Lieferung 76

Deutscher Wanderer

28. Februar 1885

Die Liebe des Ulanen.

Original-Roman aus der Zeit des deutsch-französischen Krieges von Karl May.


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»Du, was war das?« flüsterte der Eine, dem Posten ganz und gar unvernehmbar.

Und da er sich dabei die größte Mühe gab, die halb geöffneten Lippen nicht zu bewegen, so merkte auch das der Soldat nicht.

»Die Thür ist auf,« antwortete der Andere.

»Donnerwetter! Wirklich?«

»Ja. Ich sehe die ganz schmale Spalte, die sich gebildet hat.«

»Wer mag das gewesen sein?«

»Wer weiß es.«

»Jedenfalls zu unserer Rettung.«

»Möglich! Passen wir auf! Ich denke, es geschieht bald Etwas!«

In diesem Augenblicke näherte der Alte sich dem Coupee nun von diesseits. Der Posten bemerkte ihn und machte das Honneur.

»Kennen Sie mich?« fragte Richemonte.

»Zu Befehl, Herr Capitän.«

»Lassen Sie einmal die Gefangenen sehen, ob ich sie kenne!«

Der Posten sprang vom Trittbrette herunter und der Alte trat hinauf. Als ob er sich mit derselben festhalten müsse, langte er mit seiner rechten Hand zum geöffneten Fenster hinein und rückte dann so nahe heran, daß sein Oberkörper die ganze Oeffnung erfüllte.

»Also diese Hallunken sind es, welche dieses Unheil angerichtet haben,« sagte er laut. »Die sollten mit glühenden Zangen gezwickt werden.«

Während dieser Worte hatte er mit einem Rucke seiner Hand, welche von Außen gar nicht bemerkt werden konnte, das Messer auf den Schooß des einen der Gefangenen geworfen. Dann sprang er wieder ab. Im nächsten Augenblicke nahm der Posten wieder den Platz ein, hielt es aber für eine Pflicht militärischer Aufmerksamkeit, seine Augen auch mit auf den einstigen Offizier der Kaisergarde gerichtet zu halten.

Dies gab den beiden Verbrechern Spielraum zu einem abermaligen Gedankenaustausche.

»Der Alte,« flüsterte der Eine.

»Das konnten wir uns denken.«

»Wir sind gerettet.«

»Hast Du das Messer?«

»Ja. Wie gut, daß sie uns die Hände nur vorn, aber nicht auf den Rücken gefesselt haben.«

»So kannst Du erst meinen Strick durchschneiden und ich dann den Deinigen.«

»Dann aber hinaus! Wenn nur der verteufelte Soldat auf zwei Augenblicke verschwinden wollte.«

»Keine Sorge! Der Alte ist klug. Er wird es machen, daß dies geschieht. Da kennen wir ihn.«

Jetzt kam auch der Offizier die Böschung des Dammes heraufgestiegen.

»Nun, Herr Capitän,« fragte er. »Haben Sie sich diese Kerls betrachtet?«

»Nur einen kurzen Augenblick lang.«

»Kennen Sie sie?«

»Ich glaube nicht.«

»Aber vielleicht sind Sie von ihnen gekannt. Will sie einmal fragen. Vielleicht fangen sie sich.«

Er schob den Posten auf die Seite und nahm auf dem Trittbrette Platz.

»Hört, Kerls,« meinte er; »kennt Ihr den Herrn, der jetzt zum Fenster hereingesehen hat?«


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Keiner antwortete.

»Wenn Ihr nicht reden lernt, werde ich Euch die Zunge lösen. Hier giebt es Haselsträucher! Ich frage Euch, ob Ihr den erwähnten Herrn kennt?«

»Nein,« wurde jetzt geantwortet.

