Lieferung 4

Karl May

21. August 1886

Der Weg zum Glück.

Vom Verfasser des »Waldröschen«, »Verlorner Sohn«, »Deutsche Helden« etc.


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»Ich muß es. Es ist meine Pflicht!«

»Gut, so gehe hin, und melde der Polizei, daß Deine Cousine, die Baronesse von Stauffen, sich eines armen, abgehetzten Menschen angenommen hat!«

»Was thue ich! Was thue ich! Franza, Du bringst mich in die schrecklichste Verlegenheit!«

»Du befindest Dich nicht in der mindesten Verlegenheit. Du brauchst Dir nur den Anschein zu geben, daß Du gar nichts wissest; dann kann Dir gar nichts geschehen.«

»Und was willst Du jetzt thun? Was hast Du vor?«

»Ich werden den Anton nach Hause bringen.«

»Ueber die Grenze?«

»Ja.«

»Mädchen! Bist Du toll?«

»Es ist ein Roman!«

»Den Du mit Freiheit und Ehre zu bezahlen haben kannst! Denke Dir, daß Deine Schwester krank ist und Dein Vater alt - - -!«

»Eben deshalb. Meine kranke Schwester und mein alter Vater können diesen Verfolgten nicht retten, eben weil sie krank oder alt sind. Uebrigens ist der Vater abwesend. Du wirst zum Schutze der Schwester hier bleiben; da kann ihr nichts geschehen. Unterdessen spazieren wir nach der Stadt und nehmen einen Wagen. Kein Mensch wird uns fragen oder gar anhalten. Es ist also gar keine Gefahr für mich vorhanden.«

»Das meinst Du jetzt; aber es kann sehr leicht ganz anders kommen, als Du denkst.«

»Das warte ich ruhig ab.«

»So wasche ich meine Hände in Unschuld und lege mich schlafen. Ich weiß von nichts.«

Er wollte fort. Aber sein Gesicht schien dem Krikelanton nicht zu gefallen, denn dieser sagte:

»Meinst etwan, daß ich Dir das glaube? Du wirst Dich ins Bett legen! Das fallt Dir schon gar nicht ein. Ich seh Dirs an der Nasenspitzen an, daß Du den Schalk hinter dem Ohrlappen sitzen hast. Nein, es wird anders, als Du denkst. Du gehst nicht hinab in Deine Stuben, sondern Du bleibst hier.«

»Willst Du mir etwa Gewalt anthun?« brauste der Freiherr auf.

»Nein, wannst nämlich Verstand annimmst. Warum willst denn hinab?«

»Weil unten mein Bett steht.«

»Hier heroben steht auch eins.«

»Da schläft diese Dame!«

»Die schläft heut gar nicht, also kannst Dich ruhig auf das ihrige legen.«

»Das schickt sich nicht. Leider scheinst Du davon keinen Begriff zu haben.«

»Ich hab vielleicht viel besseren Begriff als Du. So zum Beispiel begreife ich ganz gut, daß Du fort willst, um mich ergreifen zu lassen.«


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»Wer sagt das?«

»Ich.«

»Da bist Du auf sehr verkehrten Gedanken.«

»Wohl nicht. Ich sehe es Deinem Fuchsgesicht schon deutlich an, was Du im Schilde führst.«

»Mensch, beleidige mich nicht abermals!«

»Thu halt nicht dick!«

»Wenn ich Dich verrathen wollte, so würde ich doch dieser Dame schaden!«

»O, das kannst sehr leicht so einrichten, daß es ihr keinen Schaden bringt. Das begreif ich schon sehr gut. Wenn Du nix gegen mich vorhast, so kannst Du hier oben bleiben.«

»Das thue ich nicht.«

»Wirst es doch thun. Ich will es, und da muß es auch geschehen.«

»Das wollen wir sehen.«

Er wollte nach der Thür. Anton aber hielt ihm die Faust entgegen und drohte:

»Setz Dich auf den Stuhl! Oder soll ich Dir Lust machen, mir zu gehorchen? Mit so einem Schlinkelschlankel wird kein großer Summs gemacht! Wir Beid gehen, und ich werd die Thür hinter uns verschließen, aber den Schlüsserl stecken lassen. Wann dann die Nachtwandlerin in der Fruh erwacht, wird sie kommen und Dich herauslassen. Bis dahin aber bleibst hier!«

Der Freiherr sah keinen Ausweg. Er hatte allerdings die Absicht, hinab in das Dorf zu eilen oder einen Posten aufzusuchen. Wenn er die Sache so darstellte, daß Anton die Cousine vergewaltigt habe, so konnte dieser nichts geschehen. Nun aber sollte er nicht fortgelassen werden. Widerstand gegen den löwenstarken Jäger war nicht gerathen. Da fiel sein Blick auf das Fenster. Das Häuschen war nicht hoch. Ein Sprung aus dem Fenster schien gar kein Wagniß zu sein. Darum that der Freiherr, als ob er keinen Widerstand leisten werde, und seufzte nur:

»Franza, ich füge mich; aber Du wirst Alles zu verantworten haben.«

»Ich weiß, was ich thue, und werde es vertreten.«

»So mach, was Du willst!«

Jetzt wurde kein Wort mehr gesprochen. Anton steckte seine Sachen in die Reisetasche, und dann wandte er sich mit Franza zum Gehen. Aber als er bereits unter der geöffneten Thür stand, drehte er sich noch einmal um und warnte:

»Bleib ruhig hier bis in der Fruh! Wann es Dir einfallen sollt, nicht zu gehorchen, so könntst Schaden davon haben.«

Er machte die Thür zu und drehte den Schlüssel um, ließ denselben aber stecken. Sie stiegen leise die Treppe hinab, um die schlafende Schwester Franza's nicht zu wecken, und verließen das Haus.

Anton blickte sich sehr vorsichtig um, gewahrte aber nichts Verdächtiges.

»Komm!« sagte sie, ihn am Arm ergreifend.


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»Noch nicht. Sag mir zuvor, ob Du Deinem Vettern gut bist.«

»Dem Freiherrn? Warum fragst Du?«

»Ich hab auch meine Absicht.«

»Ich kann ihn nicht leiden.«

»So thut es Dir nicht weh, daß er eingesteckt ist?«

»Nein.«

»Das wollt ich wissen. Und nun setz Dich hier auf diesen Stein, und wart eine Minute!«

»Willst Du fort?«

»Nicht weit.«

»Wohin?«

»Unter sein Fenster.«

»Glaubst Du vielleicht, daß er herabspringen könnte? Das thut er nicht.«

»Ich traue ihm nicht weiter, als ich ihn sehe. Ich will einmal nachschaun, ob er noch Licht hat.«

»Ich gehe mit.«

»Ich kann Dich nicht gebrauchen.«

»Und ich laß Dich nicht allein. Ich will Dich retten, und da darf ich nicht von Deiner Seite weichen.«

»Ist Dirs etwa angst um ihn?«

»Nein. Komm!«

»Nun gut; aber sei still; darfst nicht einen Laut hören lassen.«

Sie schlichen sich zum Gebäude zurück, nach der Giebelseite, an welcher sich Franza's Stübchen befand. Vorsichtig an der Ecke stehen bleibend, lugten sie um dieselbe herum. Das Fenster oben war dunkel.

»Er hat schon das Licht ausgelöscht,« flüsterte das Mädchen befremdet.

»Weißt, warum?«

»Nein. Ob er sich schon niedergelegt hat?«

»Fallt ihm nicht ein. Nach einem solchen Begebniß legt man sich nicht so schnell zum Schlaf. Nein. Er hat Mucken im Kopf. Er hat das Licht verlöscht, damit man nicht sehen soll, was er thut. Horch!«

»Das Fenster klingt.«

»Er hat es geöffnet.«

»Um heraus zu blicken?«

»Nein, sondern um herauszusteigen und herunterzuspringen.«

»Wozu?«

»Mich fangen zu lassen.«

»Nein, nein!«

»O doch! Da, schau empor, aber vorsichtig. Siehst nicht gegen den Himmel die Beine?«

»Wirklich!«

»Hab ich nicht immer Recht? Da, halt mir einmal den Hut, die Feueresse.«

»Warum?«


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»Damit der Vetter mich nicht gleich an der alten Röhre erkennt.«

»Was willst Du mit ihm?«

»Nix, gar nix. Ich will ihm nur zeigen, daß ich noch da bin und mich von ihm nicht übers Ohr schlagen lasse. Sei still!«

Er nahm den Hut vom Kopfe, langte in die Reisetasche, zog sein eigenes Hütchen heraus, setzte es auf und lauschte dann an der Ecke. Droben am Fenster ließ sich ein kräftiges Streichen hören, wie wenn Jemand mit den Füßen an der glatten Wand einen festen Halt sucht, dann that es einen Sprung - Anton trat sofort um die Ecke und fragte halb laut:

»Wer da?«

Der Freiherr war herabgesprungen und mit auf die Hände zu liegen gekommen. Er richtete sich auf, warf einen Blick auf den Frager und antwortete:

»Gut Freund!«

»Das kann Jeder sagen, mein Bursch. Was springst da herab? Wer bist!«

Der Mond war gesunken, und da hier überhaupt die Schattenseite war, so lag der Giebel im ziemlichen Dunkel, so daß Antons Züge nicht so leicht zu erkennen waren. Ueberdies verstellte er seine Stimme; das führte den Freiherrn irre.

