Das Buch ›Reisen zu Karl May‹ von Wolfgang Hallmann und Christian
Heermann ist sozusagen die Bibel der sächsischen Karl-May-Forschung. Es
wurde 1992 in Zwickau vom Westsachsen Verlag GmbH herausgegeben.
Redaktionsschluss war Januar 1992, keine drei Jahre nach der Wende. Wenn
man sieht, wie viel sich seitdem geändert hat, kann es einem traurig ums
Herz werden: Man hat fast den Eindruck, dass in der relativ kurzen
Zeitspanne zwischen 1992 und 2023 mehr verschwunden und vernichtet worden
ist als zwischen 1842 und 1992; was natürlich nicht der Fall ist, denn die
mörderische Bombennacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 ist ja
bekanntlich z. B. dafür verantwortlich, dass es in der Elbflorenz nur noch
eine Wohnung gibt, in der Karl und Emma May gewohnt haben.
Zwischen etwa 1990/1991 und 1995 sind zahlreiche Straßennamen in den neuen Bundesländern geändert worden. Das Buch kennt zum Beispiel noch eine Wilhelm-Pieck-Straße in Radebeul und eine Straße der Befreiung in Dresden-Neustadt. Die heißen ja schon ›eine Ewigkeit‹ wieder Meißner Straße bzw. Hauptstraße. Noch existierende Cafés und Hotels sind womöglich noch öfter umbenannt worden.
Die vorliegende Webseite ›Reisen zu Karl May‹, herausgegeben von Ralf Harder, soll eine aktualisierte, teils erweiterte Fassung des Buches von Hallmann und Heermann bieten. Das meiste ist auf den Forschungsstand 2023 gebracht, etwaige Fehler sind berichtigt, und es gibt viel farbiges Bildmaterial, was 1992 noch nicht der Fall war.
Wandert oder fährt man in Mays Fußspuren durch Deutschlands schönstes Bundesland, dann ist diese ›Bibel‹ nach wie vor unentbehrlich.
Wie gesagt, hat sich
einiges in den Landschaften, aber auch in der Forschung geändert seit dem
Januar 1992. Und zuweilen machte das Duo Hallmann und Heermann, man kann
es kaum glauben, tatsächlich auch kleine Fehler, mit manchmal große
Folgen.
In den 1880er Jahren machte Karl May allein, mit seiner Frau Emma oder
manchmal sogar auch in Begleitung des Ehepaares Münchmeyer des Öfteren
Sonntagsausflüge in der Dresdner Heide, bis Langebrück oder auch
Klotzsche.
Ich fand da die innere
und äußere Stille und die Sammlung, die ich brauchte. Münchmeyer kam
noch einige Male, dann nicht mehr. Dafür aber stellten, ich wußte nicht,
warum, sich Einladungen von Frau Münchmeyer ein, sie auf ihren
Sonntagswanderungen durch Wald und Heide zu begleiten. Diese Wanderungen
waren ihr vom Arzt geraten, der ihr tiefe Lufteinatmung verordnet hatte.
Ich mußte mich wohl oder übel an ihnen beteiligen, weil dies der Wunsch
meiner Frau war, deren Gründe ich leider nicht zu würdigen verstand.[1]
Unterwegs wurde natürlich auch eingekehrt in die drei, heute noch
bestehende Heidelokale: das Fischhaus, die Heidemühle und die Hofewiese.
Von Dresden kommend schien die Heidemühle das nächstgelegene Lokal zu
sein. Radeberger Straße 100 nennen die Herren Hallmann und Heermann als
Adresse. Gesagt, ähm … noch nicht so einfach getan, denn folgt man die
Radeberger Straße, dann steht man bei Nr. 99 plötzlich vor einem ziemlich
hässlichen Betonklotz, oder Plattenbau, wie man in Ostdeutschland sagt,
und dann hört diese Straße auf.
