Wolfgang Hallmann
  

Apotheker Horn bei Karl May und im realen Leben

   

Vor allem beim genaueren Blick in die frühen Werke Karl Mays, auch in seine Kolportageromane, erlebt man, mit Kenntnissen der Heimatgeschichte von Hohenstein und Ernstthal ausgestattet, immer wieder Spiegelungen von Verhältnissen, Ereignissen und Personen aus seinem damaligen Umfeld. Bei manchen Stellen lässt sich auch nur erahnen, was hinter dieser oder jener Stelle an autobiographischem Erleben Karl Mays steckt. Auf alle Fälle wird es mehr sein als der erlauchte Leser vielleicht vermutet.

Beispielsweise begegnen uns in seinem Roman ›Der verlorne Sohn‹ auf 2411 Seiten immer wieder Personen und Sachverhalte, die ihren Ursprung in Mays persönlichen Erleben hatten. Da bringt er einen alten etwas abgewrackten, vielleicht auch verkommenen Apotheker Horn an mehreren Stellen ins Spiel. Mal trifft er auf den Baron Franz von Helfenstein, der als Mörder und ›Hauptmann‹ einer Verbrecherorganisation agiert, mal auf seinen Gegenspieler, den ›Fürst des Elends‹, ein deutscher Monte Christo. Allemal ist es spannend, auch um den Apotheker, der eher eine dubiose Rolle als Giftmischer spielt. Im Verlornen Sohn finden wir ihn in einigen ausgewählten Abschnitten wie folgt wieder:

»[…] Es giebt da unten am Flusse einen alten, verkommenen Apotheker, welcher verschiedener Fehler wegen die Concession verloren hat. Er darf nicht mehr dispensieren und –«
   »Ah, der alte Medikaster, welcher auch den Viehdoktor macht?«[1]
   »Er schritt am Wasser hin, bog in ein enges Gäßchen ein und blieb dann vor einem alten Hause stehen, welches so schmal war, daß neben der niederen Thüre nur zwei schmale Fensterchen Platz gefunden hatten.
   Er klopfte. Ein Gesicht erschien an dem einen fast ganz erblindeten Fenster; dann dauerte es immer noch eine Weile, bis die verschlossene Hausthüre geöffnet wurde. Ein langer, hagerer Mann erschien, welcher nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien. Sein Kinn war spitz; seine Nase war spitz und sein Blick war am allerspitzigsten. Er musterte den Ankömmling und fragte dann:
   ›Zu wem wollen Sie?‹
   ›Zu Ihnen?‹«[2]

»Vom Krankenhause weg fuhr der Fürst nach Hause. Dort kleidete er sich um und begab sich an das Wasser zu dem alten Apotheker. Er hatte sich so verkleidet, daß er unmöglich zu erkennen war. Obgleich er noch nie hier gewesen war, sah er sich doch durch den Diener Adolf über Alles unterrichtet. Er fand die Hausthüre verschlossen und klopfte. Ein Kopf erschien am Fenster, und dann wurde die Thür geöffnet. Der Apotheker stand selbst hinter derselben.
   ›Wohnt hier Herr Apotheker Horn?‹ fragte der Fürst.
   ›Sehr wohl mein Herr!‹
   ›Kann man mit ihm sprechen?‹
   »›Ja. Ich bin es selbst. Wo wollen wir miteinander reden?‹
   ›Unten.‹
   ›Vorn oder hinten?‹
   ›Hinten.‹
   ›Ah, ich sehe, Sie wissen Bescheid!‹
   ›Vielleicht besser, als Sie denken! Verschließen Sie die Thür. Ich will nicht haben, daß wir unterbrochen werden.‹«[3]

Im folgenden Dialog geht es schon ganz konkret um die Wirkung des zu erlangenden Giftes:

»Ich bezahle sehr gut. Aber wie wirkt das Gift?«
   »Es versetzt in die tiefste Lethargie.«
   »Das weiß ich; ich will Anderes wissen. Auf den Geist kann dieses Mittel unmöglich so schnell wirken.«
   »Nein; es wirkt allerdings nur auf den Körper; es sind gewisse Nerven, welche es lähmt.«
   »Die Sprach- und Bewegungsnerven?«
   »Die Ersteren ganz, die Letzteren nur theilweise.«
   »Der Kranke liegt also nur scheinbar in Lethargie?«
   »Ja.«
   »Er sieht und hört aber Alles, was um ihn geschieht?«
   »Ja.«
   »Und muß sterben?«
   »Ganz sicher!«
   »Welch ein schrecklicher, entsetzlicher Tod! Viel, viel schlimmer noch als Starrkrampf, bei welchem es wenigstens schneller aus wird! Aber, giebt es ein Gegenmittel?«
   »Ja.«
   »Haben Sie das auch?«
   »Gewiß!«
   »Wieviel braucht man von Beiden?«
   »Je nach den Monaten. Ein Tropfen des Giftes tödtet in sechs Monaten, zwei tödten in fünf, drei in vier, vier in drei, fünf in zwei, und sechs in einem Monate. Das Gegengift wird umgedreht angewandt, und zwar in geradem Verhältnisse: So viele Monate die Lethargie bereits gedauert hat, so viele Tropfen giebt man.«
   »Wie schnell wirkt das Gift?«
   »Binnen einer halben Stunde.
   »Und das Gegengift?«
   »Binnen ganz derselben Zeit.«
   »Und ich kann sie also Beide haben?«
   »Wenn es gut bezahlt wird.«
   »Wer aber giebt mir Bürgschaft, daß ich nicht betrogen werde?«
   »Ich selbst!«[4]