»Ich wohne hier,« antwortete er.

»Und springst aus dem Fenster!«

»Weil man mich gewaltsam eingeschlossen hat.«

»Wer?«

»Der Krikelanton.«

»Himmelsakra!

»Ja. Sie gehören jedenfalls zu den Jägern, die nach dem Menschen suchen?«

»Natürlich bin ich einer von denen Jägern.«

»Denken Sie sich, während Sie ihn bei meiner Cousine suchten, hat er da oben auf dem Balken gesessen!«

»Der verfluchtige Schnauzerl!«

»Dann ist er hineingekommen - - -«

»Was? Einistiegen ist er in die Stuben?«

»Ja. Jetzt soeben ist er wieder fort. Wenn Sie schnell machen, so werden Sie ihn finden.«

»Wohin ist er?«

»Nach der Stadt hinein.«

»Da muß ich ihm schnell nach.«

»Halt! Nicht so rasch! Ich muß Ihnen vorher mittheilen, daß meine Cousine bei ihm ist.«

»Sapristi! Hat er sie etwan gestohlen?«

»So ähnlich. Kommen Sie! Ich gehe mit und werde Ihnen unterwegs erzählen, wie Alles zugegangen ist und wie die Sachen stehen.«

»Wie die Sachen stehen, das weiß ich halt auch.«


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»Nein, Sie wissen es nicht!«

»O, sehr genau: Du stehst hier, und ich stehe hier.«

»Ja, aber - - -«

»Schweig! Und nun stehe ich noch hier, Du aber stehst nicht mehr hier sondern Du liegst.«

Er holte aus und schlug ihm die Faust an den Kopf, daß der Freiherr besinnungslos niederstürzte.

Franza hatte hinter der Ecke gestanden und Alles gehört. Jetzt kam sie schnell herbei.

»Um Gotteswillen! Du hast ihn geschlagen!«

»Ja, ich hab ihm Eins gegeben.«

»Er ist wohl gar todt!«

Sie kniete bei dem Cousin nieder.

»Todt? Fallt ihm nicht ein!«

»Er bewegt sich aber doch nicht!«

»Das will ich ihm auch nicht gerathen haben. Schaust nun, daß er Schlechtigkeiten im Kopf gehabt hat! Dafür hab ich ihm so ein kleins Pocherl auf den Kopf geben, daß er für eine halbe Stund Ruhe hat. Nachher wird er wieder aufwachen.«

»Ists wahr?«

»Ganz gewiß.«

»Aber wenn er todt wäre! Herrgott, ich fände meine Ruhe nie wieder!«

»Wie kannst denken, daß er todt ist! Ich hab ihm so einen kleinen Hieb geben, wie wann man einen Floh derschlägt. Wann er hätt todt sein sollen, nachher hätt ich halt ein Wenig besser ausgeholt. Untersuch doch mal, ob er noch Athem hat und ob sein Herz noch schlägt!«

Sie that das und meinte dann beruhigt:

»Ja, er lebt noch; er ist nicht todt.«

»So laß ihn liegen und komm!«

»Ihn hier liegen lassen? Sollen wir ihn nicht hineinschaffen?«

»Hineinschaffen? Hm! Willst ihn nicht auch noch in ein seiden Tucherl wickeln, ihm eine Schokoladen kochen und ihn in die Wiegen legen, um ihn einzusingen: >Eia popeia, ein Ganserl bist Du - mach doch die Augen und den Schnabel bald zu!< Nein, so haben wir nicht gewettet. Du willst einen Roman machen, und, weißt, in einem Roman darf's nicht so mild und zärtlich hergehen. Da muß Blut fließen, und die Knochen müssen fliegen wie bei einem Hagelwetter.«

»Du hast Recht, Anton. Er hat auch mich verrathen wollen und ist nicht werth, daß ich mich um ihn bekümmere. Fast hätte er mir mein prächtiges Sujet verdorben. Lassen wir ihn also liegen! Komm, Anton!«

»Ja, komm! Wir haben keine Zeit übrig.«

Sie gingen.

Anton wußte so ziemlich, wo die Posten standen. Da sie vorhin, nachdem auf ihn geschossen worden war, vom Berge herabgekommen waren, ließ


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sich vermuthen, daß sie nun wieder oben standen. Er hielt sich also so tief wie möglich, und so gelang es ihm, unbemerkt von dieser Seite der Alm hinwegzukommen.

Sie mußten freilich sehr nahe am Abgrunde vorüber. Da erblickten sie Lichter unten in der Tiefe.

»Da unten giebt es Leute,« sagte Franza. »Was mögen die dort wollen?«

»Weißts nicht?«

»Nein.«

»Sie suchen meine Leich'. Sie denken, ich bin hinabgestürzt. Du liebs Herrgottl! Vielleicht ist gar auch die Leni dabei! Wann ichs doch nur da hinunterrufen dürft, daß ich noch heroben am Leben bin. Die wird sich was grämen!«

»Sorge Dich nicht. Ich will es ihr sagen, daß Du glücklich entkommen bist.«

»Willst wirklich?«

»Ja, auf dem Rückwege.«

»Vergelts Gott! Bist eine liebe, gute Seele, Franza! Ich werd zu den Heiligen bitten, daß sie Dir mal einen Mann verschaffen, mit dem Du recht zufrieden sein kannst. Nicht?«

»Ja, bitte sie darum! Aber ein Held muß er sein, so wie Du oder Friedrich der Große.«

»Das ist halt sehr schön, daß Du mich mit diesem vergleichst. Nur hat er es ein Wenig weiter gebracht als ich. Doch schau, nun wollen wir nix mehr sprechen. Wir sind grad über dem Dorf, und da können sie uns sehr leicht hören. Wir gehen rechts ab an der Halde hin und kommen nachhero auf den Weg nach der Stadt.«

Das gelang ihnen. Franza hatte ihren Arm in den seinigen gelegt; er mußte sie halb tragen, des ungebahnten, steinigten Bodens wegen. Dennoch aber kamen sie schnell vorwärts, und der Tag war noch nicht angebrochen, als sie die Stadt erreichten.

Anton war hier bekannt. Er wußte einen Fuhrwerksbesitzer, welcher geweckt wurde. Dieser wunderte sich, als er hörte, daß er einen vornehmen Herrn mit einer ebenso vornehmen Dame nach einem so kleinen Orte, wie Elsbethen ist, fahren solle, und noch dazu in solcher Stunde, war aber für den Preis, welchen Franza ihm bot, gern bereit, es zu thun.

Er hatte eine Laterne angebrannt und bat die Herrschaften, einstweilen in die Stube zu gehen. Diese zogen es aber begreiflicher Weise vor, auf der vor dem Hause angebrachten Bank Platz zu nehmen. Da saßen sie, während angespannt wurde, und plauderten mit einander, natürlich leise, um nicht gehört zu werden. Antons Dialect hätte sofort verrathen, daß er kein vornehmer Herr sei.

Da kam Einer die Gasse herab, der eine Laterne in der Hand trug. Als er näher kam, war auch das Horn und der Spieß zu erkennen. Der


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Mann war der Wächter der Nacht. In kurzer Entfernung blieb er halten, stieß ins Horn und sang dann:

»Hört, Ihr Herrn, und laßt Euch sagen,
Die Glocke, die hat vier geschlagen.
Bewahrt das Feuer und das Licht,
Daß der Stadt kein Leid geschickt.
Und lobet Gott, den Herrn!
Und ich hab die Latern!«

Das war nun freilich ein Schluß, über welchen Franza lachen mußte. Sie that dies so laut, daß der Beamte der Stadt es hörte.

»Wer hats da zu kichern?« fragte er, indem er näher herbei kam.

