Lieferung 46

Karl May

11. Juni 1887

Der Weg zum Glück.

Vom Verfasser des »Waldröschen«, »Verlorner Sohn«, »Deutsche Helden« etc.


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Hilfe seines Dietrichs den Schrank mit Leichtigkeit, erhielt seine Bezahlung und durfte dann gehen, wurde aber angewiesen, jetzt noch zu keinem Menschen von dem zu sprechen, was er hier gesehen hatte.

Der Assessor öffnete nun ein Kästchen nach dem andern. Sie alle enthielten Geld in verschiedenen Sorten mehrerer südlicher Länder, außerdem Uhren, Ringe, und andere Gold- und Geschmeidesachen.

»Wie das Lager eines Pfandleihers,« sagte der Medicinalrath.

»Oder vielmehr wie der geheime Schatz eines Einbrechers,« antwortete der Assessor. »Jeder Gegenstand ist mit einer Nummer versehen und in jedem Kästchen liegen Blätter mit Bemerkungen über die verschiedenen Nummern. Hören Sie zum Beispiel.«

Er nahm ein Blatt und las vor:

»Nummer Elf. Ein goldener Ring mit Rubin. In der Pußta Kobrö der reichen Bäuerin Emzcvary abgenommen.
   »Nummer Vierzehn. Busennadel des Weinhändlers Terecky. Wollte schießen, kam aber nicht dazu.«

»Was sagen Sie zu solchen Aufzeichnungen, meine Herren?«

Auf diese Frage des Assessors antwortete der Medicinalrath kopfschüttelnd:

»Das klingt ganz so, als ob wir es hier mit einem neuen Räuberhauptmann Schobri zu thun hätten.«

»Ja. Und ich bin der Ansicht, daß er in früheren Jahren dieses verbotene Geschäft betrieben hat. Jedenfalls werden die Papiere, welche hier zu finden sind, Aufschluß darüber geben. Natürlich können wir alle diese Gegenstände nicht hier lassen. Ich werde sie in Verwahrung nehmen und nach dem Silberhofe schaffen lassen, wo ich für diese Nacht mein Hauptquartier aufschlagen werde. Es versteht sich ganz von selbst, daß ich nicht eher Hohenwald verlasse, ja, nicht eher schlafen gehe, als bis ich Einsicht in sämmtliche Papiere und Effecten genommen habe. Leider habe ich Niemand, der mir die Sachen fortschaffen könnte.«

»Draußen steht der Müller,« bemerkte der Lehrer. »Der wird sehr gern bereit dazu sein.«

Als der Genannte befragt wurde, gab er seine Zustimmung. Er ging nach der nahen Mühle und brachte Peter, seinen alten Esel, herbei. In den zwei Körben, welche dieser rechts und links trug, fanden alle vorgefundenen Gegenstände Platz.

So setzte sich der Zug in Bewegung. Selbst der Medicinalrath ging nicht nach der Mühle, wo er doch sein Quartier hatte, sondern er begab sich mit dem Collegen noch einmal zum Feuerbalzer. Dieser lag in einem gelinden Wundfieber, eine ganz natürliche aber unbedenkliche Folge der Operation, welche heute an ihm vorgenommen worden war. Seine Mutter wollte gern erfahren, was sich indessen ereignet hatte, bekam aber nichts zu hören.

Als der Assessor mit dem Lehrer und dem Müller am Garten des Silberhofes anlangten, erfuhren sie, daß der Bauer sich nicht hatte sehen lassen.


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Vielleicht hatte er sich doch möglichst nahe herangeschlichen und da bemerkt, daß er abgelauert werden solle.

So geheim man den ganzen Vorgang gehalten hatte, er war doch ruchbar geworden.

Draußen vor dem Silbergute standen viele Neugierige, die aber freilich nichts zu hören bekamen. Nur den im Hausflur postirten Gensdarmen sahen sie, wenn sie aus der Entfernung durch die Hausthüre blickten, falls diese einmal geöffnet wurde. Wenn ja einmal einem dieser Neugierigen die Zeit zu lang wurde und er sich entfernte, so trat gleich wieder ein Neuangekommener an seine Stelle.

»Die Polizei ist beim Silberbauer!« so sagte man. Das war aber auch Alles, was man wußte. Dennoch war das für die hiesigen Verhältnisse ziemlich viel und die Bauern hüteten sich gar wohl, schlafen zu gehen. Sie gingen vielmehr in das Wirthshaus und waren entschlossen, das Bett nicht eher aufzusuchen, als bis sie eine sichere Nachricht mit nach Hause nehmen konnten.

Da saßen sie nun und ließen ihren Gedanken und Vermuthungen freien Lauf. Und Derjenige, welcher eigentlich von ihnen allen der Unterrichtetste hätte sein sollen, der Wächter, der saß bei ihnen und wußte ebenso wenig wie sie.

»Höre, Wächtern,« sagte Einer, »wer ist denn eigentlich die Polizeien hier im Ort?«

»Na, wer wirds halt sein! Ich bins!«

»So! Nun, so sag doch halt mal, was heut im Silberhof vorgenommen wird!«

»Das weiß ich freilich nicht.«

»So solltst Dich schämen! Es darf kein Mensch hinein und heraus. Der Schandarm steht drin und hält die Wach und Du weißt nix davon. Geh doch mal hin und bekümmere Dich um Dein Amt!«

»Das ist sehr bald sagt!«

»Und auch sehr bald than!«

»Ja, fangt nur mal mit denen Schandarmen an! Ich geh nicht ehern hin, als bis ich drei Schnapsen trunken hab oder vier oder fünf.«

»Dann hast wohl Muth?«

»Den hab ich auch jetzt schon. Aberst wann ich ein Branntweinerl trunken hab, dann bekomm ich scharfe Augen und eine beredte Zungen.«

»So trink!«

»Kann ich denn?«

»Nun, warum sollst nicht können?«

»Weil ich kein Geldl hab und dera Wirth pumpt mir nimmer.«

»So zahl ichs.«

»Das ist was Anderes. Da kann ich schon trinken.«

Als er sich dann Muth angetrunken hatte, setzte er seine Soldatenmütze auf und begab sich nach dem Silberhof. Erst war sein Gang gravitätisch,


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seine Haltung selbstbewußt. Aber je näher er seinem Ziele kam, desto mehr sank er zusammen und desto kleiner und langsamer wurden seine Schritte. Dort standen die Leute und starrten das Haus an.

»Stehts noch immer wie vorhin oder hat sich inzwischen was Neues begeben?« fragte er.

»Niemand hat was sehen oder bemerkt,« wurde ihm geantwortet. »Aberst Du mußts doch besser wissen als die Leutln hier! Du bist ja die Polizeien!«

»Ja, weißt, das verstehst halt nicht. Ich bin nämlich der Kriminale. Wanns was Wichtigs giebt, einen Raubmorden oder einen Verrath ins Vaterland hinein, da muß ich dabei sein. Jedoch bei Verbrechen, die nicht wichtig sind für die Paragraphen, da bin ich nicht nöthig, da incommanderirt man mich nicht gern.«

»Aberst dennoch mußt wissen, was vorgeht.«

»Ja, eigentlich muß man mirs melden!«

»Schau! Man sagt Dir nix! Das ist eine Beleidigungen für Dich. Willst Du's dulden?«

»Nein. Zu dulden brauch ich's nicht.«

»So geh doch mal hinein und stell die Leutln ordentlich zur Red. Oder hast kein Herz? Hast vielleicht Angsten?«

»Ich Angsten? Ich weiß gar nicht, was Angsten ist. Ich hab mich nicht mal vor meinem Vatern fürchtet, als ich noch ein kleiner Bub gewest bin. Wann er mich hat hauen wollt, hab ich ihn gleich so anbrüllt, daß er keinen Schlag than hat.«

»Ja, aus Angsten hast brüllt!«

»Schweig! Und damitst siehst, daß ich ein Herzen und Kuraschi hab, geh ich jetzund hinein.«

Er marschirte auf die Hausthüre zu und trat dort ein.

»Was wollen Sie?« fragte der Gensdarm.

»Ich bin dera Wächtern und Polizist hier vom Ort und wollt fragen, ob ich nicht auch mitmachen kann.«

»Was wollen Sie denn mitmachen?«

»Alles, was es hier zu thun giebt.«

»Schön! Wenn ich wüßte, daß Sie Ihre Pflicht gewissenhaft erfüllen werden, so würde ich Ihnen den schwierigsten Posten anweisen.«

Das schmeichelte dem Wächter. Das erhob seine Seele.