An anderer Stelle lüftet May das Geheimnis um das Gift des Apothekers Horn:

»[…] Nun giebt es eine Medicin, welche verrückt macht, verstanden mein Lieber?«
   »Ja, solche Mittel giebt es mehrere!«
   »Sind sie entweder zu gefährlich oder nicht zuverlässig.«
   »Belladonna?«
   »Vielleicht. Oder wenigstens den Stoff, der sich in der Tollkirsche befindet. Man nennt ihn Atropin.«[5]
 

Der verlorne Sohn

Titelbild des Fortsetzungsromans ›Der verlorne Sohn oder Der Fürst des Elends‹, der in 101 Lieferungen von 1884–1886 in Dresden erschien.
  

Apotheker kommen im Werk Mays relativ oft vor, so wie zitiert im ›Verlornen Sohn‹, aber auch im ›Waldröschen‹, in ›Die Liebe des Ulanen‹, ›In den Schluchten des Balkans‹, in der Humoreske ›Die Fastnachtsnarren‹, ›Im Lande des Mahdi‹ und auch ›Im Reiche des silbernen Löwen‹ verzichtet May nicht auf Apotheker. Nicht selten stellt May die Apotheker als »pfengfuchsisch«, »knausrig« oder »verkommen« dar. Der Apotheker Horn kommt ausschließlich im ›Verlornen Sohn‹ vor. Aus dem Kontext erfährt man über diese literarische Figur, er sei ein Jude, ein ehemaliger Chemielehrer und Tierarzt, ein Apotheker, der seine Konzession verloren hat, ein Vater von fünf Töchtern, der den ›Hauptmann‹ (Franz von Helfenstein) mit Gift versorgte. Nach vielen seiner Machenschaften wurde er verhaftet, floh, wurde erneut gefasst und zu einer Zuchthausstrafe verurteilt.

Einen Apotheker Hermann Anton Horn (1816–1893) gab es in Ernstthal im wahren Leben Karl Mays tatsächlich, und zwar von 1842–1878 als Besitzer der Engelapotheke. Karl May musste ihn kennen, denn er betrieb seine Apotheke am Markt in Mays Geburtsstadt. Auch Tiermedizin wurde hier hergestellt und vertrieben, daher der Hinweis auf den ›Viehdoktor‹ in einem der Zitate.

Als kleines, wieder sehendes Kind und im Knoblochhaus wohnend, später im Selbmannhaus in unmittelbarer Nachbarschaft der alten Apotheke, muss er ihm des Öfteren begegnet sein.

Hermann Anton Horn ist 1816 vermutlich in Chemnitz geboren. Sein Vater war Heinrich Gottlieb Horn, Bürger, Senator und Advokat in Chemnitz. Seine Mutter entstammte der Familie eines Hausbesitzers und Factors in der Amtsvorstadt in der Nicolaigasse. Die Ehe des Apothekers wurde am 16. Juli 1844 geschlossen. Aus ihr gingen die Kinder Albrecht Theodor (geb. 1845), Max Oscar (geb. 1848) und die Tochter Ida Theresie (geb. 1852) hervor, letztere starb 1869 im Alter von reichlich 16 Jahren. Diese Kinder musste Karl May ebenfalls gekannt haben, da sie ja nur wenige Häuser weiter am Markt bzw. der Marktstraße wohnten. Apotheker Horns erste Frau starb 1863. Ein Jahr darauf heiratete er erneut, in dieser Ehe wurden keine Kinder geboren. Er selbst verstarb im März 1893 in Hohenstein und wurde auch dort begraben. Für die Ermittlung der familiengeschichtlichen Daten gebührt Frau Gabriele Berger von der St. Trinitatis-Gemeinde der Dank des Autors.
 

Engel-Apotheke
 
Der Engel zum Tag der Deutschen Einheit an der Fassade der Engelapotheke.
 