»So seid Ihr wohl nicht aus der hiesigen Gegend?«

»Nein.«

»Woher denn?«

Ehe er eine Antwort vernehmen konnte, ertönte ein lautes Rollen und der Alte rief warnend:

»Herr Capitän, der Zug.«

Der Offizier blickte sich um. Die vorhin wieder abgegangene Locomotive kehrte mit mehreren Wagen zurück.

»Pah! Ich stehe fest!« antwortete der Commandant.

Er hatte die Verbrecher zum Sprechen gebracht, und so wollte er diese gute Gelegenheit nicht unbenützt vorübergehen lassen. Er wendete sich also in das Innere des Wagens zurück.

»Also, woher Ihr seid? frage ich.«

»Aus der Gegend von Verdun.«

»Ihr habt Complicen?«

»Nein.«

»Lügt nicht.«

»Wie können wir Complicen haben, wenn wir unschuldig sind!«

»Man wird Euren Mitschuldigen zu finden wissen! Wo ist er?«

»Wir haben keinen. Wir haben Nichts gethan!«

In diesem Augenblicke schob die Maschine die neu angekommenen Wagen an die bereits anwesenden an. Dies geschah allerdings in der gewöhnlichen vorsichtigen Weise, gab aber doch einen Stoß, dem der Offizier, der das nicht gewöhnt war, nicht widerstehen konnte. Er sprang ab und lief, da die Wagen sich eine kurze Strecke weit bewegten, neben dem Coupee her.

»Jetzt!« sagte drin der Eine zum Anderen.

»Her, Deine Hände mit dem Stricke.«

»Hier! So! Und nun die Deinigen!«

Abermals ein Schnitt und die Beiden konnten ihre Arme und Hände gebrauchen.

»Ist Jemand hüben auf dieser Seite?«

Der, welcher an der jenseitigen Thüre saß, öffnete ein Wenig und blickte hinaus. Er sah Niemanden.

»Kein Mensch,« antwortete er. »Komm! Schnell!«

Er sprang hinaus und der Andere folgte ihm. Dieser Letztere schlug, da die Wagen jetzt wieder in's Stehen kamen, wobei die Räder und Bremsen kreischten, die Thür zu, ohne daß dies gehört wurde. Dann flogen Beide den Bahndamm hinab und unten zwischen die Büsche hinein.

Gerade in diesem Augenblicke referirte der Offizier dem Alten:

»Aus der Gegend von Verdun wollen sie sein. Glauben Sie das?«

»Möglich ist es. Aber bitte, fragen Sie doch weiter, Herr Kamerad! Die Kerls scheinen einmal im Sprechen zu sein.«

Dabei zuckten seine Schnurrbartspitzen eigenthümlich auf und nieder. Der Andere antwortete:

»Sie haben Recht. Man muß das Eisen schmieden, so lange es heiß ist. Ich werde dem Untersuchungsrichter vorarbeiten.«

Er stieg wieder auf das Trittbrett. Zwischen jetzt und vorhin waren kaum einige Secunden vergangen.

»Hört, Ihr Hallunken, Ihr sollt mir - - Heiliges - -!«

Er hielt inne und man konnte sogar von Außen bemerken, daß er jetzt ein Raub der größten Bestürzung sei.

»Nun?« fragte der Alte. »Was giebt es?«

»Fort,« antwortete der Gefragte, noch immer unbeweglich in das Innere des Coupees starrend.

»Fort? Wer denn?«

»Die beiden Kerls.«

»Unmöglich.«

Erst jetzt drehte der Offizier sich um. Sein Gesicht war kreideweiß geworden. Er blickte den Alten mit weit geöffneten Augen an und fragte:

»Können Sie das begreifen?«

»Daß sie fort sind? Nein. Das kann ich gar nicht glauben!«

»Aber sie sind doch fort!«

»Zeigen Sie.«

Der Alte schob ihn fort, stellte sich hinauf und blickte in das Coupee.

