Lieferung 8

Deutscher Wanderer

10. November 1883

Die Liebe des Ulanen.

Original-Roman aus der Zeit des deutsch-französischen Krieges von Karl May.


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Fritz glaubte, dem Mädchen die Wahrheit sagen zu können. Nanon aber, so sehr er diese anbetete, hatte er gesagt, daß er zwischen den Bergen, also wohl in der Schweiz, gefunden worden sei, weil er in der Umgegend für einen Schweizer gehalten werden sollte.

»Bei Neidenburg!« jubelte das Mädchen. »Du bist's! Du bist's! O, nun kann ich Dich zwingen, mich lieb zu haben, denn ich weiß ein Geheimniß, welches mir nur Deine Liebe abkaufen kann. Willst Du mich lieb haben, lieb, sehr lieb? Antworte schnell!«

Sie stand vor ihm da im zerfetzten Röckchen, mit herunterhängendem Mieder; sie bemerkte es gar nicht, er aber sah es; er mußte es ja sehen, und es überkam ihn ein unwiderstehliches Grauen, ein Abscheu, ein Ekel vor diesem Geschöpfe.

»Was ist's für ein Geheimniß?« fragte er.

»Sage erst, ob Du mich lieben willst!« drängte sie.

»Nein!« antwortete er, sich abwendend.

»Nun, so will ich Dir sagen, wer Deine Eltern sind, wenn Du mir gehören willst!«

Schnell drehte er sich wieder zu ihr.

»Meine Eltern?« rief er. »Kennst Du sie?«

»Ja, ganz genau. Ihr waret zwei Zwillingsbrüder. Ihr wurdet geraubt, auf den Befehl eines hohen Herrn geraubt, der den Räuber reich belohnte. Später aber ginget Ihr verloren, Du bei Neidenburg und der Andere - ah, was schwatze ich da! Liebe will ich, Liebe, Liebe, Liebe! Dann sage ich Dir, wer Du bist. Willst Du heute Abend zu mir kommen?«

Sie stand vor ihm voll unverschämter Lüsternheit, ein weiblicher Faun.

»Nein,« antwortete er, erröthend an ihrer Statt.

»Ich nenne Dir Deine Eltern!«

»Nein!« war seine feste, entschiedene Antwort.

Er dachte an Nanon, die Herrliche, Reine; er konnte unmöglich ja sagen.

»Ich mache Dich zu einem Grafensohne,« bat sie.

»Nein!«

»Nur einen Kuß, einen einzigen Kuß!«

»Auch keinen Kuß!«

Das erregte ihre Wuth.

»Verdammter Hartkopf!« drohte sie. »Willst Du denn mit aller Gewalt ein Kräutermann bleiben? Ich verlange einen Schundpreis für das, was ich Dir biete.«

Da öffnete sich die Thür und der Bajazzo trat ein. Er erblickte seine Pflegetochter. Er sah ihr derangirtes Gewand, er sah die Blouse und die Weste Fritzens geöffnet. Seine Augen funkelten vor Wuth und er fragte:

»Was macht Ihr da, he? Soll ich Euch mit dem Stocke auseinander treiben? Jetzt eben schlägt es zwei Uhr und die Vorstellung soll anfangen. Wie siehst Du aus, Metze! Packe Dich sofort in die Garderobe! Und dieses Bürschchen da werde ich bei den Ohren nehmen und daran erinnern, daß es hier bei uns -«

Er hielt mitten im Satze inne. Sein Blick war auf die Kette und den Zahn gefallen. Er war betrunken, sogar sehr betrunken, aber er erbleichte dennoch. Ohne seine Schimpfreden fortzusetzen, drehte er sich um und verließ das Stübchen. Er sah so verwirrt und erschrocken aus wie einer, den die Nemesis beim Schopfe fassen will.

»Was war so plötzlich mit ihm?« fragte Fritz das Mädchen.

»Er sah diesen Zahn,« antwortete sie. »Siehst Du, welche Wirkung dieser hat! Nach der Vorstellung sprechen wir weiter. Jetzt muß ich in die Garderobe. Aber so ist es,


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wenn die Liebe zu stark wird, zerreißen die Kleider. Also überlege es Dir, ob Du mich haben willst, wenn ich Dir eine Grafenkrone dafür gebe.«

Sie ging und ließ ihn in größter Erregung zurück. Er stand vor der Lösung seines Geheimnisses, aber der Schlüssel stank vor Schmutz. Was sollte er thun? O, wenn er doch einmal mit Nanon reden könnte! Kam sie vielleicht zur Vorstellung? Dieselbe war ja auf allen umliegenden Ortschaften angemeldet worden. Aber nein; für die Bewohner von Schloß Ortry war dies kein Vergnügen.

Er ging, um sich eine andere Blouse zu kaufen, da er keine andere besaß, als die zerrissene.

Nicht weit vom Gasthause war ein Laden; dorthin ging er. Er fand, was er suchte, kaufte und bezahlte das Stück und zog es sogleich an, die alte dem Händler als Geschenk zurücklassend. Als er aus dem Laden trat, kamen soeben zwei Wagen herangerollt. Im ersten erblickte er Müller und im zweiten Nanon; für die Uebrigen hatte er keine Augen. Beide grüßten ihn freundlich, und nun nahm er sich vor, mit Nanon zu sprechen, wenn es nur irgend möglich zu machen sei.

Unterdessen war die Seilkünstlerin in die Garderobe getreten, welche im Hinterhause des Gasthofes lag. Alle anderen Künstler befanden sich bereits auf dem Platze, wo die Vorstellung gegeben werden sollte; nur der Hanswurst wartete auf sie.

Als sie eintrat, führte er gerade die fast geleerte Flasche an den Mund. Er trank sie aus und warf sie zu Boden, daß die Scherben umherflogen.

»Verdammte Liebelei mit diesem Burschen!« rief er. »Und wie habt Ihr Euch an einander herumgedrückt! Der ganze Anzug ist dabei zerrissen worden!«

»Geht das Dich etwas an?« fragte sie schnippisch, indem sie einen alten Kasten öffnete, um ein anderes Fähnchen herauszunehmen.

»Mich?« meinte er erbost. »Ja, mich am Allermeisten! Bin ich nicht Dein Vater, Dein Bräutigam?«

»Bräutigam!« lachte sie höhnisch. »Der sitzt drinnen im Stübchen.«

»Der? Ah, der Lump, der Pflanzensucher!«

»Nein, sondern der Edelmann, der Grafensohn! Du hast ja den Zahn gesehen!«

»Den Zahn? Welchen Zahn? Den Teufel habe ich gesehen, aber keinen Zahn!«

»Lüge nicht!« gebot sie ihm, indem sie ganz nackt vor ihm stand und nun begann, sich anzukleiden. »Du hast ihn wohl gesehen. Du bist ja sofort ausgerissen.«

»Willst Du schweigen, verfluchte Dirne!« rief er wüthend. »Ich glaube gar, Du willst uns an den Galgen reden!«

»Mich nicht, aber Dich! Ich kann nicht bestraft werden. Ich mußte Dir gehorchen; ich habe nur Wache gestanden; ich war noch ein Kind. Ich bin ihm gut. Er muß mich wieder lieben, und ich mache ihn zum Grafen.«

Diese Worte waren in einem höchst entschlossenen Tone gesprochen. Der Bajazzo stand dabei mit gläsernen Augen; der Teufel des Fusels blickte aus ihnen. Er knirrschte die Zähne hörbar zusammen, erhob drohend die geballte Faust und fragte:

»Das willst Du? Willst Du das wirklich thun, he?«

»Ja, das thue ich!« antwortete sie, die Hände betheuernd zusammenschlagend.