Die alte Ernstthaler Apotheke, die unterhalb des heutigen Hauses Marktstraße 1 stand, erhielt 1817 ein Apothekenprivileg, obwohl bereits 130 Jahre früher, also 1687, erstmalig in Ernstthal bereits eine Apotheke privilegiert wurde. Das Haus mit der 1817 neu privilegierten Apotheke in der Marktstraße 2, die sich spätestens seit jenem Jahr Engelapotheke nannte, stand auf dem Grundstück der Flurbuchnummer 195a und b, Brandkatasternummer 180 des alten Ernstthaler Flurbuches, es wurde 1752 im Barockstil erbaut. Diese Jahreszahl fand sich im geschwungenen Giebel an der Marktseite wieder. Apotheker Horn erwarb dieses Haus am 31. Dezember 1842 von einem Zacharias Ferdinand Heitsch für 13 500 Taler. Nach 36 Jahren als Apotheker verkaufte er das Apothekengrundstück für 31. 500 Mark an den Apotheker Friedrich Carl Heinrich Robert Eilers.
 

Anzeige Engel-Apotheke

Annonce der Engel-Apotheke im Wochenblatt und Anzeiger Hohenstein, Ernstthal und Umgebung 1856.
Die Apotheken lieferten in jener Zeit ein breites Sortiment von Waren, die man sich heute nicht mehr vorstellen kann.
Als später die ersten Kraftfahrzeuge aufkamen, verkauften die Apotheken sogar Motorenöl und Benzin.
  

Am 16. Juli 1898 brannten fünf Häuser am Neumarkt in Ernstthal nieder, aber das angrenzende ehemalige Apothekerhaus blieb mit Seiten- und Hintergebäuden erhalten.
 

Außenansicht Engel-Apotheke

Die Engelapotheke um 1910, Marktstraße 2 in Ernstthal.
 

Zur Engelapotheke sei noch bemerkt, dass das alte Gebäude an der Marktstraße als Domizil für die Apotheke aufgegeben wurde. 1922 wurde die Apotheke in die Centralstraße 2, heute Herrmannstraße verlegt. 1936 wurde die alte Apotheke in der Marktstraße abgerissen. Der Engel ziert zwar heute noch die Fassade des Hauses Herrmannstraße 69, aber 2018 wurde die Apotheke für immer geschlossen. 331 Jahre Apothekengeschichte im Zentrum Ernstthals hatte damit traurigerweise ein Ende gefunden.
  

Eingang zur Engel-Apotheke
 
Eingang zur alten Engel-Apotheke in Ernstthal, Marktstr. 2, Aufnahme 1912. Der Name des Kindes ist unbekannt.
 

In den Lieferungen 13, 14 und 19 von Karl Mays Roman ›Der verlorne Sohn oder der Fürst des Elends‹, die November/Dezember 1884 zur Auslieferung gelangten[6], spiegeln verschiedenste Sachverhalte, Begriffe oder Namen aus Karl Mays Leben und Umfeld wider. Sie verstecken sich zum Beispiel hinter: »großer Dichter unschuldig«, »Dichter der Wüstenbilder«, »vom Verlagsbuchhändler grausam abgewiesen«, »war jedoch nicht Schreiber, sondern Schriftsteller«, »Bärte und Perücken«. Diese und weitere mögliche Spiegelungen sind nicht Gegenstand dieses Beitrages, wären aber einer genaueren Betrachtung wert.

Allerdings soll ein Sachverhalt in Verbindung mit dem Apotheker Horn im Folgenden näher beleuchtet werden. Was steckt hinter diesem geheimnisvollen Gift, das das Opfer eine gewisse Zeit in eine Art Verrücktheit und teilweise Lähmung versetzt? Die Tollkirsche, atropa belladonna, trägt glänzend schwarze Beeren, die nicht unbedingt schlecht schmecken sollen, was sie aber besonders gefährlich macht. Nach einer Einnahme zeigen sich anfangs rauschartige Zustände, Trockenheit im Mund, Pulsbeschleunigung, starkes Durstgefühl. Bei hohen Dosen treten Schluckbeschwerden, Sprachstörungen und Unruhe mit Kopfschmerzen auf. Mengen über 10 mg verursachen Krämpfe, Tobsucht, Verwirrtheit, Delirien und Halluzinationen. Diese Phase kann in einen Erschöpfungszustand mit tiefer Bewußtlosigkeit und später in zentrale Atemlähmung und damit in den Tod übergehen. Allerdings gibt es Gegenmittel, ein Antidot: Anticholium, das genauso wie das eigentliche Gift Atropin seine Wirkung immer abhängig von der Dosis entfaltet. Übrigens galt im Mittelalter eine geringe Menge von Atropin als Schönheitsmittel für Frauen, sie bekamen geweitete Pupillen und glänzende Augen. Daher rührt die lateinische Bezeichnung des Medikaments Belladonna, »schöne Frau«. Bei Karl May kommt Belladonna auch im ›Waldröschen‹, im ›Schatz im Silbersee‹ und zum Beispiel im Roman ›Durchs wilde Kurdistan‹ vor. Heute spielt Beladonna auf Grund großer therapeutischer Breite und guter Behandlungsmöglichkeiten in der Medizin nach wie vor eine Rolle.

