Lieferung 70

Karl May

26. November 1887

Der Weg zum Glück.

Vom Verfasser des »Waldröschen«, »Verlorner Sohn«, »Deutsche Helden« etc.


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»Du scheinst wirklich fest entschlossen, keinerlei Rücksicht gegen Deinen Vater walten zu lassen.«

»Ja, das bin ich. Eine jede That verpflichtet zur Tragung der Folgen, welche aus ihr entspringen. Wer den Muth besitzt zu sündigen, muß auch den Muth haben, die Strafe auf sich zu nehmen. Ich bin keineswegs gewillt, der Mitschuldige dessen zu werden, welcher sich zwar mein Vater nennt, aber niemals väterliche Gefühle für mich besessen hat. Wie oft habe ich bedauert, meine Mutter verloren zu haben. Heut aber preise ich Gott, daß er sie zu sich genommen hat. Ihr ist dadurch großes Herzeleid erspart worden. Nun bin ich es allein, die die schwere Last zu tragen hat, im Vater einen gewissenlosen Verbrecher erkennen zu müssen. O, Mutter, Mutter, meine liebe, gute Mutter!«

Sie faltete die Hände über die Brust und brach in Thränen aus. Mehr um sie von ihrem Herzeleid abzubringen als aus wirklicher Neugierde, sagte Frau Holberg:

»Ich möchte sie wohl gekannt haben.«

»Sie ist eine schöne Frau gewesen. Ihr Aeußeres hat aber unter dem fortwährenden stillen Kummer, den sie zu tragen hatte, nothwendiger und begreiflicher Weise sehr gelitten. Ihr Miniaturbild hast Du ja wohl gesehen?«

»Du hast es mir gezeigt.«

»Aber das größere noch nicht. Komm in mein Bureau, Du sollst es sehen.«

Sie nahm die Lampe und schritt voran, nach einem größeren Zimmer, welches in demselben Corridor lag. Dort traten sie ein und zogen die Thüre hinter sich zu.

Milda hatte zwar den Befehl gegeben, Keilberg ein Zimmer anzuweisen, doch war es ihr nicht als nöthig erschienen, ein gewisses Zimmer zu bezeichnen. Er sollte bewacht werden. Aus diesem Grunde hatte ihn der Hausmeister in ein einfenstriges, kleines Zimmer geführt, welches auch in dem Corridor lag. Hier war die Dienerschaft stets vorhanden, und darum konnte er leichter und unauffälliger beobachtet werden.

Zufälliger Weise nun stieß dieser sein gegenwärtiger Aufenthalt an das Bureau, in welches die Beiden traten.

Er hatte ein Abendmahl erhalten. Eben saß er beim Essen, als er drüben die Thür gehen hörte. Er vernahm die Schritte der Zwei ganz deutlich, obgleich ein großer weicher Teppich dieselben dämpfte und Damen gewöhnlich leiser auftreten als Männer. Der Grund davon war, daß es eine Verbindungsthür zwischen den beiden Räumen gab.

Sein Blick richtete sich unwillkürlich auf diese Thür und er sah, daß der Schlüssel an seiner Seite steckte. Er trat rasch und leise hinzu, zog unhörbar den Schlüssel ab und blickte durch das Schlüsselloch.

Er sah die Schloßherrin, welche die Lampe auf einen Tisch setzte. Neben


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derselben stand eine ältere Dame. Sie sprachen miteinander. Er hörte deutlich jedes Wort.

»Ich habe das Bild noch nicht aufgehängt,« sagte Milda. »Ich war im Zweifel darüber, welchen Platz ich demselben geben müsse. Nun liegt es noch da im Depositenschranke. Den Schlüssel habe ich einstecken.«

Sie zog denselben aus der Tasche und trat zu dem erwähnten Schranke.

Er war ganz aus starkem Eisenblech gearbeitet, nach der Art der feuerfesten Geldschränke, aber noch einmal so breit als einer derselben. Er stand grade gegenüber der Thür, an welcher Keilberg lauschte. So klein das Schlüsselloch war, der Mensch konnte deutlich sehen, was drüben vorging.

Milda öffnete den Schrank. Es dauerte eine längere Weile, bevor sie den Schlüssel ansteckte. Sie griff mit der linken Hand am Schlosse herum. Jedenfalls war dort ein sogenannter Vexir- oder Sicherheitsapparat angebracht, welcher es einem Fremden, selbst wenn dieser den richtigen Schlüssel besaß, unmöglich machte, den Schrank zu öffnen.

Als die beiden Thüren des Letzteren offen waren, nahm Milda das sorgsam eingeschlagene Porträt ihrer Mutter heraus, entkleidete es der Umhüllung und stellte es so, daß der Schein des Lichtes voll auf dasselbe fiel.

»Das ist sie, das?« sagte Frau Holberg. »Ja, hier ist sie deutlicher und sprechender als auf dem kleinen Elfenbeingemälde. Du siehst ihr außerordentlich ähnlich.«

»Wirklich?«

»Ja, nur daß Deine Züge etwas mehr eigenen Willen und Energie verrathen.«

»Möglich. Leider hatte sie niemals einen eigenen Willen gehabt. Sie war ein weiches, liebebedürftiges, anschlußsuchendes Gemüth. Sie konnte für und in Jemand ganz und gar aufgehen. Das ist ihr Unglück gewesen. Hätte sie mehr Selbstständigkeit besessen, so wäre sie dem Vater wohl öfters entgegengetreten, und der Kummer hätte sie nicht so schnell aufreiben können.«

Sie kniete vor dem Stuhle nieder, auf welchen sie das Porträt gestellt hatte, drückte dasselbe mit beiden Armen an ihre Brust, grad so als ob sie die Mutter lebend vor sich habe und dieselbe umarmen wollte, und sagte dann in tiefster Betrübniß:

»Meine Mutter! Was würdest Du jammern und klagen, wenn Du heut noch lebtest und das Fürchterliche erfahren hättest. Nun aber weilst Du droben bei Gott unter den Seligen, und kein irdisches Leid kann Dich noch anfechten. Blicke auf mich herab, und bitte den Allgütigen, daß er mir Kraft verleihen möge, diesen Seelenjammer zu ertragen und zu überwinden!«

Da legte Frau Holberg die Hand zärtlich auf ihre Schulter und sprach:

»Ja, sie ist bei den Seligen; aber hier unten hast Du eine Andere, welche Dich mit innigster Mutterliebe empfängt und Dir gern helfen wird, den Gram zu besiegen.«

»Ja, ich habe ja Dich!«

Sie erhob sich und schlang ihre Arme um die Frau, welche durch den-


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selben Mann so unglücklich geworden war. Beide weinten vereint Thränen des Schmerzes und - der Liebe.

Als Milda dann das Bild wieder in den Schrank zurücklegte, fiel ihr Blick auf einige andere in demselben befindliche Gegenstände.

»Das ist mein Kassenschrank,« sagte sie. »Grade jetzt befinden sich ganz bedeutende Summen darin, welcher ich zum Ausbau und zur Einrichtung des Schlosses bedarf. Aber außerdem verbirgt er noch Kostbarkeiten, welche von weit höherem Werthe sind. Hier in diesem Kasten liegen zum Beispiel die Brautjuwelen meiner Mutter. Es ist ihr letzter Wille gewesen, daß ich den Schmuck bei meiner Vermählung zum ersten Male trage.«

»Wann wird das sein?« fragte Frau Holberg lächelnd.

»Wohl nimmer.«

»Willst Du ledig bleiben oder in das Kloster gehen?«

»Das Letztere wäre gar nicht so unmöglich, wie Du vielleicht denken magst. Wenn ein Vater in dieser Weise sündigt, so hat seine Tochter gar wohl Veranlassung, eine Braut des Himmels zu werden, um bei Gott für ihn um Gnade und Nachsicht zu bitten.«

»Kind, das ist doch nicht Dein Ernst?« fragte die Bürgermeisterin fast erschrocken.

»Erschrick nicht! Ich habe noch nicht daran gedacht. Nur Deine Frage brachte mich zu dieser Antwort. Aber ob ich jemals die Braut eines Mannes werde, das möchte ich bezweifeln.«

»Warum?«

»Weil ich mir die Eigenschaften nicht zutraue, welche nothwendig sind, einen Mann glücklich zu machen.«

»Du? Du solltest diese Eigenschaften nicht besitzen!«

»Wohl kaum.«

»Ich bin im Gegentheile überzeugt, daß sie im höchsten Grade Dein Eigen sind.«

»Mein liebes, neues Mütterchen, da möchtest Du Dich wohl täuschen!«

»Wohl kaum!«

»O doch! Eben weil Du mein neues Mütterchen bist, mein neues, kennst Du mich noch viel zu wenig. Lerne mich nur erst richtig kennen, so wirst Du mir Recht geben.«

»Und ob ich Dich kenne. Weißt Du, wer die größte Lehrmeisterin in Beziehung der Menschenkenntniß ist?«

»Wohl Du?«

»O nein. Die Liebe ists. Und weil ich Dich so herzlich liebe, kenne ich Dich genau. Ich denke und fühle mit Dir. Deine Gedanken und Regungen sind mir so offenbar, als ob sie die meinigen wären. Nein, Du täuschest Dich in Dir selbst. Wenn Eine die Eigenschaften besitzt, welche dazu gehören, einen Mann glücklich zu machen, so bist Du das!«

»Ja, ich höre, daß Du mich lieb hast, denn Du beurtheilst mich mit der


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Nachsicht einer Mutter. Ich aber kenne mich besser. Ich habe meine Jugend in Einsamkeit verbracht, weil, weil -«

Sie hielt erröthend inne.