»Oho, da bin ich auch noch da, ich, Dein Vater und Bräutigam. Ich habe das Recht, Dich zu züchtigen, und ich werde davon Gebrauch machen, verstehst Du mich?«

Er trat näher an sie heran. Sie gab ihm einen Stoß und rief:

»Packe Dich, Süffel, Du stinkst wie ein Faß!«

Der Stoß war zu stark gewesen; der Mann stürzte nieder. Aber mit der Elasticität eines Akrobaten war er wieder in die Höhe, und im gleichen Augenblicke brannte eine fürchterliche, schallende Ohrfeige in ihrem Gesicht. Sie stieß einen heiseren Wuthschrei aus und stürzte sich auf ihn. Er hielt ihr trotz seiner Trunkenheit scharf Stand, denn das Balgen gehörte zu seinem Handwerke. Sie rauften, schlugen, kratzten und bissen sich so lange in der engen Kammer, welche die Garderobe bildete, herum, bis ein Mitglied der Truppe erschien, und sie mit dem Bemerken auseinander riß, daß die Vorstellung bereits begonnen habe; der Director befehle, daß sie kommen sollten.

Der Bote entfernte sich sofort wieder. Die Seilkünstlerin kochte vor Wuth, er aber vor Wuth und Eifersucht.

»Warte nur,« drohte sie ergrimmt; »das tränke ich Dir ein, Du Kinderräuber!«

»Ah, wirklich?« fragte er, zitternd vor Schnaps und Aufregung. »Wie denn, he?«

»Ich bringe Dich auf's Zuchthaus; dann bin ich Dich los.« Und mit erhöhter, fast überschnappender Stimme fügte sie hinzu: »Warte nur die Vorstellung ab, dann kommt er; ich habe ihn bestellt. Ich sage ihm Alles, Alles, Alles! Dann hat er mich lieb, Du aber spinnst Wolle hinter Deinen Mauern!«

Er lachte höhnisch. Das brachte sie noch mehr auf.

»Du glaubst es nicht?« fragte sie. »Ich schwöre es Dir hiermit zu mit den heiligsten Eiden, daß er es nach der Vorstellung erfährt! Nun glaube es, oder nicht; mir ist es ganz und gar gleich; Dich aber bin ich dann glücklich los! Mache Dich gefaßt!«

Sie warf noch ein langes Tuch über, da sie durch einige Gassen gehen mußte, gab ihm einen letzten Stoß, daß er an die Wand taumelte, und eilte fort. Er starrte ihr nach, fast sinnverwirrt vor Wuth, Angst, Eifersucht und Schnaps.

»Sie thut es; sie thut es wirklich; der Teufel soll mich holen, wenn sie es nicht thut!« knirrschte er. Und die Faust drohend schüttelnd, murmelte er: »Aber noch giebt es ein Mittel dagegen. Ich habe es schon oft im Kopfe gehabt und nicht ausgeführt. Aber jetzt sehe ich, daß sie mich nicht will. Sie hält es mit Anderen, und mich schafft sie in's Zuchthaus. Gut, heute ist's genug; heute wird's gemacht. Der Teufel soll lieber sie haben als mich!«

Und in dem offenen Kasten herumwühlend, dachte er weiter:

»Ich habe sie oft gewarnt; ich brauche mir kein Gewissen zu machen. Da sind Kleider genug, die ich brauche, und dort steht die Kasse des Directors. Hahahaha! Mich in's Zuchthaus bringen! Wir wollen sehen, wer dieses Mal gewinnt!«

Als er sich Alles zurecht gelegt hatte, verließ er die Garderobe, zog den Schlüssel ab und steckte ihn in eine Mauerritze, da er in seinen Tricots keine Tasche hatte. Dann begab er sich nach dem Festplatze.

Dort befanden sich die Künstler bereits in voller Handlung.


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Ein hohes Thurmseil weckte die gespannte Erwartung aller Zuschauer. Daneben waren mehrere tiefere Seile gezogen. Es gab ein Schwebereck und außerdem den ganzen equilibristischen Apparat, der bei solchen Schaustellungen gewöhnlich in Anwendung kommt. Zur ebenen Erde waren große Tücher ausgebreitet, auf denen die Lustigmacher ihre Späße zu treiben hatten. Die größte Aufmerksamkeit aber erregte ein hohes Gerüst, auf welchem Abu Hassan, der orientalische Zauberer, seine unbegreiflichen Künste produciren sollte. Das sollte den Glanz- und Schlußpunct der Vorstellung bilden.

Als der Bajazzo ankam, producirten sich einige der Künstler auf dem niedrigen Seile. Sodann folgte ein komisches Intermezzo, bei welchem er die Hauptrolle zu spielen hatte. Sie gelang ihm vortrefflich. Er mochte noch so sehr betrunken sein, während der »Arbeit« hatte der Spiritus keine Gewalt über ihn.

Nun folgte das erste Betreten des Thurmseiles. Die Künstlerin lehnte nachlässig an der Leiter, welche zur Höhe führte. Sie warf das Tuch ab und stieg empor. Droben lag die Balancirstange. Sie ergriff dieselbe und machte dem Publicum eine Verbeugung. Jetzt überzeugte sie sich vorher, ob auch die vom Hauptseile nach unten hängenden Halteseile scharf angezogen seien. An diesen Seilen standen ihre Collegen, unter ihnen auch der Bajazzo. Er hatte sich seinen Ort mit Absicht auserwählt. Gerade über ihm war die Stelle, an welcher sie sich frei niederzulegen pflegte. Sie streckte dann Arme und Beine von sich und balancirte die Stange auf der Stirn.

Jetzt schien Alles in bester Ordnung zu sein - sie betrat das Seil. Es begann in einer Höhe von vielleicht fünfzig Fuß und stieg dann bis über achtzig Fuß empor. Sie erklimmte diese Höhe sehr glücklich unter allerlei kühnen Abwechslungen in Schritt und Sprung. Dann schritt sie rückwärts wieder herab. Das Seil ging hier sehr steil empor; es war eine schwierige Partie; ein Fehltritt hätte sie zum Sturze in die Tiefe gebracht, aber es gelang.

Fast in der Mitte des Seiles angekommen, drehte sie sich mit einem verwegenen Sprunge um. Ein rauschender Applaus war zu hören. Sie ließ ihn verklingen und bedankte sich durch eine Verneigung. Dann kniete sie sich langsam nieder, gerade über dem Bajazzo, welcher das Halteseil mit aller Kraft anzog. Seine Augen glühten in einem wilden, teuflischen Entschlusse empor. Jetzt setzte sie sich rücklings auf das Seil und ließ sich dann langsam hintenüber sinken. Als sie, lang ausgestreckt, das Gleichgewicht gefunden hatte, hob sie das eine Ende der Stange auf die Stirn und begann zu balanciren. Sodann streckte sie zunächst die Arme und später die Beine empor, ohne daß die Stange oder sie aus dem Gleichgewicht gekommen wären. Dies erweckte einen dreifach lauteren Beifall als vorher.

Auf diesen Augenblick hatte der Bajazzo gewartet. Gedankenschnell sein Haltesell nachlassend und wieder anziehend, so daß es nur von einem scharfen und aufmerksamen Kennerauge bemerkt werden konnte, theilte er dem Hauptseile eine plötzliche, scharfe Erschütterung mit. Ein schriller Aufschrei der Künstlerin überschmetterte den Applaus des Publikums; die Stange neigte sich, erst langsam und dann schneller, und stürzte herab. Die Künstlerin versuchte, mit den Händen das Seil zu erhaschen - sie griff in die Luft, flog herab und schlug mit einem lauten, dumpfen Krach gerade neben dem Bajazzo auf die Erde nieder.

