Im Alter.
Ich bin so müd, so herbstesschwer
Und möcht am liebsten scheiden gehn.
Die Blätter fallen rings umher;
Wie lange, Herr, soll ich noch stehn?
Ich bin nur ein bescheiden Gras,
Doch eine Aehre trag auch ich,
Und ob die Sonne mich vergaß,
Ich wuchs in Dankbarkeit für dich.
Ich bin so müd, so herbstesschwer
Und möcht am liebsten scheiden gehn,
Doch, brauche ich der Reife mehr,
So laß mich, Herr, noch länger stehn.
Ich will, wenn sich der Schnitter naht
Und sammelt Menschengarben ein,
Nicht unreif zu der Weitersaat
Für dich und deinen Himmel sein.
Auch wenn dieses Gedicht "Im Alter" heißt, geht es um etwas, was ganz altersunabhängig sein kann, eine Empfindung, ein Lebensgefühl. ("Er war so alt unter seinen blonden Locken, den Frühling auf den Wangen und den Winter im Herzen".)
"Ich bin so müd, so herbstesschwer", das ist: ich habe keine Lust mehr, ich mag nicht mehr. Ich bin müde, lebens-müde. "Ich dachte es käme nichts mehr" heißt es bei Thomas Mann über einen freiwillig gegangenen. Herbst: der Zenith ist überschritten, es geht, salopp ausgedrückt, in die "zweite Halbzeit", oder auch, abwärts, dem Ende entgegen. Der Sommer, die Hoch-Zeit, ist vorbei.
"Und möcht am liebsten scheiden gehn", scheiden GEHN, da sind Anklänge an Suizidgedanken erkennbar, wenn auch recht dezent.
"Die Blätter fallen ringsumher", auch 'liebe Menschen', Verwandte, Freunde, Bekannte; das Konfrontiertwerden mit Todesanzeigen, Begräbnissen usw. nimmt im Laufe des Lebens zu. Rings um mich gehen sie und sterben sie weg, Menschen, aber auch Illusionen, Werte, Ziele, allerhand fällt ringsumher, "als welkten in den Himmeln ferne Gärten", so ist das.
"Wie lange, Herr, soll ich noch stehn?" Das weiß man nie, und das ist auch gut so. Der Krebskranke weiß es nicht, ob es noch ein paar Monate oder vielleicht Jahrzehnte sein werden, der Kerngesunde auch nicht. Vielleicht fährt Letzterer morgen gegen einen Baum und Ersterer feiert in fünfundzwanzig Jahren silberne Hochzeit. Das eigene Empfinden muß keineswegs dem "Vorgesehenen" entsprechen.
"Ich bin nur ein bescheiden Gras, Doch eine Aehre trag auch ich", egal, ob du Trivialschriftsteller, verkrachter Schauspieler, einfacher Arbeiter, HartzIV-Empfänger oder sonst etwas bist, du hast deinen Wert und Sinn, und der ist unabhängig von gesellschaftlichem Usus der Betrachtungsweise.
"Und ob die Sonne mich vergaß,"; "Ich lag seit jeher in einem Winkel, wohin Sonne nicht schien", sprach schon Sternheims Bürger Schippel, mit pathetischer klingenden Worten von wegen Lieben und Züchtigen mag ich gar nicht kommen, lieber den noch: "Wer mich meines Widerstandes beraubt beraubt mich meiner Kraft". Ein dunkles Kellerloch, auch im übertragenen Sinne, kann durchaus sinnvoller und fruchtbarer sein als Langeweile im Sonnenschein auf Ibiza, hier möglicherweise Erfahrung und Wachstum, dort [vielleicht] Leere und Verdruß.
"Ich wuchs in Dankbarkeit für dich." Wer ist dieses Du ? Ein persönlicher Gott ? Der christliche gar ? (Gibt's den ? Den letzteren, meine ich ? Oder würde er sich solch eine Reduzierung sozusagen gewissermaßen verbitten ? ...) Oder ist es etwas Anderes, Erleuchtung, kosmisches Bewußtsein, Reife, Wachstum, Erkenntnis ? ("Nennen se's wie se wollen ..." sagte mal jemand sehr schön zu mir)
"Doch, brauche ich der Reife mehr, So laß mich, Herr, noch länger stehn." Das ist es, und darum geht es. Im Gedicht wie im Leben. Reife. Wachstum. "Wann Schluß ist bestimme ich" sagt die Mutter zu ihrem Kind und sagt gleichsam der "liebe Gott" zu seinen Kandidaten ... (da fällt mir ein daß Borcherts Beckmann von der Elbe, in die er geht, wieder ausgespuckt wird ...). Der Weg ist dann zuende, wenn Schluß ist. Nicht vorher und nicht später. Wer noch etwas zu lernen hat, kann in dem Fall sozusagen die Schule nicht vorher abbrechen.
"Ich will, wenn sich der Schnitter naht Und sammelt Menschengarben ein,", schönes Bild, klingt hier mal recht entspannt und gar nicht angstbesetzt, so ist es recht (angemessen). Menschengarben, einsammeln, das klingt ganz friedlich.
"Nicht unreif zu der Weitersaat"; ob und wie es nun weiter geht oder nicht, das bleibt sich gleich, hätte ich fast gesagt, aber so flappsig muß es denn nun auch nicht sein. Wir wissen das nicht. Aber ob wir reif sind oder eben nicht, das können wir wissen. Wenn wir denn mal hingucken, in uns hinein und um uns herum, unser Augenmerk mal auf solche Dinge lenken statt auf weltliche Gschaftlhuberei. ("Bereitet oder nicht, zu gehn, er muß vor seinen Richter stehen"). (Das n bei "seinen" haben historisch-kritische oder sonstige Schiller-Ausgaben freundlicherweise so belassen wie es da steht)
"Für dich und deinen Himmel sein." "Es wird Liebe geben, nur Liebe" heißt es bei O'Neill (in beeindruckender Weise in "Der Große Gott Brown"). Na schau'n wir mal.