»Weil -? Nun, warum?«

»Das möchte ich lieber nicht sagen.«

»Sage es nicht; ich weiß es doch.«

»Du kannst es nicht wissen. Ich habe ja davon zu Dir gar nicht gesprochen.«

»Und dennoch weiß ich es.«

»Willst Du allwissend sein?«

»Nein, aber ich kenne Deinen Vater und in Folge dessen ist es mir leicht, es zu errathen. Du bist schön und -«

»Schweig!« bat Milda verschämt, indem sie ihr die Hand auf den Mund legte.

»Warum soll ich darüber schweigen? Du bildest Dir nichts auf die Schönheit ein, die doch nur eine unverdiente Gnadengabe Gottes ist. Ja, Du bist schön, schöner als tausend Andere. Du bist reich und in sehr schlauer Berechnung hat Dein Vater sehr viel auf die Bildung Deines Geistes verwendet. Das Gemüth hat er dabei ganz außer Acht gelassen. Hättest Du nicht dasjenige Deiner Mutter geerbt, so würdest Du jetzt ein ganz herzloses, prahlerisches Dämchen sein. Ich wollte eben sagen, daß Dein Vater einer Berechnung gefolgt ist, bei welcher er eben einen sehr wichtigen Factor außer Acht gelassen hat, nämlich Dein gutes, reines Herz. Er hat Dich in tiefster Einsamkeit gehalten, um dann, wenn er Dich ins große Leben einführt, mit Dir desto größere Furore zu machen. Ists nicht so?«

»Jawohl, und vielleicht gar noch schlimmer. Er hatte Pläne entworfen, zu deren Erfüllung ich ihm die Hand bieten sollte. Aber das hat den Bruch zwischen ihm und mir herbeigeführt. Ich hasse den eitlen Glanz, die Hohlheit und Leerheit des Lebens in der sogenannten großen Welt. Mein Leben soll besseren, würdigeren Zwecken gewidmet sein. Niemals könnte ich einen Mann glücklich machen, welcher seine Aufgabe darin sucht, in jenen Kreisen zu brilliren. Und soll ich mir einen Mann in tieferen Sphären suchen? Vielleicht würde ich ihn finden. Aber darf ein Mädchen überhaupt suchen? Sie muß gesucht werden und ein Mann, der seiner äußeren Stellung nach tief unter mir steht, wird es nicht wagen, seine Hand nach mir auszustrecken. Darum und eben denke ich, daß ich ledig bleiben werde und daß dieser Brautschmuck - o lassen wir das. Ich will ihn Dir lieber einmal zeigen.«

Keilberg zitterte förmlich auf seinem Lauscherposten. In diesem Schranke befanden sich große Summen, ein noch höherer Werth an Juwelen. Ah, wer da einen schnellen, kühnen Griff thun könnte!

Er sah durch das Schlüsselloch, daß Milda ein ziemlich großes Ebenholzkästchen aus dem Schranke nahm und dasselbe öffnete. Es enthielt mehrere Etuis, in denen die einzelnen Gegenstände des Schmuckes auf dunkelsammetner Unterlage ruhten. Das schöne Mädchen zeigte der mütterlichen Freundin Alles,


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das Brautdiadem, das prächtige Collier, die Armbänder, Ringe, Brochen und Diamantgehänge. Das funkelte und glitzerte im Lampenschein, daß dem Lauscher die Augen übergingen.

Dann legte sie Alles in das Kästchen zurück und stellte dasselbe in den Schrank.

»Und hier habe ich das größte Kleinod, welches Mutter mir hinterlassen hat, nämlich das Tagebuch, welches sie in den letzten Jahren vor ihrer Vermählung geführt hat. Es ist darin zu lesen, auf welche Weise sie ihren Mann, meinen Vater, kennen gelernt hat. Möchtest Du das nicht gern wissen?«

»Es müßte freilich sehr interessant sein, es zu erfahren.«

»So nehmen wir es jetzt mit auf mein Zimmer. Ich lese es Dir vor. Du hast doch Zeit dazu?«

»O, sehr gern, mein liebes Kind. Ich kann versichern, daß -«

Sie wurde unterbrochen. Die Zofe trat ein und meldete, daß ein Bote vom Herrn Lehrer Max Walther gekommen sei, der Etwas abzugeben habe.

»Das muß sehr nothwendig sein,« sagte Milda. »Er kommt nicht selbst und sendet einen Boten. Ich komme gleich.«

Sie ging mit der Zofe hinaus. Es verging eine kurze Weile, dann öffnete sie von Außen die Thür und rief in erregtem Tone hinein:

»Komm schnell herüber in mein Zimmer. Es ist wirklich etwas höchst, höchst Wichtiges.«

»Willst Du nicht erst hier abschließen?« bemerkte die vorsichtige Frau.

»Komm nur, komm. Es ist sehr wichtig. Ich schließe nachher ab. Unter meinen Leuten giebt es keinen Dieb.«

Frau Holberg folgte ihr. Der Bote war wieder fort, aber das Couvert, welches er gebracht hatte, lag auf dem Tische. Milda hielt den Inhalt desselben in ihrer Hand. Ihr Gesicht war noch bleicher als vorher und in ihren Augen lag ein geisterhafter Glanz. Man hätte sich vor ihr fürchten können.

Frau Holberg sah das und erschrak.

»Kind, was hast Du? Was ist mir dir? Was machst Du für ein Gesicht?«

Milda befand sich allerdings in einem ganz ungewöhnlichen Seelenzustande. Ihre Stimme, als sie jetzt antwortete, klang förmlich rauh, als ob die Silben nur mit aller Anstrengung über die Lippen gebracht werden könnten.

»Ich - ich - ich habe auch - - auch alle Veranlassung dazu,« sagte sie.

»So theile Dich mir mit! Schnell, schnell! Dann wirst Du die Last los!«

»Eine Last? O, es ist mehr, weit mehr als eine Last. Mutter, jetzt kannst Du beweisen, daß Du wirklich meine Mutter sein willst!«

»Daran ist ja gar kein Zweifel. Sprich nur! So rede doch!«

»Hast Du vielleicht in Deiner Wohnung ein kleines Zimmerchen übrig, ein ganz kleines Zimmerchen?«


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»Wozu?«

»Für ein armes, blutarmes Mädchen, welches zu Dir ziehen und bei Dir wohnen möchte!«

»Das könnte ich wohl beschaffen. Aber wer ist dieses Mädchen? Vielleicht wohl ein Schützling von Dir?«

»Nein. Ich - ich - ich bin es selbst.«

»Du?! Kind, was fällt Dir ein! Was redest Du für Zeug.«

»Es ist so; es ist in Wirklichkeit so. Du nanntest mich vorhin ein reiches Mädchen. O Gott, wenn Du wüßtest, wie reich, wie unendlich reich ich bin.«

Sie sprach das in qualvollster Selbstironie aus. Frau Holberg schüttelte den Kopf und sagte:

»Ich verstehe kein Wort. Bitte, erkläre Dich deutlicher!«

»Kann ich es deutlicher sagen? Ich bin arm, ärmer als die Aermste auf Gottes Erde!«

»Du, die Besitzerin dieser reichen Herrschaft, dieses Schlosses, der Geldsummen und Juwelen, welche wir uns soeben erst betrachtet haben.«

»Das gehört Alles nicht mir.«

»Wem denn? Deinem Vater?«

»Nein. Er hat es gestohlen.«

»Gott! Redest Du vielleicht irre?«

»Nein, es ist so.«

»Beweise es, beweise es.«

»Hier ist der Beweis.«

Sie deutete auf die Papiere, welche sie in der Hand hielt.