»Unmöglich!« rief er. »Ich glaube, die Kerls haben sich unter die Sitze verkrochen.«

»Unter die Sitze?« fragte der Andere, dem bei diesen hoffnungsreichen Worten das Leben in die Wangen zurückkehrte.

»Jedenfalls,« antwortete Richemonte.

Er gab sich Mühe, die Scene zu verlängern, damit die beiden Flüchtlinge Zeit zu einem genügenden Vorsprung finden möchten.

»Weshalb aber?«

»Das ist doch leicht einzusehen. Sie denken, wir sollen glauben, daß sie fort sind. Während wir nun auf der einen Seite suchen, würden sie auf der anderen ausreißen.«

»Ah! So dumm sind wir nicht! Holen wir sie unter den Sitzen hervor!«

»Ja, machen wir auf.«

Sie öffneten die Thür und der Commandant blickte unter die Bänke. Als er den Kopf wieder hervorzog, war sein Gesicht abermals blaß geworden.

»Vergebens! Sie sind fort,« sagte er.

»Donnerwetter! Sie können sich doch nicht unsichtbar machen!«

»Das scheinen sie allerdings gekonnt zu haben.«

»Ist denn das Fenster drüben offen? Doch nicht?«

»Nein; es ist zu.«

»Oder wohl gar die Thüre?«

»Werde sehen.«

Er stieg in das Coupee und untersuchte die Thür.

»Sie ist noch gerade so verschlossen wie vorher,« sagte er.

»Daraus werde der Teufel klug. Oder können Sie sie da drüben vielleicht laufen sehen?«

Der Andere ließ das Fenster herab, blickte hinaus und antwortete:

»Nein. Es ist kein Mensch zu sehen.«


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»So stehen wir vor einem blauen Wunder. Wer kann es erklären?«

»Ich nicht, Herr Capitän,« antwortete der Andere, indem er aus dem leeren Coupee sprang.

»Na, ich auch nicht. Geht mich überhaupt gar nichts an!«

»Aber mich desto mehr,« antwortete der Andere, vor Verlegenheit schwitzend. »Man hat mir die Gefangenen zur Bewachung anvertraut.«

»Sie haben Sie ja auch bewachen lassen und sodann gar selbst bewacht!«

»Und gerade da, als ich sie unter meinen Augen hatte, sind sie spurlos verschwunden! Das muß während der zwei Augenblicke geschehen sein, in denen ich neben dem Wagen herging, weil er in Bewegung war.«

»Aber drüben sind sie nicht hinaus! Es ist ja Alles noch gerade so verschlossen wie vorher!«

»Hüben können sie aber noch viel weniger entkommen sein. Da standen ja wir!«

»Durch die Decke oder den Boden oder die Seitenwand?«

»Ist Alles fest und unverletzt!«

»Nun, ich zerbreche mir den Kopf nicht!«

Er wollte sich abwenden, wurde aber daran verhindert. Mit den neuen Wagen war nämlich nebst einem zahlreichen Helferpersonale auch die Gerichtscommission gekommen, welche die Pflicht hatte, den Thatbefund aufzunehmen. Die Herren hatten sich sofort nach der Unglücksstätte verfügt; da sie dort aber hörten, daß die Thäter entdeckt worden und da im Coupee eingesperrt worden seien, kamen sie zurück, und zwar gerade in dem Augenblicke, als der Alte sich entfernen wollte. Er hatte sie vorher gar wohl gesehen, aber gar nicht gethan, als ob er sie bemerkt habe. Jetzt zog er höflich grüßend den Hut.

»Ah, Herr Procurator, Sie!« sagte er.

»Ja, ich, Herr Capitän. Eine der traurigsten Pflichten hat mich herbei gerufen. Ergebener Diener, Herr Capitän!« grüßte er auch den jüngeren Offizier. »Man hat die fürchterlichen Frevler bereits ergriffen?«

»Allerdings, Herr Procurator,« antwortete der Gefragte indem er das Tuch zog, um sich den Schweiß abzuwischen.

