Lieferung 18

Karl May

13. Dezember 1884

Der verlorne Sohn
oder
Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.


// 409 //

»Nun, Alles, was Sie gestern sahen, war unecht.«

»Unmöglich!«

»Sogar sehr wirklich!«

»Diese Gefäße und Geschmeide?«

»Unecht!«

»Diese Steine?«

»Unecht!«

»Sie sehen mich ganz wortlos vor Erstaunen!«

»Glücklicher Weise höre ich Sie doch noch sprechen. Ja, ich gestehe Ihnen, daß ich Sie gestern ein klein Wenig getäuscht habe. Zwar besitze ich diese sämtlichen Gegenstände echt, auch die Steine; aber sie sind da aufbewahrt, wohin Niemand kommen kann. Was Sie sahen, war imitirt. Auf diesen kostbaren Gedanken hat mich der Fürst des Elendes gebracht.«

»Der Fürst des Elendes? Kennen Sie ihn?«

»Nein: es kennt ihn ja kein Mensch. Aber da handelt es sich abermals um ein Geheimniß, von dem ich nicht weiß, ob ich es Ihnen verrathen darf.«

»O, ich bitte sehr um diese Mittheilung!«

»Nun wohl! Mein Koch hat einen Freund, welcher bei der Polizei angestellt ist. Dieser Freund hat ihm im Vertrauen mitgetheilt, daß man in dem Fürsten einen hiesigen, gewandten Geheimpolizisten zu verstehen hat. Durch den Koch erhielt ich auch die Mittheilung, daß bei mir früher oder später ein Einbruch stattfinden werde, und so sorgte ich für Imitationen. Diese wurden mir während dieser Nacht gestohlen«

»Alles? Alles?«

»Ja, Alles!«

»Und doch wie schade! Die Imitationen waren meisterhaft angefertigt!«

»Des Abends scheint es so. Ihr Werth ist dennoch ein sehr geringer. Ich mußte beinahe lachen, als ich vorhin einen Theil des Verlorenen zurückerhielt.«

»Man hat Ihnen Etwas restituirt?«

»Ja, Das, das man vorher jedenfalls für das Kostbarste gehalten hatte, nämlich die Steine.«

»O, ich erstaune!«

»Sehr mit Unrecht. Als ich erwachte, brachte man mir ein kleines Packet, welches ein Fremder für mich abgegeben hatte. Ich öffnete es, es enthielt - die zwei Beutel mit den Steinen, welche ich Ihnen gestern als echt bezeichnet hatte. Dadurch wurde ich erst aufmerksam gemacht, daß ich bestohlen worden sei. Ich sah sofort nach und fand den ganzen Schrank geleert. Die Diebe haben den Coup wahrhaft meisterhaft ausgeführt und mir dann, als sie erkennen mußten, daß sie betrogen worden seien, aus Ironie die Steine wieder zugestellt.«

Bei dieser Erzählung des Fürsten holte die Baronin tief und erleichtert Athem. Es war, als ob ihr die Last eines Berges von der Brust gewälzt


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worden sei, und als der Fürst sich nach kurzer Zeit von ihr verabschiedet hatte, nachdem von ihr bemerkt worden war, daß der Baron noch im Schlafe liege, da er bis früh im Casino gewesen sei, da ließ es ihr keine Ruhe; sie eilte zu ihrem Manne.

Dieser war erst vor wenigen Augenblicken heimgekehrt, ohne daß sie ahnte, daß er ausgegangen gewesen sei. Er öffnete, als sie klopfte. Er sah ihr strahlendes Gesicht und blickte sie fragend an.

»Eine gute, eine ausgezeichnet frohe Botschaft ist es, die ich bringe!« sagte sie.

»Wir wollen es hoffen, denn wir brauchen sie. Ich habe eine schlimme!«

»Was Schlimmes könntest Du haben? Du schliefst ja?«

»Nein. Ich war fort. Ich bin nach dem geheimen Schatzamte gegangen und habe mich allerdings höchst enttäuscht gesehen!«

»Wieso?«

»Alles unecht, imitirt! Ganz werthlos für uns!«

»Ich weiß es. Der Fürst war soeben da.«

»Ah! Wie verhielt er sich?«

»Wie wir es nur wünschen können.«

Und nun erzählte sie ihm Wort für Wort ihre Unterhaltung mit dem Fürsten. Am Schlusse fügte sie hinzu:

»Du siehst also, daß er keine Spur von Verdacht hegt.«

»Das ist höchst willkommen! Also der Elendsherr ist ein Polizist! Das ändert aber in sonstiger Beziehung wenig. Er hat zwar Wort gehalten, dem Fürsten von Befour nichts zu verrathen, aber -«

»Was aber?«

»Seine Drohung wird er dennoch nicht vergessen.«

»Du glaubst, daß er auf seiner Bedingung bestehen werde.«

»Sicher, zumal er also ein Polizist ist. Aber ich fürchte ihn jetzt nicht mehr. Die Spur ist uns gegeben; ich werde ihn finden und vernichten!« -

Als der Fürst nach Hause kam, fand er Anton vor, welcher ihm meldete, daß der angebliche Architect Jacob wirklich aus der betreffenden Thür getreten sei. Er hatte ihn verfolgt, dann aber das Unglück gehabt, ihn im Marktgewühl aus den Augen zu verlieren.

Dieser Bericht bewies, daß die Mauerstraße und jenes alterthümliche Gartengebäude in Beobachtung zu nehmen seien. Adolf erhielt die sofortige Weisung, zu erforschen, ob auf der genannten Straße ein möblirtes Garçonlogis zu vermiethen sei. Er fand eine passende Wohnung für einen einzelnen Herrn und zog noch vor Abend dort ein, um die erwähnte Beobachtung zu übernehmen.

Während dieser Zeit war die Stunde herangekommen, in welcher der vor Schreck gestorbene Schneider Bertram begraben werden sollte. Der Fürst fuhr zu Hellenbach's, um Fanny abzuholen. Er fand sie in Bereitschaft. Er ließ seine Equipage dann in der Nähe des Kirchhofes halten und stieg mit dem schönen Mädchen aus, um den Letzteren zu Fuße zu erreichen.


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Die Anwesenheit der Beiden fiel bei dem hier herrschenden Gedränge gar nicht auf. Sie hatten innerhalb des Einganges, gleich neben dem Thore Platz gefunden und sahen die Amtspersonen mit den beiden Gefangenen, Bruder und Schwester, aussteigen. Sie mußten an ihnen vorüber. Fanny hatte ihren Arm in den des Fürsten gelegt. Als Robert Bertram an ihnen vorüberging, flüsterte sie:

»Das ist er!«

»Ja. Ich erkenne ihn. Es ist der junge Dichter, welchem sein Verleger die Thüre wies. Sieht er aus wie ein Einbrecher, gnädiges Fräulein?«

»O nein, nein; gar nicht! Der Arme!«

Jetzt kam auch Assessor Schubert. Er erblickte die Beiden, trat höflich grüßend an sie heran und sagte:

»Ich danke, daß Sie mein Gesuch erhörten! Würden Sie die Güte haben, sich, wenn er den Kirchhof verläßt, so zu stellen, daß sein Auge möglicher Weise auf Sie fallen muß?«

»Gewiß!« nickte der Fürst.

Der Beamte entfernte sich, und bald hörte man den Gesang beginnen. Die Trauerfeierlichkeit nahm ihren Verlauf, doch vermochten der Fürst und Fanny von ihrem Standpuncte aus die näher Betheiligten nicht zu erblicken. Endlich war der Segen gesprochen, und eine Bewegung der anwesenden Menge ließ vermuthen, daß die Gefangenen den Rückweg angetreten hatten.

Unweit des Fürsten stand, in einen Pelz gehüllt, ein junges, sehr schönes Mädchen mit ausgesprochen orientalischen Gesichtszügen, welches sich jetzt möglichst vorzudrängen suchte. Auch der Fürst veränderte mit Fanny seinen Platz.

Da kamen sie, Robert und Marie Bertram, mit ihrer polizeilichen Begleitung. Die Schwester hielt die Augen niedergeschlagen; der Bruder blickte ausdruckslos vor sich hin. In diesem Augenblicke schob sich das fremde Mädchen noch weiter vor. Robert's Blick fiel in ihr dunkles, gluthvolles Auge. Sein Fuß zögerte, und seine Pupillen schienen sich zu erweitern. Sein bleiches und dennoch so schönes Gesicht belebte sich.

»Geld, Geld!« sagte er, Allen hörbar. »Das viele Geld!«

Unwillkürlich machte der Fürst eine Bewegung der Ueberraschung. Dadurch zog er die Augen des Gefangenen auf sich. Bertram schien sich einen Augenblick zu besinnen; dann trat er herbei, erfaßte die Hand des Fürsten und sagte:

»Hunger! O, sehr großen Hunger!«

Trotz seines umnachteten Geistes hatte er den Mann erkannt, der ihn vom Hunger errettet hatte. Und jetzt, ja, jetzt sah er auch Fanny stehen. Seine Wangen rötheten sich; sein Blick leuchtete selig auf; er trat einen Schritt zurück und recitirte laut:

»Des Himmels Seraph flieht, verhüllt
   Von Wolken, die sich rastlos jagen.
Die Erde läßt, von Schmerz erfüllt,
   Den Blumen bittre Thränen tragen,
Und um verborgne Klippen brüllt
   Die Brandung ihre wilden Klagen.