»O,« sagte er, »ich werd meine Pflicht thun und wanns mein Leben kosten thät.«

»Gut, so will ich Ihnen mein Vertrauen schenken. Sind Sie im Gasthofe bekannt?«

»Freilich.«

»So marschiren Sie jetzt gradewegs hin. Sie setzen sich in irgend eine Ecke, reden mit keinem Menschen ein Wort und passen genau auf alle Leute


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auf, welche dort ein- und ausgehen. Es wird höchst wahrscheinlich ein berüchtigter Verbrecher dort einkehren. Den arretiren Sie sofort. Verstanden?«

»Verstanden hab ichs schon. Aberst wie schaut denn dieser Verbrechern eigentlich aus?«

»Das wissen Sie nicht?«

»Ich hab ihn doch noch niemals sehen.«

»Das ist auch gar nicht nothwendig. Wenn Sie ein Polizist sind, so müssen Sie auch wissen, wie ein Verbrecher aussieht.«

»Ach so! Ja, das weiß ich freilich ganz genau. Mir soll schon Keiner entgehen!«

»Also gut! Eilen Sie also ins Wirthshaus, und sobald er kommt, fassen Sie ihn und bringen ihn mir hierher!«

»Schön! Sie werden bald derfahren, daß ich ihn erwischt hab.«

Er ging. Als er sich unter der Thür noch einmal umdrehte, sah er noch, daß durch die Hinterthür der Assessor mit dem Lehrer und dem Müller hereinkam. Der Letztere führte seinen Esel am Zügel. Sofort eilte der Polizist zu dem Gensdarm zurück und fragte leise:

»Ist vielleicht der Lehrern verarretirt?«

»Unsinn!«

»Aber der Herr Assessorn macht doch denen Staatsanwälten. Und wo der ist, da wird stets Einer verarretirt.«

»Nun ja. Sie sehen doch, daß der Esel arretirt worden ist.«

»Verteuxeli! Das hab ich mir doch denken konnt. Na, ich werd meinen Gefangenen auch bald bringen.«

Jetzt ging er. Als er die draußen Stehenden erreichte, wurde er gefragt, was er erfahren habe.

»Das sind heimliche Amtsgeheimnissen,« sagte er. »Wir von dera Polizeien dürfen halt nix verrathen.«

Er eilte weiter. Im Wirthshause angekommen, suchte er sofort einen Winkel auf und ließ die Thür nicht aus dem Auge. Er gab auch auf keine Frage eine Antwort. Er hielt sich ganz genau an seine Instruction. Leider aber wollte Niemand kommen, der nach seiner Ansicht das Aussehen eines berüchtigten Verbrechers hatte.

Der Assessor ließ alle Gegenstände in dasjenige Zimmer des Silberhofes bringen, welches er für sich ausgewählt hatte. Dann konnte der Müller nach der Mühle zurückkehren. Der Lehrer aber erfreute sich des Vorzuges, zum Bleiben eingeladen zu werden.

»Ihren Bemühungen ist es zum größten Theile zu verdanken, daß wir hinter die Thaten des Silberbauers gekommen sind,« sagte der Beamte. »Es wäre mir lieb, wenn ich heut noch weiter auf Ihren Beistand rechnen könnte. Es giebt so viel zu lesen. Wollen Sie helfen?«

»Sehr gern.«

»So kommen Sie mit herauf.«

Nun begannen die Beiden zu arbeiten. Es war noch lange nicht Mitter-


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nacht, so sahen die Neugierigen, daß der Wagen des Silberbauers vor dem Thore hielt. Der Knecht saß auf dem Bocke. Ein Gensdarm stieg ein und vor ihm - der Silberfritz. Der Letztere war an den Händen gefesselt.

Der Silberfritz war gefesselt.

Diese Nachricht lief im Verlaufe von zwei Minuten durch das ganze Dorf. Später wurde die alte Feuerbalzerin geholt. Sie blieb eine lange Zeit bei dem Assessor. Als sie wieder heraus kam, sollte sie den Leuten erzählen, aber sie entzog sich den neugierigen Fragern, indem sie sich schnell entfernte.

Sodann sah man den Finkenheiner kommen und nach fast einer Stunde wieder gehen. Auch er gab den Fragern keine Auskunft.

Gleich nach seinem Verschwinden kam eine verhüllte Frauengestalt das Dorf herauf, huschte an den Neugierigen vorüber und trat in das Silbergut. Niemand hatte sie erkannt. Es war die Frau des Finkenheiner. Sie wurde von dem Gensdarm nach dem Zimmer des Assessors gewiesen.

Dieser empfing sie freundlich und wies ihr einen Stuhl an. Der Lehrer saß an der anderen Seite des Tisches, um Notizen festzustellen. Nachdem der Assessor sich entschuldigt hatte, daß er sie zu so später Stunde noch bemühe, fragte er, ob er erwarten dürfe, daß sie seine Fragen nach bestem Wissen beantworten werde.

»Ich werde gern Alles sagen, was ich weiß, und nicht das Mindeste verheimlichen,« erklärte sie.

»Sorgen Sie nicht, daß ich Sie mehr als ganz nothwendig ist, belästigen werde. Ich habe Sie nicht rufen lassen, um mich über Ihre persönlichen Verhältnisse zu unterrichten. Dennoch aber wird es unvermeidlich sein, auch diese zuweilen zu berühren. Sie verließen damals Ihre Heimath in Gesellschaft des Silberbauers?«

»Ja,« antwortete sie erröthend. »Damals aber wurde er noch nicht mit diesem Beinamen genannt.«

»Wie weit kamen Sie mit ihm?«

»Zunächst bis Wien, wo ich meinem Manne schrieb und wartete, von ihm meine Papiere zu erhalten. Er that Alles nach meinem Willen. Wir sind nicht katholisch und wurden wegen böswilliger Verlassung meinerseits schnell geschieden. Dann ging ich mit Klaus nach Ungarn, wo er plötzlich verschwand, und zwar mit den dreitausend Gulden, welche mir gehörten.«

»Das stimmt. Er hat sie gebucht. Dieser Mann hat nämlich über seine Schurkereien höchst gewissenhaft Buch geführt. Bitte, was thaten Sie in Ihrer nun jedenfalls sehr bedrängten Lage?«

»Ich vermiethete mich, hatte aber traurige Zeit, da ich nicht ungarisch verstand und nur einen einzigen Anzug besaß. Klaus hatte mir Alles gestohlen, und mir nur das gelassen, was ich auf dem Leibe trug. Ich diente bei verschiedenen Herrschaften, versuchte manches Andere, alles ohne Glück und Erfolg, bis ich in Presburg eine liebe Herrschaft fand, bei der ich nun Jahre lang verblieb. Es war eine Wittwe, eine Baronin von Gulijan, welche in der Moldau und Wallachei bedeutende Besitzungen hatte. Ihr Lieblingssitz war ein Schloß in der Nähe von Slatina, wohin ich ihr folgte. Zu dem Schlosse


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gehörten zwei Mühlen. Auf einem Spaziergange betrat ich die eine derselben. Denken Sie sich meinen Schreck, als ich den Müller erblickte - Klaus war es.«

Der Assessor warf einen theilnehmenden Blick zu ihr hinüber.

»Es ist leicht begreiflich, daß Sie im höchsten Grade überrascht gewesen sind. Was that aber er?«

»Er that ganz fremd gegen mich.«

»Der Schurke!«

»Ich aber sah deutlich, daß er mich erkannte, denn er zuckte im ersten Augenblick förmlich zusammen.«

»Sind Sie öfters mit ihm zusammengekommen?«

»Nur allzu oft. Gleich an diesem ersten Male kam er mir, als ich ging, heimlich nach. Er leugnete gar nicht, es zu sein, obgleich er einen anderen Namen trug. Aber er verlangte von mir, daß ich ihn nicht kennen solle.«

»Und Sie? Was antworteten Sie?«

»Ich versprach ihm, ihn nicht zu kennen. Dieses Versprechen wurde mir sehr leicht. Ich verachtete ihn. Aber ich verlangte natürlich auch mein Eigenthum zurück. Er versprach mir, es mir nach und nach zurückzuerstatten, wenn ich ihm verspräche, seiner Frau nicht mitzutheilen, was ich von ihm wisse.«

»Er hatte also indessen geheirathet?«

»Nein, sondern er war bereits verheirathet gewesen, als er mich durch das Versprechen der Ehe verlockte, ihm zu folgen.«

»Sollte man das für möglich halten?«

»O, er war ein schrecklicher Mensch und ist es auch noch heut. Er hatte bereits hier gewohnt, als Knappe in der unteren Mühle, und war dann in die Fremde gegangen, an die untere Donau. Dort hatte er die Tochter eines sehr reichen Müllers verführt und dadurch das Jawort ihres Vaters erhalten, aber keinen Pfennig Mitgift. Darum war er unter dem Vorwande einer Geschäftsreise zu uns zurückgekehrt, um mich zu verführen und mein Geld in seine Hand zu bekommen. Als er es hatte, verließ er mich. Er hatte es für unmöglich gehalten, daß ich ihn finden würde. Von jetzt an beginnt eine Zeit, deren Erlebnisse ich für Erfindung einer müssigen Phantasie halten würde, wenn es nicht meine eigenen Erlebnisse wären. Der Silberbauer tritt da als ein wahrer Satan auf, er und der andere Müller, ein Kumpan und Helfershelfer von ihm, Namens Keller, dessen Aufenthaltsort ich leider trotz aller meiner Bemühungen nicht habe ausfindig machen können.«

»Ist er fort von dort?«

»Ja. Er verschwand mit Klaus zu gleicher Zeit, nachdem Beide Thaten verübt hatten, deren jede einzelne sie ins Zuchthaus hätte bringen müssen.«

Der Lehrer war aufmerksam geworden.