»Es kann nicht wahr sein. Du mußt und mußt Dich irren.«

»Nein, es ist wahr. Mutter selbst schreibt es mir.«

»Es ist eine Täuschung, anders nicht.«

»Nein, es ist gar kein Zweifel möglich!«

»Aber wem soll das Alles gehören?«

»Jener Familie - mein Gott, was haben wir an dieser Familie Alles gut zu machen! Jener Familie Sandau gehört Alles.«

»Wieder und wieder diese Sandaus!«

»Ja. Du weißt doch, daß ich ein erst kürzlich aufgefundenes Schreiben meiner Mutter nicht vollständig lesen konnte, weil die Schrift verblaßt war?«

»Ja. Du hast es Max mitgegeben.«

»Er hat die Schrift chemisch aufgefrischt und schickt es mir jetzt zu. Dabei schreibt er mir Folgendes:«

Sie nahm einen kleinen Briefbogen, welcher mit im Couverte gesteckt hatte, und las:

          »Mein liebes Schwesterchen!
   Soeben zeigt sich die Wirkung des Verfahrens, welchem ich die Schrift Deiner seligen Mutter unterworfen habe. Es ist mir gelungen, die Züge so aufzufrischen, daß sie so gut zu lesen sind, als ob sie erst gestern geschrieben


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worden wären. Freilich bin ich über den Inhalt ebenso erschrocken, wie auch Du erschrecken wirst. Aber ich habe einen Trost. Ich kenne Dein starkes, tapferes Herz und bin überzeugt, daß Du aus dem inneren Kampfe siegreich hervorgehen wirst.
   Ich wollte Dir heute die Zeilen selbst bringen, um bei Dir sein zu können mit meinem brüderlichen Rathe. Leider aber haben wir grad heute Abend eine sehr nothwendige Besprechung in Beziehung des Processes gegen den Silberbauer und so kann ich nicht kommen. Da mir aber der Inhalt des Schreibens so sehr wichtig erscheint, darf ich Dir denselben keinen Augenblick vorenthalten und so sende ich Dir das Vermächtniß Deiner guten Mutter durch einen Boten.
   Es ist anzunehmen, daß meine Mutter sich bei Dir befindet, wenn Du meine Zeilen erhältst. Das tröstet mich, denn ihr Beistand wird Dich aufrichten und Dir die Beruhigung geben, welche ich Dir durch meine Gegenwart doch wohl nicht in dieser Weise bringen könnte. Morgen komme ich ganz gewiß. Bis dahin wirst Du zu einem Entschlusse gekommen sein, den zu vernehmen sehr wißbegierig ist
          Dein Bruder Max Walther.«

Sie hatte gelesen und legte den Brief auf den Tisch. Ihr Auge war dunkel und mit einem unbeschreiblichen Blicke auf Frau Holberg gerichtet. Diese sagte:

»Das, das schreibt Max! Kind, das klingt freilich Unglück verheißend!«

»Und doch ist das, was er meint, noch viel schlimmer, als man ahnen möchte.«

»Was ists? Sage es; laß es mich wissen. Komm her aufs Sopha! Setzen wir uns nieder. Bitte, bitte, Milda!«

Das Mädchen ließ sich von ihr auf das Sopha ziehen und faltete dann das Schreiben ihrer Mutter auseinander.

»Den Inhalt, so weit er zu lesen war, kennst Du bereits. Nun aber kommt das Weitere, welches erst jetzt zu enträthseln ist.«

»Lies es vor! Schnell! Ich kann es kaum erwarten!«

»So höre!«

Ihre Lippen waren vollständig blutleer, und ihr Gesicht besaß nicht die mindeste Spur von Farbe. Sie las langsam und mit tonloser Stimme:

»Ich bin Theilhaberin an einem großen Verbrechen geworden und kann nicht von hinnen gehen, bevor ich es von meiner Seele gewälzt habe.
   »Leider ist meine Liebe zu Dir so groß, daß ich nicht den Muth finde, es sofort zu sühnen. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß Du, wenn ich von Dir geschieden bin, in Armuth und Hunger und Elend versinken sollst. Darum sollst Du es erst später erfahren. Wenn dann diese Zeilen in Deine Hände gerathen, dann bist Du wohl erwachsen und auch stark genug, das Unvermeidliche zu tragen. Wenn dadurch Anderen ein verlängertes Unrecht geschieht, so wird Gott, der Allgütige, mir verzeihen. Ich kann nicht anders. Ich will wenigstens dafür sorgen, daß Deine Jugend ungetrübt von den ordi-


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nären Sorgen des Lebens sei und Dir die Mittel zur Verfügung stehen, Dir diejenige Bildung und die Kenntnisse anzueignen, mit deren Hilfe Du Dir einen Weg zu bahnen vermagst, wenn Du erfährst, daß Du eigentlich ein armes Mädchen bist.
   »Wie Du weißt, wurde ich mit meiner Cousine Emilie von Sendingen bei einer alten steinreichen Tante erzogen. Sie hatte uns Beide gleich lieb und beabsichtigte in Folge dessen, uns an ihrer einstigen Hinterlassenschaft zu gleichen Theilen theilnehmen zu lassen.
   »Da wurde uns der Baron von Alberg vorgestellt. Die Tante konnte ihn nicht leiden. Sie hegte kein Vertrauen zu seinem Character. Er machte Emilien den Hof. Sie aber wies ihn ab und vermählte sich später mit dem Herrn von Sandau, welcher zunächst ganz glücklich mit ihr lebte, dann aber das Vertrauen seiner Vorgesetzten in wirklich schmachvoller Weise täuschte und demnach auf das Strengste bestraft wurde.
   »Auf mich dagegen hatte das glatte, gewandte Wesen Albergs einen solchen Eindruck gemacht, daß ich beschloß, selbst gegen den Willen der Tante seine Frau zu werden. Sie rieth mir ab; ich aber hatte keine Ohren für ihre Vorstellungen und blieb fest in den Banden des Mannes, welcher es verstanden hatte, mich so für sich zu gewinnen, daß ich bereit war, ihm Alles zu opfern.
    »Noch am letzten Tage sagte mir die Tante, daß sie dafür sorgen müsse, daß ihr Vermögen nicht in die Hände dieses Mannes gerathe. Sie enterbte mich und setzte ihr Testament in meiner Gegenwart auf. Die Zeugen, welche sie geladen hatte, unterschrieben es, und sie verwahrte es in der eisernen Schatulle, in welcher sie ihre Kostbarkeiten aufzuheben pflegte.
   »Natürlich erzählte ich dies Alberg. Er lachte darüber und tröstete mich mit der Versicherung, daß er mich um meiner selbst willen liebe und nicht um des Vermögens willen heirathe. Emilie von Sendingen wurde zur Universalerbin erklärt; ich war enterbt und wurde Albergs Frau.
   »Wie sehr ich mich in ihm getäuscht hatte, das sollte ich sehr bald bemerken. Er hatte von großen Gütern gesprochen, welche sein Eigenthum seien, von einer glänzenden Carrière, welche er machen werde - es war Alles erlogen. Er besaß nichts und war nichts als nur - ein routinirter, professioneller Spieler. Er lebte davon, Anderen im Hazard das Geld abzunehmen.
   »Was ich da gelitten und ausgestanden habe, das kann ich Dir unmöglich beschreiben. Glücklicher Weise oder vielmehr leider sollte sich wenigstens unsere pecuniäre Lage bald in eine bessere, ja sogar glänzende verwandeln. Die Tante starb. Ihr Testament wurde gefunden und eröffnet. Sie hatte - mich zur Universalerbin eingesetzt. Denke Dir mein freudiges Erstaunen!
   Herr von Sandau, welcher damals noch Officier war, focht das Testament an. Er wußte ganz genau, daß die Tante seine Frau und nicht mich hatte zur Erbin einsetzen wollen. Er brachte Zeugen vor, zu denen sie noch kurz von ihrem Tode gesagt hatte, daß ich enterbt worden sei - es half ihm nichts. Emilie erhielt keinen Pfennig. Ich wollte ihr freiwillig eine Summe auszahlen lassen, aber das gab mein Mann nicht zu.


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   »Das Testament war unanfechtbar gewesen. Es hatte alle Eigenschaften, welche zur Rechtskraft erforderlich sind, und die sämmtlichen Verwandten der drei Zeugen, von denen es unterschrieben worden war, erklärten und beschworen, daß die Unterschriften echt seien.
   »Die drei Zeugen waren nämlich merkwürdiger Weise gestorben. Der Eine starb am Typhus, also eines natürlichen Todes; die beiden Andern aber waren, der Erste im Duell und der Zweite in der Schweiz gestorben, wo er auf einer Fußtour verunglückte.
   »Erst nach längerer Zeit fand ich einmal den Schreibtisch meines Mannes offen. Ich blickte in das Fach und fand - das echte Testament der Tante, in welchem ich enterbt worden war. Denke Dir das Entsetzen, welches sich meiner bemächtigte!
   »Es gab eine fürchterliche, unbeschreibliche Scene zwischen mir und ihm. Er hat es mir nicht gestanden, aber ich ersah es aus seinem Verhalten und seinem höhnischen Wesen, daß er den einen Zeugen im unehrlichen Zweikampfe erschossen und dem Andern in der Schweiz aufgelauert hatte, um ihn vom Felsen zu stürzen. Wie und auf welche Weise es ihm dann gelungen ist, das echte Testament in seine Hände zu bringen und ein gefälschtes an dessen Stelle zu thun, das ist mir unbegreiflich. Er hat es mir natürlich nicht mitgetheilt.
   »Was sollte ich thun? Ihn anzeigen und in Armuth und Elend versinken? Ich trug damals Dich unter dem Herzen. Und zu eben derselben Zeit wurde Herr von Sandau infam cassirt. Sollte er, der Verbrecher, das Vermögen erhalten?
   »Ich habe gekämpft und gerungen, aber nicht gesiegt, denn ich habe geschwiegen, während ich reden sollte. Später sandte ich Sandau, als er entlassen war und ich erfuhr, daß er seine Schande gern in Amerika vergraben wolle aber keine Mittel zur Ueberfahrt habe, tausend Thaler, mit deren Hilfe es ihm möglich war, seinen Vorsatz auszuführen. Ich hörte, daß Emilie ihm einen Knaben geboren habe.
   »Wie ich nun gelebt und mich mit meinem Gewissen abgefunden habe, das will und kann ich nicht beschreiben. Nun stehe ich vor dem nahen Tode. Was soll ich thun? Soll ich als Mitwisserin jener Verbrechen sterben oder Dich dem Elende preisgeben? Das Letztere kann ich nicht. Du sollst reich sein, bis Du alt genug bist, Dir Deinen eigenen Weg zu bahnen. Dann aber sollst Du das Vermögen den Sandaus zurückgeben. Jetzt gehört es mir. Ich vererbe es an Dich. Zwar wäre Dein Vater der natürliche Verwalter desselben. Er hat die Nutznießung davon zu beanspruchen. Aber ich weiß, wenn er das Geld in die Hände bekommt, so wird er bald ein Bettler sein und Du mit ihm.
   »Darum treffe ich in meinem Testamente die Bestimmung, daß dieses Vermögen von einem Notar verwaltet und Dir übergeben werde, so bald Du das zwanzigste Jahr erreicht hast. Das hat Dein Vater unterschreiben müssen, denn ich drohte ihm, das echte Testament, welches ich damals an mich genommen und ihm nie wiedergegeben habe, dem Strafrichter auszuhändigen.