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Da bricht des Morgens glühend Herz.
   Er läßt den jungen Tag erscheinen.
Der küßt den diamantnen Schmerz
   Von tropfenden Karfunkelsteinen
Und trägt ihn liebend himmelwärts,
   Im Aether dort sich auszuweinen!«

Er hatte so laut gesprochen, daß alle Umstehenden diese Worte hören mußten. Die bereits in Bewegung befindliche Menge war in's Stocken gerathen. Da trat der mit anwesende Arzt heran, deutete auf Fanny und fragte den Kranken:

»Kennen Sie diese Dame?«

Da nahm das Gesicht desselben plötzlich einen ganz anderen Ausdruck an.

»Hinweg, Elender!« rief er im Tone größter Herzensangst.

Seine erhobenen Arme sanken; sein Blick erlosch, und seine Kniee brachen: Er glitt bewußtlos auf den Boden nieder.

Fanny machte eine Bewegung, sich ihm rasch zu nahen; aber der Fürst hielt sie zurück.

»Bitte, bleiben Sie!« bat er. »Der gute Augenblick ist vorüber. Der Arzt hat mit seiner Frage Alles verdorben.«

»Mein Gott!« klagte sie. »Dieser junge Mann kann nichts als nur unschuldig sein!«

»Ich bin überzeugt davon!«

»Und wir sollen ihn verlassen?«

»Nein, das werden wir nicht thun. Wir werden uns aus allen Kräften seiner annehmen. Und damit beginnen wir sofort.«

Der Ohnmächtige war aufgehoben und nach dem Wagen getragen worden. Der Assessor zog vor den Beiden unter einer dankenden Verbeugung den Hut; der Fürst aber nahm keine Notiz davon; er zog vielmehr Fanny von Hellenbach zu dem schönen Mädchen hin, dessen Arm er ergriff. Er schritt mit den beiden Mädchen der heranwogenden Menge voran zum Thore hinaus, um dort seitwärts einen ruhigen Platz zu einer ungestörten Erkundigung zu suchen.

Die Fremde war förmlich bestürzt, von dem vornehmen Manne so ohne alle sichtbare Veranlassung ergriffen und fortgeführt worden zu sein. Auch Fanny vermochte den Grund dieses eigenthümlichen Verhaltens nicht zu ersehen. Den Beiden wurde Aufklärung erst dann, als sie sich so weit entfernt hatten, daß sie von dem Menschengewühl nicht mehr erreicht werden konnten. Dort blieb der Fürst stehen, gab den Arm des Mädchens frei, zog höflich grüßend den Hut und sagte:

»Entschuldigung, mein Fräulein! Ich bemächtigte mich Ihrer Person, weil ich Veranlassung zu haben glaube, dieselbe für eine für uns sehr wichtige zu halten. Sie kennen den Gefangenen, welchen wir soeben sahen?«

"Entschuldigung, mein Fräulein!"

Sie zögerte mit der Antwort. Sie wußte nicht, was besser sei, dieselbe zu bejahen oder zu verneinen. Der Fürst dachte sich einen anderen Grund ihres Schweigens und sagte:


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»Ich bin der Fürst von Befour. Darf ich vielleicht auch um Ihren Namen bitten?«

»Ich heiße Judith Levi,« antwortete sie jetzt.

»Ah! Wo wohnen Sie?«

»In der Wasserstraße.«

Da nahmen seine Züge einen weniger höflichen Ausdruck an. Sie war also die Tochter des Althändlers, bei welchem er gestern Abend gewesen war, um sich nach den gestohlenen Diamanten zu erkundigen.

»Also, Sie kennen den Gefangenen?« fragte er.

Sie hatte die Veränderung bemerkt, welche mit seinen Zügen vorgegangen war. Sie war ein stolzes Mädchen, sie wollte eine Million erben; sie brauchte sich eine so sichtliche Abnahme der Höflichkeit nicht gefallen zu lassen, selbst von einem Fürsten nicht.

»Nein,« antwortete sie.

»Und dennoch möchte ich behaupten, daß er Ihnen nicht unbekannt ist, oder daß wenigstens er Sie kennt. Seien Sie aufrichtig! Diese Dame ist die Baronesse Fräulein von Hellenbach.«

Da zogen sich Judith's Brauen zusammen, und aus ihren Augen schoß ein Blick glühenden Hasses auf die Baronesse.

»Von Hellenbach?« fragte sie. »Die ihn angezeigt hat?«

»Nein, nicht angezeigt. Das gnädige Fräulein ist nicht schuld, daß er in eine so unwürdige Lage gekommen ist.«

»Wer denn? Er war der größte Dichter, geehrt und gefeiert von Tausenden. Jetzt ist er gefangen, entehrt, krank und wahnsinnig! Und wer ist schuld, als Diese hier!«

Sie wendete sich ab, um fortzugehen; da aber wurde sie von Fanny am Arme fest gehalten.

»Sie irren sich, Fräulein Levi!« betheuerte die Tochter des Obersten. »Ich bin nur hier, um ihn zu retten!«

Judith drehte sich langsam um, blickte der Sprecherin ungläubig in das Gesicht und fragte:

»Ihn retten? Der wegen Ihnen so elend wurde? Ich hasse Sie!«

»Gut, hassen Sie mich!« sagte Fanny. »Aber ich will seine Unschuld beweisen; er soll frei werden. Sie kennen ihn; es ist Ihnen vielleicht möglich, zu diesem Beweise beizutragen!«

»Er ist unschuldig; ich weiß es!« sagte Judith stolz.

»So ersuche ich Sie, mir beizustehen! Wir werden Ihnen dankbar sein, Fräulein Levi!«

Da ließ Judith ein verächtliches Lächeln sehen und antwortete:

»Dankbar? Ich verzichte auf Ihren Dank! Ich bin selbst reich genug. Ich brauche Sie nicht. Ich allein bin genug, ihn frei zu machen!«

Damit wendete sie sich ab und eilte davon. Fanny wollte ihr rasch nach; aber der Fürst hielt sie zurück.

»Lassen Sie diese Jüdin!« sagte er. »Nun ich sie kenne, ist sie uns


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sicher genug. Verweigert sie uns die erbetene Auskunft, so wird man sie vor Gericht zur Antwort zu zwingen wissen. Haben Sie gesehen, daß bei ihrem Anblick sein Geist zu sich kam, daß er sie erkannte?«

»Ja, ganz deutlich.«

»Und haben Sie sich die Worte gemerkt, welche er zu ihr sagte?«

»Geld! Geld! Das viele Geld!«

»Ja, so war es. Gewiß hat er das Geld, welches er unrechtmäßiger Weise besitzen soll, von ihrem Vater erhalten.«

»Welch ein Blick! Welch ein Haß! Ich glaube, sie - - sie liebt ihn!« flüsterte Fanny leise vor sich hin, fast unwillkürlich.

Der Fürst hatte diese Worte wohl verstanden. Sie frappirten ihn.

»Meinen Sie?« fragte er. »Möglich! Sie sagte, daß er ein großer Dichter sei; sie sprach von ihrem Hasse! Hm! Sie wird ein Werkzeug zu seiner Befreiung sein. Ich werde sogleich den Untersuchungsrichter benachrichtigen.«

»O, Durchlaucht, darf ich mit?« bat das schöne Mädchen.

»Gewiß!« antwortete er. »Kommen Sie! Steigen wir ein!«

Sie erreichten die Equipage und schlugen die Richtung nach dem Gerichtsgebäude ein. Unterwegs kam dem Fürsten ein Gedanke.

»Wollen wir uns vorher überzeugen, ob er wirklich der Dichter der Heimat-, Tropen- und Wüstenbilder ist?« fragte er.

»In welcher Weise?«

»Indem wir bei dem Buchhändler Zimmermann nachfragen, bei dem wir ja vorüberkommen.«

»Ist er nicht verreist, wie gestern der Assessor sagte?«

»Das Personal wird uns ebenso gut Auskunft ertheilen können.«

»So steigen wir aus.«

Es war über Fanny eine Art männlicher Entschlossenheit gekommen. Sie hatte den Dichter verehrt und für ihn geschwärmt, ohne ihn zu kennen. Jetzt sollte sie denselben in einem Jüngling erkennen, welcher in Gefangenschaft und Wahnsinn gefallen war, weil er sie hatte retten wollen. Es war ihre heilige Pflicht, Alles zu seiner Befreiung zu thun, und sie folgte dieser Pflicht mit einer Begeisterung, welche hundertfach größere Schwierigkeiten überwunden hätte, als den einfachen Besuch eines Buchhändlerladens.

Als sie dort eintraten, war der Chef anwesend. Er war also von seiner Reise zurückgekehrt. Er kannte Fanny und seit Kurzem auch den Fürsten; er verneigte sich auf das Ehrerbietigste vor ihnen.