Die Beiden antworteten natürlich nicht. Er kam ganz heran und hielt ihnen die Laterne vor die Gesichter. Als er Antons bärtiges Gesicht erblickte, rief er erschrocken aus:

»Verdimmi verdammi! Was hab ich da geschaut! Bist etwan nicht der Anton?«

Franza nahm sogleich das Wort:

»Welcher Anton?«

»Der Krikelanton.«

»Wer ist das?«

»Na, dera saubere Krampen, welcher von dena Polizisten überall gesucht wird.«

»Da sind Sie wohl an den Unrechten gekommen!«

»Glaubs nicht. Den Anton kenne ich genau.«

»Kennen Sie auch mich?«

»Nein.«

»Ich bin die Baronesse Franza von Stauffen.«

»Das glaub ich nicht.«

»Wie, das glauben Sie nicht?« fragte sie, sich hoheitsvoll vor ihm aufrichtend.

»Nein,« antwortete er aufrichtig. »Eine Baronessen setzt sich nicht mit einem Landstreicher hier auf die Schemmelbank und thut mit ihm poussirn, so spät in der Nacht. Wer weiß, was Du auch für eine Kabruschen bist. Ich werd Euch Beide einiwickeln und ins Loch stecken.«

»Sieh mich erst an!« befahl sie.

Er leuchtete ihr in das Gesicht und meinte dann:

»Was denn nun? Deine Nasen habe ich gesehen. Aber dadurch wirds nicht anders. Wo kommst her?«

»Von meiner Wohnung drüben auf der Alm.«

»Die kenn ich nicht. Und wo willst hin?«

»Nach Salzburg.«

»Da hinüber, wo der Anton zu Haus ist? Das ist ja grad dem ge-


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richtlichen Alibi sein Corpus delicatus. Damit ists bewiesen, daß dieser der Krikelanton ist. Macht Euch auf und geht mit!«

»Wir sind keine Landstreicher. Wir sitzen nur einstweilen hier, bis der Fuhrmann da drin angespannt hat.«

»Was, Ihr wollt fahren?«

»Ja.«

»Auch noch! Das will ich mir verbitten. Daraus wird nun und nimmer nix. Wilddieb und fahren! So nobel und bequem sollt Ihrs doch nicht haben dürfen. Vorwärts!«

»Fällt mir nicht ein!«

»Nicht? Weißt, was das ist? Das ist Widerstand gegen meine Staatsgewalt und wird doppelt bestraft. Ich frage Euch zum letzten Male, ob Ihr mir folgen wollt! Sonst zeige ich Euch auch noch an wegen Hausfriedensbruch auf nächtlicher Gassen der Vaterstadt!«

Jetzt stand auch Anton auf. Er hatte sich den Klemmer auf die Nase gesetzt, stellte sich kerzengrad hin und sagte in strengem Tone:

»Schau mich an!«

Der Nachtwächter that dies, indem er die Laterne emporhob.

»Na, hast mich nun gesehen?«

»Ja.«

»Hat der Krikelanton eine Brillen auf der Nasen?«

»Nein.«

»Hat er einen solchen Angströhrenhut?«

»Nein.«

»Oder solche Handschucher an den Händen?«

»Auch nicht.«

»Oder hat er eine Reitpeitsch und eine solche feini Reisetaschen mit Blumen darauf?«

»Nein.«

»Wie kannst also sagen, daß ich der Anton bin!«

»Weil Du grad denselbigen Bart hast und auch dasselbige Gesicht wie er.«

»So, also nur deshalb! Weißt nicht, daß Bärter und Gesichterln einander ähnlich sehen?«

»Das ist freilich schon wahr.«

»Na also! Hast aber schon mal eine Brillen gesehen, grad so wie die meinige?«

»Nein.«

»Oder einen Hut so, wie der?«

Er nahm ihn ab und ließ die Feder spielen, so daß der Hut sich zusammendrückte und dann wieder in seine vorige Fassung zurückkehrte.

»Verdimmi, verdammi! Das hab ich noch nie gesehn.«

»Wie also kann ich der Anton sein! Ich bin der Baron von Höllendampf, und wann Du noch ein einzig Mal sagst, daß ich der Anton bin, so


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setz ich Dir eine Watschen ins Gesicht, daß Deine Nasen in fünf Minuten wie ein Butterfaß ausschaut. Verstanden!«

»Herrjegerl! Ists so gemeint!«

»Ja, so ists gemeint! Und nun laß mich aus, und mach Dich von dannen, sonst geb ich Dir Sprungfedern in die Bein'!«

Da nahm der Nachtwächter seine Kopfbedeckung ab, verbeugte sich und sagte:

»Bitt gar schöni um Verzeihung, Herr Baron! Nur der Schnurrwichs hat mich irr gemacht. Der Teufel soll ihn holen! Jetzt seh ich halt ein, daß Du nicht der Anton bist. Wünsch glückliche Reis', und wann Du wiederkommst, so brauchst halt nicht davon zu sprechen, daß ich mich an Dir verschaut hab. Es wär da um die ganzi Reputation geschehen!«

»Na, so trab von dannen, und ich will Dirs vergeben und es Dir nicht anrechnen!«

Der Mann ging mit seiner Laterne weiter. Unterwegs brummte er noch in sich hinein:

»Verdimmi, verdammi! Da war ich halt an den Richtigen kommen! Das war ein Feiner, ein Vornehmer! Wie der mich angeschnauzt hat, so gar wie ein General oder Armenhäuslervater! Ja diese Sorte kann commandiren! Wann ich nur so mit dem blauen Auge davonkomme! Der verteufelte Schnauzer! Aber die Brillen, die Brillen! Und der Hut! Wie kann das der Krikelanton sein! Wo hab ich halt nur die Augen gehabt und die Latern! Ja, die Latern, die ist nicht gut geputzt, und da schaut halt Alles anders aus, als wie es ist. Ich muß die meinige Frau mal tüchtig ausschimpfiren, damit sie mir ein ander Mal die Laternengläser heller macht, sonst kann man gar noch um Amt und Würden kommen!«

Anton hatte sich wieder niedergesetzt und fragte:

»Nun, was sagst? Hab ich den Baron gut gespielt oder nicht?«

»Außerordentlich gut.«

»Ja, schau, so dieses Vornehme, das ist halt angeboren. Wers nicht hat, dem kanns niemals nicht ein Schulmeister geben. Der Wächter ist gar schön abgelaufen. Er wird es nicht wieder thun.«

Nach einiger Zeit war der Fuhrmann fertig. Die Beiden stiegen ein, und die Fahrt begann. Als der Wagen den Ort hinter sich hatte und auf der Höhe angekommen war, brach der Tag an. Die im Westen sich erhebenden Spitzen der Alpen warfen die Röthe des Morgens zurück, und rundum erschollen die Jodler der Senner und Sennerinnen, welche ihr Tagewerk begannen.

Zunächst war es einsam auf der Straße. Dann traf man Fußgänger und auch einzelne Wagen. Die Beiden fuhren in einem sogenannten Berner Wägeli, welches ohne Verdeck war. Darum waren ihre Gestalten und Gesichter deutlich zu erkennen. Anton verließ sich nicht auf Hut und Brille allein. So oft er Jemandem begegnete, zog er das »Sacktuch« hervor und hielt es vor das Gesicht. Auf diese Weise kam er unerkannt über die Grenze hinüber.


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Dort erst wurde ihm das Herz wirklich leicht, obgleich er auch vorher nicht Das gehabt hatte, was man Angst zu nennen pflegt.

Jetzt führte der Weg wieder abwärts. Links erhoben sich himmelhohe Felswände, und rechts stürzte der Abhang jäh in das Thal. Es mochte gegen acht Uhr sein, als der Fuhrmann von der Straße in einen Dorfweg einbog. Anton hatte ihm den Namen seines Dorfes genannt. Als sie dasselbe erreichten, war ganz eigenthümlicher Weise kein Mensch zu sehen. Vor einem kleinen, höchst ärmlichen Häuschen ließ Anton halten und stieg aus.

»Hier ists, wo Du wohnst?« fragte Franza.

»Ja. Nicht wahr, das ist kein Palast?«

»Nein. Aber nicht nur in Palästen giebt es glückliche Menschen. Gehen wir hinein!«

Jetzt nickte der Fuhrmann vor sich hin, stieß ein Lachen aus und rief:

»Jetzund wird mirs hell im Kopf!«

»Wieso?« lachte auch Anton.

»Bist ein sakrischer Malefizbub! Jetzt nun bist der Krikelanton. Wer hätt glauben sollen, daß Du auch ein Baron sein könntst! Jetzt hab ich Dich aus der Polizei errettet!«

»Du? Bilde Dir das nicht ein. Uebrigens fahr ich wieder retour mit Dir.«

»Fällt mir nicht ein. Dich nehm ich nimmer auf.«

»Warum nicht?«

»Weil ich sonst gar selbst noch bei der Parabel genommen werd.«

»Brauchst keine Angst zu haben. Ich will eben nach der Polizei, um mich zu melden. Fahr jetzt nach dem Wirthshaus. Wir kommen dann hin und werden zahlen, was Du verzehrt hast.«

Der Kutscher gehorchte dieser Weisung, und Anton trat mit seiner Beschützerin in die ärmliche Stube. Diese war leer.