»Verzeihung!« sagte er. »Haben Sie keine Ahnung, wohin dieser Keller sich gewendet hat?«

»Nein, aber vermuthlich doch auch nach Deutschland, da er auch ein Deutscher war.«


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»Können Sie mir seine Person beschreiben?«

»Schwarz, stark und kräftig mit rohen Zügen. Sein Benehmen war noch roher als sein Gesicht. Er war ein würdiger Spießgeselle Klausens.«

»Hatte er Familie?«

»Seine Frau und Klausens Frau waren Schwestern. Beide starben. Klaus hatte zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, Keller aber nur eins, nämlich eine Tochter.«

»Wie hieß diese?«

»Pauline. Sie wurde von ihrer Mutter und in Folge dessen von allen Anderen Paula genannt.«

»Wunderbar, daß Sie diesen Mann nicht gefunden haben, da Sie doch Klaus fanden.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Daß er hier in der Nähe wohnt, nur wenige Stunden von hier. Er ists, von welchem Klaus die türkischen Goldstücke gekauft hat.«

»Der Thalmüller?« rief der Assessor erstaunt.

»Ja. Seine Tochter heißt Paula und der Fex, von welchem ich Ihnen vorhin erzählte, ist höchst wahrscheinlich kein Anderer als jener geraubte kleine Baron Curty von Gulijan, welcher in den Aufzeichnungen Clausens so oft erwähnt wird.«

»Ah! Wenn das wäre! Wenn sich das bewahrheitete!«

»Ich möchte wetten, daß es so ist!«

»Und ich,« sagte Anna, »könnte vieles, vieles opfern, wenn ich jenen Keller wirklich wiedersähe.«

»Sie sollen den Thalmüller sehen,« sagte der Assessor. »Dann werden wir ja erfahren, ob er derjenige ist, den Sie meinen. Also Sie sagen, daß die beiden Menschen so Strafbares verübt haben. Dürfen wir es erfahren?«

»Ich bin ja hier, um es zu erzählen.«

»Nun wohl, ich gestehe Ihnen gern, daß ich ganz Ohr bin.«

Und nun begann Anna zu erzählen, Thaten, welche sie belauscht, deren Zeugin sie gewesen, geheimnißvolle Ereignisse, schier unglaublich und doch in Wirklichkeit geschehen. Die beiden Hörer lauschten. Ihre gespannte Aufmerksamkeit ermüdete nicht, denn was sie hörten, war so ungewöhnlich, so hochinteressant, daß eine Ermüdung ganz unmöglich war.

Als sie geendet hatte, sprang der Assessor von seinem Stuhle auf, schritt ganz erregt im Zimmer auf und ab und dictirte dann folgende Depesche an die Adresse des Fex nach München:

»Komm mit dem nächsten Zuge sofort nach Scheibenbad, doch laß Dich von keinem Bewohner der Mühle sehen. Es ist außerordentlich Wichtiges im Werke.
                Dein Wurzelsepp.«

Der Sepp befand sich unten in der Gesindestube bei den Dienstleuten. Diese Letzteren befanden sich natürlich auch in größter Aufregung. Der Alte hatte die Aufgabe, sie möglichst zu beruhigen. Er wurde jetzt hinaufgerufen.


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»Sepp, Sie müssen mir sogleich nach der Stadt laufen,« sagte der Assessor.

»Gern. Ich werd halt fliegen, wanns so nothwendig ist.«

»Es ist nothwendig. Es handelt sich um eine Depesche, welche aufgegeben werden muß.«

»Na, das werd ich schon versorgen.«

»Können Sie lesen?«

»Nein.«

»Gar nichts?«

»Gedruckts buchstabir ich schon ein Wengerl, wann die Buchstaben so groß sind wie meine Tabakspfeifen.«

»Nun,« lächelte der Beamte pfiffig, »so darf ich Ihnen das Telegramm anvertrauen, ohne eine Verletzung des Amtsgeheimnisses befürchten zu müssen. Es soll nämlich ganz geheim bleiben. Nur ich allein darf es wissen. Hier ist es.«

Er gab das Blatt dem Alten in die Hände. Dieser warf einen Blick darauf.

»Verteuxeli! Ists möglich?« rief er aus.

»Was denn?«

»Dera Fex soll kommen, nach Scheibenbad!«

»Woher wissen Sie das?«

»Hier stehts ja doch schrieben! Und gar mein eigener Nam darunter.«

»Bewahre!«

»Nicht? Sapperloten, ich sehs ja hier!«

»Aber Sie irren sich!«

»Fallt mir gar nicht ein! Ich werd doch lesen können, Herr Assessorn!«

»Ich denke, Sie können nur Gedrucktes lesen und auch das nur dann, wenn die Buchstaben die Größe Ihrer Tabakspfeife besitzen!«

Der Alte kratzte sich hinter dem Ohre.

»Hm! ja,« brummte er. »Aber wissens, Herr Assessorn, das ist auch grad schrieben wie gedruckt!«

»Und Sie lügen wie gedruckt!«

»Donnerwettern! Das hat mir noch Keiner sagt!«

»So sage ich es.«

»Na, von Ihnen muß ichs mir halt gefallen lassen. Und - hm, ja, wissens, zuweilen, wann mein Aug recht scharf ist und die Luft recht rein und durchsichtig, da kann ich auch schon mal Geschriebenes lesen, besonders wanns mich betrifft und so einen guten Freund von mir, wie dera Fex es ist.«

»Verstehe schon! Sie sind ein alter Schlaupelz. Aber glücklicher Weise ein herzlieber und seelensguter Kerl.«

»Das denkens? Wirklich denkens das? Nun, das kann mich gefreun! Und Unrecht habens nicht damit. Warum aber habens denn meinen Namen darunter gesetzt?«


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»Weil er nicht wissen darf, wer ihn eigentlich ruft. Auch denke ich mir, daß Ihr Name ihn herbeiziehen werde.«

»Versteht sich, daß er kommt! Aberst da muß ich doch auch hin!«

»Das ist nicht absolut nöthig.«

»O doch! Wann dera Wurzelsepp dem Fex telegraphiren thut, so ist er auch dabei, wann dera Bub kommt. Herrgottl, hab ich da nothwendig! Jetzunder nach dera Stadt, in dera Fruh nach Steinegg, und nachhero nach Scheibenbad hinüber!«

»Nun, die letztere Tour können Sie mit mir machen. Ich werde fahren.«

»Natürlich thut dera Sepp da mit. Fahren thut er schon gern, besonderst wann er die Pferd und den Wagen nicht zu bezahlen hat. Also werd ich mich jetzt sofort auf die Schuhen machen. Wer aberst zahlt das Geldl für die Depesch?«

»Ich natürlich. Hier!«

Der Sepp erhielt das Geld und trabte von dannen.

Als die Frau sich später entfernte, wurde der Künstler, Signor Bandolini, aus dem Gasthofe geholt. Auch er blieb lange Zeit im Silberhofe. Zuschauer gab es nun doch nicht mehr vor dem Gute. Es war zu spät geworden.

Aber am andern Morgen gab es große Augen und noch viel größere Verwunderung, als die Leute erfuhren, daß der Feuerbalzer den Verstand wieder erhalten habe und vom Amte aufgefordert worden sei, seine Wohnung im Silberhofe aufzuschlagen. Der Silberfritz saß im Gefängnisse, und sein Vater war entflohen und wurde von der Polizei gesucht.

Am frühen Morgen machte sich der Sepp auf den Weg nach Steinegg hinüber. Er hatte während der Nacht nicht geschlafen. Das war ihm aber sehr gleichgiltig. Selbst wenn er zwei Tage und Nächte lang des Schlafes entbehren mußte, so störte ihn das gar nicht.

Er befand sich bei ausgezeichneter Laune. Alle seine Angelegenheiten liefen nach seinem Gefallen. Heut sollte er sogar den Fex sehen und sprechen! Kein Mensch war froher als er. Und nun gar den prächtigen Streich, welchen er zu spielen jetzt im Begriffe stand! Er blieb, als er das Schloß erblickte, stehen und stieß einen Jodler aus, welcher von den bewaldeten Bergwänden schallend zurückgeworfen wurde.

Als er die breite Freitreppe emporstieg, begegnete er dem Herrn Hausmeister.

»Donnerwetter! Schon wieder dieser Kerl!« dachte dieser. Sepp aber war ganz in Freundlichkeit aufgelöst.

»Herr Hausmeistern, wünsch schönsten, gutsten Morgen!« sagte er. »Ist das Fräulein Baronessen bereits aus den Federn heraus?«

»Aus den Federn heraus? Aber bitte, bitte! Gnädiges Fräulein haben sehr gut geruht und befinden sich längst schon munter.«

»Und wo ist sie?«

»Auf ihrem Zimmer.«


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»Schön! Da werde ich zu ihr gehen. Da, halt mir mal die Sachen!«

Ehe der Hausmeister es sich versah, hatte er ihm den Rucksack auf die Achsel geworfen, den Bergstock in die Hand gedrückt, den alten, zerrissenen Hut auf den Kopf gestülpt und stieg dann eiligst die Stufen weiter empor.