Fanny griff das Roß sofort beim Zügel an. Gerade ihr zur Hand lag ein Band der Gedichte von Hadschi Omanah. Sie nahm das Buch und fragte:

»Wie theuer, Herr Zimmermann?«

»Fünf Gulden, gnädiges Fräulein. Es ist die fünfte Auflage, die allerneuste.«

»Wieviel Honorar hat der Verfasser wohl bezogen?«

»Das ist mir nicht sofort gegenwärtig. Einen Hadschi Omanah bezahlt man nicht nur gut, sondern sogar glänzend.«


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»Es ist natürlich pseudonym?«

»Allerdings.«

»Und wer verbirgt sich unter diesem orientalischen Namen?«

»Leider bin ich nicht befugt, den Schleier zu heben.«

Jetzt sah Fanny sich am Ende ihres Könnens. Sie blickte den Fürsten bittend an, und dieser nahm ihre Erkundigung auf, indem er weiter fragte:

»Hat der Verfasser selbst diese Discretion von Ihnen gefordert?«

Jetzt wurde der Buchhändler verlegen. Er hätte gern die Wahrheit verschwiegen. Der gefeierte Hadschi Omanah ein Schneiderssohn! Aber er getraute es sich doch nicht, den Fürsten zu belügen. Doch antwortete er ausweichend.

»Es ist nicht Usus, ein Pseudonym ohne ausdrückliche Genehmigung zu indiscretioniren.«

Jetzt begann der Fürst, sich wirklich zu ärgern, darum sagte er in einem keineswegs höflichen, sondern sogar strengen Tone.

»Mein Herr, Sie dürfen annehmen, daß wir unsere Zeit nicht versäumen, um unnütze Fragen auszusprechen. Verweigern Sie uns eine freiwillige Auskunft, so werde ich eine directe Erkundigung aussprechen: Heißt der Verfasser vielleicht Robert Bertram?«

Jetzt konnte der Buchhändler nicht mehr ausweichen.

»Das ist allerdings sein Name,« antwortete er.

»Er ist von hier? Wasserstraße?«

»Ja.«

Der Fürst hatte die Mienen eines Inquirenten angenommen. Er durchschaute den Geschäftsmann. Er erinnerte sich des Abends, an welchem Bertram vor Hunger fast in Ohnmacht gefallen wäre. Darum fuhr er fort:

»Ich nehme an, daß Sie mich kennen, mein Herr?«

»Gewiß! Seine fürstliche Durchlaucht von Befour.«

»Nun wohl. Robert Bertram steht, was Sie wohl noch nicht wissen, unter meinem ganz besondern persönlichen Schutze. Ich habe darum nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, mich mit seinen Angelegenheiten zu beschäftigen. Wieviel zahlen Sie ihm für die Gedichte?«

»Zwanzig Gulden!« stieß der Mann hervor.

»Ah! Zwanzig Gulden! Und das nennen Sie ein glänzendes Honorar! Die fünfte Auflage! So erhielt er hundert Gulden?«

Es war dem Buchhändler ganz so zu Muthe, als ob er sich im Fegefeuer befinde. Es waren so viele Leute im Laden, welche mit größter Spannung der laut geführten Unterhaltung folgten. Aber konnte er diesem hochgestellten Manne die geforderte Auskunft verweigern?

»Die erste Auflage wurde bezahlt,« antwortete er kleinlaut.

»Warum die anderen nicht?«

»Es gab nicht Gelegenheit dazu.«

»Wohl weil der Verfasser gar nicht um die Erlaubniß zu den folgenden Auflagen gefragt wurde!«

»Er hat das Honorar nie verlangt.«


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»Ein ehrlicher und pünktlicher Verleger zahlt trotzdem. Uebrigens lügen Sie! Ich selbst bin Zeuge gewesen, daß der berühmte Hadschi Omanah Sie aus Hunger um einen kleinen Vorschuß bat, doch vergebens; Sie wiesen ihn vor allen Leuten zur Thür hinaus, ihn, dem Sie, selbst wenn die weiteren Auflagen rechtlich waren, doch achtzig Gulden schuldeten. Sie schämen sich sogar, seinen wirklichen Namen zu nennen! Ich erkläre Ihnen, daß ich die Rechte des Dichters vertrete und verbiete Ihnen in Folge dessen, auch nur ein einziges Exemplar zu verkaufen, bis die Rechtsfrage des Verlages an Gerichtsstelle entschieden ist. Sie lassen den Dichter verhungern, während Sie seine Erzeugnisse in Saffian binden. Man wird untersuchen, auf wessen Kosten das Letztere geschehen ist. Kommen Sie, liebe Baronesse! Hier darf man nicht Bücher kaufen, da man befürchten muß, daß die Verfasser derselben verhungert sind.«

Er gab Fanny den Arm und verließ mit ihr den Laden. Solche Worte waren hier noch nie gesprochen worden. Durch sie war, das sah der Buchhändler ein, seinem Geschäfte der Todesstoß versetzt worden; denn sie wurden jedenfalls von allen Anwesenden weiter getragen und hatten sich bereits morgen in der ganzen Residenz verbreitet.

»War das nicht ein Wenig zu hart, Durchlaucht?« fragte Fanny, als sie miteinander in der Equipage saßen.

»Nein,« antwortete der Fürst. »Denken Sie sich den reichen Mann, der dem Hungernden den wohlverdienten Lohn vorenthält und ihn außerdem durch die Thür wirft. Wie viele Thränen sind in der Wasserstraße geflossen; welcher Hunger und Kummer, welche Noth wurde erduldet, während die Gedichte des berühmten Elenden in den feinsten Salons prangten. Uebrigens halte ich diesen Zimmermann für einen Betrüger, welcher ohne Erlaubniß drucken ließ. In diesem Falle hat er keine Nachsicht zu erwarten.«

Sie erreichten das Gerichtsgebäude und wurden sofort vom Assessor empfangen, bei welchem sich noch der Arzt befand. Der Erstere bedankte sich abermals für die Bereitwilligkeit, mit welcher die Baronesse seine Bitte erfüllt hatte und fügte hinzu:

»Leider hat sich unsere Erwartung nicht bewährt. Kaum war sein Geist erwacht, so sank er wieder in Finsterniß.«

»Vielleicht wäre es besser gewesen, ihn nicht zu unterbrechen,« bemerkte der Fürst. »Oder wäre es vielleicht gerathen, ihn in der Zelle zu besuchen? Vielleicht macht das Erscheinen des gnädigen Fräuleins dort einen glücklicheren Eindruck auf ihn.«

»Wie meinen Sie, Doctor?« fragte der Assessor.

»Hm! Ich möchte den Kranken nicht überanstrengen.«

»Meinen Sie wirklich, daß von Ueberanstrengung hier eine Rede sein kann? Der Kranke muß und soll sich ja anstrengen, um sich selbst wiederzufinden,« sagte der Fürst.

»Ich stimme bei,« sagte der Assessor. »Ist es den Herrschaften recht, so verfügen wir uns nach der Zelle!«

Sie gingen, der Assessor, der Arzt, der Fürst und Fanny. Die Letztere


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fühlte ihr Herz erbeben, als sie durch den finstern Corridor schritten und der Blick nur auf Fenstergitter und eisenbeschlagene Thüren fiel. Eine dieser Thüren wurde geöffnet. Sie traten ein; Fanny wagte sich nur zögernd näher, und dennoch stieß sie einen Laut des Schmerzes aus, als sie die Zelle erblickte; ein Kübel, ein Wasserkrug, eine Holzbank - für einen besseren Strohsack hatte der menschenfreundliche Assessor Sorge getragen.

Der Gefangene lag bleich und mit geschlossenen Augen am Boden. Sein Gesicht war vom Schmerz verzerrt.

»Gott, mein Gott! Ist das möglich?« klagte Fanny. »Das ist Hadschi Omanah?«

»Ist er es wirklich?« fragte der Assessor.

»Ja,« antwortete der Fürst. »Ich komme von seinem Verleger, den ich Ihnen, als Richter, empfehlen werde. Dieser hochbegabte junge Mann ist schmählich hintergangen worden. Uebrigens haben wir eine Person entdeckt, welche versicherte, daß sie seine Unschuld zu beweisen vermöge.«

Er erzählte das Zusammentreffen mit Judith, und der Assessor versicherte, daß er das Mädchen sofort citiren lassen werde.

Unterdessen hatte Bertram sich unbeweglich still verhalten. Er schien gar nicht bemerkt zu haben, daß Jemand zugegen sei.

»Bitte, gnädiges Fräulein,« sagte der Fürst; »wollen Sie ein Wort zu ihm sprechen?«

Sie trat näher und kniete neben dem Gefangenen nieder.

»Herr Bertram!«

Er antwortete nicht. Sie wiederholte den Ruf, doch mit dem gleichen Mißerfolge. Jetzt versuchte sie es mit seinem Vornamen, den sie ja gehört hatte:

»Robert!«

Eigenthümlich! Sie, die schöne, reiche, viel bewunderte und hochgestellte Baronesse nannte einen des Einbruchs angeklagten, gefangenen Schneiderssohn, mit dem sie noch nie gesprochen hatte, beim Vornamen! Und doch kamen ihr diese zwei Silben 'Robert' so leicht, so ohne alle Anstrengung von den Lippen, als ob sie dieselben bereits tausend Male ausgesprochen habe. Und als auch dieser Ruf ohne Erfolg blieb, da gab ihr der weibliche Scharfsinn einen Gedanken ein:

»Omanah! Hadschi Omanah!« sagte sie, sich noch weiter zu ihm niederbeugend.

