Roger Schenk

Die Carpio-Sappho-Route
oder
Die Mühle bei Bleistadt

 
Für Harald Mischnick †

 
Jeder Leser des ersten Kapitels von Karl Mays Reiseerzählung »Weihnacht!« kennt die Namen ›Carpio‹ und ›Sappho‹ aus dem Effeff; sie brauchen eigentlich keine Erläuterung mehr. Ebenso kennt jeder die Winterreise der Beiden vom böhmischen Falkenau nordwärts mit der bewegende Todesszene des Vaters von Frau von Hiller, die sich anfangs Elise Wagner[1] nennt, als dramatischer Höhepunkt. Die Reiseroute wird genau angegeben: Rehau – Asch – Eger – Tirschnitz – Falkenau[2] an den ersten zwei Tagen; in Tirschnitz und Falkenau wurde übernachtet. Am dritten Tag fahren sie mit dem Wirt Franzl per Schlitten nach Maria Kulm und wieder zurück nach Falkenau[3]. Beim abendlichen Gespräch mit Franzl wird klar, dass ›Carpio‹ und ›Sappho‹ die Absicht hatten, nach Karlsbad zu gehen und von dort weiterzuwandern[4]. Die vergessenen Schiffskarten der Frau von Hiller ändern ihre Pläne aber: Am vierten Tag wandern die beiden ›Studenten‹ von Falkenau (nach der Szene im Einkehrhaus vor der Stadt, wobei ›Carpio‹ seine Tat gestehen muss[5]) über Gossengrün nach Bleistadt[6], wo ein Händler im Schenkhaus ihnen erzählt, dass es in Graslitz, wohin Frau von Hiller, Sohn Stefan und ihr Vater wollten, keinen Verwandten, der einst Instrumentenmacher war, mehr gibt[7]. ›Carpio‹ und ›Sappho‹ wandern weiter, bis sie eine Mühle erreichen, in welcher der alte Mann stirbt[8]. Da sie aus Mitleid ihr Reisegeld der Frau von Hiller gegeben haben, wandern die beiden ›Studenten‹ zurück nach Bleistadt, wo sie zu übernachten hoffen; anschließend wollen sie am nächsten Tag zurück nach Falkenau, um sich Geld vom Gastwirt Franzl zu borgen, damit sie wieder nach Hause wandern oder fahren können. Bis soweit ist alles klar und deutlich.

Hieraus ergeben sich allerdings vier Fragen:
  1. Hat es diese ›Winterwanderung‹ wirklich gegeben?
  2. Wer war ›Carpio‹?
  3. Falls es die Winterwanderung in der Jugend gab, wann hat sie stattgefunden?
  4. Wo ist der Standort der Mühle, in welcher der alte Mann gestorben ist?
Antworten auf diese Fragen:
  1. Natürlich hat es diese ›Winterwanderung‹ nicht genau so gegeben wie sie in »Weihnacht!« geschildert wird. Dass Karl May die Gegend jedoch gut kannte und haargenau beschreibt, ist klar; man kann also getrost annehmen, dass er den nordwestlichen Teil Böhmens besucht hat, vielleicht während seiner Schulzeit, aber sicher während seiner ›zweiten Vagantenzeit‹ im Dezember 1869 und Anfang Januar 1870[9]. Eine ›Winterwanderung‹, allerdings nicht in der Gesellschaft eines ›Carpios‹, bleibt aber durchaus möglich. Man denke an die Epen Homers, die durch niemanden wirklich geglaubt wurden, bis Heinrich Schliemann durch die Entdeckung Trojas 1870 bewies, dass sie tatsächlich einen historischen Kern besaßen.
     
  2. Der bekannte Hohenstein-Ernstthaler Karl-May-Forscher Hans Zesewitz (* 23. Dezember 1888, † 26. Januar 1976) fand heraus, dass es an der Volksschule in Ernstthal einen Mitschüler Karl Mays gab, der Friedrich Wilhelm Garbe hieß und vom 26. Juli 1842 bis 30. Juni 1887 lebte. Sein Vater hieß Karl Heinrich Garbe und war Webergeselle; seine Mutter hieß Christiane Friederike Garbe, geb. Rost (!). Der Spitzname des jungen Garbe war ›Karpfen‹ und er sei ›etwas meschugge‹ gewesen[10]. Karpfen heißt auf Lateinisch cyprinus carpio. Es soll anscheinend zwei Garbes in Mays Klasse gegeben haben, aber Hartmut Schmidt bestätigte 1996, dass es sich hier um jenen Friedrich Wilhelm Garbe handelt[11].
    Walther Ilmer meint jedoch, dass ›Carpio‹ identisch sei mit dem jungen, schon damals verstörten Karl May[12]. Er glaubt nicht, dass es eine ›Winterwanderung‹ gegeben hat, mit oder ohne ›Carpio‹; vielmehr sei das im ersten Kapitel von »Weihnacht!« Beschriebene eine literarische Darstellung von Mays ›zweiter Vagantenzeit‹ im Dezember 1869 und Anfang Januar 1870. Roland Schmid hingegen glaubte an die ›Winterwanderung‹[13]. Es könnte sich dabei durchaus um eine Reise von Karl May allein handeln, denn: »Ein echter, wirklicher Schulkamerad und Jugendfreund ist mir nie beschieden gewesen.«[14] – Ich gehe in diesem Beitrag davon aus, dass es tatsächlich eine ›Winterwanderung‹ von zwei Personen, ›Carpio‹ und ›Sappho‹, gegeben haben könnte.
     