Das im Mays Roman angesprochene verbrecherische Spiel mit diesem Gift gleicht einem Ritt auf der Rasierklinge, aber theoretisch leuchten die Zusammenhänge ein.

Woher hat Karl May wie in vielen anderen Fällen auch sein botanisches bzw. medizinisches Wissen? Die Antwort gibt der Mayster selbst in seiner Autobiografie ›Mein Leben und Streben‹. Mays Mutter hatte das spätere Karl-May-Haus in Ernstthal geerbt, aber »auch einige alte, hochinteressante Bücher […] Ich denke da besonders an einen großen, starken Folioband, der gegen tausend Seiten zählte und folgenden Titel hatte:

Kräutterbuch
Deß hochgelehrten unnd weltberühmten Herrn Dr. Petri Andreae Matthioli
[…]
Gedruckt zu Franckfurt am Mayn M. D. C.»
[7]

May gab zu erkennen, dass auch er neben seinem Vater das Buch studiert hat, was sehr glaubwürdig ist. Es existiert noch heute in seiner Bibliothek im Karl-May-Museum Radebeul.

Zum eindeutigen Beweis, das er das Kreutterbuch als Quelle seines medizinisch-botanischen Wissens tatsächlich benutzte, sei das Beispiel von Bocksdorn angeführt, das May zwar nicht im Zusammenhang mit dem Apotheker Horn verwendete, aber das charakteristisch für die oben getroffene Feststellung ist. Dazu wurden anhand des Kreutterbuchs zum Stichwort »Buxdorn« ein Vergleich mit Mays Text aus ›Durch das Land der Skipetaren‹ angestellt, die in der folgenden Tabelle aufgelistet sind:


  

Vergleichstabelle zum Stichwort Buxdorn = Bocksdorn lat. Lycium

 

›Kreutterbuch‹[8]
arabisch Hadad
Lycium ist ein dornechter Baum
seine Beerlen sindt in gestallt deß Pfeffers
Beerlen […] schwarz/glat/unnd bitter
vertreibet die Tunkelheit der Augen
Auch hilfft es den geschwürigen Ohren
Auch dienet wider das faule Zanfleisch
Die Schrunden […] der Lippen […] benimpt es
Es hilfft wider die bösen Geschwere
›Durch das Land der Skipetaren‹[9]
Hadad
ist dornig
hat bittre Beeren von der Gestalt des Pfeffers
bittere Beeren
gegen das Dunkel der Augen
hilft gegen kranke Ohren
hilft gegen faules Zahnfleisch
[gegen] das Schrunden der Lippen
Als Pflaster gegen Geschwüre

 

Natürlich waren im 16. Jahrhundert die Bezeichnungen vieler Pflanzen oft abweichend von den heutigen Tages gebräuchlichen, aber mit Buxdorn ist zweifelsfrei Bocksdorn gemeint. – Mit diesem Beitrag soll auf die Tatsache verwiesen sein, dass es immer noch möglich ist, interessanten Spiegelungen im Werk Mays auf die Spur zu kommen und anzuregen nach weiteren solchen zu suchen.

  

 


 

 

Anmerkungen

 

[1] Karl May: ›Der verlorne Sohn oder Der Fürst des Elends‹, Dresden 1884–1886, S. 303.
[2] Ebd., S 314.
[3] Ebd., S 440.
[4] Ebd., S 443f.
[5] Ebd., S 310.
[6] Vgl: Ralf Harder: ›Karl May und seine Münchmeyer-Romane. Eine Analyse zu Autorschaft und Datierung‹, Materialien zur Karl-May-Forschung, Bd. 19, Ubstadt 1996, S. 245.
[7] Karl May: ›Mein Leben und Streben‹, Freiburg [1910], S. 28.
[8] Zitiert nach dem Exemplar der Universitätsbibliothek in Straßburg, Ausgabe 1590. Eine umfassende Auswertung des Exemplars (3. Auflage, 1600), das Karl May aus dem Nachlass seiner Vorfahren besaß, steht noch aus.
[9] Karl May: ›Durch das Land der Skipetaren‹, Freiburg 1892, S. 73f.


  

 


 

Karl May – Forschung und Werk

Reisen zu Karl May