»Sie sind Ihrer Obhut anvertraut worden?«

»Ja - leider - gewiß!« stotterte der Arme.

»Leider?« fragte der Procurator verwundert.

»Allerdings, leider!«

»Wieso? Warum?«

»Ich habe sie nicht mehr.«

»Ah! Sie haben sie einem anderen Schutze anvertraut?«

»Nein.«

»Ich verstehe Sie nicht. Sie haben sie nicht mehr und haben sie doch auch keinem Anderen zur Bewachung übergeben?«

»So ist es. Nämlich, sie - sie - sie sind - fort,« stotterte er in höchster Verlegenheit.

»Fort? Bereits abgeführt also?«

»Nein, sondern entflohen,« fiel der Alte ein.

»Entflohen?« fragte der Procurator. »Meine Herren, ich hoffe, daß dies auf einem Irrthume beruht! Oder sollte ich gar etwa annehmen, daß bei dem Jammer da unten hier oben ein Scherz -«

»Kein Scherz! Sie sind in Wirklichkeit entflohen!«

»Herr Capitän!«

»Ja, es ist so!« nickte der Alte in seiner sicheren bestimmten Weise. »Lassen Sie sich erzählen!«

Da zog der Procurator die Stirn in Falten und sagte in einem hörbar strengen Tone:

»Ich sehe mich da allerdings genöthigt, um Auskunft zu ersuchen!«

»Nun,« fuhr der Alte fort, »ich hörte von dem Unglück und ritt herüber, weil ich einen Herrn mit diesem Zuge erwartete. Die Angst und Sorge trieb mich her. Hier angekommen, erfuhr ich, daß man die Thäter gefangen habe. Der Herr Capitän war so gütig, sie mir zu zeigen. Sie saßen bei verschlossenen Thüren hier in diesem Coupee, an beiden Händen gefesselt und von diesem Posten bewacht. Der Herr Capitän legte ihnen einige Fragen vor, mußte aber abspringen, weil gerade an diesem Augenblicke die Wagen zusammenprallten. Als er nach einer Viertelminute wieder aufstieg, waren sie fort.«

»Wohin? »Das wissen wir nicht.«

»Sie müssen doch wissen, wie sie entkommen sind?«

»Eben das ist uns unbegreiflich. Drüben war zu; hüben standen wir, und dennoch sind sie fort!«

»Die Flucht ist ihnen nur drüben möglich gewesen!«

»Aber Thür und Fenster waren verschlossen!

»Vielleicht die Thür nicht hinlänglich.«

»O doch! Ich selbst habe mich davon überzeugt!« suchte sich der Commandant zu vertheidigen.

»Nun, es wird wohl ein Licht für dieses Dunkel geben. Die Verbrecher sind fort; das ist Thatsache. Herr Capitän, haben Sie die Güte, in der Umgegend, besonders auf der anderen Seite nach Spuren suchen zu lassen. Ich begebe mich zunächst wieder an die Stätte des Grauens hinab.«

Er hatte diese Worte im strengsten Tone gesprochen. Es war ja klar, daß ein Fehler vorgefallen war. Die Herren wendeten sich ab und ließen die beiden Offiziere stehen. Der Commandant eilte fort, um der erhaltenen Weisung zu gehorchen, und der alte Capitän stieg zu den Trümmern hinieder, um seinen weiteren Zweck zu verfolgen.