»Verrücktes Thier!« zürnte der auf sein Amt stolze Mann. »Mir diese Lumpen aufzuhängen! Ich werfe sie auf - auf - - Nein; das darf ich nicht. Ich müßte gewärtig sein, der Kerl giebt mir wieder Ohrfeigen. Ich werde diese ekelhaften Sachen fein säuberlich im Vorzimmer ablegen.«

Das that er auch. Der alte Sepp hatte es verstanden, sich in gewaltigen Respect zu setzen. Eine gute Ohrfeige hat oft mehr Erfolg als die feinste und höflichste Redensart.

Der Alte fand zufälliger Weise weder einen Diener noch eine Zofe, sich anmelden zu lassen. Darum klopfte er leise an die Thür, machte eine Lücke auf, steckte die Nase und den grauen Schnurrbart hinein und sagte:

»Grüß Gott! Ists halt gefällig, einzutreten?«

Milda saß am Fenster, ihr Skizzenbuch und den Bleistift in der Hand. Sie schien gezeichnet zu haben, eine Lieblingsbeschäftigung von ihr, zu welcher sie ein ausgesprochenes Talent besaß. Sie war bei der Anrede ein klein Wenig erschrocken, da sie vorher ganz in ihre Zeichnung versenkt gewesen war. Als sie aber den Schnurrbart und die scharfe Nase erblickte, nickte sie ihm lächelnd zu.

»Du, Sepp! Schon wieder!«

»Schon! Na, ist das ein Wort! Und mir ists halt grad so, als ob ich eine ganze Ewigkeiten nicht hier gewesen wär.«

»Machs nicht so schlimm!«

»Nein, fallt mir gar nicht ein! Es ist von selberst schlimm; da brauch ichs nicht erst schlimm zu machen.«

»Hast schon gefrühstückt?«

»Ja.«

»Was?«

»Einen Schnaps.«

»O weh! Dort auf dem Tische steht das meinige. Willsts essen, so kann ich einstweilen meinen Kopf fertig machen.«

»Na, auf den Tod bin ich grad nicht verhungert, aberst essen kann ich halt immer. Die Kaninchen, die Tauben und dera Wurzelsepp, die haben immer Appetit. Wohl bekomms auch, und dank schön!«

Er zog sich den Stuhl an den Tisch, setzte sich und begann, die feinen, delicat belegten Brödchen zu verspeisen. Er that, als sei er nur in diese Arbeit vertieft, verwendete aber doch kein Auge von ihr. Ihr zartes, reines Profil kam ihm, als sie so über ihr Skizzenbuch gebeugt da saß, mit Eifer zeichnend, so daß die Wangen glühten, schöner als je vor.

»Hast wohl etwas besonderes heut?« fragte sie, ohne aufzublicken.

»Ja freilich.«

»Was?«


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»Verschiedenes. Jetzund ist grad dera Rheinlachsen dran.«

»Rheinlachs? Wieso?«

»Weil ich ihn eß.«

»Ach, Du meinst das Brödchen mit Lachs belegt? Ich meinte den Grund Deines Besuches.«

»Ja, da hab ichs falsch verstanden. Wann ich essen thu, dann denk ich immer nur an das, was ich vor dem Schnabel hab.

Aberst meinen Grund hab ich freilich, daß ich herkommen bin.«

»Und den werde ich wohl erfahren?«

»Kann möglich sein. Will nur erst noch dieses runde, kleine Napfkücherl probiren.«

»Napfkücherl? Das ist ein Maccaronitörtchen.«

»Schau, ein Törtchen! So, so! Törtchen! Das klingt schön, ganz so wohlschmeckend! Beißt man denn da so kleine Bisserln abi oder steckt mans gleich ganz in denen Schnabel hinein?«

»Nach Belieben.«

»Nun, so mags ganz verschwinden. Je weniger Arbeit desto größer die Freud! Verdimmi, verdammi! Dieses Törtchen ist nicht übel. Zwar für meine Tobakszungen ists wohl ein Bisserl zu fein, aberst süß ists doch wie ein Busserl. So, jetzund bin ich fertig, und nun kann ich alleweil Red und Antwort stehen.«

Er war vom Stuhle aufgestanden und trat ihr langsam näher. Es war nicht seine Weise, an der Thür stehen zu bleiben. Wer sich seine Herzlichkeit nicht gefallen lassen wollte, nun, zu dem kam er eben nicht wieder.

»Gleich, gleich!« sagte sie.

Sie hob das Skizzenbuch empor und hielt es etwas von sich ab, um die Wirkung zu taxiren. Da konnte auch der Sepp sehen, was sie gezeichnet hatte. Es war ein männlicher Kopf. »Himmelsakra!« rief er aus.

Er hatte nämlich Rudolf Sandau's Züge erkannt, und da war ihm der unvorsichtige Ausruf entschlüpft.

»Was ists? Worüber erschrickst Du?« fragte sie, indem sie sich zu ihm umdrehte.

Er konnte ihr doch nicht die Wahrheit sagen, und in dem Augenblicke fiel ihm aber auch nichts ein. In seiner Verlegenheit kratzte er sich am Beine und antwortete:

»Ja, wissens, da hab ich mich unterwegs auf einen Baumstammen setzt, um auszuruhen, und da ist mir halt so ein schwarzes, großes Roßameiserl unter die Hosen krochen, und das zwickt mich nun in Einem fort.«

Sie erröthete doch ein Wenig.

»Aber, Sepp!«

»Was denn!«

»Das erzählt man doch nicht!«

»Warum nicht? Wenn Sie mich fragen, warum ich schrei, so muß ichs


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doch sagen! Oder darf man von denen Ameisen nix derzählen? Ich kann doch nicht Lügen machen und sagen, daß mir ein Alephant hineinkrochen ist, wanns nur ein Ameiserl ist.«

»Da hast Du freilich Recht,« lachte sie. »Schau doch einmal her. Hier habe ich einen Kopf gezeichnet. Wie gefällt er Dir?«

Er stellte sich rechts und stellte sich links, neigte den Kopf erst auf die eine dann auf die andere Seite, zog die Brauen hoch empor, machte erst das rechte und dann, als er dieses wieder geöffnet hatte, das linke Auge zu, strich sich den Bart, räusperte sich und sagte dann:

»Wie der Kopf mir gefallt? Hm! Gar nicht.«

»Wie?« fragte sie erstaunt.

»Gar nicht,« wiederholte er. »Warum denn nicht?«

»Weils gar keinen solchen geben kann.«

»Woher weißt Du das?«

»Das sehe ich schon, so ein bildsauberer Bub kommt im Leben gar nicht vor. Das ist nur ein Kopf aus dera Phantasie. Oder wärs von einem Bub wirklich abmalt?«

Sie wechselte doch die Farbe ein Wenig.

»Nein,« antwortete sie; »es ist allerdings ein Phantasiestück.«

»Hab ichs nicht gleich sagt! Ja, dera Sepp, der versteht sich schon auf die Porträten.«

»Also er gefällt Dir wirklich nicht?«

»Eben weils nur nach dera Einbildungskunsten ist. Wärs aberst ein Conterfei, nachhero könnt es mir freilich gefallen. So ein Bub! Verteuxeli! Grad so hab ich ausgeschaut damals, als ich noch jung gewest bin.«

Sie lachte hell auf.

»Grad so?«

»Ja. Vielleicht noch was hübscher.«

»Und vorhin sagtest Du, es könne in Wirklichkeit gar keinen so hübschen Kopf geben!«

»Jetzund, in dera neuen Zeiten. Früher aberst waren hübsche Buben viel häufiger als heut. Seit aberst die hübschesten von damals nicht heirathet haben, ists mit dera männlichen Schönheit ganz alle worden.«

»Ach so! Du bist ja unverheirathet.«

»Ja, und das ist mein Glück.«

»Warum?«

»Wann ich verheirathet wär, das wär meiner Frau ihr Glück.«

»Du bist unverbesserlich. Also jetzt bin ich mit dem Phantasiekopf fertig. Nun können wir von Deiner Angelegenheit sprechen, in welcher Du gekommen bist.«

»Es ist nicht meine sondern die Ihrige.«

»Wieso?«


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»Ich hab hört, daß Sie eine Annoncen in die Zeitung setzt haben, von wegen Einem, der Ihnen helfen soll, das Schloß herrichten.«

»Ja.«

»Haben sich welche meldet?«

»Mehrere. Ich habe aber noch keine Entscheidung getroffen.«

»Das ist sehr gut. Ich weiß nämlich Einen, und zwar einen gar Braven.«

»So! Du willst mir ihn wohl empfehlen?«

»Ja, das will ich wohl, wenn Sie mirs nicht übeln nehmen wollen.«

»Uebel kann ich es Dir doch unmöglich nehmen. Aber ich muß Dir dabei eine Bemerkung machen, welche auch Du nicht übel nehmen darfst.«

»Ihnen übel nehmen? Eher fällt dera Mond vom Himmel herab.«

»Ich thue Dir sehr gern einen Gefallen, wenn Du auf dem Gebiete bleibst auf welchem Du zu Hause bist; aber weiter darfst Du nicht gehen. Hier handelt es sich um ein Feld, von welchem Du nichts verstehst, und da kann Deine Empfehlung wohl nichts gelten.«

