Walther
Ilmer |
Bemerkungen zu Mays Kussgewohnheiten |
»… auf die Stirn, auf die Wangen, auf den
Mund …«:
Im Rahmen einer privaten Geburtstagsfeier mit
etwa 6o Gästen hatte ich Gelegenheit, über die KMG und natürlich Karl
May zu sprechen. Dabei fiel seitens eines der Zuhörer in süffisantem Ton
die Bemerkung: »Na ja – aber homosexuell war er auf jeden Fall. Das hat
ja auch Arno Schmidt festgestellt. Bei May tauschen ja Männer immerzu
Küsse!«
Nun kam erstens diese Bemerkung von einem Vertreter der modernen Jugend,
die sich doch so viel darauf zugute hält, der Homosexualität ganz
unvoreingenommen gegenüberzustehen; zweitens ist Homosexualität als
naturgegebene Veranlagung kein Grund, einen Menschen ›un‹qualifiziert
›ab‹zuqualifizieren; drittens tauschen bei May keineswegs Männer
›immerzu‹ Küsse. Ich machte mich seufzend daran, für den erwähnten
Sprecher und die übrigen Zuhörer einiges richtigzustellen.
Dazu gehört: Im Überschwang der Gefühle küsst Old Shatterhand seinen
Blutsbruder Winnetou gern und jubelnd (Beispiel: Satan und Ischariot
I, Freiburg, S. 255), und Kara Ben Nemsi tut das gleiche bei
seinem begeisterten Halef (Beispiel: Durch das Land der Skipetaren,
Freiburg, S. 84; Im Reiche des silbernen Löwen I, Freiburg, S.
280); wer wollte das bestreiten? Dazu gehört auch: Zu den Zeiten des
Entstehens solcher Szenen war man in weiten Teilen Deutschlands offenbar
ganz unbefangen gegenüber derartigen ›Zärtlichkeiten‹. (Ausgerechnet
heute, im Zeitalter der Toleranz, sind sie ›suspekt‹.) Dazu gehört
illustrierend auch dies:
Da ich selbst allmählich zu einem Relikt aus vergangenen Zeiten werde,
soll eine Gepflogenheit meiner Altvorderen (die sich vielleicht auch bei
den Ahnen anderer KMG-Mitglieder findet??) exemplarisch ›zur
Ehrenrettung Karl Mays‹ herangezogen werden, bevor sie im Nebel des
Vergangenen auf immer versinkt: In den Zweigen meiner kaum noch
überschaubar großen Familie, die sich von Nordhessen (szt. Fürstentum
Waldeck) über Thüringen und Sachsen ausbreitete, war es eine
Selbstverständlichkeit, dass bei Feiern und ähnlichen Zusammenkünften
auch die männlichen Mitglieder nach längerer Trennung einander mit
herzlicher Umarmung und Kuss begrüßten. Alle meine Urgroßväter und
Urgroßonkel, Großväter und Großonkel machten mit, und die wachsende
Schar der Onkel und Vettern tat es ihnen nach.
In hellen Mondnächten drängt sich mir manchmal wohl die Frage auf, ob
alle diese famosen Menschen, die durchweg glücklich verheiratet waren
und zahlreiche Kinder zeugten, jahrelang ihre wahre Natur verbargen und
ihre geheimen Neigungen nur bei solchen Zusammenkünften offenbarten!?
Der Senatspräsident am Reichsgericht – der Professor für Zeitgenössische
Literatur an der Universität in Leipzig – der Gutsherr und Stabsoffizier
– der Bauunternehmer, der zwei Architekten, einen Geschäftsführer und 35
Gesellen beschäftigte – – und denen allesamt der fröhlich kreischende
Nachwuchs an Armen und Beinen hing – – waren die alle ›andersherum‹??
Oder waren sie gar durch Karl May – dessen Bücher gar manche von ihnen
in stattlicher Zahl besaßen und mit Lesespuren versahen – zu ihrem
lärmenden Schmatzen angeregt worden? Dagegen sprach eine Äußerung einer
meiner Urgroßmütter (Jahrgang 1845), die aus ihrer Kindheit – also bevor
man Karl May las – solche Wiedersehens- und Begrüßungsszenen zu erinnern
wusste.
Über Ähnliches aus Bayern, aus Schwaben, aus den Küstenländern weiß ich
nicht zu berichten; aber auch dort gab es in den alten Zeiten sicher
nicht nur, lauter zurückhaltende Männer. Und trau schau: Zu Karl Mays
Lebzeiten hat kein Mensch, einschließlich Hermann Cardauns und Fedor
Mamroth, Rudolf Lebius und Oskar Gerlach, die ihm doch so gern so viel
am Zeug flicken wollten, Anstoß genommen an den Küssen von Held zu Held.
Damals geriet ein Mann eben nicht so leicht in Verdacht, seine eigene
Spezies der holden Weiblichkeit vorzuziehen, sondern durfte Gefühl
zeigen.
Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag
erschien erstmals in den ›Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft‹,
Nummer 98, Dezember 1993. Walther Ilmer nennt als Beispiel für eine
Kussszene Satan und Ischariot 1, Freiburg 1896, S. 255. Da aber
nicht jeder die Erstausgabe besitzt, sei das entsprechende Zitat hier
nachgereicht:
Er [Winnetou] gab sich gar nicht die Mühe, sein Pferd im
Laufe anzuhalten; er ließ die Büchse zur Erde gleiten, und schnellte
sich, während es an mir vorüberschoß, herab und mir in die
ausgebreiteten Arme, um mich an sich zu drücken und wieder und wieder
zu küssen. Ja, wir waren Freunde, Freunde in des Wortes vollkommenster
und bester Bedeutung, und waren doch Todfeinde gewesen! Sein Leben
gehörte mir und das meinige ihm; damit ist alles gesagt. Wir hatten
uns solange nicht gesehen; nun stand er vor mir in der mir bekannten
und ihn so außerordentlich kleidenden halbindianischen Tracht. Als die
Umarmungen vorüber waren, kamen wir aus dem Drücken und Schütteln der
Hände nicht heraus. Unterdessen hatte sein Pferd einen kurzen Bogen
geschlagen und kehrte zu ihm wie ein treuer Hund zurück. Er hörte
meine Stimme, wieherte freudig auf und rieb den kleinen, feinen Kopf
an meiner Schulter, um mir dann gar die Wange mit den Lefzen zu
berühren. »Sieh, es kennt dich noch und küßt dich auch!« lächelte
Winnetou. »Old Shatterhand ist ein Freund der Menschen und der Tiere,
und wird darum von ihnen nicht vergessen.«
Ferner sei auf die Broschüre ›Arno Schmidt & Karl May‹, ISBN 3 920421 21 3, hingewiesen. Die Autoren, Heinz Stolte und Gerhard Klußmeier, widerlegen wissenschaftlich und zweifelsfrei Schmidts These von der angeblichen Homosexualität Karl Mays.