Dieser stand scheinbar wie vom Donner gerührt, den fürchterlichen Schrei, den tausend anwesende Menschen ausstießen, gar nicht beachtend; dann aber schlug er sich die Hände vor den Kopf und warf sich jammernd neben ihr nieder.

Zugleich aber legte sich eine Hand schwer auf seine Schulter. Es war die des Directors.

»Mörder!« rief dieser. »Ich habe es gesehen, es war Absicht. Ich lasse Dich festnehmen!«

Der Bajazzo that, als höre er dies gar nicht. Das Publicum drängte in Massen herbei und schob die Künstler auseinander. Dies benutzte der Mörder. Er ließ sich mit Absicht abdrängen und eilte dann mit dem Rufe »ein Arzt, ein Arzt!« davon.

Er erreichte ganz unangefochten den Gasthof, sprang über den Hof hinüber, zog den Schlüssel aus der Ritze, schloß auf und trat ein. Im Nu hatte er sich die Schminke abgewaschen, eben so schnell flogen ihm die zurechtgelegten Kleider auf den Leib. Dann stülpte er einen Hut auf, ergriff die Kasse und trat aus der Kammer. Er verschloß sie und schleuderte den Schlüssel in das nahe befindliche Jauchenfaß. Dies verschaffte ihm eine Frist, weiter fortzukommen.

Er war schlau genug, den Gasthof nicht durch den Eingang desselben zu verlassen. Er schlich sich in den Garten. Für ihn als Bajazzo war es ein Leichtes, sich mit der Kasse über den Zaun zu schwingen, und nun befand er sich auf einer Wiese im Freien. Er eilte über dieselbe hinüber und erreichte ein Gebüsch, welches ihn den Blicken seiner Verfolger entzog, und sprang sodann beflügelten Schrittes dem nicht sehr fern liegenden Walde zu.

Es hätte dieser Vorsicht und Eile gar nicht bedurft, denn auf Feld und Wiese befand sich heute kein Mensch, da Alles in der Stadt geblieben, oder nach derselben gegangen war, um der Vorstellung beizuwohnen, die nach der verlockenden Ankündigung eine noch nie dagewesene zu werden versprochen hatte.

Auf dem Festplatze war natürlich Alles in der fürchterlichsten Aufregung. Mit echt französischer Lebhaftigkeit und Rücksichtslosigkeit drängte sich Mensch an Mensch, Masse an Masse. Die drei Mann Stadtsergeanten konnten nichts dagegen thun.

Zahlreiche Angstrufe und Schreie ertönten, ausgestoßen von verletzten Menschen, bis endlich die Militärbesetzung ihre Schuldigkeit begriff, und nach und nach Ruhe stiftete und Ordnung in das Gewühle brachte.

Die Herrschaften von Ortry waren so klug gewesen, dem Rathe Müller's zu folgen. Sie hatten schleunigst die Wagen aufgesucht und die Stadt verlassen.

Noch immer lag die verunglückte Künstlerin auf derselben Stelle, auf welche sie niedergeschmettert war. Ein Haufe Volks umgab sie, und inmitten desselben knieten zwei Männer bei ihr, nämlich Doctor Bertrand und Fritz.

»Wie steht es?« fragte der Letztere.

»Schlecht, wie zu erwarten war,« antwortete der Gefragte.

»Wenn sie überhaupt zu sich kommt, so ist es nur, um sofort für ewig einzuschlafen. Bei einem Sturze aus solcher Höhe kann kein Mensch mit dem Leben davon kommen.«

Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, so bewahrheiteten sie sich. Die Künstlerin bewegte leise den Kopf und schlug


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die Augen auf. Ihr starrer, verschleierter Blick fiel auf das ihr nahe Gesicht des Pflanzensammlers. Sie schien ihn doch zu erkennen, denn ihr Auge belebte sich, und ihre Züge machten eine nicht gelingende Anstrengung, ein freundliches Lächeln hervorzubringen. Dann bewegte sie ihre Lippen. Die beiden Männer hielten ihre Ohren näher hin und hörten deutlich die Worte:

»General - Kunz von Goldberg - Vater - Rauben lassen Graf - Jules Rallion - Cousin Hedwig - Bajazzo - bezahlt - ah!«

Sie konnte nicht weiter sprechen. Ein blutiger Schaum trat ihr vor den Mund; ihre Augen brachen; ein Zittern ging durch ihre zerschmetterten und gebrochenen Glieder; der eine Arm versuchte, sich noch einmal zu erheben, als ob er sich an Fritz anklammern wolle; er sank nieder - ein lautes, leiser werdendes Röcheln, und sie war todt, die noch vor einer Stunde in überstrotzender Lebenslust den Gesetzen weiblicher Anmuth und Sitte schreiend Hohn gesprochen hatte.

Damit waren auch die Umstehenden befriedigt. Die Tragödie war zum Abschluß gelangt. Sie entfernten sich und Keiner von ihnen betrauerte die Künstlerin, der vorhin noch Alle zugejubelt hatten.

»Was müssen die Worte und Namen zu bedeuten haben, welche sie vorhin ausgesprochen hat?« fragte Doctor Bertrand.

»Sie bezogen sich auf mich,« antwortete Fritz.

»Ah, Sie kannten wohl das Mädchen?« fragte Doctor Bertrand.

»Nein, doch sprach ich vor der Vorstellung mit ihr im Gasthofe. Sie wollte mir nach derselben etwas Wichtiges mittheilen. Noch an der Schwelle des Todes hat sie sich an ihr Versprechen erinnert und es erfüllt, unvollständig zwar, aber doch immer so, daß ich zufrieden sein kann. Was wird mit ihrem Leichnam werden?«

»Er kommt in das Todtenhaus; das werde ich jetzt sofort selbst besorgen. Und sodann muß man mit dem Director Abu Hassan sprechen.«

»Der wird im Gasthofe sein. Ich gehe hin, ihn zu suchen.«

Als er den Gasthof erreichte, war der Director mit einigen seiner Mitglieder beschäftigt, die Thür zur Garderobe durch einen Schlosser öffnen zu lassen. Als dies geschehen war, zeigte es sich, daß die Tageskasse fehlte und mit ihr der gute Anzug eines der solidesten Künstler der Truppe.

»Der Bajazzo ist entflohen,« sagte Hassan. »Er ist der Mörder; ich habe es gesehen. Er muß verfolgt werden; ich werde sogleich zur Mairie laufen.«

Auch unserm Fritz war sehr viel daran gelegen, daß man des Flüchtigen habhaft werde. Doch wollte er nicht eher einen Schritt thun, als bis er mit Nanon und seinem Rittmeister gesprochen habe. Und bei diesem Gedanken fiel ihm die Leichengräberei ein, welche für den heutigen Tag festgesetzt war, und wozu er ja die Werkzeuge zu besorgen hatte.

Hierbei bot sich gerade Gelegenheit, mit Müller zu sprechen, und so beschloß er denn, schon im Voraus das Werkzeug hinauszuschaffen und in der Nähe des Grabes zu verstecken, um dann nach dem Schlosse zu gehen und Müller abzulauern. Auf dem Wege zum alten Thurme hatten sie dann Zeit, sich mit Fritzens Angelegenheit zu befassen, welcher Müller sicher seine ganze Theilnahme schenken würde.