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   »Ich habe es so versteckt, daß er es nicht finden kann. Du aber sollst es haben. Nimm mein in blauen Sammet gebundenes Gebetbuch und schneide den hinteren Deckel ab. Er besteht aus zwei dünnen Pappen, zwischen denen das Testament eingepreßt ist. Du wirst denjenigen Gebrauch davon machen, welcher mir die ewige Ruhe und Dir die Ruhe Deiner jungen Seele sichert.
   »Und nun lebe wohl, mein süßes, süßes Herzenskind! Indem ich unter bitteren Thränen dieses schreibe, liegst Du mit blühenden Wangen im Bettchen und schläfst den Schlaf der Engel. Deine Mutter aber fühlt den Tod mit kalten Knochenhänden nach ihrem Herzen greifen. Meine Sünden sind Unterlassungssünden. Ich habe sie um Deinetwillen auf meine Seele genommen. Gott wird mir ein barmherziger Richter sein. Er hat mir die Mutterliebe in mein Herz gepflanzt und wird mir vergeben, was ich aus Liebe that.
   »Du aber, auch Du, mein Kind, gehe nicht zu streng ins Gericht mit Deiner Mutter. Vergieb mir, damit ich auch droben Vergebung finde. Denke, daß ich immer bei Dir weile und daß mein Geist Dir immer und immer die Bitte zuflüstert: >Behalte mich trotzdem lieb, und bete für mich. Ich konnte nicht anders, denn ich hatte Dich ja so unendlich lieb!<
   »Noch einen Kuß auf Deinen kleinen, süßen Mund, dann lege ich mich nieder, um wohl nimmer wieder aufzustehen. Meine Hände zittern vor Schwäche, und meine Augen fließen über vor Thränen. Die leidende Brust schmerzt mir vom Schreiben, und es geht eine eisige Kälte durch meinen Leib. Ist das die Kälte des Todes?
   »O mein Gott, wie schwer wird es einer Mutter, von einem geliebten Kinde zu gehen - auf Nimmerwiederkehr! Die Lampe will verlöschen, und der Wind heult draußen um die Ecken. Es klingt wie die Posaunen des ewigen Gerichtes.
   »Herr, mein Heiland, meine Seele schreit auf zu Dir um Erbarmen. Ich glaube an Dich, und ich halte Dich fest. Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn. Der Du zu dem armen Schächer sagtest >Wahrlich, wahrlich, heut noch wirst Du mit mir im Paradiese sein< und von der Sünderin >Ihr wird viel vergeben, denn sie hat viel geliebt<, Du wirst mir Deine Barmherzigkeit nicht entziehen. Du bist auch für mich gestorben; auch um meiner Sünden willen hast Du gelitten. Ich schrei auf zu Dir. Breite Deine Flügel über mir, und halte mich bei der Hand, wenn der Richterspruch des Ewigen über mich ergehen soll. Du bist der treue Hirte. Weide auch mein Lämmlein, welches ich zurücklassen muß. Gieb Deinen Engeln Befehl, daß sie über ihm wachen und es vor Sünde und Fehl bewahren. Laß sein Leben ein helles und freundliches sein, wie das meinige ein dunkles und trauriges war.
   »Milda, Milda, Deine Mutter stirbt. Schlaf wohl, Du Liebling meines armen Lebens. Mein Auge wird dunkel; mein Herz bricht. Ich kann nicht mehr. Leb wohl, leb wohl, leb wohl!« - - -

Nur unter heftigem Schluchzen und strömenden Thränen war es der Tochter möglich gewesen, die Zeilen der sterbenden Mutter zu Ende zu lesen.


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Jetzt warf sie den Brief auf den Tisch, barg das Gesicht in die Hände und brach in ein krampfhaftes Jammern aus.

Frau Holberg weinte ebenso. Sie nahm Milda in ihre Arme, zog das kleine, schöne Köpfchen an ihre Brust, strich ihr mit der Hand liebkosend über das reiche, seidenweiche Haar und sagte:

»Fassung, Fassung, mein liebes Kind! Deine gute Mutter ist bei den Seligen des Himmels. Sie hat nicht gesündigt. Selbst das irdische Gesetz würde sie freisprechen, denn die Frau braucht den Mann nicht anzuklagen.«

»Um meinetwillen - um meinetwillen hat sie es gethan!« stöhnte Milda.

»Eben darum ist es keine Sünde! Oder willst Du sie verdammen?«

Da blickte sie unter Thränen erschrocken auf und antwortete:

»Ich, sie verdammen, die nur um meinetwillen diese Schuld auf sich genommen hat? Nein! Wenn es möglich wäre, daß meine Liebe sich steigern könnte, so würde ich sie doppelt lieb haben dafür. O, könnte meine Liebe bis gen Himmel reichen. Ich wollte mit warmen Kindesarmen hinauflangen und sie umfassen, um ihr Dank zu bringen aus dem tiefsten Grunde meiner Seele!«

»So ists recht, Milda. Du kannst die Liebe einer Mutter nicht begreifen. Nur wer selbst Mutter gewesen ist, der weiß, welche Opfer sie zu bringen vermag.«

»Und welch ein größeres Opfer giebt es, als eine solche Schuld für das Kind auf sich zu nehmen, ja mit hinüber in den Tod zu nehmen. Ich möchte in Thränen zerfließen vor Herzeleid, daß sie es gethan hat. Hätte sie mich doch arm werden lassen, so stände sie jetzt reich vor Gottes Thron, und der Vater im Himmel hätte sich meiner wohl erbarmt und mich durch das Leben mit seiner Gotteshand geleitet.«

»Denke nicht daran, liebes Kind. Es ist nun nicht zu ändern.«

»Ja, das ist der gewöhnliche triviale Trost, nach welchem der schwache Mensch greift wie der Ertrinkende nach dem Strohhalm. Wer hätte das denken können, wer, wer, daß der Vater sogar ein Mörder sei!«

»Noch ists ja nicht erwiesen.«

»Es ist erwiesen.«

»Nein.«

»Und doch. Der untrüglichste Richter hat ihn verurtheilt, derjenige Richter, der sich niemals irren kann.«

»Welchen meinst Du?«

»Meine Mutter und - mich.«

»Ach, Du glaubst es?«

»Ja. Wenn die Frau den Mann und das Kind den Vater eines solchen Verbrechens für fähig halten, wenn Beide es ihm zutrauen, so hat er es auch begangen. Das liebende Herz ist ja gern bereit, das Beste zu denken. Wenn es dann aber gezwungen ist, Schlimmes zu denken, so ist dieses Schlimme auch wirklich geschehen. Wäre er noch da, so würde ich ihn zwingen, es mir zu gestehen.«


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»Er würde es nicht thun.«

»Er müßte! Und, ich werde zu ihm gehen. Er muß mir Alles, Alles sagen.«

»Milda! Zu ihm? Das thu nicht.«

»Ich muß ja.«

»Wer zwingt Dich dazu?«

»Die Mutter. Ich muß mir das Buch holen. Es ist nicht hier. Es befindet sich noch in Wien in unserer Wohnung, und ich habe keine Ruhe, als bis ich das Testament in meinen Händen habe.«

»Hole es, ja hole es meinetwegen; aber sprich zu Deinem Vater nicht davon.«

»Warum soll ich nicht sprechen?«

»Es wird eine entsetzliche Scene geben.«

»Die soll es geben, und ich selbst werde es sein, der sie herauf beschwört. Ich habe die heilige Verpflichtung, ihm ein Geständniß abzuzwingen. Legt er es ab, bereut er, was er gethan hat, nun so wird sich die Angelegenheit wohl in milderer Art und Weise erledigen lassen. Leugnet er aber, so soll ihn die volle Strafe treffen, und ich selbst, seine Tochter, werde es sein, welche diese Gerechtigkeit vom Richter begehrt.«

»Schrecklich! Ist das nicht gegen alles menschliche Gefühl?«

»Eigentlich wohl; aber ist nicht auch jedes Verbrechen, sind nicht grad diejenigen Verbrechen, deren sich mein Vater schuldig gemacht hat, gegen das menschliche Gefühl?«

»Du sprichst von einem milderen Wege. Ich glaube nicht, daß ein solcher eingeschlagen werden kann.«

»Welchen Grund hast Du zu dieser Meinung?«

»Du willst doch diesen Keilberg arretiren lassen. Damit geht die Angelegenheit in die Hände der Staatsanwaltschaft über, und wenn es einmal so weit ist, dann hat das Gesetz zu entscheiden und es kann keine Wahl zwischen einer milderen oder strengeren Form getroffen werden. Das magst Du gar wohl bedenken, ehe Du zur Arretur schreitest.«