»Ja, wo sind sie denn?« fragte er. »Jetzt fangen die Leuteln an, bereits am frühen Morgen spazieren zu gehen.«

»Vielleicht kehren sie bald zurück?«

»Ich werd gleich nach ihnen ausschaun; aber in dieser Kleidung kann ich das nicht. Da würden mir alle Hunde und Gäns im Dorf nachlaufen. Setz Dich auf den Stuhl und wart ein Wenig.«

Er trat mit der Reisetasche in die Kammer und kehrte bereits nach kurzer Zeit zurück. Er hatte seinen Gebirgsanzug wieder an und dafür die Verkleidung in die Tasche gepackt.

»So! Jetzt bin ich wieder ein Mensch. Es ist mir in Deinen Kleidern zu Muth gewesen wie einer Schneck, der das Häuserl zu eng gerathen ist. Jetzt will ich den Vatern und die Muttern holen.«

»Weißt Du, wo sie sind?«

»Sie gehen nimmer weiter als zum Nachbarn hinüber. Ich werd bereits bald wieder da sein.«


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Das traf nun freilich nicht zu. Franza mußte wohl fast eine Viertelstunde warten. Da hatte sie Zeit, sich umzusehen.

Das Stübchen war weiß getüncht und sauber. Es enthielt einen Kachelofen, einen Tisch, zwei Stühle, einen Schemel als Meublement. An der Wand, der Thür gegenüber, hing ein Muttergottesbild. Die Stubendecke zeigte Spuren, daß der Regen hereingedrungen sei. Draußen im Nebenkämmerchen befanden sich drei Lagerstätten, aus Moos und Laub hergerichtet. Das Alles machte den Eindruck tiefster Armuth, war aber doch so reinlich und sauber gehalten, wie es bei dieser Aermlichkeit eben möglich war.

Endlich hörte Franza die Schritte des Zurückkehrenden. Als eiligst hereintrat, waren seine Wangen hoch geröthet, und seine Augen blitzten unternehmend.

»Hast Du sie gefunden?« fragte sie.

»Nein. Sie sind gar nicht im Dorf, sondern droben auf der Alm.«

»Die alten Leute!«

»Ja, das ganze Dorf ist hinauf, Alt und Jung, Mann und Weib. Nur die kleinen Kinderln sind zurückblieben und die ganz schwachen Greise. Ich traf ein alts Mutterl, welche es mir sagte.«

»Ist denn Etwas los?«

»Jawohl! Ein Unglück. Es hat gestern einen Felsensturz geben.«

»Sind Leute verunglückt?«

»Einheimische nicht, aber zwei Fremde. Ein großer Musikmeister aus Wien hat sich die Alpen anschaun wollen und ist gestern früh ohne Führer hinauf. Dann später um Mittag hat es einen großen Donner geben. Da ist der hohe Stein herabgestürzt, und die beiden Leuteln sind nicht mehr vorhanden gewesen. Da hat man gesucht. Ihn, den Musikmeister, haben sie gegen Abend unter dem Schutt hervorgegraben, und sein Weib ist erst heut ganz in der Fruh entdeckt worden, droben, wo der Felsrutsch begonnen hat. Dort hangt sie an der Wand. Keiner kann hinauf, weil keine Leiter lang genug ist, und Keiner kann herab von der Felsenspitz zu ihr, weil diese nie nicht erreicht worden ist.«

»Herrgott! Lebt sie?«

»Ja. Man hört sie wimmern und rufen.«

»So muß Alles versucht werden, sie zu retten.«

»Freilich. Hunderte von Menschen sind oben, aber Keiner weiß eine Hilfe. Auch mein alter Vatern ist mit der Muttern hinauf. Sie haben ihn hinauf begehrt, weil er der gewandtest Bergsteiger gewesen ist, und vielleicht einen Rath geben kann. Gehst etwan mit?«

»Ja, natürlich.«

»So komm! Aber gleich!«

Sie stand auf und wollte mit ihm fort. Zu ihrer Verwunderung ergriff er den hölzernen Stuhl, auf welchem sie gesessen hatte.

»Willst Du etwa den Stuhl mitnehmen?«

»Ja.«


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»Wozu?«

»Ja, das weiß ich auch nicht; aber es ist möglich, daß man ihn braucht. Ich kenn den Ort nicht, an welchem die Frau hängt. Kann man ja zu ihr gelangen, so ist es aber doch jedenfalls ihr unmöglich, herabzusteigen; also muß sie abigetragen werden, und dazu ist der Stuhl sehr gut.«

Ohne weiter ein Wort zu sagen, ging er fort. Sie schritt neben ihm her.

Sein ganzes Wesen, seine Sicherheit, sein Selbstbewußtsein, das Alles machte einen eigenartigen Eindruck auf sie. Sie sagte sich unwillkürlich:

»Wenn die Verunglückte zu retten ist, so ist er es, der sie rettet.«

Sie schürzte sich hoch und hielt Schritt mit ihm, obgleich er in Beziehung auf die Schnelligkeit gar keine Rücksicht auf sie nahm.

Er hielt zunächst gar keinen gebahnten Weg ein. Es galt, eine hohe, mit kurzem Grase bewachsene Lehne zu erklimmen. Oben auf der Höhe gab es dann einen schmalen Pfad, welcher aufwärts führte. Dort kam ihnen ein Weib entgegen. Als es die Beiden erblickte, blieb es stehen, schlug froh die Hände zusammen und rief:

»Anton! Da bist endlich! Gott sei Dank!«

»Was ists mit mir?«

»Das ganze Volk hat alls auf Dich gewartet. Wo hast denn so lang gesteckt?«

»Auch in der Welt. Warum wartet Ihr auf mich?«

»Weil Du die Frau holen sollst.«

»Ich? Ist kein Anderer da?«

»Das wohl! Wir haben muthige Buben in der Menge, aber das ist schier zu gefährlich.«

»Und da soll halt grad ich den Hals brechen? Ja, um den Krikelanton ists nicht schad!«

»So ists nicht gemeint; aber es ist kein Anderer, der Dein Auge hat und Deine Kraft, Deine Ausdauer und Deine Kniekehlen.«

»Kann man denn zu ihr hinauf?«

»Keiner hälts für möglich; aber Dein Vatern sagt: Wann mein Anton da wär, so möcht ers wohl bringen.«

»Dann bring ichs auch. Der Vatern versteht seine Sach. Wo ist der Platz?«

»Folg nur immer diesem Weg. In einer halben Stund kommst zur Stelle. Ich muß hinab, um nach der Wirthschaft zu sehn, da ich Niemand daheim zu Haus habe.«

Sie eilte weiter. Anton sagte zu Franza:

»Hasts gehört? Immer auf diesem Weg grad fort, dann kannsts nicht verfehlen.«

»Du doch auch.«

»Ich werd jetzt schneller gehen. Vielleicht ist gar Gefahr im Verzug. Du wirst nicht so rasch steigen können.«

»Ich bleib bei Dir.«


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»So komm!«

Er nahm sie bei der Hand. Es war eine Art von Begeisterung über sie gekommen. Zunächst lag das wohl im allgemeinen menschlichen Mitgefühl, sodann aber auch in dem Interesse der Schriftstellerin. Es galt, ein zwar unglückliches aber hoch interessantes Ereigniß mit zu erleben, da fühlte Franza weder Anstrengung noch Müdigkeit.

So ging es rasch bergauf. Eine Viertelstunde verging und noch eine. Da führte der Pfad um eine Ecke, und nun war die Unglücksstelle zu sehen; sie lag grad vor ihnen.

Ein Hochthal, dessen Sohle fast ganz mit Geröll und Felsbrocken aller Größen bedeckt war, bot den Anblick einer ungeheuern Verwüstung. Hier hatte eine hohe Felsenwand gestanden, welche gestern in sich zusammengebrochen war. Auf dieser Wand, auf welche sehr leicht zu gelangen gewesen war, hatten sich die beiden Verunglückten im Augenblicke der Katastrophe befunden. Unten wimmelte es von Menschen. Da, wo der Felsen sich hinter der eingebrochenen Wand fast senkrecht erhob, bemerkte Anton einen dunklen Punkt, dessen Beschaffenheit er jetzt noch nicht zu unterscheiden vermochte.

»Komm, komm!« rief er und zog Franza in doppelter Eile mit sich fort.

Sie kamen näher, und Anton wurde erkannt.