Die Anderen sahen in größter Spannung zu. Und wirklich, er öffnete langsam, langsam die Lider. Sein Blick fiel auf das herrliche, engelsgleiche Angesicht, welches so nahe an dem seinen war und dessen Wärme und Athem er verspüren konnte. Seine schmerzerfüllten Züge nahmen einen andern Ausdruck an; dann schloß er die Augen, als ob er an diese Wirklichkeit gar nicht glauben könne.

»Hadschi Omanah! Hören Sie mich? Oeffnen Sie die Augen!« bat sie weiter.


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Er hörte es; seine Augen öffneten sich wieder. Ein unbeschreiblich seliges Lächeln ging über sein Gesicht. Er flüsterte:

»Nacht, o Nacht, meine süße Nacht! Leïla, die herrliche Nacht des Südens!«

Dann fielen die Lider müd wieder zu.

»Und der soll Sie haben bestehlen wollen!« sagte der Fürst.

»Niemals!« stimmte der Assessor bei, hingerissen von der Wirkung, welche der Anblick des schönen Mädchens auf den unschuldig Gefangenen gemacht hatte. »Er ist gekommen, um sie zu vertheidigen, nicht aber, um sie zu berauben!«

Fanny hörte es. In ihre Augen traten Thränen.

»Und nun liegt er hier, gefangen, krank und elend!« meinte sie. »Habe da nicht auch ich Schuld daran?«

Sie dachte an seine Worte:

»Du meine süße Himmelslust,
   O traure nicht, und laß das Weinen;
Dir soll ja stets an treuer Brust
   Die Sonne meiner Liebe scheinen!«

Sie sah nicht die Umgebung, die leeren Wände; sie beachtete nicht die anwesenden drei Männer. Ihr Herz ging auf in unendlichem Mitleid und Jammer. Sie brachte die Hand unter den Kopf des Gefangenen, um demselben eine bessere Lage zu geben; aber sofort ballte er die Hände und knirschte mit den Zähnen wie Einer, der unter dem Einflusse eines wahnsinnigen Grimmes steht.

Sie hielt seinen Kopf.

Sie fuhr erschrocken zurück und erhob sich.

»Was war das?« fragte sie. »So plötzlich! Warum wohl?«

»Das ist ja eben seine Krankheit!« erklärte der Arzt. »Er ist ganz ruhig und schlägt dann plötzlich wie ein Wütender um sich, während ihm der Schaum vor dem Munde steht. Es kommt da der ihn beherrschende Wahn über ihn, der Grimm über irgend Etwas, was ich noch nicht errathen konnte.«

»Sollte das der wirkliche Grund sein?« fragte der Fürst im Tone des Zweifels.

»Der wirkliche und einzige.«

»Wollen doch einmal sehen!«

Der Fürst beugte sich nieder und versuchte, seine Hand unter Bertram's Kopf zu bringen. Sofort schlug dieser mit beiden Fäusten um sich. Jetzt wendete der Fürst den Kranken auf die Seite und betrachtete den Hinterkopf desselben genauer.

»Wie ist seine Gefangennahme erfolgt?« fragte er dann schnell. »Hat er sich freiwillig ergeben?«

»Er wurde, jedenfalls aus Irrthum, mit dem Todtschläger niedergeschlagen,« antwortete der Assessor.

»Um Gottes willen, ist es da ein Wunder, wenn man da seinen Kopf nicht berühren darf! Haben Sie denn nicht bemerkt, Doctor, daß ihm die


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Hirnschaale zerschlagen worden ist? Vor Schmerz ist er von Sinnen, vor Schmerz und Qual!«

Fanny stieß einen Schrei des Entsetzens aus und weinte sofort laut:

»Die Hirnschaale zerschlagen?« fragte der Arzt.

»Jedenfalls. Hier, untersuchen Sie ihn gefälligst!«

»Er wird dabei nicht stillhalten. Bitte, wollen Sie so freundlich sein, mir zu helfen!«

Fanny verließ die Zelle. Dennoch vernahm sie das schwere Ächzen und Stöhnen des Kranken. Sie floh immer weiter in den finsteren Gang hinein, bis sie von dem Fürsten geholt wurde.

»Wie steht es mit ihm?« fragte sie. »Ist es gefährlich?«

»Wohl nicht, aber sehr schmerzhaft.«

»Gott, mein Gott! Und dabei soll er in dieser Zelle liegen?«

»Nein. Der Assessor wird ihm ein anderes Lokal anweisen lassen, zwar auch noch innerhalb der Mauern des Gefängnisses, aber doch ein wohnlicheres Gemach.«

»Warum soll er nicht aus dem Gefängnisse heraus?«

»Weil seine Unschuld doch noch nicht erwiesen ist.«

Der Assessor war zu ihnen getreten. Er hatte die letzten Worte vernommen und fügte hinzu:

»Ich bin jetzt von seiner Unschuld vollständig überzeugt, darf ihn aber doch noch nicht definitiv entlassen. Ich werde heute noch diese Judith Levi verhören, und sollte die Aussage dieser Jüdin, auf die ich übrigens sehr neugierig bin, noch nicht genügen, so - - hm!«

Er sann einen Augenblick nach und fuhr dann fort:

»Es giebt allerdings einen Einzigen, dessen Aussage diesem Unschuldigen sofort die Freiheit wiederbrächte, aber - - -«

»Wer ist es, wer?« fragte Fanny schnell.

»Der Riese Bormann. Dieser hat ihn für seinen Complicen ausgegeben und will das auch beschwören. Ich weiß, daß er lügt. Geben Sie mir ein Alibi oder den Widerruf des Riesen, so entlasse ich Bertram augenblicklich. Woher aber ein Alibi nehmen? Und Bormann ist ein Bösewicht ohne Herz, Mitleid und Gefühl. In seiner Seele giebt es nur einen einzigen lichten Punkt; das ist die Liebe zu seinem Kinde.«

Fanny horchte auf.

»Er hat ein Kind?« fragte sie unter dem Einflusse eines plötzlich über sie kommenden Gedankens.

»Ja, einen hübschen, allerliebsten Jungen. Die Mutter kommt fast täglich mit ihm her, um ihren Mann zu sehen; auch dieser Letztere quält mich um die Erlaubniß, sein Kind sehen zu dürfen, doch versage ich diese Erlaubniß, um ihn für seine Verstocktheit zu bestrafen.«

»Wissen Sie, wo die Frau wohnt?«

»Ufergasse Neun, vier Treppen. Die Frau ist brav. Gott hat sie ganz unschuldig mit diesem Manne gestraft.«


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»Wenn es nun die Rettung Bertrams, den Beweis seiner Unschuld gälte, würden Sie ihr da die Erlaubniß ertheilen, ihren Mann zu sehen?«

»Ah, ich errathe!« lächelte der Assessor. »Herzlich gern, mein gnädiges Fräulein! Sehen Sie, da kommen bereits die Wärter, um Bertram in sein neues Logis zu schaffen. Der Doctor hat es eilig; er will seine Unterlassungssünde schleunigst gut machen.«

»Darf ich mit?«

»Aufrichtig gestanden, ist es besser, den Kranken jetzt den Händen der Ärzte zu überlassen. Später aber steht Ihnen natürlich der Zutritt zu jeder Stunde frei.«

»Dann kommen Sie, Durchlaucht! Ich bin, soweit dies unter den Umstanden möglich ist, beruhigt.«

Als sie mit einander wieder in die Equipage stiegen, fragte der Fürst:

»Doch nun nach Hause?«

»Nein!« antwortete sie. »Ufergasse Nummer Neun.«

Er lächelte zustimmend und gab dem Diener den betreffenden Befehl. Die Equipage setzte sich nach der betreffenden Straße in Bewegung.

Wenn man in dem angegebenen Hause vier Treppen emporgestiegen war, sah man eine Thür, an welcher, zwar orthographisch richtig, aber keineswegs in Schönschrift auf einem angeklebten Zettel die Worte standen »Auguste Bormann, Plätterin.«

In dem Zimmer, zu welchem diese Thüre führte, gab es fast gar keine Möbels; es sah sehr ärmlich aus, aber der Blick des Besuchers wurde durch eine ausgesuchte Reinlichkeit und Ordnungsliebe erfreut. Es war sehr kalt in dem Raume. Im Ofen brannte kein Feuer. Das Geschäft des »Plättens« schien entweder gerade heute nicht in Betrieb zu sein oder überhaupt nicht gut zu gehen. Das Plätteisen stand feiernd auf dem Tische, an welchem auf dem einzigen vorhandenen Stuhle eine junge Frau saß, welche man trotz ihrer leidenden Züge hübsch nennen mußte.