  3. ›Carpio‹ heißt in »Weihnacht!« mit bürgerlichen Namen jedoch Hermann Lachner, was eine literarische Freiheit des Dichters bedeutet. Die Person Friedrich Wilhelm Garbe mag zwar richtig beschrieben sein und Modell für ›Carpio‹ gestanden haben, die ›Winterwanderung‹ muss jedoch später stattgefunden haben. Karl May und Hermann Lachner werden angesprochen als ›Studenten‹, was auf eine Wanderung während Mays Seminarzeit hinweist; er besuchte die Volksschule in Ernstthal von Ostern 1848 bis Ostern 1856, als er also gerade 6 bzw. 14 Jahre alt war. Wie bekannt, besuchte er anschließend das Fürstlich-Schönburgische Lehrerseminar in Waldenburg von Ostern 1856 bis November/Dezember 1859 und das Vogtländische Schul-Lehrer-Seminar in Plauen vom Juni 1860 bis 12. September 1861. Denkbar für die Winterwanderung sind also die Weihnachtsferien 1856, 1857, 1858 und 1860, nicht aber 1859, denn nach seiner Entfernung vom Seminar in Waldenburg hat er bestimmt keine Lust verspürt, eine unbeschwerte Reise  zu machen. Es sei erwähnt, dass weder in der Ernstthaler Volksschule, noch in den beiden Seminaren ein Mitschüler namens Hermann Lachner verzeichnet ist.
    Aufschlussreich könnte Karl Mays Bemerkung, dass der Bremer Lloyd damals erst ein Jahr bestand[15], sein. Der Bremer Lloyd (offiziell Norddeutscher Lloyd) wurde am 12. Februar 1857 gegründet. In Betracht kämen damit die Weihnachtsferien 1857/58 – falls Karl May die zehn Monate auf ein Jahr aufrundete – oder die Weihnachtsferien 1858/59 – falls er davon ausging, dass der Lloyd noch keine zwei Jahre existierte. Dennoch spricht vieles aus örtlichen Gründen für Plauen, also 1860. Als er »Weihnacht!« verfasste, waren Jahrzehnte vergangen und er hatte sich beim raschen Schreiben möglicherweise nicht mehr exakt erinnert, in welchem Jahr seine Seminarzeit in Plauen war. In seinem zeitlichen Gedächtnis können sich die Jahreszahlen dementsprechend etwas verschoben haben.
     
  4. Die vierte und wichtigste Frage werde ich später beantworten. Erst folgen wir Karl May (›Sappho‹) und Hermann Lachner (›Carpio‹) auf ihrer Winterwanderung durch (Bayern und) Böhmen.

Reiseroute der Winterwanderung

Die Reiseroute der ›Winterwanderung‹, wie sie in »Weihnacht!« beschrieben wurde.[16]


Die Beiden starteten ihre Wanderung im Bayerischen Rehau. Das spricht für eine Wanderung während der Seminarzeit in Plauen, also 1860. Waldenburg war ja ein schönburgisches Lehrerseminar, ausschließlich mit Studenten aus dem schönburgischen Gebiet, also aus der Umgebung von Ernstthal; wozu trafen die Beiden sich dann in Rehau? Das hat nur Sinn, wenn ›Carpio‹ ein Bayer gewesen war, der aus einer anderen Richtung nach Rehhau gefahren war, denn im grenznahen sächsischen Seminar in Plauen konnten durchaus auch Schüler aus dem benachbarten Oberfranken studieren.

In Rehau gab es erst seit 1864 einen Bahnhof. Ob die Wanderung tatsächlich stattgefunden hat oder nicht, wissen wir nicht; dass sie bestenfalls eine Mischung aus Dichtung und Wahrheit ist, ist aber anzunehmen und daher ist es nicht verwunderlich, dass Karl May, als er 1897 »Weihnacht!« schrieb, nicht mehr wusste, ob Rehau damals schon einen Bahnhof hatte. Da er aber buchstäblich anmerkt, dass »unser Rendezvous das Städtchen Rehau in Oberfranken war«[17], ist es offensichtlich, dass sie mit der Bahn nach Rehau gefahren sind, weil sonst das Rendezvous überhaupt keinen Sinn gehabt hätte. Sie hätten anderenfalls genauso gut in Ernstthal ihre Wanderung beginnen können.