»Ich habe mich nur einstweilen der Person dieses Mannes versichert. Was ich gegen ihn vornehmen werde, das wird sich entscheiden, wenn ich mit Max darüber spreche.«

»Aber der kommt vielleicht morgen spät.«

»Nein, er kommt zeitig in der Frühe. Ich habe es ihm durch den Boten, welcher mir jetzt seinen Brief brachte, sagen lassen, daß ich ganz bei Zeiten nothwendig mit ihm zu sprechen habe. Vielleicht kommt auch Herr Sandau. Er hat mir versprochen, die ihm angebotene Arbeit zu übernehmen und wollte morgen früh zu einer darauf bezüglichen Besprechung wieder da sein.«

»Sandau. Ein eigenthümlicher Zufall.«

»Ja, wäre er von Adel, so gehörte er vielleicht zur Verwandtschaft jener Familie, der ich so viel schuldig bin. Das beklemmt mich ja am Allermeisten, daß Alles, was mein Vater begangen hat, grad nur gegen sie gerichtet ist.«


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»Du willst nach ihr forschen?«

»Ja, gewiß.«

»Das wird langwierig sein. Wie willst Du diese Leute in Amerika finden?«

»Durch die Consuls, durch die Blätter, in denen ich annoncire, durch - o, ich werde alle Mittel ergreifen und alle Minen springen lassen!«

»Um Dein Vermögen hinzugeben.«

»Mein Vermögen? Es ist nicht das meinige. Ich habe von Rechtswegen den ganzen Betrag der Erbschaft auszuzahlen mit allen Zinsen von dem Tage an, an welchem sie von meiner Mutter angetreten worden ist.«

»Ein Advokat würde vielleicht ganz anders urtheilen.«

»Ich brauche keinen Anwalt. Mein Herz ist mein Advocat, dessen Rath ich unbedingt befolgen werde. Ich kann das Vermögen zurückzahlen, nicht aber die Zinsen. Die hat mein Vater zum größten Theile verlebt, und der kleinere Theil ist für mich verbraucht worden. Ich werde also ein ewiger Schuldner der Sandau's bleiben.«

»Und Sandau der Deinige!«

»Wieso?«

»Meinst Du, daß alle Menschen so hochherzig handeln würden wie Du?«

»Ich darf nicht nach Anderen fragen.«

»Wenn Du Sandau findest und ihm sein Eigenthum zurückgiebst, kann er es gar nicht annehmen, wenigstens nicht ganz. Er muß Dir einen Theil desselben lassen.«

»Ich behalte keinen Pfennig.«

»Aber, Milda! Was willst Du dann beginnen?«

»Irgend Etwas. Ich werde Lehrerin, Erzieherin, Gesellschafterin, Vorleserin oder sonst Etwas.«

»Du stellst Dir das zu leicht vor.«

»Gewiß nicht. Es wird mir schwer werden, aus dem gewohnten Ueberflusse herauszutreten; aber es muß vollbracht werden!«

»Und wenn Du keine solche Stellung findest?«

»So weiß ich einen Ort, an welchem ich zu jeder Zeit einen Unterschlupf finde.«

»Wo?«

»Bei einer gewissen Frau Bürgermeisterin Holberg hier in Steinegg. Oder meinst Du vielleicht, daß ich mich darin täusche?«

»Wie kannst Du nur so fragen. Ja, bei mir hast Du Deine Heimath und sollst da keine Noth leiden. Ich bin nicht reich, aber für Dich und Max, meinen Sohn, reicht es allemal zu.«

»Ich danke Dir, meine liebe Mutter. Jetzt kommt mir diese Angelegenheit nicht mehr gar so trostlos vor wie vorhin. Wenn man nur erst einen herzhaften Entschluß gefaßt hat, dann werden die Augen hell und der Verstand klar. Das Herz beruhigt sich und es ist dann viel leichter, ein Held zu sein, als man vorher gedacht und geahnt hat.«


// 1670 //

Da trat die Zofe ein und meldete:

»Es ist ein Herr draußen, welcher das gnädige Fräulein zu sprechen wünscht.«

»Wer ist es?«

»Ich - ich weiß es nicht,« antwortete sie in sichtlicher Verlegenheit.

»Wie? Du weißt es nicht? Hast Du nicht gefragt?«

»Nein.«

»Warum nicht? Das ist das erste Mal, daß dies geschieht. Ich muß natürlich wissen, wer zu mir will. Ich bin nicht für einen Jeden anwesend.«

»Er - er - - ich - - ich - - -«

»Na, so sprich doch!«

»Er - er sah so vornehm aus und gukte mich mit solchen Augen an, daß ich gar nicht gewagt habe, ihn zu fragen.«

»So!« lächelte Milda. »Du bist doch sonst nicht so furchtsam. Er muß ein sehr, sehr vornehmes Aussehen haben, daß Du Dich durch dasselbe so in Verlegenheit bringen lässest. Nun hast Du jetzt das Vergnügen, Deinen Muth zu zeigen.«

»Oh - oh - ich soll ihn fragen?«

»Ja. Nach seiner Karte oder seinem Namen.«

»Was wird er für Augen machen.«

»Frage doch lieber nach meinen Augen. Es ist jetzt nicht die Zeit, in welcher ein Fremder mich sprechen kann. Wenn er zu mir will, so muß er etwas sehr Nothwendiges beabsichtigen. Also geh!«

Die Zofe zog sich verlegen zurück und kehrte dann bald wieder.

»Er läßt sagen, daß es allerdings so nothwendig sei, daß gnädiges Fräulein die Störung wohl verzeihen würden.«

»Und sein Name?«

»Herr Ludwig.«

»Kenne ich nicht. Woher?«

»Vorübergehend in Hohenwald.«

Da fuhr Frau Holberg vom Sopha auf.

»Mein Gott, der Kö - - -!«

Sie unterbrach sich, indem sie noch zur rechten Zeit daran dachte, daß sie das Incognito des Herrschers vor dem Mädchen nicht verrathen dürfe. Darum fügte sie, zu Milda gewendet, in ziemlicher Erregung hinzu:

»Weiß Du, jener Herr Ludwig, von welchem ich Dir erzählt habe. Er wohnt in der Mühle.«

Jetzt nun wußte Milda, welch hohen Herrn sie bei sich empfangen solle.

»Gott, in dieser Toilette!« war ihr erster Gedanke.

»Ich muß fort - - -«

Sie wollte nach der Thür; aber Frau Holberg ergriff sie am Arme.

»Halt! Er blickt nicht auf die Toilette. Dürfen wir ihn übrigens warten lassen, nachdem er bereits zweimal angemeldet wurde?«

»Keinen Augenblick!«


// 1671 //

»Also der Herr wird ersucht, sich zu uns zu bemühen.«

Das Mädchen ging und ließ den König herein.

Dieser hatte wenige Augenblicke vorher eine sehr wichtige Beobachtung gemacht.

Nämlich nachdem die beiden Damen das Bureau verlassen hatten, trat Keilberg von der Thür, seinem Lauscherposten zurück.

»Donnerwetter!« flüsterte er. »Geld und Juwelen! Das wäre ein Fang, wenn man nur diese Thür - - -«

Er ergriff die Klinke und drückte. Die Thür ging nicht auf. Nun drehte er den Schlüssel um - sie öffnete sich.

Es war ihm zu Muthe, als ob er betrunken sei. Einige Augenblicke lang drehte sich das Zimmer im Kreise um ihn. Aber er beherrschte sich. Da stand der offene Schrank vor ihm. Ein Griff - -! Sollte er ihn thun?

Er antwortete weder mit Ja noch mit Nein. Er handelte. Er eilte zu seiner Thür und schob den Riegel vor; dann that er dasselbe mit der Eingangsthür des Bureaus. Jetzt konnte er nicht ertappt werden. Kam ja der Diener, um das Speisegeschirr abzuholen, so gab es hundert Erklärungen für den Umstand, daß er die Thür für einen Augenblick geschlossen hatte.

Und das gnädige Fräulein kam gewiß nicht sogleich zurück. Sie hatte ganz so gethan, als ob es sich um etwas sehr Nothwendiges handele, was in kurzer Zeit nicht abgemacht sein konnte.

Nun trat er zum Schranke und öffnete das Ebenholzkästchen, entnahm ihm die sechs darin befindlichen Juwelenetuis und machte es wieder zu. Ein Schubfach aufziehend, um zu sehen, was sich darin befinde, sah er eine Menge Geldrollen, welche jedenfalls Gold enthielten, denn mehrere davon waren aufgebrochen, und die darin gewesenen Goldstücke lagen zerstreut umher.