Und doch ist dieses Gebäude in bestimmten Kreisen berühmt, denn genau
hier, hinter diesem Eingangsbereich, wohnte ein gewisser Herr aus
Leningrad, der für die KGB in Dresden tätig war; gegenwärtig hält er sich
nicht an die Regeln des Völkerrechts.
Hallmann und Heermann
teilten aber mit, dass es die Heidemühle 1992 noch gab, auch ist der
Plattenbau deutlich älter. Dank Google und einiger Straßenkarten war das
Problem dann jedoch schnell gelöst: Es handelt sich bei der Heidemühle
nicht um die Adresse Radeberger Straße, sondern um die Radeberger
Landstraße. Vier winzige Buchstaben, auf der Karte ergeben aber 7 km
Unterschied!
2022 wurde die tatsächlich noch bestehende Heidemühle umgebaut, aber das
ist definitiv das Lokal, in dem die Mays und Münchmeyers öfters eingekehrt
sind.
Eine Heidemühle gab es
bereits in der Mitte des 16. Jahrhunderts am Oberlauf der Prießnitz. Sie
wurde abgebrochen, als ihr Besitzer 1841 am heutigen Standort neben der
Großen Hengstbrücke über die Prießnitz eine neue Mahl- und Schneidemühle
erbaute. Zwei Jahre später eröffnete er den Schankbetrieb. Ein Brand
vernichtete im Dezember 1880 die Anlagen. Der Neubau im Schweizerstil, wie
ihn Karl May sah, hat seine Konturen bis heute bewahrt.[2]
Laut einer Tafel mit Bildern war die Heidemühle mit ihren Garten während
der NS-Zeit ein beliebtes Ausflugsziel.
Ich erreichte nur, daß Frau Münchmeyer des Wirthes wegen unsere Wohnung
mied; die Sonntage aber mußten wir ihr widmen. Da gingen wir mit ihr in
die Dresdener Haide spazieren, von früh bis abends, in die Haidemühle,
nach der Hofwiese, nach Langebrück, Klotsche u. s. w. Zuweilen war auch
ihr Mann dabei, zum Beispiel bei dem ganzen Tag lang in der Haide, den
wir zusammen mit Münchmeyers und der Familie des alten Achtundvierzigers
Häubner[3] verlebten, mit dessen Sohn
eine Tochter Münchmeyers verlobt war. Diese Spaziergänge wurden meist
immer vorausbestimmt, wenn meine Frau Manuscript zu Münchmeyers trug.
[…] Im höchsten Grade bemerkenswerth ist es, daß diese Frau während
der Spaziergänge durch die Haide die Rede zuweilen geflissentlich darauf
brachte, ob ich die Geschäftsbriefe Münchmeyers an mich weggeworfen oder
aufgehoben habe. Ich antwortete der Wahrheit gemäß, daß ich sie
natürlich aufgehoben habe, weil sie sich doch auf meine Abmachungen mit
ihm bezögen. Diese Erkundigungen geschahen so scheinbar gleichgültig,
daß meine Frau gar nicht auf sie achtete. Auch mir fielen sie nicht auf;
ich hielt sie für zufällig; später aber, als mir der ganze Zusammenhang
von Anfang bis zum Ende in erschreckender Deutlichkeit vor Augen stand,
ging mir das Licht auch über diese Fragen auf.[4]
Zwischen der Bautzner Straße und der Radeberger Landstraße läuft die
Fischhaustraße: Als Nummer 14, am Südrand der Dresdner Heide, befindet
sich seit etwa 1600 ein Fischhaus, das um 1650 das Schankrecht erhielt.
Ende 1898 wandelte sich das Haus zur reinen Gastwirtschaft, 1901 erfolgte
ein Umbau. Ende der 1980er/1990er Jahre wurde die Wirtschaft umgebaut.[5]
Auch hier kehrten die Mays
und Münchmeyers der Öfteren ein, was wir jetzt nach den Umbau-Arbeiten
auch können oder vielleicht müssen. Das ›Fischhaus‹ – oder, wie der
vollständige Name heutzutage lautet, ›Historisches Fischhaus‹ – hat einen
wunderbaren Garten und herrliches Eis.
