Stolz, Hochmuth und Hoffärtigkeit.«

»Ja, so ähnlich ist's gewesen. Der Mensch soll sich nicht besser und sicherer dünken, als er ist. Aber, Engelchen, hübsch bist Du, sehr hübsch, und Euer Häuschen ist allerdings mehr werth, als unsere Hütte. Was wahr ist, das darf man auch nicht leugnen.«

Wie thaten ihr diese einfachen Worte doch so sehr wohl. Sie schlang ihre Arme um ihn, schmiegte sich eng an ihn und fragte:

»Ist das Dein Ernst? Bin ich wirklich nicht häßlich?«

»Nein. In dieser dummen Kleidung habe ich erst gesehen, daß Du sogar schön bist, Engelchen.«


Ende der achtundzwanzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der verlorne Sohn

Karl May – Forschung und Werk