»Der Krikelanton!« rief eine laute Stimme. »Juhu! Er ist endlich da!«

»Juhu!« wiederholten Hunderte, und Alles eilte ihm entgegen.

Hundert Rufe schallten in sein Ohr, und jeden einzelnen sollte er beantworten. Er beachtete gar keinen und schritt auf den Pfarrer zu, welcher, das Cruzifix in der Hand, ihn erwartete.

»Ist die Hilf möglich, Hochwürden?« fragte er.

»Gott allein weiß es, mein Sohn. Hast Du bereits erfahren, wie es zugegangen ist?«

»Nur wenig; aber ich kann es mir selber erklären. Da oben ist die Frau?«

»Ja, da ist ein kleiner Vorsprung, auf dem sie gesessen hat, als der Berg neben ihr wich und ihren Mann mit hinab nahm.«

»Der lebt noch?«

»Er lebt und ist vollständig unverletzt. Komm mit zu ihm.«

Kein Mensch achtete auf Franza. Der Pfarrer nahm Anton bei der Hand und führte ihn nach einem Felsbrocken, auf welchem ein Herr in Touristenanzug saß, der freilich sehr gelitten hatte.

»Hier, Herr Professor, ist der Anton,« sagte der Geistliche.

Der Fremde hatte ganz zusammengesunken dagesessen, das Gesicht in die Hände gestützt. Jetzt, bei diesen Worten, hob er den Kopf und sprang von seinem Sitze empor. Er hatte wohl viel geweint. Seine Augenlider waren geschwollen. Sein bleiches Gesicht war übernächtig. Er schien sich kaum auf den Füßen erhalten zu können.


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»Der Anton!« rief er, tief athmend. »Endlich, endlich! Junger Mann, komm her! Blicke da hinauf! Siehst Du sie?«

»Ja. Es ist Deine Frau?«

»Sie ist es. Bringe sie mir herab, und Alles, was ich besitze, ist Dein. Ich bin reich.«

Anton maß mit scharfem, bedachtsamem Blicke die Höhe und sagte:

»Herr, wann der liebe Gott will, daß Deine Frau gerettet werden soll, so will er doch nicht, daß Du die Rettung bezahlen sollst!«

»Ich weiß, daß eine solche That nicht mit Geld zu bezahlen ist. Ich weiß auch, daß kein einziger Mensch den Muth hat, sie zu unternehmen. Ich hörte, daß es nur einen Einzigen giebt, der es wenigstens versuchen könnte, und der bist Du.«

»Kannst Deine Frau hören?«

»Nein. Es ist zu hoch.«

»So weißt ja gar nicht, ob sie noch lebt.«

»Das weiß ich. Sie hat noch vor kaum zehn Minuten mit dem weißen Taschentuche gewinkt. Sage mir, ich frage Dich bei Gott und bei Deiner Seligkeit, ob es möglich ist, zu ihr zu gelangen!«

»Mit einer Leitern nicht, und von oben herab mit einem Strick auch nicht; denn die Kuppe ist unersteigbar.«

»Mein Gott! So ist sie verloren! Sie muß elend verschmachten!«

Er sank auf einen Stein nieder. Niemand sagte ein Wort. Aller Augen hingen an dem Gemsenjäger, welcher mit seinem Blicke die ungeheuere Wand musterte. Der Pfarrer trat an seine Seite.

»Anton!« sagte er halblaut.

»Weiß schon, Hochwürden!«

»Ich will Dich nicht in das Verderben senden; aber da oben streckt der Verzweiflungstod seinen entsetzlichen Rachen einem armen Menschenkinde entgegen. Ich kenne Dich; ich brauche Dir kein Wort weiter zu sagen.«

»Ist nicht nöthig, Hochwürden. Hält irgend wer die Rettung für möglich?«

»Kein Mensch, als Dein Vater allein.«

»So will ich zu ihm. Wo ist er?«

»Ganz da vorn. Er hat sich die Wand noch einmal ganz genau betrachten wollen.«

Anton schritt zwischen den Trümmern auf den alten Vater zu, welcher mit seinem Weibe auf einem Steinblocke stand und den Blick nach der Unglücksstätte gerichtet hielt. Er wußte, daß sein Sohn sich nicht suchen lassen, sondern zu ihm kommen werde.

Alle Anwesenden folgten hinter Anton, und als dieser seine Eltern erreichte, gruppirten sie sich in einem engen Kreise um die drei Personen.

»Kommst endlich!« sagte der alte Warschauer, indem er dem Sohne die Hand entgegenstreckte. »Schau, da droben liegt die Arme. Sie kann nicht herab, und wir können nicht hinauf. Was meinst dazu, Anton?«


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»Ja, Du bist der Vatern; erst kommst Du. Was meinst denn dazu?«

»Ich mein, daß es schlimm ist, wann das Alter kommt. Einmal, in vorheriger Zeit, war ich noch kräftig und zähe. Da bin ich an allen Wänden emporgelaufen.«

»Auch an so einer?«

»Nein, an so einer noch nicht; aber ich weiß nicht, ob ich nicht auch das versucht hätt.«

»So meinst, daß ich es versuchen soll?«

»Nein, das mein ich nicht. Schau, Du bist jung, und das ist der Tod.«

Er deutete bei den letzten Worten nach der Wand. Der Professor hatte es gehört; er trat herbei und sagte:

»Ich wiederhole, was ich bereits hundert- und tausendmal gesagt habe: ich gebe dem Retter mein Vermögen. Warschauer, rede Deinem Sohne zu, daß er es sich verdiene!«

Der Alte machte eine ganz unbeschreibliche Handbewegung und antwortete in zornigem und beinahe verächtlichem Tone:

»Wer bist denn, he, daß Du mir Dein Vermögen bietst? Ein Professor? Ist ein Professor oder sein Weib mehr werth, als ein anderer Mensch? Wie groß ist Dein Vermögen? Sag!«

»Ueber hunderttausend Gulden. Sie sind Euer, wenn Ihr mir meine Frau bringt.«

»Hunderttausend Gulden? Was ist das denn weiter? Das ist ein Dreck gegen das Vermögen, was ich besitze. Da schau her! Hier steht mein Vermögen, der Anton, mein einzig Kind. Was giebst mir, wann der von der Felswand abistürzt und todt ist? Kannst mich dann mit hunderttausend Gulden bezahlen?«

»Nein, das kann ich nicht. Aber ich flehe Euch an, hier auf meinen Knieen, daß Ihr - - -«

"Auf meinen Knieen flehe ich Euch an!"

Er war wirklich auf die Kniee niedergesunken.

»Halt ein!« gebot ihm der Alte. »Du darfst nur vor Deinem Herrgott niederknieen. Wann Du von Lohn sprichst, so ist das eine Beleidigung für uns. In den Bergen wohne arme Leuteln, aber brav sind sie doch. Ihr reichen Leut kommt herauf zu uns und streicht da herum, wo ihr nicht hingehört. Ihr bringt Geld mit Euch und meint nun, daß Ihr die Berge kaufen könnt. Ihr macht uns die Nahrung theuer, und wann Ihr fort seid, so habt Ihr das mit Euch mit fortgenommen, worauf wir stolz sein konnten allimmerdar: die Einfachheit, die glücklich macht, auch wann man arm ist und nur das trocken Brod hat. Ich mag von den reichen Leutn nix wissen; aber sie sind halt auch Menschen, und wann Einer sich in Gefahr befindet, so frag ich halt nicht, ob er arm ist oder reich; ists möglich, so soll er gerettet werden. Aber wann Du mir nochmals Geld bietest, so gehe ich heim und nehm den Anton mit!«

»Warschauer!« sagte der Pfarrer in verweisendem Tone. »Bedenke, was der Herr Professor fühlen muß!«


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»Weiß schon! Aber Hochwürden mag auch bedenken, was ich und mein Weib fühlen müssen, wenn wir den Anton da hinauf schicken!«

»Gott wird ihn schützen!«

»Das wohl. Das ist auch der einzige Grund, wegen dem ich überhaupt in dieser Sach den Mund aufthu. Jetzt, Anton, schau einmal grad recht scharf hinauf. Siehst keine Möglichkeit?«

»Ich habe sie schon gesehen.«

»Ja, ja!« meinte der Alte stolz. »Du bist mein Sohn, mein richtiger Sohn. Du siehst halt sofort und gleich, was Keiner sieht. Es geht ein Weg hinauf.«

»Wo? Wo?« fragte es rundum.