Es ist davon auszugehen, dass die Beiden den Heiligabend und den 1. Weihnachtstag im Familienkreis verbrachten, bevor die gemeinsame Wanderung begann. Mit Hilfe des heutigen Straßennetzes war man laut Google Maps mindestens neun Stunden und eine Viertelstunde von Ernstthal kommend unterwegs. Ich vermute deshalb, dass sie in Rehau übernachtet haben, denn vom Bahnhof Hohenstein-Ernstthal musste man erst einmal mit dem Zug nach Rehau fahren (heute mindestens 2,5 Stunden) und es war ja Winter, also früh dunkel.

Bahnhof von Rehau

Der Bahnhof von Rehau heute (2025)


Wenn man vom Rehauer Bahnhof ostwärts nach Asch (dem heutigen Aš) fährt oder wandert, kommt man unbedingt an der evangelisch-lutherischen Pfarrkirche St. Jobst vorbei, die aus dem 15. Jahrhundert stammt, und früher auch am alten Schulhaus, wo von 1712 bis 1727 der Schulmeister Johann Richter und seine Frau Margaretha Richter, geb. Hugo lebten, die Großeltern des Dichters Jean Paul.
 

Kirche in Rehau

Kirche in Rehau

 
Interessanter für zwei durstige Wandergesellen war aber unbedingt Gasthof Seifert, der schon seit etwa 1500 existiert; es könnte sein, dass sie hier übernachtet haben; oder vielleicht das gegenüber liegende Hotel und Restaurant Krone, das es auch schon seit mindestens dem 18. Jahrhundert gibt.
 

Gasthof Seifert, Rehau

Gasthof Seifert, Rehau.
 
 
Hotel und Restaurant Krone

Hotel und Restaurant Krone, Rehau.


12,6 Kilometer östlich von Rehau liegt das Böhmische Asch (das heutige Aš), ein freundliches Städtchen mit einem riesigen Rathaus. Laut Google Maps braucht man etwa drei Stunden um den Fußweg zwischen beiden Städtchen zu gehen.
 

Grenze

 
Von Schengen hatte damals noch niemand, außer ein paar Luxemburgern, gehört und so dürfte es bei der Grenze zwischen Bayern und Böhmen einen kleinen Aufenthalt gegeben haben, zumal die beiden Spitzbuben vier ganze Zigarren mitschmuggeln wollten.
 

Das Rathaus von Asch

Das Rathaus von Asch

 
Von Asch wanderten May und Lachner nach Eger (dem heutigen Cheb), etwa 23 km, ein fünfstündiger Weg. Eger ist heutzutage ein schmuckes Städtchen, aber Karl May gefiel es nicht und zwar nicht nur während der ›Winterwanderung‹, denn die ›Großstadt‹[18] sei zu teuer für Mays und Lachners bescheidenen Finanzen[19], sondern auch später nicht bei einem kurzen Besuch am 12. Juli 1897 mit seiner ersten Ehefrau Emma; er formuliert eine launige Gedichtsnotiz:

»Hier in diesem schmuzgen Eger
hält es selbst der schmiergste Neger
Keine halbe Stunde aus
Darum fahren wir nach Haus.«[20]

Diese Zeilen überraschen, wenn man Mays Gesinnung aus seinen Erzählungen Old Surehand, Im Lande des Mahdi und Die Sklavenkarawane kennt. Es sei deshalb darauf hingewiesen, dass damals ›Neger‹ auch eine andere Bedeutung als veraltetes Synonym für ›pleite oder mittellos‹ hatte:

»neger: geldlos, arm; vermutl. von dem Vergleich mit abgebrannt, schwarz« [Möglich ist eine] etymologische Herleitung über das Substantiv Neige f. [Überrest, Rückstand], mdal. ›néga‹«.[21]

Da sich die Formulierung ›schmierigster Neger‹ in Karl Mays Gesamtwerk überhaupt nicht findet, könnte es sich bei dem Vers also auch um ein Wortspiel handeln:

»Hier in diesem schmuzgen Eger
hält es selbst der heruntergekommeneste Landstreicher, pleite und mittellos (was sich in dieser Form natürlich nicht reimt),
Keine halbe Stunde aus
Darum fahren wir nach Haus.«

Wenn man sich Mays Situation, der sich 1869 auf der Flucht befand, vergegenwärtigt, könnte dies durchaus einen Sinn ergeben. Jedenfalls fühlte sich der kleine Mann aus Sachsen in Eger unwohl[22], aber es ist – wie gesagt, ein schmuckes Städtchen. Der Oberbefehlshaber der kaiserlichen Truppen im Dreißigjährigen Krieg, Albrecht Wenzel Eusebius von Wallenstein (tschechisch: Albrecht Václav Eusebius z Valdštejna), wurde hier am 25. Februar 1634 ermordet; Karl Mays Lieblingsdichter Friedrich (von) Schiller hat ihm ein literarisches Denkmal gesetzt.
 