Hunger und Kummer vereint hatten ihrem erblaßten Gesichte den Stempel des Leidens aufgedrückt. In ihrem Arme hielt sie einen Knaben, welcher sich in dem Alter befand, in welchem Kinder ihre drolligen Sprachstudien beginnen. Die Kleidung der Frau war sauber, aber keineswegs für die gegenwärtige Kälte eingerichtet. Sie hielt den Knaben, um ihn zu erwärmen, fest an sich gedrückt und hatte ein mehrfach ausgebessertes Tuch um ihn geschlungen. Er streckte ihr die beiden kleinen Händchen entgegen und fragte:

»Wo Papa?«

Ein tieftrauriges Lächeln ging über ihr Gesicht, als sie antwortete:

»Er ist fortgegangen. Ich werde fragen, wo er ist.«

»Komm wieder?«

»Ja, aber heute noch nicht.«

»Kalt, kalt!«

Sie wickelte ihn tiefer in das alte Tuch und preßte ihn fester an sich. Einige Thränen fielen aus ihren sich verdunkelnden Augen auf ihn. Der Knabe


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fühlte die erneute Wärme. Nun aber dieses eine Bedürfniß befriedigt war, machte sich sofort ein anderes geltend.

»Hunger! Essen!« sagte er.

Sie zog seufzend den Tischkasten auf und entnahm demselben ein Stück Brotrinde. Es war das Einzige, was sie noch hatte.

»Hier, mein Kind!« sagte sie mit zitternder Stimme. »Iß!«

Und als der Knabe die Rinde in das kleine Mäulchen schob, um mühsam daran zu saugen, rannen ihr die Thränen in verdoppelter Stärke über die Wangen. Sie hatte selbst Hunger, aber das fühlte sie jetzt nicht. Es war ihr nur bange um das Kind. Sie wußte ja nicht, woher sie etwas Weiteres nehmen solle.

Da ertönten draußen leichte Schritte, und es klopfte. Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen.

»Herein!«

Baronesse Fanny von Hellenbach war es, welche eintrat. Sie erkannte sofort, daß die Frau geweint habe. Das that ihrem Herzen wehe, so daß sie im mitleidigsten Tone fragte:

»Ich suche Frau Bormann. Sind Sie es?«

»Ja,« antwortete die Gefragte, welche sich beim Anblick der vornehmen Dame verlegen erhoben hatte.

»Ich höre, daß Sie Plätterin sind?«

»Ja, mein Fräulein. Ich plätte für die Leute. Waschen, was ich ja gern thäte, kann ich nicht, da ich in meiner Wohnung hier keinen Platz dazu habe, und zu den Herrschaften gehen, um dort zu waschen, kann ich wegen des Kindes nicht.«

»Haben Sie gegenwärtig sehr viel zu thun?«

»Mein Gott, ich bin ganz und gar ohne alle Beschäftigung. Ich bin zu Vielen, Vielen gegangen, mir Arbeit zu erbitten; aber sobald ich meinen Namen nannte, da - da - - da - - -!«

Ein erneuter Thränenstrom machte es ihr unmöglich, den Satz zu vollenden.

»Arme, gute Frau! Was können denn Sie dafür!«

Es war das erste Mal, daß man im Tone des Mitgefühles zu ihr sprach. Das that ihr so wohl, so unendlich wohl. Sie hätte aus Dankbarkeit vor Fanny niederknieen mögen.

»Wie -« fragte sie weinend. »Sie wissen - -?«

»Ja, ich weiß es,« antwortete Fanny, sich auf dem Stuhle niederlassend, den die Frau ihr hingeschoben hatte.

»Und dennoch kommen Sie zu mir!«

»Warum sollte ich nicht? Sie sind unglücklich und ohne Schuld. Aber, Sie haben's eiskalt! Es brennt kein Feuer im Ofen!«

»Ich habe weder Kohlen noch Holz, nicht einmal Licht für den heutigen Abend.«

Fanny erblickte die harte Brotrinde, mit welcher der Kleine sich vergeblich abmühte.


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»Mein Gott! Ist das eine geeignete Nahrung für so ein Kind?« rief sie aus.

»Ich habe nichts Anderes. Ich hungere seit vorgestern!«

»Da muß schnell geholfen werden! Haben Sie denn Niemand gesagt, welche Noth Sie leiden?«

»O, sehr Vielen, mein Fräulein; aber ich fand statt Glauben nur Zweifel, anstatt Vertrauen Mißtrauen und anstatt Hilfe nur Grobheiten und Vorwürfe. Niemand wollte der Frau des berüchtigten Verbrechers ein Wäschestück zum Plätten anvertrauen.«

»Das ist schlimm, sehr schlimm! Aber, wie gesagt, es muß geholfen werden. Ich werde Ihnen Arbeit geben.«

Diese Worte machten einen außerordentlichen Eindruck auf die Frau. Ihr Gesicht leuchtete im Entzücken auf.

»Ist das wahr, Fräulein?« fragte sie schnell. »Ist das wahr? Wollen Sie das wirklich thun?«

»Ja, gewiß! Damit Sie überzeugt sind, werde ich Ihnen hier diese zehn Gulden auf Abschlag geben, liebe Frau.«

Sie entnahm ihrer Börse die angegebene Summe und hielt sie ihr hin. Die Frau des Verbrechers zögerte, die Summe anzunehmen. Sie drückte ihr Kind inbrünstig an sich und sagte:

»Hörst Du es? Arbeit soll ich haben! Sogar Geld bietet man mir an! Ich kann Milch kaufen für Dich, auch Holz und Kohlen, damit Du nicht länger frierst. Gott, welch ein Glück! Aber annehmen darf ich das Geld doch nicht. Es ist zuviel, um es abarbeiten zu können!«

»Nun, so nehmen Sie es als ein Geschenk von mir!«

»Als Geschenk? Höre ich recht?«

»Ja, liebe Frau. Sie können es in Gottes Namen annehmen. Ich thue mir keinen Schaden; ich bin reich!«

Sie schob der Frau das Geld in die Hand. Die brach in ein lautes Weinen aus, dieses Mal vor Freude und sagte schluchzend:

»Gott wird es Ihnen vergelten, mein Fräulein! Dieses Geld errettet mich und mein Kind vom Hunger und von der Kälte; aber noch viel werthvoller ist mir doch Ihr Versprechen, daß Sie mir Arbeit geben wollen.«

»Gewiß sollen Sie die haben! Kommen Sie morgen zu mir; ich werde Ihnen so viel geben, daß Sie sehr fleißig sein können.«

»Dann darf ich wohl um Ihre Adresse bitten?«

»Ah, ja, ich habe Ihnen meinen Namen noch gar nicht genannt. Ich bin die Tochter des Obersten von Hellenbach.«

Die Frau erschrak; sie wurde todesbleich; fast hätte sie ihr Kind vom Arme fallen lassen.

»Von Hellenbach?« fragte sie. »Ist das wahr? Ist es möglich?«

»Ja. Mein Name ist Fanny von Hellenbach.«

»Herr Jesus! Wissen Sie denn auch, bei wem Sie sich jetzt befinden, mein gnädiges Fräulein?«


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»Gewiß,« lächelte Fanny; »bei Frau Bormann.«

»Aber bei der Frau des - des - - des - - -!«

»Nun - des?«

»Des Mannes, der bei Ihnen ein - ein - - eingebrochen ist!«

Es kostete der braven Frau Mühe, dieses schreckliche Wort auszusprechen. Fanny antwortete in beruhigendem Tone:

»Das also meinen Sie? Lassen Sie sich das nicht anfechten. Ich habe gehört, daß Sie brav und ehrlich sind. Ihr Unglück ist so groß, daß ich Ihnen gern helfen will. Von mir haben Sie keine Unfreundlichkeit zu befürchten.«

»Von Ihnen nicht!« sagte die Frau. »Alle, Alle, denen wir nichts gethan hatten, haben mich von sich gestoßen und Sie, an der mein Mann sich so schwer verging, Sie kommen zu mir, um mir zu helfen! Mein gnädiges Fräulein, Sie sind ein Engel.«

»O, nichts weniger als das. Ich bin ein Menschenkind, gerade so wie Sie, und gerade darum fühle ich mit Ihnen. Sie müssen sich sehr unglücklich mit Ihrem Manne befunden haben.«

»Sehr, ach so sehr!« meinte die Frau. »Wir sahen uns, und ich liebte ihn, denn er ließ mir nicht ahnen, was er war. Und dann war es zu spät. Zwar liebte er mich auch, aber nach seiner Weise. Ich habe niemals Etwas über ihn vermocht. Ich mußte schweigen und konnte nur heimlich weinen. Es giebt nur ein einzig Wesen, welches Einfluß auf ihn hat, nämlich sein Kind, der Knabe hier. An diesem hängt er mit ganzer Seele. O, mein Fräulein, wie oft habe ich im Stillen gejammert, geseufzt und geklagt; wie oft habe ich gedacht, daß es für mich am Besten wäre, ich ginge zum Fluß und stürzte mich in das Wasser; wenn aber dann der Mann kam, den ich fürchtete, obgleich ich ihn noch immer heimlich liebte, wenn er dann den Knaben auf den Arm nahm und aus seinen Augen die Zärtlichkeit des Vaters leuchtete, dann war es mir, als ob es meine Pflicht sei, ihm zu verzeihen und seiner Sünden nicht zu gedenken. Das Lallen des Knaben hat ihn oft erfreut und ihn abgehalten, Etwas zu thun, was er sich bereits vorgenommen hatte!«

»Sie glauben wirklich an diesen Einfluß des unschuldigen Kindes auf seinen Vater?«

»Ganz gewiß!«

»O, dann wäre es vielleicht möglich, das Schicksal Ihres Mannes zu mildern und zugleich einen Andern zu retten, welcher ohne Schuld in den Fesseln schmachtet!«

»Sein Schicksal mildern?« fragte die Frau, der nur der erste Theil des Satzes aufgefallen war.