»Was hilfts Euch, wann Ihr es erfahrt? Es kraxelt doch Keiner von Euch hinauf. Sag, Anton, wieviel Seil' Du brauchen wirst!«

»Zwei.«

»Das ist richtig. Ich seh, daß Du ganz Dasselbige meinst, wie ich. Und einen Hammer mußt haben und zwei Spitzeisen zum Einschlagen. Und den Stuhl hast auch schon mit. Willsts wagen?«

»Was sagts dazu, Vater, Mutter?«

»Ja, was sollen wir sagen, Bub? Wir sagen nicht Ja und nicht Nein. Glückts, so ists halt gut; glückts aber nicht, so dürfen wir nicht den Vorwurf haben, daß wir Dich in den Tod getrieben haben. Thu, was Du willst.«

Alle waren still. Sie hielten die Hände gefaltet. Sie wußten, daß das nächste Wort Antons die Entscheidung bringen werde. Das Auge des Professors hing mit unbeschreiblich ängstlichem Ausdrucke an den Lippen des jungen Mannes. Endlich sagte dieser:

»Und wann ich verunglück, werdet Ihr es mir vergeben, daß ichs gewagt hab, Vater, Mutter?«

»Vergeben? Mein Sohn, wir werden hungern müssen, aber wir werden stolz auf Dich sein!

»So will ichs thun!

Wer war der größere Held, der Sohn oder der Vater mit der Mutter, welche bereit waren, ihr Ein und Alles zu opfern, um ein fremdes Menschenleben zu retten? Der Alte hatte gesprochen wie ein ächter Spartaner. Als der Sohn nun seinen Entschluß kund gab, ließ sich ein großer, tiefer, allgemeiner Athemzug hören, ein Seufzer der Erleichterung, welcher aus Aller Brust kam. Der Professor stieß einen Jubelruf aus und sagte:

»Ich soll nicht wieder vom Gelde sprechen; aber wenn Du ja verunglückst, was Gott in seiner Barmherzigkeit verhüten möge, so werden Deine Eltern nicht darben, denn ich werde ihr Bruder sein. Das verspreche ich Dir!«

Es wurden zwei Seile zur Stelle geschafft, welche Anton sich um den Leib wickelte. Sie waren lang und dünn, aber außerordentlich haltbar. Ein Fläschchen mit Kirschengeist steckte er ein, und endlich nahm er einen Hammer und zwei Spitzeisen in den Gürtel.

Nun war er fertig. Aber er trat keineswegs schon jetzt den fürchter-


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lichen Weg an, sondern er ging zum Pfarrer, der ihn beobachtet hatte, was er thun werde.

»Hochwürden, wollen ein Wenig zur Seit treten; ich will beichten.«

»Recht so, mein Sohn! Mag der Allmächtige beschlossen haben Leben oder Tod; Du sollst auf den Letzteren vorbereitet sein.«

Als Anton dann vor dem Priester niederkniete, sanken alle Anwesenden auch auf die Kniee und entblößten ihre Häupter. Alle beteten für ihn und für die Verunglückte, deren Retter er sein wollte.

Als er gebeichtet und die heilige Absolution empfangen hatte, ging er zu den Eltern. Sein Gesicht zeigte keine Spur von Angst.

»Nun, Vater, wolln wir Abschied nehmen,« sagte er heiter.

»Wie lange Zeit ich fortbleibe, das weiß ich halt nicht. Vielleicht ists länger, als ich denk; dann magst für mich beten.«

Er umarmte und küßte ihn. Dann legte er auch die Arme um das alte, graue Mütterchen.

»Mein liebs, liebs Mutterle, wein halt nicht. Mein Weg führt nach oben: zur Rettung oder in den Himmel. Hab tausend Dank für Alls, was ich Dir schuldig bin. Wann ich untergeh, so freu Dich nur, daß Du mich im Himmel wiederschaust. Leb wohl viel tausendmal!«

Alle schluchzten laut; selbst der Pfarrer weinte. Anton riß sich los. Da erblickte er Franza. Er ging zu ihr, gab ihr die Hand und sagte:

»Leb auch Du wohl! Vielleicht siehst jetzt, daß der Wilderer kein böser Mensch ist - - -«

»Ich wiederhole es, Du bist ein Held. Mag geschehen, was da wolle, ich werde Dich nie vergessen.«

»So thu mir einen Gefallen!«

»Welchen?«

»Geh hin zur Leni, und sag ihr meinen Abschied! Wann es nicht gelingt, wann ich abistürz, so werd ich halt noch in dem Augenblick, an welchem ich den Halt verlier, ihren Namen rufen. Sag ihr Das, und nun leb wohl!«

Er reichte allen Bekannten reihum die Hand; dann schnallte er sich die Steigeisen an, band sich den Stuhl auf den Rücken und ergriff den Bergstock, welchen er sich ebenso wie die Steigeisen hatte borgen müssen. Als er nun nach der Felsenwand schritt, gingen Alle mit. Dort angekommen, sagte sein Vater noch:

»Anton, gieb mir Deine Hand!«

Er nahm sie und fühlte nach dem Pulse.

»Meinst, ich hab Angst?« fragte der Sohn.

»Nein. Du bist mein Sohn und hast niemals Angst gehabt. Aber ein solch Erlebniß macht das Blut leicht unruhig.«

»Das meinige ist ruhig.«

»Ich fühle es. Also steig aufi, Anton! Der Herrgott mag seine tausend Engel senden, daß sie Dich halten und beschützen. Amen!«

Jetzt traten Alle zurück. Sie wußten, daß ihre Nähe ihn nur stören


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müsse. Sie wichen so weit zurück, daß sie die Wand in ihrer ganzen Höhe und Breite überblicken konnten.

Nur die scharfen Augen des Alten und seines Sohnes hatten eine Möglichkeit ersehen, die Wand zu erklimmen; einen Weg, eine Ritze, in welcher man sich emporschieben konnte, gab es gar nicht.

Jetzt schwang sich Anton auf einen Vorsprung, auf einen zweiten und dritten. Als er so weit emporgekommen war, daß die vorliegenden Trümmerhaufen ihn nicht mehr verdeckten, sondern er zu sehen war, wie eine Fliege an der senkrechten Wand hängend, entfuhr dem Munde des anwesenden Dorflehrers der Anfang eines Kirchenliedes - Alle stimmten ein, und brausend erklang es bis hinauf zu der unglücklichen Frau:

»Hier liegt vor Deiner Majestät
   Im Staub die Christen-Schaar,
Das Herz zu Dir, o Gott, erhöht,
   Die Augen am Altar.
Schenk uns, o Vater, Deine Huld!
   Vergieb uns uns're Sündenschuld!
O Gott, vor Deinem Angesicht
   Verstoß uns arme Sünder nicht.
Verstoß uns nicht,
   Verstoß uns Sünder nicht.«

Es war ein Augenblick, wie selten einmal im Leben eines Menschen. Alles Irdische war gesunken, und nur der Gedanke an Gott, den Allmächtigen, hatte Macht und Gewalt über die Seelen. Die Mutter Antons vermochte es nicht, ihrem Sohne mit den Augen zu folgen. Sie hatte sich hinter einem Felsblock niedergekniet und betete aus inbrünstigem Herzen. Ihr Mann aber saß regungslos und verwendete keinen Blick von dem Sohne.

Freilich war es entsetzlich. Aus dieser Entfernung schien die Wand ganz glatt und ohne alle Hervorragungen zu sein. Oft hielt Anton still und suchte lange Zeit vergebens mit dem Fuße oder dem Bergstocke einen festen Halt. Oft glaubte man, ihn bereits stürzen zu sehen, und Alle schrieen dann laut auf. Aber es war nur eine verwegene Bewegung gewesen, welche ihn sicher vorwärts brachte. Man wagte nicht, laut zu sprechen. Die Bemerkungen, welche man machte, flüsterte man sich nur leise zu.

So ging es höher und höher, über eine Stunde lang. Oft mußte der kühne Steiger minutenlang ausruhen, wenn er einen Punkt fand, an welchem dies möglich war.

»Herrgott, nur nicht einen Krampf!« flüsterte sein Vater. »Schwindel giebts nicht bei ihm. Wann er nur nicht einen Krampf bekommt! Kurz und gut, jeder Gedanke war jetzt ein Gebet. Und diese stillen, unausgesprochenen Gebete schienen erhört zu werden. Wenigstens ging der kühne, unbegreifliche Aufstieg ohne nennenswerthe Unterbrechung von statten.

Aber wie Anton zu der Frau gelangen wollte, das war Allen außer seinem Vater ein Räthsel. Grad da, wo sie sich befand, rund um den Vorsprung, auf welchem sie lag, war der Felsen wirklich glatt, ohne die Spur


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einer Stelle, auf welcher nur eine einzige Zehe hätte Halt finden können, viel weniger aber ein Fuß und also der ganze Mann.