Eger

Eger

Eger

Eger
 
Rathaus, barockes Patrizierhaus, Stöckl und das Haus, in dem Wallenstein ermordet wurde.


Wie dem auch sei, ›Carpio‹ und ›Sappho‹ wanderten weiter nach Tirschnitz, dem heutigen Tršnice, 5,7 km weiter, aber heute ein Stadtteil von Cheb, immerhin noch eine Strecke von fünf Viertelstunden zu Fuß.

Schräg gegenüber dem Bahnhof von Tischnitz steht auch heute noch ein Café-Restaurant, ein ehemaliges Hotel, in dem Karl May und Hermann Lachner die erste (zweite?) Nacht verbrachten. In diesem Hotel versteckten sie ihr Geld im Ofen, aus dem ›Carpio‹ das seinige wieder herausnahm, um es in seinem Bett zu verbergen, was er am nächsten Morgen allerdings wieder vergessen war.[23]
 

Der Bahnhof von Tirschnitz

Der Bahnhof von Tirschnitz.
 

Bahnhof, gesehen von der Caféterrasse

Die Straße entlang dem Bahnhof, gesehen von der Caféterrasse.


Am ersten Wandertag sind die beiden ›Studenten‹ also etwa 40 km oder 9 Stunden und eine Viertelstunde gewandert. Am zweiten (dritten?) Tag wanderten sie dann von Tirschnitz nach Falkenau an der Eger (Tschechisch bis 1948 Falknov nad Ohří), dem heutigen Sokolov nad Ohří. Eine Strecke von etwa 25 oder 26 km – es gibt mehrere Routen zwischen beide Städtchen – oder fünf Stunden per pedes apostolorum.

In Falkenau wollen sie in einer einfachen Herberge übernachten, aber ein freundlicher Polizist führt das Duo dann zum Gasthaus Steiniger (später Gasthaus Kremlink) am Alten Platz (heute: Staré náměstí) der Wirtsleute Franzl und Anna Scholz. Später an diesem Abend stellen sich noch drei neue Gäste ein: eine Frau, die sich Elise Wagner nennt, ihr Vater und ihr Sohn.[24]
 

Alter Platz, Falkenau

Alter Platz, Falkenau.
 

Das ehemalige Gasthaus Steiniger am Alten Platz in Falkenau

Das ehemalige Gasthaus Steiniger am Alten Platz in Falkenau.
 

Gedenktafel vom tschechischen Künstler Vitĕzslav Eibl

Diese Gedenktafel wurde vom tschechischen Künstler Vitĕzslav Eibl geschaffen und schmückt seit dem 22. September 2006 das ehemalige Gasthaus Steininger.

 
Am nächsten Tag fährt Franzl mit dem Schlitten zum Wallfahrtsort Maria Kulm[25], dem heutigen Chlum Svaté Maří, und nimmt Karl und Hermann mit.
 

Mariä-Himmelfahrt-Kirche
 
Mariä-Himmelfahrt-Kirche

Die Mariä-Himmelfahrt-Kirche (Kostel Nanebevzetí Panny Marie) in Maria Kulm.

   

Zurück in Falkenau stellt sich heraus, dass die drei Gäste ihre Schiffskarten gestern vergessen hatten. ›Carpio‹ und ›Sappho‹ erklären sich bereit, den drei nach Graslitz, dem heutigen Kraslice, nachzureisen, wo die Frau Wagner einen Verwandten hat.

Am vierten (fünften) Tag machen sich die beiden auf dem Weg, Frau Wagner, ihren Vater und Sohn einzuholen. Sie gehen erst nach Gossengrün (Krajkova), aber kehren erst einmal in ein Einkehrhaus außerhalb Falkenau ein, um nachzuschauen, was der gute Wirt Franzl ihnen mitgegeben hat.[26] Laut May betrug die Entfernung zwischen diesem Café und Gossengrün (Krajková) ungefähr eine Meile, die er und ›Carpio‹ in zwei Stunden zurücklegen. Dies ist nur möglich, wenn er als Entfernungsmaß eine österreichische Meile (7,586 Kilometer), eine deutsche Postmeile (7,5 Kilometer) oder eine geografische Meile (7,413 Kilometer) im Sinn hatte. Warum er dieses Maß verwendete, ist nicht ganz klar, da Österreich am 1. Januar 1871 und Sachsen am 1. Januar 1872 auf das metrische System umstellten. Das Buch »Weihnacht!« wurde jedoch 1896 geschrieben, aber wahrscheinlich wollte Karl May ein bisschen Authentizität aus den Jahren 1857–59 hinzufügen. Google Maps nennt 12 km zwischen Falkenau und Gossengrün; heutzutage ist der Ort Zwodau (das heutige Svatava) mehr oder weniger an Falkenau angebaut; die Entfernung zwischen diesem Zwodau und Gossengrün beträgt laut Google Maps 7,9 Kilometer, ein Fußmarsch von immerhin zwei Stunden, was genau übereinstimmt mit Mays Angaben. Das Einkehrhaus muss also in oder außerhalb Zwodau, dem Geburtsort von Ernst Mosch (ja, man befindet zich mitten im Egerland und Ernst Mosch gilt immer noch als Inbegriff der Egerländer Musik), gestanden haben.
 