Rasch steckte er sich fünf, sechs, sieben, acht dieser Rollen in die Tasche, schob das Fach wieder zu, eilte zur Thür, um den Riegel zurückzuschieben, huschte in sein Zimmer, schloß die Verbindungsthür zu, riegelte auch die Eingangsthür auf und schob die Etuis alle unter das Bett zur einstweiligen Aufbewahrung. Nun stand er in dem Zimmer, hielt sich den Kopf, in welchem er die Pulse fühlte, mit beiden Händen und flüsterte:

»Millionär, Millionär bin ich.«

Er rannte einige Male auf und ab, blieb wieder stehen und sagte:

»Dummheit! So schlimm ist es nicht. Es sind nicht einmal hunderttausend. Aber wenn es nur fünfzigtausend, nur zwanzigtausend sind, so ist mir schon geholfen. Und zwanzigtausend sind es gewiß, sind es wenigstens. Diamanten und Smaragden und Rubinen. Aber was fang ich mit ihnen an? Wie bringe ich sie nur in Sicherheit?«

Er ging sinnend hin und her und setzte sich dann an den Tisch.

»Essen muß ich, vor allen Dingen essen, sonst merkt der Diener, daß ich andere Dinge getrieben habe.«


// 1672 //

Er verschlang die Speisen förmlich. Kaum war er fertig, so trat der Diener ein.

»Nun, haben Sie gegessen?« fragte er in nicht eben freundlichem Tone.

»Ja.«

»Wie hat es geschmeckt?«

»Ausgezeichnet.«

»Das glaube ich. Solche Leute, wie Sie sind, pflegen nicht aus solchen Küchen zu speisen. Also kann ich abräumen?«

»Ja.«

»Auf ein Trinkgeld habe ich aber wohl nicht zu rechnen?«

»Kann man nicht wissen!«

»Pah! Wird nicht hoch werden! Was machen Sie nun?«

»Ich gehe zu Bette. Ich bin müd und will schlafen.«

»Das ist freilich das Allerbeste, was Sie thun können.«

»Darf man hier die Thür verriegeln?«

»Warum nicht? Gestohlen wird Ihnen freilich nichts, falls Sie offen lassen. Hier giebt es keine Diebe, und Sie werden auch nicht viel haben, was des Mitnehmens werth sein könnte.«

»Kann man abermals nicht wissen. Ich bin aber einmal gewohnt, nur bei verschlossenen Thüren zu schlafen.«

»Glaube es!« lachte der Lakai. »Aber wie waren sie denn verschlossen? Von innen oder von außen?«

»Donnerwetter! Wollen Sie mich etwa beleidigen?«

»Gar nicht. Na, verschließen Sie! Uns kann es nur recht und lieb sein. Brauchen Sie noch Etwas?«

»Nein.«

»Dann geruhsame Nacht, gnädiger Herr.«

»Hole Sie der Teufel!«

Der Lakai ging und Keilberg verriegelte die Thür laut hinter ihm.

»So!« sagte er zu sich selbst, tief Athem holend.

»Den bin ich los, und nun bin ich mein eigener Herr. Was thue ich mit dem Raube? Fort muß er. Vielleicht wird die Geschichte heut Abend noch entdeckt. Da darf man bei mir nichts finden. Ich muß mich der Sachen entledigen. Aber wie? Wenn das Zimmer im Parterre läg.«

Er öffnete das Fenster und blickte hinaus. Die vor der Front brennenden Laternen beleuchteten Alles. Er sah, daß an seinem Fenster der nach alter Weise aus starkem Eisen bestehende Blitzableiter herniederlief.

»Herrlich!« dachte er. »An dem klettere ich hinab, verstecke unten das Zeug und klettere wieder herauf. Dann mögen sie kommen und suchen.«

Er nahm die Etuis unter dem Bette hervor und steckte sie sich in die Taschen.

»Aber,« brummte er nachdenklich, »wäre es nicht besser, ich machte mich gleich mit den Sachen auf und davon? Da wäre ich in Sicherheit. - - In Sicherheit? O nein! Das Frauenzimmer hat ja meine Legitimations-


// 1673 //

papiere. Man kennt mich und würde sofort hinter mir her sein. Nein! Ich muß für unschuldig gelten. Außerdem hat sie versprochen, mir morgen das Geld zu geben. Das müßte ich im Stiche lassen. Welch eine Dummheit wäre das!«

Er trat wieder an das offene Fenster und blickte hinaus. Kein Mensch war zu sehen. Er schwang sich hinaus, ergriff den Blitzableiter und rutschte an demselben hinab. Dann huschte er hinüber in den Schatten.

Er war vollständig überzeugt, von Niemandem gesehen worden zu sein. Und doch befand sich ein Lauscher in der Nähe - der König.

Dieser war eben erst in der Nähe des Schlosses angekommen. Ehe er eintrat, um zu der Baronesse zu gehen, blieb er stehen, um sich die Fronte zu betrachten. Es gab mehrere erleuchtete Fenster, eins beinahe an der Ecke. Dieses wurde soeben geöffnet und es schaute Jemand heraus.

»Keilberg!« flüsterte der König, welcher den Mann sofort erkannte. »Also ist er wirklich schon da. Und sogar einquartirt. Er lauscht nach beiden Seiten. Er muß Etwas vorhaben.«

Keilberg verschwand wieder, kehrte aber bald an das Fenster zurück und kletterte herab. Der König stand im tiefen Dunkel, da, wo unter der Schloßstraße eine Schleuße durchlief, um dem Regenwasser Abfluß zu gewähren.

Grad auf diese Stelle kam Keilberg zu. Er blieb da stehen, blickte sich um und lauschte eine Weile. Der König drückte sich nahe an die mit Gras bewachsene Straßenböschung. Keilberg stand zwischen ihm und dem Schlosse. Er konnte ihn, obgleich es dunkel war, gegen den fernen Laternenschein ganz deutlich erkennen.

Jetzt bückte sich der Zuchthäusler nieder und kroch in die ziemlich weite Schleuße. Dort verblieb er einige Minuten, kam dann wieder hervor, lauschte abermals eine Weile und huschte von dannen. Dann sah der König ihn ganz deutlich am Blitzableiter wieder emporklettern und im Fenster, welches er sodann verschloß, verschwinden.

»Was hat er gethan?« fragte sich Ludwig. »Natürlich Etwas gestohlen, was er hier versteckte, um bei einer etwaigen Visitation für unschuldig zu gelten. Wollen einmal sehen.«

Er ging zur Schleuße und bückte sich nieder. Mit den Händen tastend, fühlte er eine ziemlich tiefe Schicht sehr groben, schweren Sandes, welchen das Wasser hier zusammengeschwemmt hatte. Er untersuchte denselben und traf bald an eine Stelle, wo er fühlte, daß hier gewühlt worden sei. Er wühlte nach und fand die Etuis und auch die Geldrollen. Er öffnete das größte der Etuis, nahm den Inhalt heraus und hielt den Gegenstand so, daß das Licht der Laternen sich daran brach.

»Ah!« sagte er erstaunt zu sich selbst, »ein Diadem in Brillanten! Dieser Mensch hat den Schmuck der Baronesse gestohlen. Warte, Bursche, jetzt bist Du mir sicher, und an eine Begnadigung soll nicht wieder zu denken sein!«

Er legte die gestohlenen Gegenstände an ihren Ort zurück und deckte Sand


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darüber, so wie er es gefunden hatte. Dann schritt er nach dem Schlosse zu. Am Portale war Niemand zu sehen. Oben an der Treppe standen einige Diener, welche den späten Gast verwundert betrachteten. Er wurde nach dem Corridore an die Zofe gewiesen. Auch sie blickte ihn befremdet an, senkte aber vor dem stillen, mächtigen Blick seiner Augen ihre Wimpern.

»Melden Sie mich der Baronesse von Alberg!« sagte er in befehlendem Tone.

Sie blickte kurz auf und trat dann in ein nahes Zimmer. Erst nach einer Weile kam sie zurück.

»Entschuldigung! Darf ich fragen, ob Ihre Angelegenheit eine wichtige ist?«

»So wichtig, daß die Baronesse die Störung gewiß entschuldigen wird.«

»Und darf ich um Ihre Karte oder Ihren Namen bitten?«

»Ich heiße Ludwig und wohne vorübergehend in Hohenwald.«

Jetzt ging sie, das zu melden und öffnete ihm dann die Thür. Als er bereits unter derselben stand, drehte er sich noch einmal zu ihr um und fragte:

»Giebt es nur einen oder mehrere Polizisten hier in Steinegg?«

»Mehrere.«

»Schicken Sie sofort einen der Diener nach der Stadt, um zwei oder drei dieser Herren zu holen!«

Dann zog er die Thür hinter sich zu, machte den Damen eine höfliche Verneigung und sagte:

»Verzeihung! Ich befinde mich in der Lage, zu so ungewöhnlicher Stunde bei Ihnen vorzusprechen, Fräulein von Alberg. Ich bin jedoch überzeugt, daß ich gerechtfertigt vor Ihnen stehen werde, sobald ich Ihnen den Grund meiner Anwesenheit vorgetragen habe.«

Und sich zu Frau Holberg wendend, fuhr er freundlich fort:

»Sie da, Frau Bürgermeisterin? Das freut mich. Ich habe da die Hoffnung, auf Ihre gütige Fürsprache rechnen zu dürfen.«

Die beiden Damen hatten seine Verbeugung mit tiefen, respectvollen Verneigungen erwidert. Die Angeredete antwortete ihm:

»Es bedarf wohl keiner Fürsprache, wenn Euer Majestät - - -«

»Pst!« unterbrach er sie. »Nicht dieses Wort! Weiß Fräulein von Alberg, wer ich eigentlich bin?«

»Gewiß. Wir sind so innig befreundet, daß ich ihr von Herrn Ludwig erzählt habe.«

»Schön! Aber ich bin eben nur dieser Herr Ludwig und will so genannt und auch nur als solcher behandelt werden. Also keine übermäßigen Höflichkeiten.«

»Die einzige Höflichkeit, welche ich mir noch gestatten darf, besteht in der Bitte, mich empfehlen zu können.«

Sie machte abermals eine Verbeugung, aber nicht so tief wie die vorige und wendete sich nach der Thür.