Jetzt befand der kühne Mann sich grad so hoch wie die Frau, aber vielleicht zwanzig Ellen rechts von ihr.

»Was wird er thun? Wie kommt er hin?« fragte Einer den Andern, und Keiner wußte die Antwort.

Als er nun aber noch immer höher stieg, begann den Leuten die richtige Ahnung aufzudämmern, was er beabsichtige. Nämlich grad über dem Standort der Verunglückten, ungefähr zehn Ellen höher, gab es eine kleine Vertiefung, auf welche Anton es abgesehen hatte. Sein adlerscharfes Auge hatte ihm gesagt, daß es ihm möglich sei, dorthin zu gelangen, natürlich nur dann, wenn er das Leben für nichts achtete. Diese Vertiefung erreichte er glücklich und setzte sich dort nieder.

Ein überlauter, jubelnder Schrei erscholl zu ihm empor. Den Zuschauern schien es, als sei das ungeheuer schwierige Werk bereits halb gelungen.

»Noch nicht den zehnten Theil,« sagte der alte Warschauer. »Die eigentliche Arbeit beginnt erst jetzt.«

Die Vertiefung hatte kaum Platz für einen Menschen. Darum hatte Anton den Stuhl gelockert, so daß derselbe an der Schnur von seinem Rücken herabhing. Unter sich die ungeheure Tiefe, um sich nichts als nackte, glatte Felswand, begann er zu arbeiten.

»Was thut er?« fragte man unten.

Als Alle athemlos lauschten, hörten sie von oben herab ein leises, kaum wahrnehmbares Geräusch, wie das regelmäßige Tiken einer Uhr. Anton schlug mit dem Hammer das Spitzeisen in das Gestein, um einen festen Halt für das Seil zu bekommen. Diese Arbeit war mühsam. Es dauerte über eine halbe Stunde, ehe man bemerkte, daß er das Seil befestigt hatte. Dann plötzlich hing er an demselben in der Luft, hin und her schwebend wie ein Pendel. Immer weiter und weiter nieder griff er sich. Er kam der Frau näher und immer näher, und da - da hatte er den Vorsprung erreicht und kniete bei ihr nieder.

Lauter Jubel schallte von unten herauf. Er hörte ihn kaum.

Der Vorsprung war nicht unbedeutend, wohl zehn Ellen lang und vier Ellen breit. Da lag die Frau, unbeweglich und mit geschlossenen Augen. Anton zitterte jetzt, nicht um sich, sondern um sie. Sie lag in unmittelbarer Nähe der Kante. Eine Bewegung nach auswärts, und sie stürzte hinab. Weiter her zu lag das weiße Taschentuch, mit welchem sie gewinkt hatte.

Anton band zunächst den Stuhl los und setzte ihn nieder. Dann kroch er hin und zog die Frau so weit zurück, daß sie nicht hinabfallen konnte. Sie hatte das Aussehen einer Leiche. Sie hatte sich die zarten Händchen blutig gerungen. Er zog die Flasche hervor und tröpfelte ihr ein Wenig Kirschengeist zwischen die halbgeöffneten Lippen. Sie schlug die Augen auf, starrte ihn eine Weile an und fragte sodann:

»Wo bin ich jetzt?«


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»Fast in Sicherheit.«

»Fast in Sicherheit? Also noch nicht todt? Lebe ich denn noch?«

»Ja, Du lebst halt schon noch und sollst wohl auch nicht sogleich sterben.«

»Mein Gott! Wer bist Du? Wohl ein Engel!«

»O nein. Ich bin der Krikelanton. Hast denn noch nimmer von mir gehört?«

»Nein. Du bist ein Mensch?«

»Ja, ein richtiger Mensch, ein armes Teuferl, der sich freut, daß er hat da heraufi zu Dir kraxeln können.«

»Wie ist das möglich! Hier herauf kann kein Sterblicher! Nur dem Adler ist es möglich, herbeizukommen.«

»Hm! Es muß schon auch Anderen möglich sein, denn Du siehst ja auch mich hier.«

»Also doch, doch! Welch eine Kühnheit! Und Du willst mich retten?«

»Ja, wannst mit hinab willst.«

»O Gott, o Gott! Rettung, Rettung!«

Sie schloß die Augen. Nach all dem Jammer und der entsetzlichen Todesangst machte der Gedanke, daß Rettung möglich sei, sie schwindeln. Er flößte ihr noch einige Tropfen ein, und sie öffnete die Augen wieder. Jetzt nun dachte sie an die Wirklichkeit:

»Mein Mann!«

»Der sitzt da unten.«

»Wie! Er ist nicht todt?«

»Gar nicht. Er ist ganz schön mit abigerutscht und hat sich nachhero herauspasseln lassen.«

»Gott, Gott, ich danke Dir! Ich war überzeugt, daß er zerschmettert worden sei!«

»Wie ists denn geschehen?«

»Wir stiegen herauf. Ich setzte mich hierher, um auszuruhen. Es gab da einen langen Spalt durch das Gestein, aber nicht breit, kaum einen Zoll breit. Niemand konnte ahnen, daß eine ganze Wand sich vom Felsen trennen und in die Tiefe stürzen werde. Während ich ruhte, ging mein Mann weiter vor, um einige Pflanzen zu holen. Da begann es zu krachen, zu bersten und zu donnern. Der Fels verschwand vor meinen Augen und mein Mann mit ihm. Ich wurde ohnmächtig.«

»Schrecklich! Der Fels muß aber doch nur langsam abigebrochen sein, sonst wär Dein Mann zerschmettert worden.«

»Gottes Engel haben ihn gehalten.«

»Ja, sicher. Er ist verschüttet gewest und aber bald herausgraben worden. Nachher hat er sich gewaltig um Dich gekümmert.«

»Welche Angst mag er ausgestanden haben!«

»Größer nicht als die Deinige.«

»Ganz gewiß nicht. Ich werde nie beschreiben können, was ich hieroben ausgestanden habe. Die Verzweiflung hat mich in ihren Krallen geschüttelt seit gestern.«


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»Wir werden ihr die Krallen verschneiden.«

»So meinst Du wirklich, daß ich gerettet werden kann?«

»Mit Gottes Hilf alleweil ja.«

»Aber wie?«

»Na, klettern kannst halt nicht?«

»Nein.«

»Das dacht ich schon. So werd ich Dich also wohl tragen müssen.«

»Wohin?«

»Da hinunter.«

Er zeigte in die grausige Tiefe hinab.

»Unmöglich!«

»Warum?«

»Da kann kein menschliches Wesen hinab.«

»Bin ich nicht auch heraufi stiegen?«

»Wie das möglich geworden ist, kann ich mir nicht denken. Ich bin nur einmal bis zum Rande hingekrochen, um einen Blick hinab zu werfen, aber es ist mir sogleich schwarz vor den Augen geworden.«

»So bist leicht schwindelig?«

»Ja.«

»O wehe! Da werde ich Dir die Augen verbinden müssen.«

»Ist das nöthig?«

»Unbedingt. Wann Du im Schwindel eine falsche Bewegung machst, sind wir alle Beid verloren.«

»Aber wie willst Du mich denn tragen?«

»Das ist ganz schön und hübsch für Dich. Schau den Lehnstuhl dort! Auf diesen setzest Du Dich, und ich bind Dich und ihn mir auf den Buckel. Auf diese Art und Weis spazier ich nachhero abwärts.«

»Mit solcher Last!«

»O, Du bist halt keine dicke Bäckerswittwe, die drei Centner Speck am Leibe hat. Mit Dir werd ich schon bald fertig werden. Hast Hunger?«

»Nein.«

»Das ist gut, denn ich hab nix zu Essen mit. Aber wann wir hinab kommen, nachhero kannst Alles haben, was Dein Herz begehrt. Jetzt nun will ich das Eisen fest machen.«

Er holte das zweite Eisen heraus und den Hammer, und begann das Erstere in den Felsen zu treiben. Als er aus allen Kräften zu hämmern begann, rief die Professorin erschrocken:

»Um Gotteswillen, was thust Du!«

»Ich mach ein Loch.«

»Der Felsen zittert. Wenn er nun abstürzt!«

»So stürzen auch wir und sind todt.«

»So halte doch auf!«

»Das kann nix nutzen. Schau, wann wir hinab wollen, so muß ich hier das Seil festmachen, nachhero sind wir gerettet; also muß ich klopfen.


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Bricht der Stein ab und wir mit ihm, so haben wir einen raschen Tod; das ist doch besser, als daß ich nicht klopfe, und wir verschmachten hier.«

Sie sah ein, daß er Recht hatte. Als das Spitzeisen im Felsen einen festen Halt gefunden hatte, schlang er sich das zweite Seil vom Leibe und befestigte es an das Eisen.