Rathaus von Gossengrün

Das Rathaus von Gossengrün.

  
In Gossengrün erfahren die beiden ›Studenten‹, dass ein Viehhändler Frau Wagner und Verwandte mit seinem Wagen nach Bleistadt (das die Tschechen Oloví nennen) mitgenommen habe und dass der Händler, dessen Wagen sich auf mysteriöser Weise in einen Schlitten verwandelt hat, dort in einem Schenkhaus angehalten habe.[27]

Von Gossengrün nach Ober Bleistadt (tschechisch: Horní Oloví) sind es laut Google Maps noch 5,2 km, ein Spaziergang von einer Stunde und fünfzehn Minuten, aber wir sollten bedenken, dass Horní Oloví viel höher liegt, also lag hier schon zu Zeiten von Karl May und Hermann Lachner Schnee, sodass der Spaziergang leicht zwei Stunden hätte dauern können. Von diesem höher gelegenen Stadtteil bis zur eigentlichen Bleistadt kommen noch einmal 900 Meter hinzu.
 

Michaeliskirche

Die Michaeliskirche (Kostel svatého Michaela archanděla) in Horní Oloví.
 
 

Schenkhaus in Bleistadt

Das Schenkhaus in Bleistadt, an der ČS. Armády; Google Maps meint dazu:
»Dieser Ort ist eventuell geschlossen.« Google Maps hat eventuell recht.

  
Bleistadt (Oloví) war und ist nicht groß (am 31. Dezember 2024 wohnten 1.631 Menschen in diesem Ort) und darum finden die beiden das Schenkhaus, in dem der Händler abgestiegen ist, ziemlich schnell. Der Viehhändler ist sogar noch vor Ort, aber seine drei Passagiere sind weitergegangen, des Zwodau-Flüßchens entlang, immer noch in der Hoffnung, den Verwandten in Graslitz (dem heutigen Kraslice) vorzufinden. Der Viehhändler, der aus Graslitz stammt, hat Frau Wagner erzählt, dass jener Verwandte wegen Trunksucht arbeitslos geworden war und über alle Berge ist. Trotz dieser Mitteilung haben die drei ihren Weg nach Graslitz fortgesetzt. Der Vater der Frau Wagner sollte dieses Städtchen aber niemals erreichen.

Irgendwo zwischen zwischen Bleistadt und Graslitz hat eine Botenfrau eine alte, verfallene Mühle als Domizil ausgesucht: eine kleine, ärmliche, halb verfallene Schneidemühle, deren ziemlich defektes Räderwerk eingefroren war.[28] Es muss sich also um eine Wassermühle handeln.

Der alte Mann, Frau von Hillers Vater, stirbt in dem ärmlichen Gehäuse. Seinen Namen übermittelt Karl May uns nicht; vielleicht hieß der arme Kerl Wagner, da seine Tochter sich in Böhmen ja Elise Wagner nennt. ›Carpio‹ und ›Sappho‹ erreichen die verfallene Mühle gegen Abend. Kurz und gut, als der Vater in Anwesenheit von seiner Tochter, Enkel, der Botenfrau, ›Carpio‹ und ›Sappho‹ gestorben ist, überreicht Karl May Frau von Hiller die Schiffskarten und sein letztes Reisegeld; anschließend gehen beide Burschen zurück nach Bleistadt um eine Unterkunft für die Nacht zu suchen.

Damit ist die Frage, wo diese famose Mühle stand, immer noch nicht beantwortet. May äußert sich nicht ganz deutlich: ›Für das Begräbnis hat die Gemeinde zu sorgen, zu welcher diese Mühle gehört.‹[29] Auch Frau von Hiller gibt uns keine Antwort; Jahre später sagt sie zu Old Shatterhand: ›Vor mir stiegen steile, kahle, unbekannte Felsen auf, die kommenden Tage, die ich, schon jetzt vor Müdigkeit zusammenbrechend, erklimmen sollte, und welche Mittel hatte ich dazu?‹[30] Das mag zwar bildlich gemeint sein, aber wenn man diese Worte buchstäblich nimmt, kann man denken an die Felsen, die am linken Zwota-Ufer hoch über die heutige Straße 21042 ragen. Das bringt uns aber auch nicht viel weiter. Dennoch ist es mir gelungen, die Stelle, wo die Mühle einst gestanden hat, ausfindig zu machen.