»Oho! Dieses Feld versteh ich gar wohl!«

»Das Baufach - das Kunsthandwerk?«

»Nein, das geht mich nix an. Aberst ich mein' halt das Feld dera Wohlthätigkeit. Ich weiß, daß dera Mann, den ich meinen thu, sein Fach versteht, denn er hat halt die besten Censuren und auch bereits einen Preis errungen. Und es thät ihn so glücklich machen, wann er die Stell bekommen könnt. Darum wollt ich ihn empfehlen. Er brauchts so nothwendig, und er verdients auch gut, denn er ist so brav.«

»So? Wer ists?«

»Ein armer Schluckern. Sein Vatern ist drüben in Amerika storben, und seine Muttern hat sich nicht satt gessen, um den Sohn auf die Schul zu bringen. Sie hat eine kleine Pension gehabt, und die ist nun verloren, weil dera Kerl, ders zahlen soll, bankerott worden ist. Nun hat dera Sohn keine Stell, kein Verdienst und kein Brod. Die Muttern hat der Schlag troffen vor Schreck. Sie hat sich nicht bewegen und auch nicht reden konnt. Das ist ein Kreuz und Elend. Und doch sind die beiden Leutln seelensgut. Ich, wann ich dera Herrgott wär, ich gäb dem Buben gleich den größten Kirchendom zu bauen, damit er leben kann und seine Muttern pflegen, die er so sehr lieb hat.«

Milda blickte still vor sich hin. Sepps Worte verfehlten den beabsichtigten Eindruck nicht.

»Wie alt ist er?« fragte sie.

»Das weiß ich nicht so genau - - nicht gar zu alt und nicht gar zu jung.«

»Der Name?«

»Sandau.«

»Wo wohnt er?«

»Gar nicht weit von hier, nämlich da droben in Eichenfeld.«


// 1094 //

»Hm! Die Mutter gelähmt vor Schreck! Und Du sagst, daß er seine Sache verstehe?«

»Freilich! Er hat doch vom König einen Preis erhalten.«

»Warum hat er sich da nicht bei mir gemeldet?«

»Weil ers nicht wußt hat. Erst gestern hab ichs lesen, und von mir hat ers derfahren. Ich hab ihm sogleich gerathen, sich mit zu bewerben. Aber dera Bub ist eine bescheidene Seel. Ich hab nur so in ihn hineinsprechen müssen, bevor er sich dazu entschlossen hat.«

»Das gefällt mir. Wirklich große Männer sind stets bescheiden. So will er mir also schreiben?«

»Nein, das hab ich ihm abgerathen. Ich hab ihm sagt, daß ich nach Steinegg gehen will, um es dera gnädigen Baronessen zu sagen, und heut am Nachmittag soll er nachhero selberst kommen.«

Sie drohte ihm mit dem Finger.

»Höre, Sepp, solche Dispositionen darfst Du ohne meine Einwilligung eigentlich nicht treffen.«

»Das hab ich mir auch schon denkt; aberst ich hatt doch keine Zeit, erst lang zu fragen. Leicht wär da ein anderer dazwischen kommen und von Ihnen angagerirt worden.«

»Kennst Du denn die Familie?«

»Seit langer Zeit. Wann das nicht dera Fall wär, so könnt mirs gar nicht einfallen, ihn zu empfehlen. Seine Muttern ist eine Frau wie - wie - na, grad wie die Frau Bürgermeisterin. Und er ist zu was Besserm geboren als zum Hungerleiden. Ich bitt gar schön, daß es eine Freud und Lust, eine Wonne ist, Jemand auf den Weg zu bringen, das müssens halt bedenken, gnädige Baronessen.«

»Nun, er mag kommen. Einen Dummkopf werde ich freilich nicht engagiren; aber meine Ansprüche steigen auch nicht zu hoch. Es sollte mich freuen, wenn er im Stande ist, sie zu befriedigen. Ich könnte Dir dann einen Gefallen erweisen und würde eine Familie kennen lernen, die ich leicht ihrer Sorge zu entheben vermag.«

»Das hab ich mir denkt. Jetzt weiß ich nun ganz gewiß, daß er angenommen wird, und da geb ich gleich im Voraus meine Hand und sag einen großen Dank. Vergelts Gott!«

Er ging.

Sie stand am Fenster und sah ihn über den Schloßhof schreiten. Sie blickte ihm nach, so lange sie ihn zu sehen vermochte. Welch ein eigenthümlicher Mensch! War er denn wirklich dazu bestimmt, die Vorsehung für so viele Menschen zu spielen!

Dann fiel ihr Auge wieder auf die Zeichnung. Sie hatte den Kopf aus dem Gedächtnisse wiedergegeben; aber er war den noch so ausgezeichnet getroffen, als ob das Original ihr dazu gesessen hätte. Sie betrachtete diese Züge mit liebevollen Blicken. Hätte sie sich dabei im Spiegel sehen können, so wäre sie entweder über sich erschrocken oder über sich erröthet.


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Endlich steckte sie das Porträt weg und griff zu Aufzeichnungen, Büchern und Plänen, um sich auf die Unterredung mit den Künstlern, welche sich gemeldet hatten, vorzubereiten.

Darüber verging der Vormittag. Sie war gewöhnt, nach dem Diner einen kurzen Ausgang zu unternehmen. Sie ging hinab in den Garten und dann in den Park. Dabei gelangte sie an die Straße, die denselben durchschnitt und grad hier eine scharfe Biegung machte. Im Begriff, über die Straße hinüber zu schreiten, hörte sie Schritte. Ohne sich zu fragen warum, blieb sie stehen. Der Nahende bog um die Krümmung und sah sie. Auch er blieb stehen. Sie standen sich gegenüber, kaum zehn Schritte entfernt - Rudolf Sandau war es.

Er zog grüssend den Hut.

Er zog grüßend den Hut. Sie erglühte bis in den Nacken herab.

»Fräulein!« stammelte er.

»Sie!« stieß sie hervor.

Er trat langsam, zögernd näher. Sie hob den Fuß, um zu gehen, setzte ihn aber wieder nieder.

»Was thun Sie hier?« fragte sie.

»Ich habe in Steinegg zu thun.«

»Wirklich?«

»Ja.«

»Unser Wiedersehen ist also ein rein zufälliges?«

»Gewiß. Oder denken Sie, daß - - -«

Er sprach den Satz nicht aus.

»Ich habe vorgezogen, zunächst gar nichts zu denken,« antwortete sie. »Es freut mich aber, zu hören, daß nur der Zufall Sie nach Steinegg führt. Unser gestriges Zusammentreffen war die Improvisation eines neckischen Waldgeistes, und Improvisationen dürfen nicht von langer Dauer sein, sonst verlieren sie ihren Werth. Leben Sie wohl!«

Sie schritt vollends über die Straße hinüber und verschwand hinter den dort stehenden Büschen. Er hatte gar nicht Zeit gehabt, seinen Hut zum Abschiede zu ziehen.

Er nahm ihn erst jetzt ab, zog das Taschentuch und wischte sich die Stirn ab. Sein Gesicht war sehr bleich geworden. Er preßte die Hand auf das Herz, setzte den Hut wieder auf und ging weiter, doch nein, er kehrte um, bückte sich da, wo sie gestanden hatte, nieder und hob einige Körnchen des Sandes auf, welchen ihr Fuß berührt hatte. Er riß ein Blatt aus der Brieftasche, legte es in Couvertform zusammen und that den Sand hinein. Erst nun, nachdem er die Brieftasche wieder eingesteckt hatte, setzte er seinen Weg fort, aber langsam, recht langsam, als ob er an einer Last zu tragen habe.

Und Milda? Wenn sie das gesehen hätte?

Nun, sie hatte es gesehen. Sie war zwar hinter den Büschen verschwunden, da aber nicht weiter gegangen sondern stehen geblieben. Sich umwendend sah sie, daß sie ihn beobachten konnte, ohne von ihm gesehen zu wer-


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den. Sie sah also, was er that. Sie blickte ihm nach, bis er unten, wo die Straße nach der Stadt zu steiler abfiel, verschwand.

Nun war er fort, und sie trat wieder auf die offene Straße heraus. Aber sie ging nicht über dieselbe zurück, sondern - sonderbarer Weise - schritt sie zu der Stelle, auf welcher er gestanden hatte. Die Spur seines Fußes war noch dort zu sehen. Sie bückte sich, nahm einige Fingerspitzen des Sandes auf und verbarg die feinen Körnchen in das Innere ihre Handschuhes.

»Sand!« flüstere sie dabei. »Das Zeichen der Vergänglichkeit. Der Sand verrinnt. Diese Körner aber sollen mir nicht verrinnen! Ein Italiener! Wir werden uns nie wiedersehen. Addio!«

Sie kehrte nach dem Schlosse zurück und that ganz dasselbe, was er auch gethan hatte: Sie that die Sandkörner in ein Couvert, schrieb das Datum auf dasselbe und hob es dann in einem Fache ihres Schreibtisches auf.

Sie war damit kaum fertig, so trat die Zofe ein und meldete Herrn Sandau, welcher die gnädige Baronesse zu sprechen wünsche.