»Es ist ja viel zu kurz,« sagte sie.

»Das hast sehr richtig gesagt,« antwortete er lächelnd. »Es müßt grad zwanzigmal länger sein, wann es bis hinab reichen sollt. Aber ich will mich auch nicht seilen bis ganz hinab.«

»Wie sonst?«

»Schau, grad unter uns ist wieder so ein kleiner Stein, gar nicht groß und breit, höchstens eine Viertelellen, so daß man gerad den Fuß darauf setzen kann. Wann ich nur einmal da auf demselbigen steh, sodann ists gut; es wird dann schon die Stellen geben, wo ich den Stock einhaken kann oder Platz für die Fußspitz find.«

»Das ist doch gefährlich!«

»Nicht so gefährlich wie hier bleiben und verschmachten. Willst mit hinab?«

»O Gott, mir graust vor dieser Tiefe!«

Sie verhüllte die Augen mit den Händen.

»Aber hinab mußt doch einmal! Thu mir den Gefallen und denk an Deinen Mann!«

»Verzeihe mir! Du erscheinst mir wie ein Engel vom Himmel, und ich bin so kleinmüthig.«

»Denk an das heilige Bibelbuch, worinnen zu lesen ist, daß die Engel kommen und den Menschen halten, daß er an keinen Stein stößt. Nicht wahr, Du steigst mit abi?«

»Ja.«

»So komm her, und setz Dich auf den Stuhl!«

Sie that es. Er band ihren Leib und ihre Arme an die Lehne und ihre Beine an diejenigen des Stuhles fest. Dann verband er ihr mit ihrem Taschentuche auch die Augen, was sie ruhig geschehen ließ.

»Ich ergebe mich Gott und Dir!« hauchte sie.

»Gott wird uns schützen. Ich werd schon ganz gut hinab kommen, wann Du mir nur versprichst, Dich nicht zu regen und zu bewegen, auch nicht zu schreien. Du mußt grad ebenso sein, als ob Du todt und begraben seist.«

»Ich verspreche es Dir.«

»So mag es denn beginnen.«

Jetzt kauerte er sich nieder, um sich den Stuhl auf den Rücken zu binden, so daß die Stuhllehne zwischen seinem Rücken und dem ihrigen zu liegen kam. Dann erhob er sich.

»Gehts fort?« fragte sie.

»Ja. Ich wollt aber erst auch probirn, wie schwer Du bist. Das ist grad wie eine Feder. Wann Du still bist, so werd ich denken, ich hab gar


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nix auf dem Buckel. Bet auch recht schön leise immerfort, denn jetzt beginnts.«

Er mußte natürlich das obere, erste Seil, mit dessen Hilfe er hierher gekommen war, hangen lassen. Jetzt kroch er bis zum Seitenrande des Vorsprunges, kniete dort nieder, ergriff das Seil, rutschte langsam vom Steine ab und ließ sich sodann am Seile hinab. Den Alpenstock, von welchem das Gelingen des ungeheuren Wagnisses abhing, hatte er natürlich nicht auf dem Vorsprunge zurückgelassen; er trug ihn mit sich, so daß er die obere Krümmung desselben in den Zähnen hielt.

So ging es am Seile abwärts, bis er die erwähnte Stelle erreichte, auf welcher sein Fuß Halt fand.

»Hörst mich, Frau?« fragte er.

»Ja.«

»Das Seil ist zu End, und ich muß mich nun nur auf meine Füß und auf den Stock verlassen. Leg Dich recht schwer nach hinten, so daß mich Dein Gewicht nicht von der Wand abzieht, sonst stürzen wir hinab.«

Sie gehorchte. Er nahm eine möglichst zusammengebogene Stellung ein, um im Gleichgewicht zu bleiben, mußte sich aber freilich sagen, daß die geringste Bewegung ihrerseits ihr beiderseitiges Verderben sein werde. Glücklicher Weise war sie vor Angst fast gelähmt. Sie bewegte sich nicht. Sie wagte ja kaum zu athmen.

Was er bisher gethan hatte, war fast nur ein Kinderspiel zu nennen gegen das, was er noch zu unternehmen hatte. Auf dem kleinen Vorstoße hangend, richtete er den klaren, scharfen, furchtlosen und schwindelfreien Blick neben und unter sich, um einen zweiten Punkt für Fuß und Stock zu finden, dabei aber immer berechnend, daß es von da aus auch weitere Anhaltspunkte gebe.

So begann der Abstieg, bald grad abwärts, bald zur rechten oder zur linken Seite. Oft gab es keine Stelle mehr, um Fuß zu fassen, und dann mußte er mit Lebensgefahr wieder zurück, um dann andere Stellen zu suchen.

Es gehörten, die Eigenschaften der Seele ganz abgerechnet, Muskeln von Eisen und Flechsen von Stahl, Nerven aber wie von Erz dazu, diesen Gang in den Abgrund auszuführen. Und das war bei Anton vorhanden. Immer tiefer und tiefer kam er. Die zuschauende Menge hielt es nicht für möglich. Noch fünfzig, noch vierzig Ellen war er vom Boden entfernt; dann nur noch dreißig, zwanzig - zehn Ellen. Noch fünf - vier - drei - zwei Ellen; dann that er den kleinen Sprung. Er stand auf fester Erde - die Professorin war gerettet.

Man hätte denken sollen, daß nun ein großer Jubel zu hören gewesen sei, aber mitnichten.

Der Augenblick war ein zu gewaltiger. Alle sanken auf die Kniee nieder. Da begann der Pfarrer:


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»Ich rief den Herrn in meiner Noth:
   Ach Gott, vernimm mein Schreien!
Da half mein Helfer mir vom Tod
   Und ließ mir Trost gedeihen.
Drum dank, ach Gott, drum dank ich Dir.
Ach danket, danket Gott mit mir!
   Gebt unserm Gott die Ehre!

Alle sangen mit, Alle, nur Antons Eltern nicht und der Professor nicht; diese fanden selbst zu diesem Lobliede keine Worte, keine Töne. Und Anton stand unbeweglich da, aber seine Kniee zitterten. Nach der entsetzlichen, übermenschlichen Anstrengung trat die Reaction ein. Er kniete langsam nieder, so daß er den Stuhl zur Erde setzte, und lößte den Strick, mit welchem er ihn an sich befestigt hatte.

Bereits war der Professor herbeigesprungen. Er riß seiner Frau das Tuch von den Augen und zog sie weinend in seine Arme, obgleich sie noch an den Stuhl gefesselt war.

An den Schultern Antons aber hingen seine alten Eltern, laut schluchzend vor Freude, Glück und Stolz. Das dauerte aber gar nicht lange, denn nun drängten sich auch die Andern heran. Jeder wollte dem muthigen Retter die Hand drücken und ihm ein Wort der Bewunderung, der Anerkennung sagen.

Der Professor umarmte ihn.

»Anton,« sagte er, »was Du heut an uns gethan hast, das hast Du Dir gethan. Ich will nicht von Dank sprechen; aber Gott soll meiner vergessen, wenn ich dieses Augenblickes vergesse. Sei mein Bruder, mein Sohn! Was ich habe, das gehört auch Dir!«

In jubelndem Triumphe wurden Retter und Gerettete hinab in das Dorf geführt. Dort angekommen, flüchtete Anton sich mit den Eltern sogleich in sein Hüttchen. Franza war mit nach dem Gasthause gegangen, wo der Professor logirte. Die Frau Professorin befand sich in einem höchst hilfsbedürftigen Zustande, und die derben Bewohnerinnen des Ortes waren zur Behandlung der zarten Dame so wenig geeignet, daß eben Franza sich derselben annahm.

Natürlich mußte Anton vor allen Dingen berichten, was er während der Rettungsthat gedacht und gefühlt habe. Dann aber wurde er gefragt, warum er erst heut nach Hause gekommen sei. Er erzählte seine Erlebnisse, und da fiel ihm erst das Geld ein, welches er einstecken hatte. Vor Eifer, für die Professorin das Wagniß zu unternehmen, hatte er gar nicht daran gedacht. Er zog die blanken Goldstücke hervor, legte sie auf den Tisch und sagte:

»Da schaut, was ich Euch mitgebracht habe.«

»Herrjesses!« rief seine Mutter, vor Entzücken die Hände zusammenschlagend. »Das sind ja meiner Seel lauter Goldstückerln! Wo hast denn diese her?«

»Von dem Herrn aus München, bei dem ich den Bären erschossen hab.«

»Der gute! Was aber fangen wir nun alleweil mit dem gar vielen Geldl an?«


Ende der vierten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der Weg zum Glück

Karl May – Forschung und Werk