Frau Wagner/von Hiller samt Vater und Sohn verfolgen ihre Route, des Zwodau entlang. Die Mühle ist eine Wassermühle und hat also am Ufer des Flüsschens gestanden. Dass die Botenfrau, die ihr weniges Geld verdient mit dem Botendienst zwischen Bleistadt und Graslitz, sich eine Unterkunft gesucht hat, die nicht etwa jenseits von Graslitz liegt, ist klar. Unverzichtbar bei der Suche nach der Wassermühle, in welcher Frau von Hillers Vater starb, war die phänomenale Website vodnimlyny.cz[31] Rudolf Šimeks, der geduldig und akribisch alle existierenden und verschwundenen Wassermühlen in der gesamten Tschechischen Republik kartierte, wofür ich aufrichtig dankbar bin.
 

Standort Mühle

Die Lage der ehemaligen Lindenhammer–Mühle. – OpenMap/OpenStreet.

 
Herr Šimek nennt 5 (ehemalige) Wassermühlen in Graslitz und nur eine zwischen den beiden Städtchen. Und gerade Letztere, die Lindenhammer Mühle (tschechisch: Lipovohamerský mlýn), genau 2,3 km vom Schenkhaus in Bleistadt entfernt, muss ›unsere‹ Mühle sein.

Karl May und Hermann Lachner erreichen die Mühle, wie gesagt, gegen Abend. In Falkenau (Sokolov) geht die Sonne am 21. Dezember um 16.29 Uhr unter, was in Bleistadt damals nicht viel anders gewesen sein dürfte. Dann stirbt der Vater. May schreibt nicht, wie lange die Sterbeszene dauert oder wie lange er und ›Carpio‹ in der Mühle bleiben, aber wir können von einer bis zwei Stunden ausgehen. Es ist ja durchaus unwahrscheinlich, dass Frau von Hillers Vater seinen Tod so inszenierte, dass er bis fünf Minuten nach Mays und Lachners Ankunft wartete und dann schnell seinen letzten Atemzug tat, sodass die Jungen fünf Minuten später wieder auf der Straße standen. Nehmen wir an, unsere beiden Studenten brechen gegen 20 Uhr auf und kehren nach Bleistadt zurück. Hätte die fragliche Mühle in oder bei Graslitz (Kraslice) gestanden, hätten sie 10,5 km nach Bleistadt laufen müssen, ein Fußmarsch, der laut Google Maps normalerweise 2,5 Stunden dauern würde. May gibt jedoch an, dass der Schnee dort bereits tief lag, sodass wir in diesem Fall von mindestens 3,5 Stunden ausgehen können. Von Graslitz kommend wären sie also erst gegen 22.30 Uhr in Bleistadt angekommen, um eine Unterkunft für die Nacht zu suchen. Da die Menschen früher, insbesondere in abgelegenen Bergdörfern, viel früher zu Bett gingen als heute, wäre das unmöglich und so kann man die Existenz einer Mühle in oder bei Graslitz mit Fug und Recht ausschließen. – Es muss sich also demnach um diese Lindenhammer Mühle handeln!

Und hier vermischen sich wieder Dichtung und Wahrheit. Karl May könnte diese Mühle im Dezember 1869 tatsächlich als Unterschlupf benutzt haben. Am 4. Januar wurde er in Algersdorf festgenommen, 175 km weiter östlich, drei oder vier Tagesmärsche entfernt. Er behauptete, unterwegs nach Görlitz zu sein, was von Rehau (Bayern) aus eine logische Route ergibt, wenn man das Königreich Sachsen umgehen will. Görlitz gehörte bis 1945 zu Niederschlesien. In Görlitz gab es Zugverbindungen u. a. nach Berlin und Breslau.

Herr Šimek berichtet, dass die Lindenhammer Mühle zwischen 1620 und 1848 als sogenannte ›Leibeigenenmühle‹ genutzt wurde; 1842 wird ein gewisser Antonín Habenzettel als Besitzer erwähnt. Was zwischen 1848 und 1930 mit der Mühle geschah, ist selbst dem gut informierten Herrn Šimek nicht ganz klar, aber es ist sicher, dass die Mühle 1930 nicht mehr in Betrieb war. Vielleicht sogar schon früher: Wenn die Mühle 1848 vom letzten bekannten Besitzer (Habenzettel) aufgegeben wurde, wäre sie tatsächlich 1857 oder 1858 ziemlich baufällig gewesen, was es plausibel macht, dass das Schaufelrad kaputt war, als May und Lachner die Mühle besuchten und dass die Botenfrau in das Gebäude eingezogen war, das (fast) zehn Jahre lang leer gestanden hatte. Nach 1946 wurde an der Stelle, wo einst die verfallene Mühle stand, ein Wachhaus errichtet, auch dieses Gebäude wurde später verlassen und verfiel.
 

