Eine Bemerkung noch zu rodgers vorletztem Eintrag: rodger vermutet in Mays Christentum TEILWEISE eine Camouflage, die unterschiedlich motiviert sein könnte. Ich sehe es so: Eine Camouflage dürfte am ehesten dort vorliegen, wo May den Eindruck erweckt, ein konfessioneller Katholik zu sein. Ich denke hier primär an die Marienkalendergeschichten und an die eine oder andere Stelle in den Reiseerzählungen, wo sich der Ich-Erzähler zum Lehrprimat des römischen Papstes bekennt. Bei solche Stellen dürfte der Autor die Erwartungshaltung des Verlegers bedient haben. Andererseits halte ich es aber für gut möglich, dass Mays bzw. des Ich-Erzählers Marienverehrung insofern durchaus echt sein könnte, als May in seinen Schriften ein zunehmendes Faible für das "mütterliche Prinzip", vielleicht sogar für die "weibliche Seite Gottes" (um heutige Theologen zu zitieren), erkennen ließ.
Was Mays "Rechtgläubigkeit" im christlich-dogmatischen Sinn betrifft: Im Frühwerk (vor allem im "Buch der Liebe" und in fragmentarischen Texten aus der Haftzeit) hat May eine "Gottessohnschaft" Christi ausdrücklich verworfen und in Jesus lediglich einen vorbildlichen Menschen gesehen, dessen Botschaft allerdings, wenn sie beherzigt würde, die Welt retten könnte. In den Reiseerzählungen und im Spätwerk hingegen hat May die christologischen Dogmen nicht mehr ausdrücklich in Zweifel gezogen, sie aber auch nicht - jedenfalls nicht eindeutig - bejaht. Durchgängig aber, in allen Schaffensperioden, sah May in Jesus von Nazareth den, wenn man so will, "menschlichsten" aller Menschen. Er sah in Jesus ein Vorbild, das durch keine anderen Vorbilder übertroffen wird. Rein dogmatisch gesehen ist das natürlich "zu wenig" und reicht nicht aus, um May als "Christen" zu bezeichnen. Wie ich schon im letzten Eintrag bemerkte, halte ich diese dogmatische Sicht aber für unangemessen, um May wirklich gerecht zu werden. Für May war das Leben und Streben Jesu Christi DAS große Vorbild, überdies hat er, vom Frühwerk einmal abgesehen, die Lehren der frühkirchlichen Konzile (Nizäa, Chalcedon usw.) nie als "falsch" betrachtet, sondern viel eher als unabgeschlossen und einer Weiterentwicklung bedürftig. Bei diesem Befund bleibe ich dabei: Karl May verstand sich selbst wirklich (fernab von irgendwelchen Camouflagen) als Christ. Er wollte ein Christ sein und er war es auch tatsächlich (was ja nicht heißt, dass er keine Fehler hatte und ein "Heiliger" gewesen wäre).
Mein fürs Jb-KMG vorgesehener Beitrag hat übrigens den Titel: Ein "undogmatisches" Christentum oder wie "christlich" dachte Karl May? Dieser Titel deutet ja schon an, worauf ich hinaus will.