»Ja. Wenn er bei seiner jetzigen Aussage verbleibt, wird die Strafe, welche ihn trifft, eine sehr harte sein. Ein offenes Geständniß würde einen guten Eindruck auf die Richter machen, so daß sie wohl zum niedrigsten Strafmaß greifen würden. Er aber bleibt verschlossen und verstockt. Er zeigt sich hart und gefühlslos. Das ist um so schrecklicher, als er einen armen, unschuldigen Menschen in das Verderben bringen will.«


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»Wer ist dieser?«

»Robert Bertram, sein Mitgefangener.«

»Der soll unschuldig sein?«

»Ganz sicher ist er es.«

»Aber, wie ich hörte, ist er doch mit meinem Manne bei Ihnen eingestiegen und auch mit ihm ergriffen worden!«

»Mit Ihrem Manne ist er nicht eingestiegen, sondern später. Er ist gekommen, um mich zu retten. Aus Rache dafür sagt nun Ihr Mann aus, daß er sein Complice sei.«

»Das wäre ja schrecklich!«

»Und doch ist es allerdings so! Bertram ist nicht im Stande, seine Unschuld zu beweisen, und so befindet er sich ganz in den Händen Ihres Mannes, nach dessen Aussagen gerichtet wird.«

Die Frau blickte verlegen vor sich nieder.

»Es ist ihm zuzutrauen,« sagte sie. »Er ist rücksichtslos im höchsten Grade. Wer ihn in einem Vorhaben schädigt oder stört, den verdirbt er, falls es nur möglich ist. Er wird bei seiner unwahren Aussage bleiben.«

»Wäre er denn nicht zu vermögen, die Wahrheit zu gestehen?«

»Nein. Kein Mensch bringt das fertig.«

»Aber, Sie sprachen vorhin von diesem Knaben -!«

»Was soll der? Er kann nicht sprechen. Er kann den Vater doch nicht bitten, die Wahrheit zu bekennen!«

»Nein; direct kann er keine solche Bitte aussprechen. Aber wenn der Vater seinen Sohn sieht, wenn er ihn auf den Armen hat, wird sich seiner vielleicht ein milderes Gefühl bemächtigen, eine Rührung, welche ihn veranlassen könnte, die Anschuldigung zurückzunehmen.«

Die Wangen der Frau rötheten sich. Sie nickte zustimmend, antwortete jedoch:

»Das wäre freilich möglich; aber der Vater wird eben seinen Sohn nicht zu sehen bekommen.«

»Warum nicht?«

»Ich habe schon mehrere Male den Untersuchungsrichter gebeten, meinen Mann sehen zu dürfen, aber es wurde mir stets abgeschlagen.«

»Lag Ihnen denn an einer solchen Zusammenkunft mit Ihrem gefangenen Manne?«

»Natürlich. Ich habe so Verschiedenes zu fragen. Ich bin so hilflos und verlassen. Es giebt hundert Dinge, über die nur er mir Auskunft geben kann, Familien- und Wirthschaftsangelegenheiten. Und sodann dachte ich allerdings auch daran, daß es vielleicht meinem Worte gelingen könne, sein Herz zu erweichen, damit aus ihm ein anderer und besserer Mensch werden möge. Ich hätte es sehr, sehr gern gesehen, wenn ich hätte mit ihm sprechen können; aber es geht das nicht, denn man will es mir ja nicht erlauben.«

Der natürliche Scharfsinn Fanny's hatte die Unterhaltung jetzt auf den Punkt gebracht, um welchen es sich handelte. Sie sagte, wie nur so nebenbei:


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»Nicht wahr, der Untersuchungsrichter ist Assessor von Schubert?«

»Ja.«

»Er ist mir bekannt. Ich glaube, daß er Ihnen erlauben würde, mit Ihrem Manne zu sprechen, wenn ich ihn darum bäte.«

»O, wenn Sie das thun wollten!« fiel die Frau schnell ein.

»Warum nicht? Aber dies müßte bald geschehen. Ich stehe jetzt eben im Begriff, zu ihm zu fahren. Wollen Sie sich mir anschließen?«

»Fahren? Ach, gnädiges Fräulein, das wäre eine zu große Güte oder vielmehr Gnade von Ihnen!«

»O nein! Ich thue es ja auch im Interesse des unschuldig Angeschuldigten. Also, wenn es Ihnen recht ist, so machen Sie sich fertig!«

Die Frau wußte gar nicht, wie ihr geschah, als eine so vornehme Dame in dieser Weise mit ihr redete; aber sie wurde von Fanny gedrängt und griff in Folge dessen nach dem Umschlagtuche, dem Einzigen, was sie außer der Kleidung, welche sie trug, noch besaß. Sie legte es um, nahm das Kind unter dasselbe, damit es nicht frieren solle, und folgte Fanny nach der Straße, wo der Fürst mit seiner Equipage hielt.

Er hatte vorgezogen, unten zu warten, anstatt durch sein Miterscheinen die Verlegenheit der armen Frau zu vergrößern.

Diese machte allerdings große Augen, als sie die vornehme Kutsche erblickte, in welche sie steigen sollte, und den Herrn, der in derselben saß. Sie machte Miene, zurückzutreten, wurde jedoch vom Diener hineingeschoben.

»Dieser Herr ist Seine Durchlaucht, der Fürst von Befour,« sagte Fanny.

Die Frau erröthete und erbleichte abwechselnd vor Befangenheit, doch sprach der Fürst während der Fahrt so mild und ermunternd zu ihr, daß sie Vertrauen gewann.

Unterwegs erblickte Fanny einen Laden, an dessen Fenster fertige Kinderanzüge ausgelegt waren. Sie ließ sofort halten und forderte die Frau auf, mit ihr auszusteigen. Sie traten in den Laden, und als sie wieder erschienen, steckte der Knabe in einem hübschen Anzuge, der ihm allerliebst stand, und der Mutter standen die Thränen der Freude in den Augen.

Als sie das Gerichtsgebäude erreichten, begaben sie sich in das Wartezimmer, und Fanny ließ sich beim Assessor melden. Dieser empfing sie, indem er lächelnd sagte:

»Ich ahnte, daß Sie so bald wiederkommen würden. Sie waren bei Bormanns Frau?«

»Errathen! Sie scheint sehr brav zu sein.«

»Sie ist es ohne allen Zweifel. Ist sie mitgekommen?«

»Ja. Darf sie ihren Mann sprechen?«

»Ja, natürlich aber in meiner Gegenwart. Hat sie das Kind mit?«

»Ja, einen allerliebsten kleinen Knaben. Aber, Herr Assessor, wird Ihre Gegenwart nicht -?«

Sie hielt inne. Er errieth sie und sagte:

»Sie meinen, daß meine Gegenwart Ihre Absicht gefährden könne? Das


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ist allerdings der Fall. Wie ich den Riesen kenne, so besitzt er zu viel falschen Stolz, als daß er in meiner Anwesenheit eine Rührung zeigen würde. Aber ich werde versuchen, die Sache zu arrangiren. Sind Seine Durchlaucht auch wieder mitgekommen?«

»Ja. Wir Beide empfinden für diesen Fall ein so lebhaftes Interesse, daß wir wünschen, die Entwicklung möge eine möglichst eilige sein.«

»Auch ich stimme bei. Ist Bertram wirklich unschuldig, so kann es nur mein Wunsch sein, mich baldigst davon zu überzeugen.«

Er klingelte und ließ Frau Bormann vorführen.

»Diese Dame,« sagte er, auf Fanny deutend, »hat mich von Ihrem Wunsche, mit Ihrem Manne zu sprechen, unterrichtet. Ich habe Ihnen denselben wiederholt abgeschlagen, bin aber jetzt auf die Befürwortung hin bereit, ihn zu erfüllen. Aber Ihr Mann ist Untersuchungsgefangener. Eigentlich sollte ich bei der Unterredung gegenwärtig sein; da ich aber glaube, daß meine Gegenwart die Entwicklung besserer Gefühle verhindern würde, so sollen Sie allein mit ihm sein; doch stelle ich natürlich meine Bedingungen.«

»Sagen Sie mir, was ich zu thun habe, Herr Assessor!« bat die Frau.