Der Wirth des Gasthofes gab sehr gern zwei Hacken und zwei Schaufeln her. Fritz warf sie bereits zur Dämmerungszeit über den Rücken und wanderte hinaus nach dem Walde


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von Ortry. Es war bereits dunkel geworden, als er diesen erreichte. Er versteckte das Werkzeug neben dem Grabe unter die Büsche und schritt sodann dem Schlosse entgegen.

Als er es erreichte, sah er in Müller's Zimmer Licht brennen. Es war noch lange Zeit bis Mitternacht, und so zog er sich eine Strecke zurück und setzte sich an einer Stelle nieder, an welcher er Müller's Fenster beobachten konnte.

So saß er und überflog mit seinem Auge die Front des Schlosses. Hinter welchem Fenster wohnte Nanon? Dachte sie nur den hundertsten Theil an ihn, wie er an sie? Welch ein Unterschied zwischen ihr, der Reinen, und der Künstlerin, gerade wie zwischen Himmel und Hölle. Welches Glück, welche Seligkeit, die Liebe eines solchen Wesens zu erringen! Wäre doch auch ihm ein solches Glück bescheert! Wie wollte er es bewachen! Aber er, ein armer Unterofficier!

Da kamen ihm die Worte der Sterbenden wieder in den Sinn. Wie hatten sie gelautet? »General - Kunz von Goldberg - Vater - Rauben lassen Graf - Jules - Rallion - Cousin Hedwig - Bajazzo - bezahlt -«

Was hatten diese Worte zu bedeuten? Gab es einen General, welcher Kunz von Goldberg hieß? War er es, dem die beiden Knaben geraubt worden waren? Ja, es hatten ja unter dem Porträt in der Zahnhöhlung die Buchstaben K. v. G. gestanden. War Graf Jules Rallion es gewesen, welcher die Knaben hatte rauben lassen? War dieser Rallion der Cousin von Hedwig? Wer war diese Hedwig? War sie vielleicht die Frau des Generals? Es standen ja unter dem weiblichen Bilde die Buchstaben H. v. G. War der Bajazzo es gewesen, welcher die Knaben geraubt hatte? Von wem war er bezahlt worden? Von diesem Cousin, also von Graf Rallion? Das waren die Fragen, welche Fritz sich vorlegte.

Er sah ein, daß für ihn die Möglichkeit vorhanden sei, daß sein Leben von jetzt an eine ganz andere, ungeahnte Richtung nehmen könne. Am Meisten beschäftigte ihn der Umstand, daß ihm der Name »von Goldberg« nicht unbekannt war.

Sein Herr, der Rittmeister von Königsau, hatte einen Oheim, welcher diesen Namen trug, welcher sogar General war und Kunz hieß, wie Fritz sich besann. Die Generalin von Goldberg war die Schwester der Frau von Königsau. Der General hatte keine Kinder; das wußte Fritz ganz genau, und was die Generalin betraf, so hatte er sie zwar noch nie gesehen, aber es war ihm bekannt, daß sie stets in tiefer Trauer gehe.

Er nahm sich jetzt vor, seinem Herrn Alles zu erzählen. Er konnte von ihm den besten Aufschluß erhalten und wartete darum mit Ungeduld auf das Erscheinen desselben.

Müller saß indessen in seiner Stube und schrieb. Um nicht beobachtet werden zu können, hatte er ein dickes Papierblatt auf das Glas geklebt, durch welches der alte Capitän in das Zimmer zu blicken vermochte. Er ließ es dort auch kleben, als er fertig war, stieg dann zum Fenster hinaus, nachdem er sich umgekleidet hatte, kroch über das Dach hinüber und stieg am Blitzableiter hinab.

Fritz hatte ihn kommen sehen und empfing ihn, indem er leise herbeigeschlichen kam.

»Bist Du bereits lange hier?« fragte ihn sein Herr.

»Eine ziemliche Weile, Herr Doctor,« antwortete der Diener. »Ich kam eher, weil ich glaubte, Ihnen Etwas mittheilen zu dürfen.«

»Etwas Wichtiges für unsere Aufgabe?«

»Etwas Wichtiges? Ja, aber wohl nur für mich, Herr Doctor.«

»Ah, so ist es eine persönliche Angelegenheit?«

»Ja, nichts Anderes.«

»Nun, so wollen wir zunächst die Nähe des Schlosses verlassen, da mir natürlich daran liegen muß, unbemerkt zu bleiben. Hier, nimm aber diese Papiere. Sie gehören zu denen, welche Du über die Grenze zu schaffen hast. Und nun komm!«

Sie schritten mit einander rasch davon. Dann aber, als sie sich im Freien befanden und nun annehmen konnten, daß sie unbeachtet seien, sagte Müller:

»Nun kannst Du beginnen, lieber Fritz.«

»Da muß ich vor allen Dingen bitten, mir nichts übel zu nehmen, Herr Doctor. Ehe ich zur Sache komme, möchte ich erst einige Fragen aussprechen, welche Verwandte von Ihnen betreffen.«

»So frage einmal zu! Ich bin überzeugt, daß Du keine müssigen Fragen aussprichst.«

»Das würde ich gar nicht wagen. Aber es sind hier Dinge passirt, welche eine Erkundigung nothwendig machen, die Ihnen vielleicht zudringlich erscheinen wird. Nicht wahr, der Herr General von Goldberg, Excellenz, ist Ihr Verwandter?«

»Allerdings. Er ist mein Oheim.«

»Die Frau Generalin ist die Schwester Ihrer Frau Mutter?«

»Ja. War Dir dies noch nicht bekannt?«

»Nicht genau. Ich habe Sie ja stets nur in der Garnison bedient und bin mit Ihren Verwandten mehr als ersten Grades also nie in Berührung gekommen. Gestatten Sie mir die fernere Frage, ob der Herr General Kinder hat?«

»Nein.«

»Er hat auch niemals welche gehabt?«

»O doch, nämlich ein Zwillingspaar, zwei Knaben; sie sind ihm aber auf eine höchst unbegreifliche Weise abhanden gekommen. Er glaubte an einen Raub und hat keine Anstrengung gescheut, das Dunkel aufzuklären, doch leider vergebens. Die Tante trägt sich seit jener Zeit nur schwarz, und auch der Onkel hält sich nicht nur von jedem Vergnügen fern, sondern er meldet auch allen Umgang, der nicht ein dienstlich nothwendiger ist.«

Fritz schwieg eine Weile. Welche Perspective öffnete sich ihm da auf einmal! Er liebte seinen Herrn von ganzem Herzen; er hätte für ihn mit Freuden das Leben hingegeben, und nun gab es eine Möglichkeit, sein naher Verwandter zu sein! Dieses Schweigen dauerte Müller zu lange. Er fragte:

»Welchen Grund hast Du zu dieser Erkundigung?«

»O,« antwortete der Gefragte stockend, »ich halte es für möglich, daß die verschwundenen Knaben sich wiederfinden, wenigstens einer von ihnen.«

»Diese Möglichkeit ist natürlich vorhanden,« meinte Müller, erstaunt über die Rede seines treuen Dieners. »Aber wie kommst gerade Du dazu, dies zu betonen?«

»Weil es mir scheint, als ob ich zufälliger Weise Etwas über einen der Knaben erfahren habe.«

»Wirklich? Ist's wahr?« fragte Müller überrascht. »Das wäre nicht nur ein Glück, sondern geradezu ein Wunder zu nennen! Aber Du täuschest Dich. Wie sollte gerade Ortry der Ort sein, wo eine solche Nachricht zu bekommen wäre!