Da unten erblickte er Nanon, welche bei einem Verwundeten beschäftigt war. Er trat zu ihr und fragte:

»Nun, ist Ihre Schwester auch todt?«

»Nein. Sie lebt. Dank sei den Heiligen!«

»Pah, die Heiligen! Wissen Sie nicht, ob sich ein Herr aus Amerika bei dem Zuge befunden hat?«

»Ja, ein Herr Deep-hill.«

»Das ist er, den ich meine. Ist er noch da?«

»Ja.«

»Wo?«

»Dort neben der Engländerin steht er eben im Begriff einen der Verwundeten zu verbinden.«

»Ah, jener schwarzlockige Herr?«

»Ja.«

Emma von Königsau hatte den Reiseüberwurf abgelegt. Da sie sich nun im bloßen Kleide bewegte, trat die Schönheit ihrer Formen um so deutlicher hervor. Der Alte er-


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blickte sie. Er war auch ein Bewunderer weiblicher Schönheit gewesen und noch heute ein Kenner derselben.

»Eine Engländerin?« fragte er, indem er sein Auge musternd auf der Genannten haften ließ.

»Ja.«

»War sie mit in dem Zuge?«

»Sie hat mit meiner Schwester in einem Coupee gesessen.«

»Ah! Und Beide sind gerettet worden! Das Unglück ist galant gewesen, indem es die Schönheit verschont hat.«

Er bewegte sich auf die Gruppe zu. Dort angekommen zog er den Hut und sagte in höflichem Tone:

»Man sagt mir, daß ein Monsieur Deep-hill hier zu finden sei. Darf ich vielleicht fragen, ob man mich recht berichtet hat?«

Der Amerikaner erhob sich, entblößte ebenso höflich seinen Kopf und antwortete:

»Allerdings, Monsieur. Der Name, den Sie nannten, ist der meinige.«

»Sie sind aus New-Orleans?«

»Ja.«

»Und an einen Capitän Richemonte adressirt?«

»So ist es.«

»Nun, so sind Sie am Ziele angelangt. Mein Name ist Richemonte. Ich wußte den Zug, der Sie bringen sollte; ich hörte vor wenigen Minuten, daß er verunglückt sei, und ich eilte natürlich sofort herbei, um zu erfahren, ob man auch Ihren Verlust zu beklagen habe. Zu meiner unendlichen Freude aber höre ich, daß Sie gerettet sind. Lassen Sie sich aus vollstem Herzen gratuliren!«

Er reichte dem Amerikaner die Hand entgegen, derselbe ergriff sie, verbeugte sich und sagte:

»Herr Capitän, Ihre Besorgniß um mich ist mir eine sehr hoch geschätzte Ehre. Darf ich bitten, Ihnen heute oder morgen einen Besuch machen zu dürfen?«

»Einen Besuch? Ah, nicht nur das, sondern mein Gast werden Sie sein. Ich hoffe natürlich, daß Sie meine Einladung auf Schloß Ortry annehmen werden.«

»Wie Sie befehlen! Ich stehe ganz zu Ihrer Disposition.«

»Ich kam, Sie abzuholen und Sie zu geleiten. Wann dürfen wir aufbrechen?«

»Für jetzt werde ich wohl noch um Urlaub bitten müssen!«

Dabei fiel sein Auge unwillkürlich auf Emma. Diese hatte bei dem Namen Richemonte aufgehorcht und einen raschen Blick in das Gesicht des Alten geworfen, sich dann aber wieder ausschließlich mit dem Verwundeten beschäftigt. Der Alte merkte den Blick, welcher auf sie gefallen war. Er deutete ihn nach seiner Weise und sagte:

»Ah, die Schönheit hat doch stets ihre Fesseln!«

Emma erröthete, that aber nicht, als ob sie diese etwas dreisten Worte auf sich bezöge. Der Amerikaner zog die Augenbrauen zusammen und antwortete in einem Tone, welcher beinahe verweisend klang:

»Wollen Sie hier von Schönheit sprechen, hier, unter Todten, Verwundeten und Trümmern? Das Unglück hat stärckere Fesseln als das Glück. Es hält mich hier zurück. Ich kann unmöglich diesen Ort eher verlassen, als bis ich überzeugt bin, gegen diese Unglücklichen meine Pflicht gethan zu haben.«

Der Alte zuckte die Achsel und meinte kühl:

»Es sind genug andere Retter da!«

»Das ist kein Grund, mich zurückzuziehen. Je mehr Hände, desto eher werden die Schmerzen gestillt!«

»Sie mögen Recht haben. Aber, ich muß vermuthen, daß diese Dame zu Ihnen gehört. Wollen Sie die Güte haben, mich ihr vorzustellen?«

»Wir sahen uns zuerst im Coupee, Herr Capitän. Diese Dame ist Miß de Lissa aus London.«

»Ah, eine Engländerin!«

Er zog den Hut und verbeugte sich tief.