Überreste Wachhaus

Die Überreste des Wachhauses, das nach 1946 an der Stelle der früheren Lindenhammer Mühle gebaut wurde.
Im Vordergrund das Flüsschen, das die Sudetendeutschen Zwodau nennen, die Tschechen jedoch Svatava;
die Quelle des Flüßchens liegt in Deutschland, wo man das Flüßchen Zwota nennt.
 

Überreste Wachhaus

Die Überreste des Wachhaus. Hier also lag die berühmte Mühle aus Karl Mays »Weihnacht!«.


Svatava, Zwodau oder Swota bei Graslitz

Die Svatava, Zwodau oder Swota bei Graslitz

 
Wie gesagt, nennt Herr Šimek sechs Mühlen in oder bei Graslitz. Glücklicherweise hat er, wie auch ich, Fotos von den heutigen Zustand vor Ort gemacht, was das Suchen erheblich erleichterte.
 

Hussenmühle

 
An der Stelle vor dem blauen Schuppen (Adresse: ulice 5. Května) stand einst die Hussenmühle (Herr Šimek nennt keinen tschechischen Namen). Die Mühle war mindestens von 1764 bis 1963 ununterbrochen in Betrieb und kann daher während der Winterwanderung von ›Carpio‹ und ›Sappho‹ sicherlich nicht verfallen gewesen sein. Die Mühle wurde erst 2008 abgerissen.

Manche Forscher halten es für möglich, dass Karl May all diese böhmischen Orte erst während seiner ›zweiten Vagantenzeit‹ 1869–1870 kennen gelernt hat, doch auch dann noch war die Mühle noch voll in Betrieb und kommt also nicht in Frage.
 

Korbmühle


Bis 1885 stand dort, wo heute ein zweites blaues Gebäude an der Hradební steht, die Korbmühle (Herr Šimek nennt keinen tschechischen Namen); diese Mühle konnte also weder während ›Carpios‹ und ›Sapphos‹ Winterwanderung noch während Karl Mays ›zweiter Vagantenzeit‹ 1869–1870 verfallen gewesen sein.

Herrnmühle


Zwischen den Hochäusern auf der rechten Seite stand die Herrnmühle (tschechisch: Panský mlýn). Die Mühle war mindestens bis 1938 in Betrieb, daher kann auch diese Mühle während ›Carpios‹ und ›Sapphos‹ Winterwanderung und während Karl Mays ›zweiter Vagantenzeit‹ 1869–1870 unmöglich verfallen gewesen sein.
 

Zulegermühle

 
Die Zulegermühle (Herr Šimek nennt keinen tschechischen Namen), benannt nach ihrem Besitzer im Jahr 1842, Václav Zuleger, war mindestens bis 1938 als Mühle in Betrieb und konnte daher weder während der Winterwanderung von ›Sappho‹ und ›Carpio‹ noch während Karl Mays ›zweiter Vagantenzeit‹ 1869-1870 verfallen gewesen sein. Im Gegensatz zu vier von den anderen fünf Graslitzer Wassermühlen existiert das Gebäude noch, dient heute aber als Wohnhaus.
 

Räumer Mühle

 
Die Räumer Mühle (Herr Šimek nennt keinen tschechischen Namen) wird ebenfalls nach einem ihrer früheren Besitzer benannt sein. Die Mühle war mindestens bis 1881 in Betrieb und kann daher weder während der Winterwanderung von ›Carpio‹ und ›Sappho‹ noch während Karl Mays ›zweiter Vagantenzeit‹ (1869-1870) verfallen gewesen sein. Irgendwann zwischen 1907 und 1930 wurde die Mühle abgerissen, um Platz für die Fabrikgebäude der Blasinstrumentenfirma Bohland & Fuchs zu schaffen.

Wie die auf dem vorherigen Foto abgebildete Zulegermühle lag auch die Räumer Mühle nicht an der Zwodau (Svatava), sondern am Střibný Potok, einem Nebenfluss der Zwodau. Frau von Hiller hatte geplant, der Zwodau nach Graslitz zu folgen, was aber natürlich nichts über ihre Route in Graslitz selbst aussagt.