»Bitte eintreten!«

Die Zofe gehorchte dem Befehle. Sandau nahm Zutritt, und sie machte hinter ihm die Thüre zu.

Es war ganz unmöglich, die Gesichter der beiden Erstaunten, welche sich abermals so unerwartet gegenüber standen, zu beschreiben. Er vergaß ganz, sich zu verbeugen. Auf seinem Gesichte wechselten Blässe und Röthe. Und sie stand ganz unbeweglich, das Auge mit stummer, verwunderter Sprache groß auf ihn gerichtet.

»Was ist das!« sagte sie. »Man hat mir Herrn Sandau gemeldet!«

»Der bin ich,« antwortete er, die vergessene Verbeugung jetzt nachholend.

»Aus - - Eichenfeld?«

»Ja.«

»Aber, ich denke, Sie sind Italiener!«

»Ein kleines, leicht erklärliches Mißverständniß. Ich komme aus Italien.«

»Ach! Also ein - - Deutscher!«

»Und Sie - -? Pardon! Ich hatte gebeten, mich der Baronesse von Alberg zu melden.«

»Da sind Sie am richtigen Orte. Ich bin die Genannte.«

Sie sah seine Schläfe erglühen und sein Auge dunkler werden. Seine Lippen zitterten.

»Das - das konnte ich nicht wissen!« sagte er, fast leise, wie zu sich selbst, so daß sie es kaum vernehmen konnte. Und lauter fügte er hinzu: »Verzeihung, gnädiges Fräulein! Das ist eine Komödie der Irrungen, zu der ich die Veranlassung wirklich nicht habe geben wollen. Gestatten Sie, daß ich mich Ihnen empfehle!«


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Er verneigte sich und öffnete hinter sich die Thür, um sich zurückzuziehen.

»Herr Sandau!« rief sie in bittendem Tone.

»Gnädiges Fräulein!«

»Bleiben Sie noch!«

Er zog die Thüre wieder zu.

»Wer hätte das gedacht! Also Sie sind kein Ausländer?«

»Und Sie keine Försterstochter!« antwortete er mit mattem Lächeln.

»Verzeihen Sie den Scherz! Oder würden Sie ihn leichter verzeihen, wenn ich wirklich die alte Tante wär, für welche ich mich ausgab?«

»Ich habe nichts zu verzeihen. Sie sagten ganz richtig, daß unser Zusammentreffen die Improvisation eines neckischen Waldgeistes sei, und daß eine Improvisation ihren Werth verliere, wenn man ihr eine längere Dauer verleihe.«

»O bitte, das ist jetzt ganz anders. Jetzt ist von keiner Episode die Rede. Jetzt stehen wir uns in geschäftlicher Angelegenheit gegenüber, und solche Sachen pflege ich so wenig wie möglich poetisch zu behandeln. Bitte, nehmen Sie also Platz!«

Sie deutete auf einen Sessel. Er aber schüttelte leise den Kopf und entgegnete:

»Ich möchte mir die Möglichkeit, mich im spätern Leben frei von jeder geschäftlichen Beimischung der Fee zu erinnern, welche mir im Wald erschien, nicht rauben. Bitte, erlauben Sie mir gütigst, meine Bewerbung zurück zu ziehen!«

»Nein, das erlaube ich Ihnen nicht,« antwortete sie in bestimmtem Tone. »Ziehen Sie dieselbe aus geschäftlichen Gründen zurück, so kann ich Ihnen nicht zürnen. Sind aber die Gründe persönlicher Natur, so liegt darin eine Minderschätzung, vielleicht sogar eine Beleidigung für mich.«

»Das beabsichtige ich nun freilich keinesfalls!«

»Ich hoffe das. Nehmen wir an, daß wir die beiden menschlichen Wesen, welche durch das Gewitter zusammengeführt wurden, gar nicht kennen, so giebt es nicht das mindeste Hinderniß, uns über die Veranlassung Ihres gegenwärtigen Besuches in aller Ruhe zu unterhalten. Also bitte, nehmen Sie doch Platz!«

Sie setzte sich. Waren es ihre Worte oder war es das gewinnende Lächeln, welches ihm von ihr entgegenstrahlte, er fühlte sich besiegt. Er setzte sich.

»Also, Herr Sandau,« begann sie, »ich nehme an, Sie wissen, daß der sogenannte Wurzelsepp heut bei mir gewesen ist, um von Ihnen zu sprechen?«

»Ich weiß es, muß aber bemerken, daß nicht ich die eigentliche Veranlassung bin, daß Sie durch ihn incommodirt wurden.«

»O, dieser brave, originelle Alte incommodirt mich niemals!«

»Ich hätte Ihnen schreiben können; er aber drang darauf, mich in seinen Willen zu fügen.«

»Ja, so ist er.«

»Als ich einwilligte, hatte ich natürlich keine Ahnung, wer diese Baro-


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nesse von Alberg sei. Der Sepp beschrieb sie mir als eine sehr häßliche alte Jungfer.«

»Und Sie nannte er einen Herrn, der nicht gar zu alt und auch nicht gar zu jung sei.«

»Dieser Intriguant!«

»Das ist er, aber im besten Sinne und in der besten Absicht, außer -«

Sie hielt inne. Sie wurde blutroth. Erst jetzt dachte sie daran, daß sie dem Sepp den Kopf gezeigt hatte. Er kannte Sandau. Er hatte also gewußt, daß es sein Portrait sei. Sie fühlte eine unendliche Verlegenheit, wie noch nie in ihrem Leben. Es war ihr, als ob sie gegen den Alten einen unversöhnlichen Zorn fassen müsse, und doch sah sie im Geiste seine guten, treuen Augen leuchten. Sie brachte es zu keinem Zorne. Aber sie nahm sich vor, ihn gehörig auszuschelten.

»Außer - - -?« fragte Rudolf. »Ich glaube, es giebt in der Ehrlichkeit dieses Mannes kein Außer, keine Ausnahme.«

»So kennen Sie ihn genau?«

»So genau, als ob er mein Vater sei.«

»Ich habe ihn erst vor Kurzem zum ersten Male gesehen.«

»So erlauben Sie mir die Versicherung, daß Niemand sich zu schämen braucht, in der Nähe dieses Mannes gesehen zu werden. Er ist arm, aber ein ganz außerordentlicher Mensch. Wäre er reich oder hoch geboren, so wäre es ihm wohl nicht schwer gefallen, sich einen Weg zu den höchsten Gesellschaftspositionen zu ebnen. Es ist ein so ziemlich offnes Geheimniß, daß er mit sehr hohen Personen verkehrt. Er ist, wie in der Oper, der alte Ueberall und Nirgends, und wo er hinkommt, da thaut das Eis, die Wolken theilen sich, und die Sonne beginnt, die ersehnten Strahlen wieder herab zu senden.«

»Das ist ja eine sehr beredte Lobpreisung des guten Alten! Und ich glaube sehr gern, daß er sie verdient. Ich habe ja bereits selbst ein ganz eclatantes Beispiel erlebt, daß er wirklich den Sonnenschein bringt, von welchem Sie sprechen. Also er ist es gewesen, der Sie auf meine Annonce aufmerksam gemacht hat? Nun, so wünsche ich, daß das von gutem Erfolg sein möge.«

»Und ich,« sagte er in bescheidenem Tone, »fühle mich zur Erfüllung dieses Wunsches viel zu schwach. Ich habe ihm gesagt, daß ich zu jung, zu wenig erfahren bin, um Ihren Ansprüchen zu genügen.«

»Er erwähnte aber Ihre guten Zeugnisse und den Preis, welchen Sie sich bereits erworben haben.«

»Was will das sagen. Vielleicht hat er auch von meinen persönlichen Verhältnissen gesprochen?«

»Ein klein Wenig.«

»Dachte es mir!« sagte er erröthend.

»Bitte, Sie dürfen ihm nicht zürnen. Er sprach von Ihrer kranken Mutter und von dem Verluste, der Sie betroffen hat.«

»Das konnte er lieber unterlassen. Dieser Schlag hat mich ebenso schwer wie unerwartet getroffen.«


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Er blickte trüb vor sich nieder. Als er dann den Blick erhob, sah er ihr Auge so warm und theilnehmend herüber leuchten, daß es ihm ganz absichtslos von den Lippen klang:

»Gestern, als ich Sie im Walde traf, hielt ich mich für zwar nicht wohlhabend aber für den Sohn einer Mutter, welche eine recht auskömmliche Pension bezog. Diese ist plötzlich verloren gegangen, und der Schreck darüber hat die Mutter an Körper und Sprache gelähmt. Die Pension hat, wie ich da so spät erfuhr, eine so winzige Höhe gehabt, daß sie nicht ausreichen konnte, einen einzelnen Menschen nur mit dem trockenen Brode zu versorgen. Dennoch hat die Mutter mich zur Akademie geschickt. Sie hat Unterricht ertheilt, in einer so kleinen Stadt, wie Eichenfeld ist - was kann sie sich damit verdient haben! Jetzt weiß ich, daß sie gehungert, ja, wörtlich muß es genommen werden, gehungert hat. Nun liegt sie krank darnieder. Von einer vorläufigen Fortsetzung meiner Studien ist natürlich keine Rede. Ich muß verdienen, um leben zu können. Schon nahm ich mir vor, Arbeit bei einem Neubaue zu suchen, sollte es auch nur als Handlanger sein; da kam der Sepp und sagte mir von Ihrer Annonce.«

»Sie sollen die Anstellung haben, Herr Sandau!« erklärte sie ihm, indem die Freude, ihm helfen zu können, auf ihrem Gesichte strahlte.