»Bitte, bleiben Sie!« sagte er. »Sie gehen, um uns nicht zu stören;


// 1675 //

aber Sie brauchen nicht zu fürchten, indiscret zu sein. Was ich zu sagen habe, können Sie hören. Also setzen Sie sich nur nieder.«

Milda bot ihm einen Stuhl, und er nahm Platz. Er betrachtete das schöne, heut Abend so bleiche Mädchen mit einem wohlwollenden, befriedigten Blicke, vor welchem sie die Augen senkte, und sagte dann:

»Ich will aufrichtig sagen, daß ich mich, als ich zu Ihnen aufbrach, gefreut habe, Sie kennen zu lernen. Es ist in meiner Gegenwart von Ihnen gesprochen worden, und was ich da hörte, gab mir den Stoff zu einem Bilde von Ihnen, welches ich jetzt mehr als vollständig bestätigt finde.«

»Maj - - - Herr Ludwig!« stammelte sie.

»Bitte keine Verlegenheit! Sie haben Freunde, welche auch die meinigen sind. Wir stehen uns also näher, als es den Anschein hat. Wäre dies nicht der Fall, so würde ich mich nicht jetzt hier bei Ihnen befinden. Ich komme nämlich des Besuches wegen, den Sie heut erhalten haben.«

»Besuch?« fragte sie. »Frau Bürgermeister hier ist mein Besuch.«

»Haben Sie nicht noch einen andern?« fragte er lächelnd.

»Nein.«

»Einen Herrn, einen etwas ältlichen Herrn?«

»Gewiß nicht.«

»Von sehr zweifelhaftem Character?«

Jetzt nun kam sie auf den richtigen Gedanken:

»Ah, diesen Menschen! Bitte, wenn das ein Besuch wäre, so müßte ich - - -«

»Weiß es, weiß es. Der Mann hat Ihnen seinen Namen genannt?«

»Er heißt Keilberg. Seine Papiere liegen noch hier auf dem Tische.«

»Ah! Sie haben sie ihm abgenommen?«

»Ja. Und ich gab den Befehl, ihn zu bewachen.«

»Das war sehr vorsichtig. Doch bezweifle ich, ob man diesem Ihren Befehle nachgekommen ist.«

»Gewiß.«

»Nein. Ich werde es Ihnen beweisen. Zunächst aber sehe ich Ihnen die Verwunderung darüber an, daß ich diesen Mann kenne. Ich traf ihn unterwegs auf der Straße, und er hing sich so an mich, daß ich nicht frei von ihm kommen konnte. Er war betrunken und begann, von Dingen zu plaudern, welche er im nüchternen Zustande wohl verschwiegen hätte. Ich hatte die Ehre, von ihm für einen Rechtsanwalt gehalten zu werden, in Folge dessen er mich in einem Falle, welcher Sie sehr nahe berührt, um Auskunft ersuchte.«

Milda wurde noch bleicher als vorher.

»Mein Gott!« rief sie. »Er hat Ihnen erzählt - - -«

»Alles.«

Sofort stürzten ihr die Thränen aus den Augen. Sie wußte vor Schreck und Verlegenheit weder aus noch ein.

»Beruhigen Sie sich, liebes Fräulein! Was ich gehört habe, ändert an dem Bilde, welches ich mir von Ihnen machte, nicht das Geringste. Mein


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Wohlwollen für Sie trieb mich sogar, den Weg von Oberdorf bis hierher zurückzulegen, um vielleicht noch verhüten zu können, daß der Mann Ihnen mit seiner Botschaft Schmerz bereite. Es ist mir das leider nicht gelungen. Ich komme zu spät, aber vielleicht liegt es in meiner Macht, das Leid zu mildern, welches Ihnen widerfahren ist.«

Sie schüttelte unter fließenden Thränen den Kopf und antwortete:

»Dieses Leid ist nicht zu mildern!«

»O doch, wenigstens hoffe ich dies. Freilich weiß ich jetzt noch nicht, wie ich das zu beginnen hätte. Dieser Keilberg hat Ihnen also die beabsichtigten Mittheilungen wirklich gemacht?«

»Ja.«

»Halten Sie seine Darstellung für wahr?«

»Ja, vollständig.«

»So trauen Sie also Ihrem Vater jene - jene Fehler zu?«

»Fehler? Verbrechen sind es, Verbrechen!«

»Doch, Fräulein, er ist Ihr Vater.«

»Darf eine strafbare That mir minder strafbar erscheinen, nur weil sie von einem meiner Verwandten begangen worden ist?«

»Gewiß nicht.«

»Ich verabscheue das Verbrechen in jedem Falle - - ich habe keinen Vater mehr.«

Sie saß mit gefalteten Händen vor ihm, ein Bild tiefsten Herzeleides. Sein Auge ruhte mit innigster Theilnahme auf ihr.

»Eine Waise sind Sie oder vielmehr, wollen Sie sein? Noch während Ihr Vater lebt? Natürlich in Folge dessen, was Sie heut von ihm hörten?«

»Nein. Wir sind schon vorher für immer von einander geschieden. Ich bin jetzt eine arme Waise. Mein größtes Glück ist, daß ich hier in Frau Holberg eine liebe Mutter gefunden habe, welche sich meiner annehmen wird, wenn Alle, Alle mich verlassen.«

»Sprechen Sie nicht so muthlos! Sie werden nicht verlassen sein. Ihr Vater hat strafwürdige Thaten begangen, Sie aber sind an denselben unschuldig. Diese Angelegenheit wird sich vielleicht arrangiren lassen, ohne daß das öffentliche Aufsehen erregt wird. Dann ist ja Alles gut. Sie haben in Folge Ihrer Stellung und Ihres Vermögens Ansprüche an das Leben zu machen, und kein Mensch wird Ihnen hinderlich sein, diese Ansprüche zu erheben.«

»Ich verzichte auf sie.«

»Wie? Wollen Sie nicht Ihre Füße auf diejenige Stufe stellen, auf welche Sie gehören?«

»Nein. Herr Ludwig haben von meinem Reichthume gesprochen. Ich aber bin arm, fast eine Bettlerin.«

»Unmöglich!«

»Arm an Gut und noch ärmer an Glück und Herzensfrieden.«

»Das bitte ich, mir zu erklären!«


// 1677 //

Noch lag der letzte Brief ihrer Mutter auf dem Tische. Sie warf einen fragenden Blick auf die Bürgermeisterin.

»Soll ich?«

»Ja, Kind, Herr Ludwig wird es Dir erlauben, ihm diesen Brief vorzulegen.«

»Es ist,« erklärte Milda, »der letzte Brief, das Vermächtniß meiner armen, unglücklichen Mutter. Sie ist viel, viel unglücklicher gewesen, als ich habe ahnen können. Wenn Sie diese Zeilen gelesen haben, werden Sie wissen, daß ich arm, arm, o wie so arm bin!«

Er nahm das Schreiben aus ihrer Hand und begann zu lesen. Sein Angesicht nahm nach und nach einen gespannteren Ausdruck an. Als er dann fertig war und die Zeilen von sich legte, glänzten seine Augen feucht.

Doch sagte er noch nichts, sondern er stand von seinem Stuhle auf, trat zum Fenster und blickte eine Weile still hinaus. Dann kam er langsam zurück, setzte sich wieder nieder und sagte in sehr ernstem Tone:

»Das ist allerdings etwas gradezu Fürchterliches, Entsetzliches für Sie. Das muß Sie ja wie ein Keulenschlag getroffen haben!«

»Ich kann nicht beschreiben, wie unglücklich ich bin!«

»Das glaube ich Ihnen gern. Aber haben Sie denn keinen Zweifel? Können Sie sich nicht denken, daß hier seitens Ihrer Mutter ein Irrthum vorliege?«

»Das denke ich nicht.«

»So sprechen Sie Ihrem Vater ein Urtheil, wie der Richter es nicht strenger und unpartheiischer fällen könnte. Ich bewundere Sie. Ich möchte Sie hassen ob Ihrer Gesinnung Ihrem Vater gegenüber, und doch fühle ich, daß Sie so und nicht anders denken und empfinden können. Was aber gedenken Sie zu thun?«

»Meine Pflicht.«

»Und die ist?«

»Herrn von Sandau zu ermitteln und ihm Alles zurückzugeben.«

»Doch nicht, ohne vorher seine Ansprüche ganz genau untersuchen zu lassen!«

»Ich verzichte auf diese Untersuchung.«

»Sie könnte aber doch zu Tage fördern, daß Sie wenigstens Rechte auf einen Theil Ihres jetzigen Vermögens haben.«

»Die habe ich nicht.«

»Oder bieten Sie Sandau einen Vergleich an! Er wird froh sein, die Hälfte der Erbschaft ausgezahlt zu erhalten.«