Eine sechste und letzte Mühle in Graslitz war die Knappschaftsmühle, die ich nicht fotografiert habe. Aber auch sie war 1881 noch in Betrieb; der Name Knappschaftsmühle lässt darauf schließen, dass sie dem Bergwerk diente. Das Gebäude am Bublavský potok existiert heute noch, wird aber schon lange nicht mehr als Mühle genutzt.

Fazit: Die Mühle, in der Frau von Hillers Vater seinen letzten Atemzug tat, muss daher die Lindenhammer Mühle bei Bleistadt sein.

 



  
Anmerkungen
    

[1] Karl May: »Weihnacht!«, Freiburg 1897, S. 63. – Karl May »Weihnacht!«, Historisch-kritische Ausgabe, Nördlingen 1987, S. 60

[2] Ebd., S. 25–27. – Ebd., S. 28–30.

[3] Ebd., S. 94. – Ebd., S. 85.

[4] Ebd., S. 96. – Ebd., S. 87.

[5] Ebd., S. 100–106. – Ebd., S. 90–96.

[6] Ebd., S. 107. – Ebd., S. 96.

[7] Ebd., S.107–108. – Ebd., S. 97.

[8] Ebd., S. 110–113, – Ebd., S. 98–101.

[9] Vgl. Klaus Hoffmann: Karl May als »Räuberhauptmann« oder Die Verfolgung rund um die sächsische Erde. Karl Mays Straftaten und sein Aufenthalt 1868 bis 1870, 1. Teil. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1972/73, Hamburg 1972, S. 215–247. Ferner: https://karl-may-wiki.de/index.php/Zweite_Vagantenzeit. Abgerufen am 1. Dezember 2025.

[10] Hans-Dieter Steinmetz (Hrsg.): Karl May in Hohenstein-Ernstthal 1921–1942, Bamberg/Radebeul 2016, S. 28.

[11] Hartmut Schmidt: »Ich war mit fünf Jahren in die Schule gekommen …«. Anmerkungen zum Hauptbuch der Ernstthaler Knabenschule, Karl-May-Haus Information Nummer 9/1996, S. 7–12.

[12] Walther Ilmer: Karl Mays Weihnachten in Karl Mays »Weihnacht!« II. Eine Spurenlese auf der Suche nach Fährten. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1988, Hamburg 1988, S. 210.

[13] Roland Schmid: Nachwort zu Am Jenseits, In: Karl May: Freiburger Erstausgaben. Bd. XXV. Hrsg. von Roland Schmid, Bamberg 1984, N 3.

[14] Karl May: Mein Leben und Streben, Freiburg 1910, S. 53.

[15] Karl May: »Weihnacht!«, wie Anm. 1, S. 108. – HKA, wie Anm. 1, S. 98.

[16] https://www.google.com/maps/. Abgerufen am 13. Dezember 2025.

[17] Karl May: »Weihnacht!«, wie Anm. 1, S. 25. – HKA, wie Anm. 1, S. 28.

[18] Eger hatte am 31. Dezember 1857 11.012 Einwohner.

[19] Karl May: »Weihnacht!«, wie Anm. 1, S. 25. – HKA, wie Anm. 1, S. 29.

[20] Zitiert nach Dieter Sudhoff und Hans-Dieter Steinmetz, Karl-May-Chronik, Band II: 1897–1901, Bamberg/Radebeul 2005, S. 69.

[21] https://noemix.wordpress.com/2019/10/27/etymologisches-aus-der-reihe-ositanisch-fur-auserosische/. Abgerufen am 14. Dezember 2025.

[22] Auch in Karl Mays Kolportageroman Der Weg zum Glück (1886–88) wird Eger in einem negativen Zusammenhang gebracht. Der österreichische Baron Friedrich von Alberg (Pseudonym Curt von Walther) ließ in Eger – im Weg zum Glück ›Bad‹ Eger genannt (vielleicht eine Anspielung auf den nur wenige Kilometer entfernten Kurort Franzensbad?) – seine ehemalige Freundin Hiller sitzen, als sie von ihm ein Kind, Max Walther, erwartete. Die Vaterschaft hat er nie offiziell anerkannt. Auffällig ist hier die Namensgleichheit mit der Frau von Hiller in Falkenau.

[23]  Karl May: »Weihnacht!«, wie Anm. 1, S. 41ff. – HKA, wie Anm. 1, S. 42ff.

[24] Ebd., S. 42ff. – Ebd., S. 42ff.

[25] Ebd., S. 94. – Ebd., S. 85.

[26] Ebd., S. 100–106. – Ebd., S. 90–96.

[27] Ebd., S. 107. – Ebd., S. 96.

[28] Ebd., S. 109. – Ebd., S. 98.

[29] Ebd., S. 114. – Ebd., S. 102.

[30] Ebd., S. 163. – Ebd., S. 143.

[31] https://www.vodnimlyny.cz/. Abgerufen am 5. August 2025.

 


 

Erinnerungsstätten an Karl May

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