»Bitte!« wehrte er ab. »Dieser rasche Entschluß macht Ihrem Herzen alle Ehre, gnädiges Fräulein; aber ich kann ihm nicht zustimmen. Sie kennen mich noch nicht.«

»O, ich kenne Sie!«

»Nein. Höchstens können Sie aus meinen Worten auf meine Seeleneigenschaften schließen; aber ob ich der Aufgabe, welche hier zu lösen ist, gewachsen bin, das wissen Sie nicht. Dazu gehört eine kaltblütige, objective Prüfung.«

»Aber ich bin ja überzeugt, daß Sie alle meine Ansprüche befriedigen werden!«

»Das spricht die Stimme Ihres Herzens; ich aber möchte nun und nimmer eine Anstellung als Almosen empfangen. Der Verstand, welcher sich nicht von der Stimme des Herzens beschmeicheln und bestechen läßt, muß Ihnen sagen, daß ich das Salair, welches Sie mir zahlen, in Wirklichkeit auch verdiene. Also bitte, prüfen Sie, bevor Sie sich entschließen!«

»Aber wie soll ich Sie prüfen? Ich kann Sie doch nicht examiniren. Ich besitze ja gar nicht die Erfahrungen und Kenntnisse, welche zur Ausführung meiner Pläne nothwendig sind. Eben grad darum wollte ich mir einen Herrn, der das mir Fehlende besitzt, als Beirath engagiren. Ich muß einen Jeden, ob nun Sie es sind oder ein Anderer es ist, auf Treu und Glauben nehmen und kann nur am Erfolge sehen, ob ich mich dabei irrte oder nicht. Ich kann bei der Wahl nur darnach gehen, ob der Betreffende mein subjectives Vertrauen besitzt. Ob er es auch verdient, das kann sich doch nur später zeigen. Und da Sie nun ganz auf mich den Eindruck machen, daß ich mit Ihnen zufrieden


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sein werde, so sehe ich gar nicht ein, warum ich mich auch noch mit andern Bewerbern quälen soll.«

Er war ihrer Darlegung mit Aufmerksamkeit gefolgt, und er antwortete aufrichtig:

»Ihre Worte wirken überzeugend. Ich als Fachmann, wenn auch sehr junger, begreife freilich, daß Sie mehr instinctiv wählen können als in Folge genauer Abschätzung. Ich würde also sagen: Gut, versuchen Sie es mit mir! Aber als gewissenhafter Mann kann ich diese Worte nicht aussprechen, ehe ich weiß, welche Leistungen von mir erwartet werden.«

»Das sollen Sie sofort erfahren. Ich werde Sie durch das Schloß führen. Es soll eine vollständig neue Ausstattung erhalten und zwar nach den Angaben, welche Sie dem Meubleur und Anderen darüber machen werden. Außerdem beabsichtige ich, mehrere bauliche Veränderungen, vielleicht auch die Anfügung eines Neubaues, vornehmen zu lassen. Davon verstehe ich gar nichts; da muß ich mich ganz auf Sie verlassen. Das ist sehr viel und doch auch sehr wenig. Getrauen Sie sich nun, mein Alliirter zu werden?«

Er stand von seinem Sitze auf. Seine Brust erweiterte sich; er holte tief, tief Athem, und über sein Gesicht breitete es sich wie eine wonnevolle, friedliche Sicherheit.

»Sie haben Recht,« sagte er. »Es ist sehr viel und doch auch sehr wenig, was Sie von mir verlangen. Das Viel soll mich nicht abschrecken, und das Wenig soll mit solcher Treue gethan werden, als ob es sich um Großes handle.«

»Sie schlagen also ein?«

Sie streckte ihm ihr kleines Händchen entgegen.

»Nein, noch nicht. Bitte, lassen Sie mich erst die Baulichkeiten sehen. Ich habe hier eine doppelte Aufgabe. Ich will mir nicht nur Ihre Befriedigung, Ihren Beifall erwerben, obgleich mir das am Höchsten steht. Es ist das die erste praktische Aufgabe meines Lebens. Ob und wie ich sie löse, das wird auf meine Zukunft von gestaltendem Einflusse sein. Ich darf sie also nicht leichtsinnig übernehmen, sondern ich muß mich ernstlich prüfen, ob ich ihr auch wirklich gewachsen bin.«

»Das ist wohl mehr als pflichttreu gedacht!«

»Sie halten mich für einen Pedanten? Der bin ich glücklicher Weise nicht, und, Gott sei Dank, die Noth treibt mich ja doch nicht dazu, nur um leben zu können, eine Arbeit zu übernehmen, welche meine Kräfte übersteigt.«

Sie blickte ihn fragend an.

»Ich denke, Sie haben Alles verloren!«

»Ja, gestern, als ich heimkehrte, war ich sehr, sehr arm. Aber der Sepp kam als Retter. Ein edler Menschenfreund hat ihm eine Summe anvertraut zu dem Zwecke, einen strebsamen jungen Mann damit zu unterstützen. Er bot mir das Geld an, und da meine kranke Mutter mir zuredete, so nahm ich es an, natürlich unter der Bedingung, daß ich es später mit Zinsen zurückzahlen werde.«


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Ueber Milda's Gesicht flog ein feines Lächeln.

»Hat er den Namen dieses Menschenfreundes genannt?« fragte sie.

»Nein. Es soll ein Geheimniß bleiben.«

»Dann möchte ich Sie doch zu gern bitten, einmal ganz gegen alle Erlaubniß neugierig sein zu dürfen!«

»Seien Sie es immerhin!«

»Ohne daß Sie mir zürnen?«

»Gewiß zürne ich nicht.«

»So bitte, sagen Sie mir aufrichtig, wie hoch die Summe war!«

Er antwortete unbedenklich, indem er ihr den Betrag nannte. Jeden andern Frager hätte er abgewiesen; diesem Mädchen gegenüber aber gab es kein Bedenken. Er war felsenfest überzeugt, daß ihre Absicht keine gewöhnliche sei.

»Dachte es mir!« nickte sie lächelnd. »Also der Menschenfreund soll verschwiegen bleiben? Ich kenne ihn sehr genau.«

»Das wäre ein ganz eigenthümlicher Zufall.«

»Zufall, ja, aber kein ganz besonders seltener. Soll ich Ihnen den Namen nennen?«

»Bitte, nein. Ich bin gern discret, und wenn der betreffende Herr wünscht, daß ich ihn nicht kennen soll, so möchte ich seinen Willen achten.«

»O, der betreffende Herr weiß gar wohl, daß er nicht lange Zeit verborgen bleiben kann. Auch bin ich vollständig überzeugt, daß er es mit der Discretion nicht gar sehr peinlich nimmt. Es ist nämlich - sei es heraus gesagt - kein Anderer als der Wurzelsepp selbst.«

»Der - -!« rief Rudolf. »Er selbst - -!«

»Ja, ganz gewiß.«

»Haben Sie genügende Veranlassung, dies anzunehmen?«

»Ich weiß ganz genau, daß er erst vorgestern und gestern dieses Geld verdient und ausgezahlt erhalten hat, nämlich von meinem Vater, ganz genau dieselbe Summe. Da haben Sie es. Es ist nicht der mindeste Zweifel möglich, daß er es Ihnen gegeben hat. Ja, ich bin sogar überzeugt, daß er es Ihnen mit dem stillen Vorbehalt geliehen hat, es Ihnen zu schenken.«

»Das - das meinen Sie!«

»Ja, das meine ich. O, dieser alte Sepp ist ein Prachtmensch. Ich habe ihn lieb, obgleich er mich - - -«

Sie schwieg erröthend. Und als er sie fragend anblickte, fuhr sie fort:

»Er hat mir heut einen Streich gespielt, den ich ihm eigentlich sehr übel nehmen sollte; aber wer kann ihm bös sein! Ich werde ihn zwar bestrafen, aber das wird mir ganz gewiß selbst weher thun als ihm. Und nun, bitte, wollen wir unsere Wanderung durch das Schloß beginnen.«

Sie führte ihn durch alle Räume des Schlosses. In einem jeden Zimmer sprach sie die Wünsche und Ansichten aus, welche dasselbe betrafen. Er hörte ihr in stiller Bewunderung zu. Sie entwickelte nicht nur eine Herzens- sondern auch eine Geistesbildung, welche sein Staunen erregte. Eine junge Dame,


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welche eine solche Fülle gediegenen Wissens besaß, hatte ganz gewiß keine Zeit gehabt, sich mit den Nichtigkeiten und Zerstreuungen der sogenannten vornehmen Welt zu befassen. Sie hatte voller Ernst, Eifer und Ausdauer an sich selbst gearbeitet. Er hatte noch niemals, außer seiner Mutter, eine Dame kennen gelernt, welche ihm imponirt hätte. Bei Milda war das der Fall, und er wurde sich dessen mit wahrer Wonne bewußt.