»Dazu kann ich mich auf keinen Fall entschließen. Ich bin nicht im Stande, ihm die Zinsen des Capitales, welches ich unrechtmäßiger Weise benutzt habe, zu erstatten. Wie aber vermöchte ich es, ihm die vielen Jahre zurückzugeben, welche er unschuldig in Schande und Noth verbringen mußte! Seine Ehre muß hergestellt werden. Das ist das Erste. Das muß ihm noch viel wichtiger sein, als die Erlangung des Vermögens.«


// 1678 //

»Wie aber wollen Sie das vollbringen? Seine Ehre kann nicht anders restituirt werden als dadurch, daß Ihr Vater die seinige verliert.«

»Das ist allerdings der einzige Weg.«

»Und Sie wollen ihn beschreiten?«

»Ja, unbedingt.«

»Fräulein von Alberg, Sie sind eine Heldin! Sie schneiden sich das eigene Fleisch ab, unter gräßlichen Schmerzen, um es Andern zur Nahrung zu geben!«

»Weil sie gehungert haben, da ich ihnen die gehörige Nahrung entzog. Ich schwelgte im Wohlleben, während sie darbten. Ich werde zunächst zu meinem Vater nach Wien reisen, um mir das Testament zu holen und mit ihm zu sprechen. Wehe ihm, wenn er leugnet! Er wird keine Gnade finden!«

»Und dann?«

»Suche ich Herrn von Sandau oder, wenn er nicht mehr existiren sollte, seine Familie, und gebe ihm Alles zurück.«

»Das ist ebenso hochherzig wie gerecht. Aber wissen Sie, was es heißt, nach so langen Jahren drüben in Amerika einen Mann zu suchen, der Ursache hat, verschollen zu sein, weil ein solcher Schandfleck auf seinem Namen ruht?«

»Ich kann es mir denken; aber ich werde nichts unversucht lassen, zu meinem Ziele zu gelangen. Von heut an betrachte ich mich als die Verwalterin von Sandau's Vermögen, und ich hoffe, daß ich eine treue Haushälterin sein werde.«

»Recht so, liebes Fräulein! Was aber das Aufsuchen Sandau's betrifft, so besitzen Sie die dazu nöthigen Erfahrungen wohl schwerlich - -«

»Ich wende mich an einen Rechtsgelehrten.«

»Da werden Sie viele und bedeutende Ausgaben haben, welche Sie sich ersparen können. Darf ich mich Ihnen als Beistand anbieten?«

»Herr - - Ludwig!«

»Bitte, bitte! Ich bin nur ein einfacher Privatmann, ein unbekannter Herr Ludwig, aber dennoch hoffe ich, wenn Herr von Sandau noch vorhanden ist, so werde ich ihn vielleicht noch eher finden, als jeder Andere. Glauben Sie das?«

»O gewiß! Aber ich darf es nicht wagen - -«

»Pst! Schweigen wir! Mir macht es keine Mühe, das versichere ich Ihnen. Und ich hoffe, Ihnen recht bald die gewünschte Nachricht geben zu können. Wie aber steht es mit diesem Keilberg? Wie lange wollen Sie ihn bei sich behalten?«

»Bis morgen. Ich wollte mit meinem Bruder, mit Max Walther sprechen.«

»Meinen Sie, daß er Ihnen einen guten Rath ertheilen könne?«

»Ich denke es.«

»Hm! Vielleicht kann ich Ihnen einen eben solchen geben.«

»Ich bin überzeugt davon, wage es aber nicht, mir ihn zu erbitten.«

»Ich spreche ihn aus, auch ohne gebeten worden zu sein. Zunächst muß


// 1679 //

ich Ihnen sagen, daß die Strafverfolgung verjährt ist. Sie können Keilberg nicht festnehmen lassen. Ja, wollten Sie ihn mit Gewalt hier festhalten, so würden Sie strafbar sein.«

»Aber was ist da zu thun? Er ist vollständig unentbehrlich, wenn es sich darum handelt, die Unschuld des Herrn von Sandau zu beweisen.«

»Nun, so muß man ihn festhalten, sonst läuft er davon. Man muß ihn arretiren.«

»Aber - Verzeihung! Soeben hörte ich, daß dies nicht möglich sei.«

»Ja, wegen seines früheren Verbrechens ist das nicht möglich; aber vielleicht hat er in neuerer Zeit Etwas begangen, was ihn mit dem Strafgericht in Conflict bringt.«

»Das müßte man wissen.«

»Ja. Er würde dann wegen dieses neuen Verbrechens bestraft, und man wäre sicher, ihn stets für Sandau zur Verfügung zu haben. Wollen einmal sehen, was sich thun läßt.«

Er griff zur Glocke und schellte. Die Zofe trat ein.

»Sind die Polizisten da?«

»Ja.«

»Sie mögen sich jetzt nicht sehen lassen. Holen Sie den fremden Menschen herbei. Sagen Sie ihm nichts, daß ich hier bin, sondern sagen Sie ihm, daß das gnädige Fräulein ihn zu sprechen verlangt. Wenn er hier eingetreten ist, so mögen die Polizisten sich draußen vor die Thür postiren und hereinkommen, sobald ich klingele.«

Das Mädchen ging. Sie schickte den Diener zu Keilberg. Er lag schon im Bette, folgte aber der Aufforderung mit größtem Vergnügen, denn er dachte, daß er jetzt, also noch am Abend, das Geld bekommen werde. Da konnte er sich gleich aus dem Staube machen und seinen Raub mitnehmen.

Da er sich aber erst anzuziehen hatte, verging wohl eine Viertelstunde, während welcher Ludwig Milda Gelegenheit gab, ihm ihr Herz vollständig auszuschütten. Sie erzählte ihm von ihrem Vater; sie legte ihm alle ihre Verhältnisse vor, und so war die Viertelstunde noch nicht vergangen, als der König in alle ihre Verhältnisse eingeweiht war und die Gewißheit erlangt hatte, welch ein kostbarer Schatz in dem Herzen und dem Gemüthe dieses Mädchens verborgen liege.

Endlich meldete die Zofe den Herrn Keilberg. Er kam herein und machte große Augen.

»Donnerwetter!« sagte er. »Das ist doch der Herr Rechtsanwalt!«

»Ja, und Sie sind der Herr Hermann Arthur Willibold Keilberg. Sie gingen von mir fort, ohne gehörig Abschied zu nehmen.«

»O doch! Ich habe Ihnen ein Lebewohl zugerufen.«

»Das genügt mir nicht. Ich hatte noch Einiges mit Ihnen zu sprechen, und darum bin ich nach hier gekommen.«

»Donnerwetter! Woher haben Sie denn gewußt, daß ich hierher gehen wollte?«


// 1680 //

»Sie selbst haben es mir gesagt.«

»Ist mir nicht eingefallen!«

»O doch! Ihre Mittheilung war freilich keine directe: aber Sie wissen ja, wir Advocaten reimen uns Alles zusammen.«

»Woraus nichts Gescheidtes wird, ja.«

»Vielleicht doch. Sie haben hier Geld verlangt?«

»Viel nicht!«

»Wissen Sie, daß man das Erpressung nennt?«

»Wollen Sie mich etwa anzeigen?«

»Nein. Die Angelegenheit, in welcher Sie mit Fräulein von Alberg verhandelt haben, interessirt mich nicht. Ich komme aus einer anderen Veranlassung. Sie sagten heut zu mir, daß Sie keine Lust hätten, in das Zuchthaus zurückzuspazieren. Nun aber sehe ich, daß Sie sich sehr bald wieder drin befinden werden.«

»Ich?« lachte Keilberg. »Das bilden Sie sich nur ja nicht ein. Ich möchte den Kerl sehen, der mich wieder hineinbringen wollte!«

»So sehen Sie mich an!«

»Sie? Hm! Wollen Sie mir eine Anweisung auf das Zuchthaus geben?«

Er blickte die drei anwesenden Personen frech an und lachte höhnisch auf.

»Ja, das will ich,« antwortete Ludwig ruhig.

»Da müßten Sie aber sehr bei Zeiten aufstehen!«

»Das habe ich gethan.«

»Und Dinge sehen, die es gar nicht giebt.«

»Vielleicht sind sie doch vorhanden. Ich habe nämlich große Lust, Sie arretiren zu lassen.«

»Pah! Wegen dem was ich Ihnen erzählt habe, kann ich nicht arretirt werden.«

»Davon ist auch gar keine Rede.«

»Nun, weshalb denn?«

»Wegen Ihres allerneuesten Verbrechens.«

»So? Was sollte denn das sein?«

»Ein schwerer Diebstahl, vielleicht gar ein Einbruch.«

»Das ist lächerlich. Davon müßte ich Etwas wissen.«

»Sie brauchen gar nicht weit zurück zu denken. Besinnen Sie sich!«

»Ich weiß nichts. Soll ich denn etwa nach meiner Entlassung bereits wieder gestohlen haben?«

»Ja.«

»Das ist eine ganz verrückte Behauptung.«

Er antwortete in dieser frechen Weise, weil er sich vollständig sicher wußte, denn daß sein heutiges Verbrechen entdeckt worden sei, erschien ihm ganz unmöglich. Es war ja gar kein Mensch wieder in das Bureau gekommen. Er hätte das gewahr werden müssen. Und welch ein Lärm, wenn man bemerkt


Ende der siebzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der Weg zum Glück

Karl May – Forschung und Werk