Das dritte ›Heidelokal‹, das May und Münchmeyer frequentierten, liegt
etwas weiter vom Dresdner Stadtrand entfernt: Die ›Hofewiese‹ in
Langebrück; heutige Adresse: Gänsefuß 55, Dresden.
Langebrück galt um die Jahrhundertwende 1900 als zweitreichste Gemeinde Sachsens und wurde eine Jahrhundertwende später, 1999, in Dresden eingemeindet. Das macht die Abstand zur Dresdner Stadt natürlich nicht kleiner, sodass man nur Respekt haben kann für ›Old Shatterhand‹, seinen Verleger und ihre Gattinnen. Heutzutage bequem mit dem Auto erreichbar, aber dieses Quartett – oder vielleicht auch Quintett, wenn Louis Münchmeyer, Heinrichs Bruder, sie begleitete, was oft der Fall war, oder gar Oktett, wie das folgende Zitat besagt – musste die ganze Dresdner Heide zu Fuß durchqueren.
Aber es geschah von
jetzt an öfters, dass meine Frau Sonnabends Lust bekam, morgen, am
Sonntage in die Haide spazieren zu gehen. Meist zunächst nach dem
Fischhause. Kamen wir dahin, so sass sie »Pauline« da. Es war ihr
geraten worden, Waldluft zu atmen, und sie tat das in vehementester
Weise. Sie steckte sich den Regenschirm quer über den Rücken unter die
Arme, und wenn dies geschehen war, so konnte ich die arabischen
Gutturaltöne viel besser studieren als in Arabien selbst. Dieses
Zusammentreffen repetierte in verschieden grossen Intervallen, doch
stets nur Sonntags, denn das war der einzige Tag, an dem die »Pauline«
nicht in der Firma Posten stand. Wir wohnten an der Blasewitzer Grenze,
in der Nähe der Elbe. Wir brauchten nur überzufahren, so hatten wir den
Wald, für den sich Frau Münchmeyer jetzt im höchsten Grade
interessierte. Der Rendezvous und Spazierziele gab es verschiedene; das
Waldschlösschen, die Saloppe, das Fischhaus, die Haidemühle, die
Hofewiese und andere. In einem ganz besonderen Falle war sie nicht
allein. Ein Sohn des Stadtrates Heubner, des bekannten
Achtundvierzigers, hatte eine Tochter der »Pauline« kennen gelernt. Man
wünschte, aus den jungen Leuten ein Paar zu machen. Es wurden gemeinsame
Spaziergänge kombiniert, mit Poesie, in den Wald hinaus. Wir wurden
eingeladen. Münchmeyers drei Personen, Heubners drei Personen und Mays
zwei Personen. Die jungen Leute haben auch wirklich geheiratet. […]
Ferner ist Heubner jun. später als Zeuge gegen mich aufgestellt worden.