»Sie gehen nicht auf einen Fluchtversuch ein?«

»Mein Gott, das kann mir gar nicht einfallen!«

»Sie nehmen auch keinen Auftrag von ihm an, welcher der Untersuchung schädlich sein würde!«

»Nein.«

»Sie suchen ihn nicht auszuforschen. Das würde sein Mißtrauen hervorrufen, wie ich ihn kenne.«

»Herr Assessor, ich kenne ihn noch genauer. Ich werde ihn nur nach häuslichen Angelegenheiten fragen. Erst dann, wenn ich sehe, daß er nicht bei ganz schlimmer Meinung ist, werde ich ihn bitten, sich seine Lage nicht durch Starrsinn zu verschlimmern.«

»So werden Sie richtig handeln. Ich wünsche besonders, daß er in betreff Bertram's die Wahrheit sagen möge. Suchen Sie darauf hinzuwirken, wenn dies ohne Gefahr möglich ist!«

Jetzt führte er sie selbst nach derjenigen Abtheilung des Gerichtsgebäudes, in welcher die Gefangenen untergebracht waren, und gab dem Gefängnißmeister seine Instruction. Nachdem die Ausgänge besetzt worden waren, führte ein Schließer die Frau nach der betreffenden Zelle, schloß dieselbe auf und zog sich dann zurück.

Bormann lag lang ausgestreckt auf der bloßen Diele. Er athmete schwer und schien es gar nicht bemerkt zu haben, daß die Thür geöffnet worden war. Seiner Frau wurde es ganz unbeschreiblich wehe zu Muthe. Durch das Fenster fiel nicht übermäßig Licht herein, aber es reichte doch zu, sie Alles erkennen zu lassen. Sie kämpfte die Thränen, welche aus ihren Augen brechen wollten, muthig nieder.

»Wilhelm!« sagte sie.

Er regte sich nicht.


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»Wilhelm!«

Er öffnete die Augen, regte sich aber nicht.

»Wilhelm! Ich bin es! Ich bin da!«

Sie trat ein. Da endlich richtete er sich auf, aber langsam und zögernd, als ob er sich im Traume befinde.

»Wer kommt? Wer?« fragte er in rauhem Tone und indem seine Augen sich gläsern auf sie richteten.

»Ich! Kennst Du mich nicht?«

Ihr wurde es bei diesem Benehmen ganz angst und bange. Sie trat vorsichtig wieder bis an die Thür zurück.

»Dich kennen?« fragte er. »Dich - Dich - - Dich? Ah, ich sehe Dich von Weitem! Ich höre Deine Stimme aus der Ferne, aber ich denke doch, daß Du es bist, mein Weib, meine Frau!«

Er starrte ihr mit weit offenen Augen entgegen. Das Gift, welches er von seinem Bruder erhalten hatte, war bereits in Wirkung getreten. Er sah und hörte Alles nur wie aus der Ferne und wie durch einen Nebel.

Jetzt erst, als er hoch erhoben dastand, erkannte der Knabe seinen Vater. Er streckte ihm die Ärmchen entgegen und rief:

»Papa! Papa!«

Da war es, als ob der Gefangene electrisirt worden sei. Er that einen Satz in die Luft und schrie:

»Der Junge! Donnerwetter! Ist der Junge da?«

»Papa! Papa!«

Noch einmal lauschte er wie ein wildes Thier, welches sein Junges schreien hört, dann sprang er nach der Ecke, in welcher der gefüllte Wasserkrug stand, und goß sich den ganzen Inhalt desselben über den Kopf.

»Ach, endlich! Endlich kann ich sehen!« sagte er dann. »Weib, Du hier! Und der Junge mit! Das vergelte Euch Gott!«

Er schlang beide Arme um Weib und Kind und drückte sie an sich. Die Frau weinte laut vor Freude und Jammer.

»Wilhelm,« sagte sie, »bist Du krank?«

»Krank? Ja, ja! Hölle und Teufel, mit mir wird es wohl nun aus sein!«

»Warum? Warum? Was fehlt Dir denn?«

»Mein Bruder war da, in der Nacht, draußen auf der Leiter, mit dem Hauptmanne. Er gab mir Schnaps zu trinken. Seit diesem Augenblicke habe ich ein Feuer in mir. Die Augen vergehen mir, und das Gehör wird schwach. Hat man mir Gift gegeben?«

Sie erschrak.

»Das wird doch Dein Bruder nicht thun,« sagte sie.

»Ich denke auch nicht.«

»Oder der Hauptmann?«

»Auch nicht. Er hat mich ja retten wollen. Er braucht mich. Aber woher dieses Feuer in mir, welches mir den Verstand nehmen will?«


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»Nur von dem Branntwein vielleicht.«

»Möglich! Bei dieser Gefängnißkost wird man so kraftlos, daß man keinen Tropfen Spiritus mehr vertragen kann. Aber, warum bist Du nicht eher einmal gekommen?«

»Ich durfte nicht. Untersuchungsgefangene dürfen mit ihren Angehörigen nicht sprechen.«

»Aber warum darfst Du heute?«

»Das habe ich dem gütigen Fräulein von Hellenbach zu danken.«

»Von Hel - Hel - - wie war der Name?« fragte er.

»Hellenbach.«

»Meinst Du die Tochter des Obersten?«

»Ja.«

»Bei der ich eingebrochen bin?«

»Ja.«

»Bist Du verrückt! Diese soll Dir die Erlaubniß ausgewirkt haben?«

»Ja, diese und keine Andere.«

Er griff sich an den Kopf, als ob er den Gedanken nicht zu fassen vermöge.

»Was hat sie für einen Zweck dabei?« fragte er.

»Keinen. Sie that es aus Mitleid.«

»Aus Mitleid? O, das glaube ich nicht! Traue diesem reichen, vornehmen Volke nicht! Du bist dumm! Sie wollen Dich fangen oder vielmehr mich durch Dich!«

»Nein, nein! Sie hat es ehrlich gemeint!«

»Das zu glauben, wäre Wahnsinn! Paß' auf! Da hinter der Thüre steht man, um zu hören, was wir sprechen.«

»Nein. Kein Mensch ist da.«

»Keiner! Das wäre ein Wunder!«

Er trat hinaus, um sich zu überzeugen. Er kannte die Hausordnung und die Gebräuche der Untersuchung. Er war ganz erstaunt, als er bemerkte, daß sie die Wahrheit gesagt habe.

»Daraus werde ich nicht klug,« meinte er. »Oder sollte es eine Falle sein? Die Hellenbach! Weib, solltest Du Dich hergegeben haben, mich zu betrügen?«

Er trat zurück und ballte drohend die Fäuste.

»Was denkst Du von mir? Ich habe mein Wort geben müssen, nichts Verbotenes mit Dir zu besprechen. Dieses Wort werde ich halten, und so hat man mich zu Dir gelassen.«

»Das ist Dein Glück! Ich hätte Dich mit dieser meiner Faust niedergeschlagen, wenn ich bemerkt hätte, daß Du an mir zur Verrätherin werden wolltest!«

»Was könnte ich den verrathen? Ich weiß ja nichts!«

»Das ist wahr. Also, setze Dich zu mir her auf die Pritsche und gieb mir den Jungen. Unterdessen kannst Du mir sagen, was Du mir mitzutheilen hast.«


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Er nahm den Knaben aus ihren Armen, und sie setzten sich neben einander. Sie wußte, daß er Thränen nicht leiden könne, darum beherrschte sie sich, obgleich ihre Lage eine wirklich traurige war. So besprachen sie Alles, was in Beziehung auf Familie und Wirthschaft zu besprechen war. Sie bemerkte dabei, daß er sich Mühe geben mußte, ihr mit seinen Gedanken zu folgen.

»Welche Strafe denkst Du wohl, daß ich bekommen werde?« fragte er später.

»Mein Gott! Es ist schrecklich! Man spricht von über zwanzig Jahren Zuchthaus. Wie oft habe ich Dich -«

»Still! Ruhig!« unterbrach er sie. »Kein Jammern! Es ist so, und es kann durch Wehklagen nicht anders werden! Was wirst Du während dieser langen Zeit thun?«

»Was soll ich thun? Arbeiten!«

»Arbeiten? Pah! Heirathen wirst Du! Einen Anderen nehmen!«

»Das kommt mir nicht in den Sinn!«

»O, Euch Weiber kennt man nur zu gut! Oder weißt Du etwa nicht, daß eine solche Zuchthausstrafe Scheidegrund ist?«

»Ich weiß das allerdings.«

»Nun also! Du wirst Dich scheiden lassen. Und mein Junge da, mein Herzensjunge, der -«

Er hielt inne. Seine Augen funkelten wie diejenigen einer Tigerin, der man ihr Junges nehmen will. Seine Frau reichte ihm die Hand entgegen und sagte:

»Wilhelm, Du hast großes Herzeleid über mich gebracht; aber ich bin Deine Frau und die Mutter Deines Kindes; ich habe Dich trotz alledem noch lieb, und ich werde auf Dich warten.«

Er sah sie ungläubig an.

»Warten willst Du?« fragte er. »Eine so lange, lange Zeit?«

»Gott wird mich stärken! Hier meine Hand! Ich schwöre Dir, daß ich Dir treu bleiben werde! Dein Kind soll keinen anderen Vater haben. Darauf kannst Du Dich verlassen!«

Es war, als ob man ihm etwas ganz Unglaubliches und Wunderbares gesagt habe. Aber er kannte sie; er hörte den Ton ihrer Stimme, und es war ihm unmöglich, zu zweifeln.