Emma hatte sich natürlich erhoben und zu ihm gewendet. Jetzt stand sie Auge in Auge mit dem langjährigen Todfeinde ihrer Familie; aber ihrem Gesichte war keine Spur der Gefühle anzusehen, die sie gegen ihn hegte. Sie sah ihm voll, groß und forschend in das Angesicht, als ob sie sich die Züge desselben fürs ganze Leben einprägen wolle, verneigte sich unter einem feinen, verbindlichen Lächeln und sagte:

»Es bereitet mir eine wirkliche Genugthuung, den Herrn kennen zu lernen, von dem ich so oft sprechen hörte!«

Es war ihr nämlich in diesem Augenblicke ein Gedanke gekommen, ein Gedanke gleich einer Eingebung, der sie sofort und unbedingt Folge leisten müsse.

Er aber blickte ihr überrascht in das schöne Angesicht und sagte im Tone des Zweifels:

»Von mir hörten Sie sprechen, Miß?«

»Ja.«

»Sollte das nicht eine Verwechselung sein? Der Name Richemonte scheint nicht selten vorzukommen.«

»Ich meine Capitän Albin Richemonte auf Schloß Ortry.«

»Nun, der bin ich allerdings. Darf ich fragen, bei welcher Gelegenheit, oder wo mein Name Ihnen genannt wurde?«

»Darüber später einmal, falls wir uns wiedersehen sollten. Ich bin Mitglied des Clubbs der Barmherzigen.«

Das Auge des Alten leuchtete auf.

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»Ah!« sagte er. »Reisen Sie vielleicht im Interesse dieses Clubbs, Miß de Lissa?«

»Allerdings.«

»Das ist mir freilich interessant, höchst interessant! Darf ich nach dem Ziele Ihrer Reise fragen?«

»Thionville,«

»Sapper - Entschuldigung! Thionville! Sind Sie da vielleicht an eine bestimmte Adresse gebunden?«

»Nein; ich besitze meine völlige Selbstbestimmung, werde aber bei Herrn Doctor Bertrand absteigen.«

»Steht Ihre Familie in Beziehung zu ihm?«

»Nein. Er wurde mir empfohlen.«

»Sind Sie ihm avisirt?«

»Ja.«

»Er befindet sich hier; jetzt steht er da oben auf dem Damme bei den Wagen.«

Er deutete nach der betreffenden Stelle. Sie nickte ihm freundlich zu und antwortete:

»Ich weiß es, Herr Capitän. Ich habe bereits mit ihm gesprochen.«


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Der Alte konnte seine Augen kaum von ihren schönen Zügen wenden. Es wurde ihm ganz eigenthümlich zu Muthe.

»Verzeihung, daß ich so viele Fragen an Sie richtete,« bat er. »Es ist in Ihren Zügen, in Ihrer Gestalt, in Ihrer Sprache, in Ihrem ganzen Wesen ein Etwas, was mich zu dem Gedanken zwingt, als hätten wir uns bereits gesehen, oder als müßten wir zu einander in Beziehung treten, und zwar in eine freundliche. Waren Sie bereits einmal in Frankreich?«

»Noch nie.«

»So irre ich mich. Aber vielleicht habe ich das Glück, Ihnen wieder zu begegnen. Verweilen Sie längere Zeit in Thionville?«

»Das ist unbestimmt. Jedenfalls aber reise ich erst dann ab, wenn der Zweck meiner Abwesenheit erreicht ist.«

»Ah, Sie haben einen besonderen Zweck?«

»Allerdings.«

»Vielleicht geschäftlich?«

»So ähnlich könnte man es nennen. Jetzt aber bitte ich um die Erlaubniß, zu meiner Pflicht zurückkehren zu dürfen.«

Sie machte dem Alten eine wahrhaft königliche Verbeugung und wendete sich dann dem Verwundeten wieder zu.