Ich habe damals, bei unserm viele Stunden langen Beisammensein in der
Dresdner Haide, mit ihm sehr ausführlich über mich, über meine Werke und
meine Schreibweise gesprochen. […]
Es lässt sich wohl denken, dass es mir
keineswegs angenehm war, der »Pauline« zu diesen ihren Spaziergängen
meine Sonntage ebenso zu opfern, wie ich sie vorher in Blasewitz dem
»Heinrich« geopfert hatte. Auch äusserte sich die Wirkung dieser
Ausflüge auf die Frauen nicht gleich, sondern ganz verschieden. Die
Waldluft bekam nämlich der »Pauline« ganz ausgezeichnet; umso schlechter
aber bekam die »Pauline« meiner Frau! Das merkte ich sehr bald, und das
steigerte sich immer mehr und mehr. Gingen wir zu dritt durch die Haide,
so war ich meist voran oder hinterher. Ich beschäftigte mich in Gedanken
mit meiner Arbeit oder mit dem, was ich um mich sah. Denn worüber die
Frauen sprachen, das interessierte mich nicht; sie waren also meist
allein.[6]
Dieser Alleingang Karl Mays wurde im Manuskript von Satan und Ischariot gespiegelt, als die Ich-Person aus Liebeskummer die Einsamkeit aufsuchte. So wie er auf der Heide vor seinen Augen sah, wie er Emma allmählich an Pauline Münchmeyer verlor, so sah er im nicht für die Buchausgabe verwendeten Text, wie Old Shatterhand urplötzlich Martha Vogel an den Ölprinzen Konrad Werner verlor:
Ich lief also fort, durch mehrere Straßen, über den Schloßplatz, die Augustusbrücke, die Haupt- und Bautzener Straße, immer weiter und weiter, bis ich mich bei nächtlich dunklem Himmel in der einsamen Dresdener Heide, im Wald befand. Das war mir grad recht. Man wird innerlich am schnellsten klar, wenn es äußerlich um einen dunkel ist. Welche Heidepfade ich da gegangen bin, das weiß ich heute nicht, ich wußte es schon am nächsten Morgen nicht mehr. Ich versuchte in mich hineinzuschauen und konnte den Wirrwarr, den es da gab, nicht durch dringen. […] Der Tag graute bereits, als ich über die Marienbrücke in die Altstadt zurückkehrte.[7]
Langebrück liegt unweit von
Radeberg und man gönnt May c.s. nachträglich nach den anstrengenden
Wanderungen ein leckeres Pils aus der Radeberger Brauerei oder meinetwegen
auch aus der Dresdner Feldschlösschen-Brauerei. Und uns auch, obwohl
unsere Generationen nicht mehr so wanderlustig sind wie die Leute aus Mays
Zeiten.
Als Wirtshaus besteht die ›Hofewiese‹ laut Hallmann und Heermann seit
1877; nach Umbauten und Erneuerungen 1935 und 1960 war sie zur Zeit des
Reisen zu Karl-May-Buches geschlossen.[8] Aber,
Elhamdullillah!, es gibt auch positive Änderungen seit 1992: Nach wie vor
kann man im Schatten der Bäume rundum dem ehemaligen Pferdehof ausruhen.
Anmerkungen
[1]
Karl May: Mein Leben und Streben, hrsg. von Hainer Plaul,
Hildesheim/New York: Olms, 1997³, S. 206.
[2]
Wolfgang Hallmann / Christian Heermann: Reisen zu Karl May, Zwickau 1992,
S. 59.
[3]
Vgl.
auch https://www.reisen-zu-karl-may.de/erinnerungsstaetten/muenchmeyer_grab.html.
[4]
Karl May: Frau Pollmer – eine psychologische Studie, Bamberg 1982,
S. 840/1. Auf der besagten Tafel mit den alten Bildern ist zu erkennen,
dass die Einkehrstätte in den 1930er oder 1940er tatsächlich noch als
Haidemühle buchstabiert wurde, wie in Mays Zeiten.
[5]
Wolfgang Hallmann / Christian Heermann, wie Anm. 2, S. 59.
[6]
Karl May, Ein Schundverlag, Bamberg 1982, S. 343/5.
[7]
Der ausführliche Text um Martha Vogel im Manuskript von Satan und
Ischariot wurde von Heinrich Keiter, dem Redakteur des Deutschen
Hausschatzes, gestrichen; heute ist er enthalten in ›Old Shatterhand in
der Heimat‹ (Gesammelte Werke, Band 79), Bamberg/Radebeul 1997, S. 233f.
[8] Wolfgang Hallmann / Christian Heermann, wie Anm. 2, S. 59.