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Zwar giebt es Umstände, Zufälle, Gottesschickungen, über welche man geradezu erstaunen muß. Ich habe gerade hier ein Beispiel davon erlebt. Du weißt, daß auch mein Vater vor Jahren spurlos verschollen ist; keine Nachforschung hat uns Nutzen gebracht, und hier in Ortry habe ich etwas erlauscht, was ganz geeignet ist, das erste Licht in dieses Dunkel zu werfen.«

»Finden Sie eine Spur von dem Verschollenen, so will ich dies Ihnen von ganzem Herzen gönnen, Herr Doctor,« sagte Fritz. »Außerordentlich wäre es allerdings, wenn gerade auch hier in Ortry eine Fährte sich öffnete, auf welcher die beiden gesuchten Knaben zu finden sind. Haben sie denn nicht ein Zeichen an sich gehabt, an welchem sie zu erkennen gewesen wären?«

»An ihrem Körper nicht; aber ihre Kleidchen sind gezeichnet gewesen, und am Halse hat jeder ein Kettchen gehabt mit einem Löwenzahn, in dessen Innerem sich die Miniaturbilder der Eltern befanden. Bei Zwillingen läßt sich nicht gut von einem Unterschiede des Alters sprechen, da dieser ja nur Minuten betragen kann, doch Einer ist doch immerhin der Aeltere; dieser hatte den rechten und der Andere, der jüngere, den linken Reißzahn. Der Onkel war nämlich einmal in Algerien gewesen und hat dort einen außerordentlichen männlichen Löwen erlegt. Nebst dem Felle brachte er die beiden Reißzähne mit. Die Araber sind sehr abergläubisch. Sie sagen, ein Sohn werde ein starker und tapferer Mann, wenn man ihm einen Löwenzahn anhänge. Dieser Ansicht ist der Onkel gefolgt, freilich nicht aus Aberglauben, sondern einer unwillkürlichen Eingebung, einer Liebhaberei wegen. Es hat nicht ein jeder das Glück, von sich sagen zu können, daß er den König der Thiere erlegt habe, und darum ist ein solcher Zahn für den Sohn eines Löwentödters ein werthvolles Andenken an den Muth des Vaters.«

»Wo sind die beiden Knaben verloren gegangen?«

»In oder bei Neidenburg in Ostpreußen,« antwortete Müller, fuhr aber rasch fort: »Alle Teufel, da fällt mir ja ein, daß Du aus jener Gegend bist! War es nicht ein Dorf bei Neidenburg im Regierungsbezirke Königsberg, wo Du geboren bist?«

»Ja, in Groß-Scharnau bei Neidenburg; aber ich bin dort nicht geboren, sondern gefunden worden.«

»Wie? Was?« fragte Müller, erstaunt stehen bleibend. »Ah, richtig, Du hast keine Eltern!«

»Ich bin unter einem Berge von Schnee hervorgezogen worden; ich bin ein Findelkind, darum hat man mir ja den Namen Schneeberg gegeben.«

»Ich besinne mich; Du hast mir dies ja bereits erzählt. Aber, um Gottes willen, Du willst doch nicht sagen, daß es zwischen Deiner Auffindung und dem Verluste jener Knaben irgend einen Zusammenhang giebt?«

»Vielleicht ist dieser Zusammenhang vorhanden, Herr Doctor. Eben darum habe ich Sie ja um Verzeihung gebeten, falls ich Ihnen zudringlich erscheinen sollte. Sie kennen mich, ich will kein Aufdringling sein; aber ich wäre ganz glücklich, wenn es mir gelänge, meine Eltern zu finden. Ob diese nun arm oder reich, bürgerlich oder vornehm sind, das ist mir ganz gleich, wenn nur die Sehnsucht, welche ich nach ihnen fühle, befriedigt wird.«

»Aber, Mensch, Fritz, was redest Du da für dummes Zeug! Jeder Vater und jede Mutter wird froh sein, ein verlorenes Kind zu finden, ganz gleich, ob dieses Kind von armen oder wohlhabenden Leuten aufgenommen wurde. Ich weiß in diesem Augenblicke noch nicht, was Du sagen willst und was ich denken soll; aber woraus schließest Du, daß der erwähnte Zusammenhang stattfindet und vorhanden ist?«

»Weil ich einen Löwenzahn trage, und zwar den aus der rechten Kiefer.«

»Großer Gott, ist's möglich? Er ist bei Dir gefunden worden?«

»Ja.«

»Du hast ihn noch?«

»Ja; ich trage ihn hier am Halse.«

»Und die Bilder sind darin?«

»Sie sind drin.«

»Das hast Du gewußt und mir niemals gesagt!«

»O bitte, Herr Doctor, ich habe von den Bildern nichts gewußt, gar nichts; erst gestern hat mich Mademoiselle Nanon auf den Inhalt des Zahnes aufmerksam gemacht.«

»Mademoiselle Nanon? Was weiß sie von dem Zahne?«

»Sie hat in Paris eine Dame gesehen, von welcher erzählt worden ist, daß sie stets in Trauer gehe, weil sie zwei Zwillingsknaben verloren und nicht wiedergefunden habe; ein jeder der Knaben hat an einer dünnen, goldenen Kette einen Löwenzahn getragen. Gestern traf ich sie im Walde. Meine Blouse hatte sich geöffnet und der Zahn hing hervor. Sie erblickte ihn und besann sich sofort auf jene Dame. Als sie hörte, daß ich ein Findling sei, nahm sie sofort an, daß ich einer der beiden Knaben sein müsse. Sie besah sich den Zahn genauer, und da fand es sich, daß er aus der Grafenkrone, in welche er gefaßt ist, herausgeschraubt werden könne. Als sie dies versuchte, gelang es ihr, und nun entdeckten wir die beiden Miniaturporträts.«

»Hat sie die fremde Dame gekannt?«

»Nein. Aber sie hat mir versprochen, sich sogleich zu erkundigen, wer sie gewesen ist. Ich glaube, daß sie bereits heute deshalb nach Paris geschrieben hat.«

»Ja, die Tante ist zuweilen in Paris; das stimmt. Es giebt Verhältnisse, welche ihre Anwesenheit dort zuweilen nöthig machen. Bei einer solchen Anwesenheit mag es möglich sein, daß sie von Nanon gesehen worden ist. Stimmte denn das Bild mit der Dame?«

»Ja. Mademoiselle erkannte sie sofort.«

»Nun, dann ist es nicht nothwendig, nach Paris zu schreiben. Fritz, Fritz, Du weißt, daß ich große Stücke auf Dich halte! Wenn Du mein Cousin wärest!«

Er trat nahe an ihn heran und faßte seine Hände.

»O, Herr Doctor,« meinte der Diener ganz bescheiden, »in einer Beziehung möchte es mir fast leid thun, zu hören, daß meine Eltern vornehme Leute sind, denn ich versichere -«

»Halt, dummes Zeug!« unterbrach ihn Müller. »Ich weiß, was Du sagen willst, und ich verstehe Dich; aber Du bist wenigstens gerade so viel werth als irgend ein Junker oder Edelmann. Sollte sich einer meiner beiden Cousins wirklich wieder finden, so ist es mir doch lieber, Du bist es, als daß es ein Anderer ist. Du kannst also den Zahn öffnen?«

»Ja.«

»Thue es. Ich werde ein Zündholz anbrennen.«

Er strich ein Zündholz an, steckte damit das Licht seiner Laterne in Brand und beleuchtete damit die Porträts, welche Fritz ihm zeigte.


