Liebe Doro,
eigentlich sitze ich jetzt vor der Klotze und schaue bzw. höre die Oper ›Carmen‹ an. Zu deinen letzten Einträgen würde ich gerne noch einiges bemerken, das wird auch noch kommen.

Fürs erste nur zu Psalm 22:
Das »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« scheint mir ZUNÄCHST schon eine Anklage zu sein. Es heißt ja in den folgenden Versen dieses Psalmliedes:
»Warum bist du fern meinem Schreien, wenn ich stöhnend dich anflehe? Mein Gott, wenn ich rufe am Tag, so gibst du keine Antwort, und auch nicht in der Nacht (...).«
In DIESEN Versen EMPFINDET der Beter - jedenfalls nach meinem Verständnis - Gott als ABWESEND. Und deshalb die vorwurfsvolle Klage, ja Anklage gegen Gott.
In einer SPÄTEREN Phase des Lebensprozesses ÄNDERT sich dann allerdings die Wahrnehmung des Beters:
»Unsere Väter vertrauten auf dich, sie vertrauten, und du befreitest sie. Zu dir schrien sie auf und wurden befreit.«
Freilich, auch in diesen Versen schwingt - meine ich - noch ein gewisses Misstrauen mit. Der Beter erinnert (sozusagen) Gott an seine früheren Heilstaten, so etwa nach dem Motto: Da du früher geholfen hast, so hilf doch, bitteschön, auch jetzt.