Der Capitän trat mit dem Amerikaner einige Schritte abseits und fragte:

»Sie haben die Worte dieser Dame gehört?«

»Natürlich, Capitän!«

»Sie kommen allerdings in politischen Beziehungen zu mir?«

»Gewiß.«

»Fast scheint es, als ob diese Engländerin aus ähnlichen Gründen nach Frankreich gekommen sei!«

»Man möchte es beinahe vermuthen.«

»Sie haben sich jedenfalls im Coupee mit ihr unterhalten. Gab es da keinen Anhaltepunkt, um bestimmen zu können, ob diese meine Vermuthung die richtige sei?«

»Nein, gar nicht.«

»So werde ich sie in Thionville wiederfinden müssen. Aber ich dächte, daß selbst die kürzeste Unterhaltung einen Punkt bietet, welcher geeignet ist, auf Anderes schließen zu lassen.«

»Wir haben von ihr gar nicht gesprochen. Ich stellte mich ihr vor, und dann kam die Rede sofort auf die Entgleisung, welche wir zu erwarten hatten.«

Der Alte horchte erstaunt auf.

»Zu erwarten hatten?« fragte er. »Das klingt ja gerade, als ob Sie gewußt hätten, daß der Zug entgleisen werde!«

»So ist es auch.«

»Aber, bitte, das ist ja unmöglich.«

»Ich habe es aus Verschiedenem geschlossen, kam aber allerdings mit meinem Schlusse erst dann zu Stande, als wir uns dem Orte bereits so nahe befanden, daß das Unglück nicht mehr zu verhüten war.«

Des Alten bemächtigte sich eine Aufregung, welche zu verbergen, er seine ganze Selbstbeherrschung anwenden mußte.

»Darf ich wissen,« fragte er, »welche Prämissen Sie hatten, um diesen Schluß zu ziehen?«

Der Amerikaner zögerte mit der Antwort. Er blickte ein kurzes Weilchen lang hinaus in's Weite. Seine Züge hatten einen Ausdruck der Starrheit angenommen, wenn man überhaupt von einem solchen sprechen kann. Er ging mit sich zu Rathe, was er beantworten solle. Endlich sagte er:

»Man hatte es bei dieser Entgleisung nicht auf den Zug, sondern auf mich abgesehen.«

Der Capitän erschrak, versuchte aber, dies zu verbergen.

»Auf Sie?« sagte er. »Unmöglich!«

»Sogar ganz gewiß.«

»Das ist nicht denkbar!«

»O, im Gegentheile leicht erklärlich! Man wußte, daß ich mit diesem Zuge kommen werde und daß ich sehr bedeutende Summen bei mir trage.«

»Nun? Weiter!«

»Man beschloß, den Zug entgleisen zu lassen, um dann bei meiner Leiche die volle Brieftasche zu finden.«

Jetzt mußte der Alte sich auf 's Aeußerste anstrengen, um sich nicht zu verrathen. Er räusperte sich; er zog an den Spitzen seines Schnurrbartes. Endlich stieß er hervor:

»Das klingt wie Wahnsinn!«

»Ist aber die nackte, wahre Wirklichkeit!«

»Beweise!«

»Man hat mich ja bereits für todt gehalten und mir, während ich im umgestürzten Coupee lag, die Brieftasche abgenommen!«