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»Es ist kein Zweifel, sie sind es!« sagte Müller. »Es ist Onkel und Tante, der General und die Generalin. Mensch, Du bist wahrhaftig mein Vetter. Komm' her; laß Dich umarmen!«

Er blies aus Vorsicht die Laterne aus, steckte sie wieder in die Tasche und streckte dann die Arme aus, um den Diener an sich zu ziehen. Dieser jedoch trat einen Schritt zurück und sagte:

»Halt, Herr Doctor, warten wir noch! Der Zahn ist zwar recognoscirt, aber es fragt sich doch sehr, ob ich der richtige Findling bin. Der Zahn erklärt und beweist noch nicht genug, obgleich ich dem General, wie er damals gewesen ist, sehr ähnlich sehen muß, da die Seiltänzerin diese Aehnlichkeit sofort erkannte.«

»Die Seiltänzerin? Welche?«

»Die heute verunglückt ist!«

»Ah, wieder ein Räthsel!«

»Ja, und zwar ein ganz außerordentliches. Ich glaube nämlich fast, daß einer der Clowns, einer der Hanswürste, es ist, der mich geraubt hat, mich und den Zwillingsbruder.«

»Geraubt sollst Du worden sein? Also nicht verloren gegangen? Alle Teufel, das wird ja interessanter. Und davon hat Dir hier in Frankreich eine Seiltänzerin erzählt? Das klingt ja gerade wie in einem Romane! Erzähle mir das von der Selltänzerin!«

Fritz berichtete ihm Alles, was geschehen war. Als er geendet hatte, meinte Müller:

»Nun giebt es für mich keinen Zweifel mehr! Du bist mein Vetter, und ich werde Dich von jetzt an als solchen betrachten, obgleich wir uns im Interesse unserer Aufgabe vor Anderen nicht kennen dürfen. Es gilt vor allen Dingen, des entflohenen Seiltänzers habhaft zu werden. Dafür laß mich sorgen. Ich werde die geeigneten Schritte thun. Bis dahin aber wollen wir das tiefste Stillschweigen beobachten. Nur der Entflohene kann Auskunft geben, und ehe wir ihn nicht haben, läßt es sich schwierig beweisen, daß Du der richtige Sohn des Generales bist.«

»Das ist ja auch meine Meinung,« sagte Fritz. »Der Zahn kann verwechselt worden sein, oder durch irgend einen Zufall an den Hals eines ganz anderen Kindes gekommen sein. Ich bitte Sie, zu thun, was Ihnen beliebt. Ich weiß, daß ich mich auf Sie verlassen kann.«

»Ja, das kannst Du, mein braver Fritz. Hier meine Hand. Ich verspreche Dir, mich so zu bemühen und ganz so zu handeln, als ob ich selbst der Findling sei! Nun aber laß uns eilen, an das Grab zu kommen. Wir haben jetzt gezaudert, und dieser Hassan wird wohl bereits auf uns warten.«

»Sollte von ihm nichts über diesen Clown zu erfahren sein?«

»Diese Frage legte auch ich mir soeben vor. Wir werden sehen, ob er Etwas weiß, was wir gebrauchen können. Jetzt komm!«

Sie hatten schon längst den Wald erreicht, auf dessen Hauptwege sie bisher langsam dahingeschritten waren. Jetzt beeilten sie sich nun und bogen in einen schmalen Richtweg ein, der sie rascher in die Nähe des Zieles führte.

Als sie dort anlangten, erhob sich hinter einem Steine eine dunkle Gestalt.

»Wer ist es, der hier kommt?« fragte sie.

Müller erkannte sofort die Stimme des Zauberers und sagte:

»Abu Hassan, Deine Freunde sind es.«

»Gut, ich dachte bereits, daß Ihr das Wort vergessen hättet, auf welches ich mich verlassen habe. Aber nennt hier meinen Namen nicht wieder. Man muß bei einem Werke, wie das unserige es ist, sehr vorsichtig sein. Habt Ihr Werkzeuge mitgebracht?«

»Ja; sie liegen in der Nähe,« antwortete Fritz.

»So hole sie, damit wir beginnen können. Eine Laterne habe ich selbst bei mir.«

Fritz brachte die Hacken und Schaufeln herbei, und dann wurden die Laternen angebrannt. Ihr schwacher Schein fiel auf die Hügel und den dahinter emporragenden Felsen. Es wehte ein leiser Lufthauch, in welchem die Lichter zu fackeln begannen. Dadurch schien es, als ob die Felsen und Bäume der Umgebung Leben empfangen hätten. Die dunklen Schatten und die hellen Reflexe bewegten sich und zuckten durch einander. Die Sträucher nahmen phantastische Gestalten an, welche drohend ihre Arme erhoben, und zornig über die Verwegenheit der drei Männer die Köpfe schüttelten. Es hätte nicht ein jeder dazu gepaßt, zur Mitternachtszeit in der Tiefe des Waldes, in der Nähe eines so verrufenen Gemäuers, wie der alte Thurm es war, ein Grab zu öffnen, um die Gebeine einer Leiche zu entführen.

»Ich hoffe, man soll nicht bemerken, daß das Grab geöffnet worden ist?« fragte Müller.

»Kein Mensch soll es erfahren,« antwortete Hassan in seinem südlichen Dialecte.

»So wird unsere Mühe eine doppelte sein. Wir müssen den Rasen des Hügels vorsichtig abstechen, um ihn wieder anlegen zu können. Und ferner müssen wir alle Erdkrumen und alle Spuren entfernen, welche unser Werk verrathen könnten.«

Sie begannen.

Zunächst wurde der Rasen vorsichtig abgehoben und zur Seite gelegt und dann das Land des Hügels entfernt. Sie schaufelten es auf eine breite Felsenfläche, welche in der Nähe lag und keine Spur von Vegetation trug. Dann erst ging es über das eigentliche Grab her. Sie arbeiteten mit aller Anstrengung, um so bald wie möglich fertig zu werden; aber dennoch währte es fast zwei Stunden, bevor sie in die Tiefe gelangten, in welcher auf Kirchhöfen die Särge zu stehen pflegen. Nun gebrauchten sie die Hacken mit größerer Behutsamkeit, bis endlich ein dumpfer Ton anzeigte, daß sie den Sarg getroffen hatten.

Bald sahen sie das entfärbte, aber noch wohl erhaltene und feste Holz desselben emporblicken. Sie schaufelten die Erde rund um den Sarg hinweg und versuchten sodann, denselben heraufzuheben.

»Lassen wir ihn unten,« meinte Müller. »Es genügt ja, ihn zu öffnen.«

Hassan stimmte bei. Und nun zeigte es sich, daß der Sarg sehr fest zugeschraubt war. Ein Taschenmesser diente als Schraubenzieher, ein mangelhaftes Instrument, aber es genügte doch. Endlich gab der Deckel nach. Müller stand unten, und die beiden anderen Männer leuchteten ihm mit den beiden Laternen von oben herab.

Er befand sich vielleicht in einer eben so großen Erwartung wie Hassan selbst. Er hatte ja vermuthet, es war ihm fast zur Gewißheit geworden, daß der Sarg leer sei. Aber dagegen sprach doch die Schwere desselben.


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»Den Deckel auf!« sagte Hassan.

Müller folgte diesem Gebote. Er faßte den Deckel beim Kopfende an und hob ihn empor. Sechs Augen blickten mit gespannter Erwartung nieder. Sie sahen keine Gebeine, sie erblickten halb verfaulte Sägespäne und Steine, mit denen der Sarg gefüllt war.

»Allah akbar - Gott ist groß!« rief Hassan erstaunt. »Was ist das?«

»Ein Betrug, ein großartiger Betrug!« antwortete Fritz. »Die Baronin ist gar nicht begraben worden!«

Müller lehnte den Deckel an die schmale Wand des Grabes, bog sich nieder und wühlte mit den Händen unter die Steine.