Sie wieder war ganz entzückt von der stillen, verständnißvollen Ruhe, mit welcher er ihren Auseinandersetzungen lauschte. Sie fühlte, daß ein jedes ihrer Worte einen Werth, einen bestimmten Werth für ihn habe, und obgleich er vorläufig nur einnahm und nichts ausgab, so wurde sie sich doch bewußt, daß er ihr überlegen sei.

Dann schritt sie mit ihm um das äußere Schloß herum und erklärte ihm mit liebenswürdigem Eifer, welche Veränderungen und Neugestaltungen sie da anzubringen wünsche.

Jetzt endlich waren sie fertig, und da sagte sie in freundlich schmollendem Tone:

»Nun aber haben Sie noch gar nichts gesagt. Ich habe gesprochen, und Sie hüllten sich in geheimnißvolles Schweigen. Jetzt werden Sie mir eine Censur ertheilen, die ich mir durch meine Plauderhaftigkeit zugezogen habe. Bitte, fällen Sie kein strenges Urtheil. Ich bin eine Dame und das ist bekanntlich der bedeutendste Milderungsgrund, den man kennt.«

»Plauderhaft?« antwortete er kopfschüttelnd. »Ich bin überzeugt, daß Sie das grade Gegentheil von plauderhaft sind.«

»Vielleicht haben Sie Recht. Ich bin nicht sehr mittheilsam.«

»Und ich meine, daß Sie jetzt so ausführlich sprachen, weil Sie von Ihrem Gegenstande begeistert sind.«

»Einestheils, und anderntheils giebt es Menschen, aber nur sehr selten, in deren Nähe man sich gezwungen fühlt, sein Innerstes rücksichtslos und aufrichtig zu erschließen. Zu diesen Menschen gehören Sie.«

Es durchschauerte ihn wonnig bei diesen Worten des schönen Wesens. Er erröthete. Sie sah es und fügte schnell hinzu:

»Aber eine Rüge, eine schwere Rüge muß ich Ihnen ertheilen. Ich kann sie Ihnen unmöglich ersparen, Herr Sandau! Hoffentlich werden Sie dieselbe in geduldiger Ergebung über sich ergehen lassen?«

»Ganz gewiß.«

»Ich muß eben Ihre große Zurückhaltung tadeln. Sie haben zu Allem, was ich sagte, nicht ein einziges Mal eine Meinung geäußert.«

»Wollen Sie mich als einen voreiligen, oberflächlichen Wicht kennen lernen?«

»O nein, nur dies nicht! Jetzt aber darf ich hoffentlich hören, was Sie zu dem Allem sagen?«

»Ich bitte noch um einige Geduld. Sie kennen die Verhältnisse und haben über dieselben nachgedacht. Darum können Sie eine bestimmte Meinung besitzen. Das ist jedoch bei mir nicht der Fall. Die Eindrücke, welche ich hier


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empfing, sind vollständig neue. Wollte ich Ihnen bereits jetzt eine Ansicht sagen, so würde es nur eine oberflächliche, eine werthlose sein können. Ein jedes Ihrer Worte ist von besonderem Werth und Gehalt. Soll ich mich an der Sache und auch an mir selbst versündigen, indem ich mich in die Gefahr begebe, von Ihnen für flüchtig gehalten zu werden?«

»Sie nehmen aber die Sache viel zu ernst!«

»Nein, ich behandle sie als Fachmann. Sie sollen meine Ansicht hören, ein förmlich fachliches Gutachten, einen festen Entwurf, den wir besprechen werden, um ihn gemeinsam weiter auszubauen. Darum bitte ich, mir einen oder zwei Tage Zeit zu lassen. Dann werde ich Ihnen das Schloß zeigen, wie ich es mir nach Innen und Außen vollendet denke, und dann sollen Sie entscheiden, ob Sie sich meines Rathes bedienen oder eine bessere, gediegenere Kraft engagiren wollen.«

»Besser? Gediegener?« fragte sie sinnend. »Ich bin überzeugt, daß ich gut gewählt habe, und diese Wahl werde ich wohl nicht widerrufen. Grad Ihre Zurückhaltung beweist mir, daß Sie mein Vertrauen verdienen.«

»Herzlichsten Dank! Eins muß noch erwähnt werden, gnädiges Fräulein. Haben Sie auch daran gedacht, daß ich nothwendig wissen muß, welche Mittel uns zur Verfügung stehen?«

»Natürlich, Herr Sandau.«

»Daß Sie mir also einen Einblick in diejenigen Ihrer Verhältnisse gestatten müssen, in welche man gewöhnlich fremde Zeugen nicht zu dringen erlaubt?«

»Dazu bin ich ganz gern bereit. Ich bin reich und kann über mein Eigenthum frei verfügen, so - - - lange es mein Eigenthum ist.«

Diese letzteren Worte setzte sie zögernd hinzu.

»Wie? Hätten Sie Gründe, anzunehmen, daß es fremde Ansprüche darauf giebt?«

»Vielleicht. Es ist möglich, daß ich einmal mit Ihnen über diesen Gegenstand spreche, um mir Ihren Rath zu erbitten. Ihnen und meinem Bruder kann ich da voll vertrauen.«

Wie wohl thaten ihm diese Worte. Er wollte eine Antwort geben, doch kam er nicht dazu, denn nach der Straße deutend, in deren Nähe sie eben jetzt standen, sagte sie:

»Lupus in fabula! Kaum hatte man von dem Herrn gesprochen, so kommt er auch.«

Walther bog nämlich nach dem Schlosse ein. Als Sandau's Blick auf ihn fiel, fragte er ganz verwundert:

»Wie? Dieser Herr ist Ihr Bruder?«

»Ja. Und sogar ein sehr lieber.«

»So täuschen mich entweder meine Augen, oder es giebt da eine gradezu verblüffende Aehnlichkeit.«

»Wieso?«


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»Dieser Herr sieht einem sehr lieben Bekannten von mir so ungeheuer ähnlich, daß - - -«

Er wurde unterbrochen. Walther bemerkte erst jetzt die Beiden. Er blieb voller Ueberraschung stehen und rief:

»Was! Wunder über Wunder! Ist's möglich? Sandau! Rudolf! Du hier?«

»Max! Also wirklich Du!«

»Nun, hoffentlich bin ich kein Anderer als eben ich! Oder soll ich die zweifelhafte Ehre haben, einen Doppelgänger zu besitzen?«

»Du siehst mich wirklich erstaunt. Ich vermuthe Dich natürlich in Regensburg, nicht aber hier.«

»Du würdest wissen, wo ich zu suchen bin, wenn Du nicht der Post Veranlassung gegeben hättest, mir meine Briefe zurückzusenden. Hast Du Italien endlich quittirt?«

»Nothgedrungen. Das Stipendium hörte auf.«

Die Beiden schüttelten sich die Hände auf das Herzlichste.

»Also die Herren kennen sich bereits?« fragte Milda. »Das ist ja ein sehr freudiges Ereigniß für mich!«

»Freilich kennen wir uns,« lachte Walther. »Eines schönen Tages kam ich auf den Einfall, mir München zu besehen. Leider aber reichte meine Erfahrung nicht aus, zu berechnen, welche Börse man haben muß, um so eine Residenz kennen zu lernen - - -«

»Max!« fiel Sandau bittend ein.

»Pah! Dem Verdienste seine Kronen! Laß Dir also sagen, daß ich nach vier Tagen fremd und mit leerer Tasche in München stand, liebe Milda. Da schickte das gütige Geschick einen braven Polytechnikus die Straße herab. Ich fiel ihn an und bat um etwas Feuer. Er gab es mir, und wir wanderten miteinander weiter, natürlich direct in einen Bierkeller. Ich gestand, daß ich insolvent sei, und er zahlte. Er nahm mich mit zu sich, versah mich mit neuer Munition, zeigte mir die Münchener Welt und ihre Herrlichkeiten, ohne aber von mir zu verlangen, daß ich ihn dafür anbete, führte mich bei meiner Abreise sogar noch bis an das von ihm bezahlte Coupee und wartete geduldig und ohne Murren auf die sehr langsam und sehr unbeträchtlich einlaufenden Ratenzahlungen seines Schuldners, welcher jetzt vor Dir steht, um Dir zu sagen, daß es keinen besseren Kameraden giebt als besagten Polytechnikus, welcher den nach der Sahara klingenden Namen Sandau führt.«

Alle Drei lachten fröhlich, und Milda erklärte ihrem Bruder:

»Besagter Polytechnikus hat soeben die Aufgabe erhalten, uns Steinegg zu verschönern.«

»Du, Rudolf, hast Dich gemeldet?« fragte Walther hoch erfreut.

»Ja, oder vielmehr der Wurzelsepp hat es für mich gethan.«

»Ueberall hat dieser Schutzgeist die Hand im Spiele! Aber laß Dir sagen, daß ich ganz glücklich bin, Dich von Milda gewählt zu sehen.«

»Noch bin ich nicht gewählt!«


Ende der sechsundvierzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der Weg zum Glück

Karl May – Forschung und Werk