»Weib! Auguste! Gustel!« rief er, indem er den Arm um sie schlang und sie an sich zog. »Ist das wahr? Ist das wirklich wahr?«

»Ja, ich schwöre es Dir!«

»Das bin ich nicht werth! Weiß Gott, das bin ich nicht werth! Gustel, so eine Frau habe ich nicht verdient! Aber um des Jungen willen, laß Dich nicht von mir scheiden! Nicht?«

»Nein!«

Sie hielten sich umschlungen.

»Papa! Papa!« jauchzte der Kleine, der seinen Hunger ganz und gar vergessen hatte.


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In den Augen des Riesen standen Thränen. Es war eine Stimmung über ihn gekommen, wie er sie kaum in seinen Kinderjahren an sich bemerkt hatte.

»Und dann, Gustel, noch Eins!« sagte er. »Wenn der Junge heranwächst und verständiger wird, dann wird er nach seinem Vater fragen. Was wirst Du ihm antworten?«

»Daß Du in Amerika bist.«

»Nicht im Zuchthause?«

»Nein. Er soll seinen Vater lieben und achten können.«

»Herrgott, was habe ich für eine gute, gute Frau! Und was für ein schlechter Kerl bin ich gewesen! Aber das soll nun anders sein! Ich werde in dem Zucht - na, in dem Hause arbeiten, daß mir das Bast von den Fingern fällt. Ich werde mir Geld verdienen und eine gute Censur. Und wenn dann die Jahre, die langen, die ewig langen Jahre vorüber sind, und ich komme nach Hause, dann, dann - Donnerwetter, dieses Glück könnte ich schon längst gehabt haben, wenn ich klüger gewesen, klüger und besser und nicht in die Hände dieses Hauptmannes gefallen wäre! Verdammt sei er in alle Ewigkeit!«

Sie legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm.

»Sei ruhig, Wilhelm!« sagte sie. »Du wirst nicht so lange gefangen sein!«

»Ah, denkst Du, daß ich weniger bekomme?«

»Das weiß ich nicht; aber Du wirst ein Gnadengesuch machen.«

»Das wird mir verdammt wenig helfen!«

»O doch! Und vielleicht, wenn Du jetzt bereits ein Wenig einsichtsvoll sein wolltest, würde man Dir die Strafe nicht gar so hoch zumessen!«

»Einsichtsvoll? Inwiefern denn?«

»Man hält Dich für einen ganz und gar gottlosen Menschen, weil Du Unschuldige mit in's Elend bringst. Gerade deshalb wird man zur schärfsten Strafe greifen.«

»Unschuldige? Wen meinst Du denn?«

»Nun, diesen Bertram.«

»Hält man ihn denn für unschuldig?«

»Alle Welt sagt, daß er unschuldig sei?«

»Aber wie kommt er denn in meiner Gesellschaft in das Zimmer der Baronesse?«

»Er hat Dich bemerkt und ist Dir nachgestiegen, um das gnädige Fräulein zu retten!«

»Hm! Das hat man sich gut ausgesonnen! Gar nicht so übel!«

Das sollte Ironie oder gar Hohn sein; aber es wollte ihm doch nicht gelingen, den richtigen Ton zu treffen.

»Willst Du spotten?« fragte sie. »Man sagt, daß Du nur aus Rache angegeben hast, daß er Dein Mitschuldiger sei! Du willst ihn mit in das Verderben ziehen. Das zeichnet Dich als ganz und gar schlechten und gottlosen Menschen. Darum wird man Dir die höchste Strafe geben, und dort in


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- na, in jenem Hause wirst Du dann wohl recht sehr schlimm behandelt werden.«

»Hm!«meinte er nachdenklich. »Mein Kopf wird mir ganz schwach; aber es ist mir so, als ob Du Recht haben könntest. Hält der Assessor den Bertram auch für unschuldig?«

»Ja.«

»Und die Baronesse?«

»Auch.«

»Was kann denn Die wissen! Ueberhaupt darfst Du ihr nicht trauen!«

»Nicht trauen? Wilhelm, ich habe gehungert, und auch das Kind hat kaum genug zu essen gehabt -«

»Was? Wie?« brauste er auf. »Das Kind nicht genug zu essen? Hast Du denn nicht gearbeitet?«

»Ich hatte keine Arbeit. Wo ich früher plättete, lohnte man mich ab, und wo ich sonst hinkam, wollte man von der Frau des Riesen nichts wissen. Stehlen wollte ich nicht. Ich gab dem Kinde gerade die letzte Rinde, als die Baronesse kam. Weißt Du, was sie that?«

»Nein.«

»Sie schenkte mir zehn Gulden.«

»Donnerwetter! Für die schlage ich zehn Kerle todt!«

»Sie versprach mir Arbeit, und dann nahm sie mich mit in ihre Equipage - denke Dir nur, sie schämte sich nicht! - und kaufte dem Kleinen den Anzug hier, damit er nicht frieren sollte.«

Erst jetzt bemerkte der Riese den Anzug. Er betrachtete sich denselben und sagte dann:

»Das hat sie gethan? Aus freien Stücken?«

»Ja. Sie will auch weiter für das Kind sorgen.«

Da nahm er seine Frau bei der Hand und sagte:

»Gustel, es ist wahr, es giebt noch gute Menschen, und darum ist es auch möglich, daß es einen Gott im Himmel giebt. Mein Junge soll nicht hören müssen, daß sein Vater ein gottloser, unverbesserlicher Bösewicht ist. Ich werde den Leuten beweisen, daß es nicht so schlimm mit mir steht, wie sie denken.«

»Wolltest Du das? Wirklich, lieber Wilhelm?«

»Ja, das will ich. Aber schnell muß es geschehen. Der Schnaps greift mir schon wieder nach dem Kopfe. Ich muß meine Gedanken zusammennehmen. Es geht Etwas mit mir vor. Vielleicht ist's dann zu spät. Gehe also jetzt, und sage dem Assessor, er soll kommen; ich hätte ihm ein Geständniß zu machen!«

»Er wird Dich ins Verhörzimmer rufen!«

»Nein. Ich kann nicht; ich bin krank. Er soll den Protokollanten mitbringen. Aber, hörst Du, während ich rede, will ich den Jungen bei mir haben, hier auf meinen Armen. Dann bleibe ich stark. Gehe, eile!«

Sie verließ die Zelle und fand den Assessor bereits am Eingange des Corridors ihrer wartend. Sie sagte ihm, was ihr aufgetragen worden war.


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»Um Gotteswillen!« meinte er. »Er ist mit dem Kinde allein! Er wird doch nicht -«

»O nein!« antwortete sie. »Er würde sich eher tödten als dem Jungen das geringste Leid anthun.«

»So kehren Sie zu ihm zurück. Ich werde in ganz kurzer Zeit nachfolgen.«

Als er nach einigen Minuten mit dem Protokollanten in die Zelle trat, saß das Ehepaar verschlungen auf der harten Pritsche. Der Gefangene hatte den Knaben auf seinem Schooße sitzen. Er erhob sich.

»Bleiben Sie sitzen, Herr Bormann! Sie sind ja krank!« sagte der Assessor in freundlichem Tone.

Das war dem Einbrecher noch nicht passirt. Es ging wie ein Glanz innerer Freude über sein Gesicht.

»Meinen Sie, daß Ihre Frau bei dem, was Sie mir zu sagen haben, zugegen sein kann?« fragte Schubert.

»Darf sie denn?«

»Eigentlich ist es gegen die Regel, aber ich denke es verantworten zu können, wenn ich hier einmal eine Ausnahme mache.«

Es war aber ein psychologischer Coup von ihm, die Gegenwart der Frau zu gestatten. Er dachte, daß der Gefangene dadurch in der rechten Stimmung erhalten bleiben werde.

»Sie darf alles hören,« sagte Bormann.

Es wurde ein Tisch mit zwei Stühlen herbei gebracht, und die beiden Beamten nahmen Platz. Der Schließer zog sich zurück.

»Mein Kopf schmerzt mich, und ich habe Fieber,« meinte Bormann. »Es wird mir schwer, nachzudenken. Darum bitte ich, es möglichst kurz zu machen, meine Herren.«

»Ich werde Ihnen diesen Wunsch gern erfüllen,« antwortete der Assessor. »Also, was haben Sie mir mitzutheilen?«

»Ich will Ihnen gestehen, daß der Bertram unschuldig ist.«

»Er ist also Ihr Complice nicht?«

»Nein.«

»Aber Sie kennen ihn?«

»Ich hatte ihn vorher nie gesehen.«

»Wie aber kam er an jenem Abende mit Ihnen in das betreffende Zimmer?«

»Ich weiß es nicht. Jedenfalls ist er mir nachgestiegen. Ich stand da und hatte die Kette in der Hand; da hörte ich hinter mir den Ruf: 'Zurück, Elender!' Als ich mich umdrehte, erblickte ich Bertram, welcher mir die Kette entriß. Zu gleicher Zeit traten die Polizisten ein. Das ist Alles, was ich darüber weiß.«

»Warum gaben Sie ihn als Ihren Mitschuldigen an?«

»Um mich zu rächen. Ich dachte, der Streich würde mir ohne seine Dazwischenkunft gelungen sein.«


Ende der achtzehnten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der verlorne Sohn

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