»Ich fühle den Boden,« sagte er; »es ist nichts darin als Sägespäne und Steine.«

»So hat man ein Blendwerk getrieben mit Liama, der Tochter unserer Zelte,« sagte Hassan grimmig. »Meine Augen sehen das Verbrechen, und meine Blicke erkennen die Täuschung. Ich schwöre bei Allah, dem allmächtigen und allwissenden Gotte, daß -«

Er hielt erschrocken inne. Ein mächtiger Donnerschlag erschütterte die Erde, und ein blendender Blitz durchzuckte die Nacht mehrere Secunden lang. Die Augen der drei Männer waren von der Helligkeit derselben fast geblendet, und als die Umgebung wieder im Dunkel lag, sahen sie eine hohe, weiße Frauengestalt zu Häupten des Grabes stehen. Sie war tief verschleiert und fragte mit strenger Stimme:

»Wen sucht Ihr hier?«

»Wir suchen Liama, die Tochter der Beni Arab!« antwortete Hassan, indem ihm ein Schauder durch die Glieder ging.

»Sie ist nicht hier; sie ist todt,« antwortete die Gestalt.

Müller hatte sich wieder vollständig gefaßt. Er antwortete:

»Du sagst, daß sie todt sei; aber ihre Gebeine sind nicht im Sarge. Wo liegt sie begraben?«

»Sie ist zu Erde und Stein geworden, von dem sie genommen ist. Laßt sie ruhen, sonst wird Euch der Fluch Allah's treffen!«

Sie erhob gebieterisch den Arm und machte eine Bewegung, als ob sie sich zurückziehen wolle. Da aber faßte Müller den Rand des Grabes mit beiden Händen, schwang sich hinauf und rief:

»Sie ist nicht zu Erde geworden, sie ist noch Fleisch und Blut, sie lebt; ich werde es Dir sogleich beweisen!«

Er streckte den Arm nach ihr aus, um sie zu fassen, aber in demselben Augenblick zuckten hundert Blitze um das Grab herum; ein fürchterlicher Donner erscholl und unzählige Flammen entsprühten dem Erdboden und fuhren wie in allen Farben glänzende Schlangen durch die Luft. Müller war vollständig geblendet.

»Der Scheitan (Teufel) ist da! Flieht, sonst seid Ihr verloren!«

Diese Worte rief Hassan, dann warf er die Laterne weg und verschwand zwischen den Bäumen des Waldes. Die beiden Anderen blieben stehen. Es war wieder still und dunkel geworden; die weibliche Gestalt war verschwunden.

»Was war das?« flüsterte Fritz.

»Glaubst Du an Gespenster?« antwortete Müller.

»Fällt mir nicht ein,« meinte der wackere Ulanenwachtmeister.

»Nun, so mußt Du doch gesehen haben, was es war!«

»Sie meinen Pulver, Colophonium und Bärlappsamen?«

»Ja. Das waren künstliche Blitze, und auch der Donner war imitirt. Der echte Donner rollt; dieser aber bestand aus einzelnen Schlägen. Ich glaube, man hat einige Kanonenschläge angebrannt, das ist Alles.«

»Was thun wir nun? Füllen wir das Grab wieder zu?«

»Nein. Man weiß, daß wir hier sind; man beobachtet uns. Vielleicht hat man uns noch gar nicht erkannt; dies würde aber sicher geschehen, wenn wir länger hier blieben. Lassen wir die Arbeit, das Grab zuzuschütten, denen über, welche es so gut verstehen, ein Feuerwerk abzubrennen. Ich weiß etwas Besseres, was wir thun können. Komm!«

Diese kurze Unterhaltung war so leise geführt, daß man sie in nächster Nähe nicht hätte verstehen können. Müller machte den Schieber seiner Laterne zu und steckte sie ein. Dann faßte er Fritz beim Arme und zog ihn fort. Als sie eine genügende Strecke zurückgelegt hatten, blieb er stehen und flüsterte:

»Hassan ist ein abergläubischer Mohammedaner; er ist fortgelaufen. Wir aber sind Christen und außerdem Soldaten; wir lassen uns nicht in's Bockshorn jagen. Wir kehren jetzt leise und unbemerkt zum Grabe zurück und beobachten, was da geschehen wird.«

Sie schlugen einen Umweg ein und schlichen sich nun von der anderen Seite auf das Grab zu, so vorsichtig, daß man ihr Nahen gar nicht bemerken konnte.

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4. Eine Kriegskasse

Der freundliche Leser mag verzeihen, daß er jetzt aus dem Jahre 1870 ganz plötzlich um volle fünfundfünfzig Jahre in das Jahr 1814 zurückgeführt wird!

Es ist mit den Völkern ganz so wie mit dem einzelnen Menschen. Wer die Errungenschaften und Enttäuschungen, die Erfolge und Verluste des Alters verstehen will, der muß zur Jugendzeit zurückkehren. Ein Tag wächst aus dem anderen, ein Jahrhundert aus dem vorhergehenden heraus. Thaten und Ereignisse, die sich scheinbar nicht begreifen lassen, schlagen ihre verborgenen Wurzeln in die Vergangenheit. Und so wird auch Manches, was auf Ortry jetzt geschehen ist, und Vieles, was noch geschehen wird, nur dann verstanden werden, wenn der Vorhang zurückgezogen wird, hinter welchem die verflossenen Jahre im Dunkel liegen. -

Also es war im Jahre 1814. Napoleon der Erste war besiegt und bereits nach seinem Verbannungsorte, der Insel Elba unterwegs. Am 31. März waren die Verbündeten in Paris eingezogen, an ihrer Spitze die Herrscher Oesterreichs, Rußlands und Preußens. Einer aber, der zu dem Siege der vereinigten Waffen wohl das Meiste beigetragen hatte, saß auf dem Montmartre und konnte nicht mit theilnehmen; das war der alte Blücher.

Der greise Feldmarschall »Vorwärts« litt am Fieber und einer peinlichen Augenentzündung. Noch die Schlacht von Paris hatte er geleitet, mit dem Schirme eines grünseidenen Damenhutes vor den Augen. Als der Einzug begann, zeigte er sich auch, hoch zu Roß und den grünen Schirm unter dem Generalshute; aber es gelang den Bitten Gneisenaus und des Generalchirurchus Dr. Völzke, ihn zum Zurückbleiben zu bewegen.

Bald aber erlaubte ihm eine Besserung seines Zustandes, in


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der Stadt zu wohnen, und so bezog er das Palais des Herzogs von Otranto in der Rue Cerutti. Von hier aus spazierte er täglich in der Stadt herum, um die Sehenswürdigkeiten derselben kennen zu lernen. Am Liebsten ging er im Garten oder unter den Laubengängen des Palais Royal umher, den einfachen, bürgerlichen Ueberrock an und die unvermeidliche Pfeife im Mund. Oft saß er bei dem Gastwirthe Very in den Tuilerien, trank Kaffee mit Milch oder ein Warmbier und zog ganz gemüthlich den Rock aus, wenn es ihm zu warm wurde.

In diesem Locale saßen eines Nachmittags mehrere Herren beim L'Hombre. Ihrer Aussprache nach mußten sie geborene Franzosen sein, und ihre Haltung verrieth, daß man sie als Angehörige des Militärstandes betrachten müsse.

An einem in der Nähe stehenden Tische saß ein junger Mann in Civil, welcher sich den Anschein gab, als ob er völlig theilnahmslos sei, trotzdem aber jedes Wort der Unterhaltung vernahm, welche in den Zwischenpausen des Spieles geführt wurde.

Da öffnete sich die Thür, und es trat ein alter Herr ein, der einen sehr einfachen Anzug trug und nach einem kurzen Gruße an einem der vorderen Tische Platz nahm. Er bestellte sich eine Tasse Warmbier und war, als er sie erhalten hatte, so mit ihr beschäftigt, daß er sich um die anderen Anwesenden gar nicht kümmerte. Der Kopf dieses alten Herrn war herrlich geformt, hatte eine prächtige Stirn, eine starke, gekrümmte Nase, dunkel geröthete Wangen und einen feinen Mund, welcher von einem dichten, herabhängenden Schnurrbart beschattet wurde. Zu dem wohlgeformten Kinn paßten die tüchtig ausgearbeiteten Züge und das hellblaue Auge, dessen Blick eine treuherzige Sanftheit besaß, aber auch die Fähigkeit zu besitzen schien, scharf und stechend zu werden.

Der Mann verlangte noch eine Tasse und dann abermals eine. Draußen schien die Sonne heiß hernieder; im Raume des Gastzimmers war es schwül, und so durfte man sich nicht darüber wundern, daß es dem Alten bei dem dampfenden Warmbiere etwas zu warm wurde. Er machte gar keine Umstände, sondern zog seinen Rock aus, hing denselben an die Wand und saß nun hemdärmelig da, als ob dies hier in Paris etwas ganz und gar nichts Außergewöhnliches sei. Die Herren Franzosen aber, welche diese Nachlässigkeit bemerkten, schienen anders zu denken, denn einer von ihnen meinte:

»Wer mag dieser Mensch sein? Geht man denn darum aus, um mit der Hefe des Volkes in einem und demselben Locale zu sitzen!«

Sein Nachbar nickte und erklärte:

»Ein Franzose ist er auf keinen Fall. Ein solcher wird es niemals wagen, die Regeln des Anstandes und der guten Sitte in einer solchen Weise zu verletzen. Ich halte ihn vielmehr für einen Deutschen. Diese Barbaren werden niemals lernen, höflich zu sein. Ihre Kriegsführung ist eine vandalische; ihre Vergnügungen sind roh, und alle ihre Gewohnheiten stoßen ab. Seht Euch nur diesen Menschen an! Er ist ein Bauer, ein ungezogener Kohlenbrenner, dem man die Thür zeigen müßte!«

»Warum thun wir das nicht?« fragte der Dritte. »Warum befehlen wir dem Kellner nicht, diesem Flegel eine Ohrfeige zu geben und ihn dann hinauszuwerfen? Die Deutschen sind Hunde, welche Prügel erhalten müssen!«

Da erhob sich der junge Mann, welcher am Nebentische saß, trat herbei und sagte:

»Messieurs, erlauben Sie, daß ich mich Ihnen vorstelle! Mein Name ist Hugo von Königsau, Lieutenant im Dienste Seiner Majestät des Königs von Preußen. Der Herr, von welchem Sie soeben gesprochen haben, ist Seine Excellenz Feldmarschall von Blücher. Ich erwarte, daß Sie Alles das, was Sie von ihm und dann von den Deutschen im Allgemeinen sagten, hiermit widerrufen!«

Die Leute schienen doch ein Wenig zu erschrecken, als sie hörten, daß der von ihnen Beschimpfte der berühmte Marschall sei, vor dem sogar der Stern des großen Napoleon hatte erbleichen müssen. Nur der, welcher zuletzt gesprochen hatte, schien sich nicht werfen lassen zu wollen. Er erhob sich von seinem Stuhle, stellte sich dem Deutschen in drohender Haltung gegenüber und antwortete:

»Monsieur, wir haben ganz und gar nicht den Wunsch geäußert, Ihre Bekanntschaft zu machen; es ist also eine unverzeihliche Zudringlichkeit von Ihnen, sich uns vorzustellen, eine Zudringlichkeit, welche ganz und gar rechtfertigt, was wir von den Deutschen gesagt haben. Was jenen Herrn betrifft, so ist es ganz und gar gleich, ob sich ein Feldmarschall oder ein Schifferweib ungezogen beträgt. Wir nehmen nicht einen Buchstaben von den Worten zurück, welche wir ausgesprochen haben!«

»So darf ich wohl um Ihren Namen bitten, Monsieur?« fragte der Deutsche.

»Ich brauche mich seiner nicht zu schämen. Ich bin Albin Richemonte, Capitän der kaiserlichen Garde.«

Der Deutsche verbeugte sich höflich und sagte:

»Sie widerrufen also nicht, Herr Capitän?«

»Nein, kein Wort, keine Silbe, keinen Laut!« antwortete der Franzose stolz.

Er hatte bemerkt, daß Blücher der Unterhaltung aufmerksam folgte, trotzdem er sich den Anschein gab, als ob er gar nichts höre.

»Sie erklären also den Feldmarschall wirklich für einen Flegel und die Deutschen für Hunde, welche Prügel erhalten müssen?« fragte Königsau weiter.

»Allerdings,« antwortete Richemonte mit frechem Lachen.

»So werden Sie mir gestatten, Ihnen meinen Secundanten zu senden!«

»Ah pah! Ich schlage mich mit keinem Deutschen!« meinte der Andere verächtlich.

»Wirklich nicht? Das ist ebenso feig wie niederträchtig! Wenn Sie meinen, daß wir Deutschen Hiebe haben müssen, so haben umgekehrt doch gerade jetzt die Franzosen ganz fürchterliche Prügel empfangen. Da Sie dies aber nicht zu wissen, oder wenigstens zu beherzigen scheinen, so sollen Sie hiermit noch nachträglich das empfangen, was nicht uns, sondern Ihnen gehört!«

Er holte aus und versetzte dem Franzosen eine ganz gewaltige Ohrfeige, welcher so schnell eine zweite, dritte und noch mehrere folgten, daß der Geschlagene gar nicht Zeit fand, an eine Gegenwehr zu denken. Die Anderen waren über diese Züchtigung und über die Schnelligkeit und Kraft, mit welcher sie verabreicht wurde, so erstarrt, daß es ihnen gar nicht beikam, ein Glied zu rühren.

Endlich ließ Königsau von dem Franzosen ab. Erst jetzt kam dieser zur Besinnung des Ungeheuerlichen, was mit ihm geschehen war. Er fuhr mit der Hand nach seiner linken Seite, wo sich der Degengriff zu befinden pflegt; da er aber


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in Civil war und keine Waffe trug, so zog er die Hand wieder zurück, ballte sie und warf sich auf den Deutschen mit den Worten:

»Hund, Du hast mich nur überrascht! Jetzt aber gilt es Dein Leben!«

Er holte aus, empfing aber in diesem Augenblicke von Königsau einen so gewaltigen Faustschlag in das Gesicht, daß er zurücktaumelte und niederstürzte.

Es waren noch mehrere Gäste da, meist Deutsche, welche hier verkehrten, weil sie da den Helden Blücher zu sehen bekamen. Auch ihnen war der blitzschnelle Angriff Königsau's überraschend gekommen; jetzt aber eilten sie herbei, um ihm nöthigenfalls beizustehen. Der Wirth jedoch kam ihnen zuvor. Er erkannte das Gefährliche seiner Lage, die Deutschen waren Sieger; er durfte sie, welche jetzt in Paris die Oberhand hatten, nicht beleidigt lassen; daher nahm er mit seinen Leuten den Capitän der alten Garde in die Mitte und drängte ihn aus dem Gastzimmer in das danebenliegende Privatzimmer hinaus, wo man den Gezüchtigten noch lange toben hörte.


Ende der achten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Die Liebe des Ulanen

Karl May – Forschung und Werk