»Alle Teufel!«

» Ja, so ist es!«

»Aber das beweist ja noch nichts.«

»Wieso?«

»Man hat die Brieftasche zufällig bei Ihnen gefunden.«

»Hm!«

Er zögerte, mehr zu sagen. Die Physiognomie des Alten gefiel ihm ganz und gar nicht. Dieser aber meinte nun im zuversichtlichen Tone:

»Sie sehen also, daß Ihre Vermuthung hinfällig ist.«

»Möglich. Uebrigens hätte ich mir nicht erklären können, wie man von einer Brieftasche erfahren konnte.«

»Es wissen ja nur Zwei, daß Sie erwartet werden, nämlich Graf Rallion und ich.«

»Und Sie Beide werden sich jedenfalls hüten unser Geheimniß auszuplaudern!«

»Gewiß. Aber, Sapperment, wie steht es denn da mit Ihrem Portefeuille? Es ist fort?«

»Es war fort. Ich habe es wieder.«

»Ah! Man hat es dem Diebe abgenommen?«

»Den Dieben. Es waren zwei.«

»Ah! Dieselben, welche entkommen sind?«

Der Amerikaner blickte erstaunt auf. Er war in Gesellschaft von Emma von Königsau so sehr mit Hilfeleistungen beschäftigt gewesen, daß er auf die anderen Vorgänge gar nicht geachtet hatte.

»Entkommen?« fragte er.

»Ja.«

»Die Beiden da oben im Coupee?«

»Ja. Der Offizier hat sie entkommen lassen. Jetzt steht man im Begriffe, ihnen nachzujagen.«

»Welch eine unbegreifliche Unvorsichtigkeit! Das ist


// 1207 // 

- -« er hielt inne und blickte nachdenklich vor sich hin; dann fuhr er weiter fort: »Doch, ich hoffe, daß man sie wieder ergreift!«

»Jedenfalls, Monsieur! Also, Sie sind mein Gast. Leider habe ich nicht Zeit mich länger hier zu verweilen. In welcher Weise werden Sie diesen Ort verlassen?«

»Jedenfalls in einem der Bahnwagen da oben.«

»Schön! Werden Sie mir erlauben, Ihnen meinen Kutscher nach dem Bahnhofe zu senden?«

»Ich werde diese Aufmerksamkeit zu würdigen wissen.«

»Dann Adieu für jetzt!«

Sie reichten sich höflicher Weise die Hände, und dann entfernte sich der Alte, um zu seinem Pferde zurückzukehren, welches jenseits des Dammes ruhig graste.

Als sich die Nachricht verbreitete, daß die Gefangenen verschwunden seien und eine Anzahl Soldaten abgeschickt wurden, ihre Spur zu suchen, schloß Fritz sich ihnen an. Er fühlte sich in einer geradzu wüthenden Stimmung über diesen Streich, mußte aber bald einsehen, daß er zur Wiederhabhaftwerdung der Entsprungenen nichts beizutragen vermöge. Er hatte keine Zeit, nach ihnen in der Gegend herum zu laufen. Er kehrte also nach der Unglücksstätte zurück.

Gerade als er zwischen den Büschen hervortreten wollte, erblickte er den alten Capitän, welcher vom Damme herabkam, um zu seinem Pferde zu gehen. Zu gleicher Zeit sah man einen Reiter und eine Reiterin quer über die Wiese herbeigesprengt kommen. Es war Doctor Müller mit Marion.

Der Alte bemerkte diese Beiden und blieb stehen, um sie zu erwarten. Sie hielten vor ihm, und Müller sprang ab, um der schönen Baronesse beim Absteigen behilflich zu sein.

»Lassen Sie das, wenn ich selbst da bin!« herrschte ihm der Alte zu.

Er half seiner Enkelin ab und gab ihr den Arm, um sie den Damm hinauf zu führen. Sie that gar nicht, als ob es vorher zwischen ihm und ihr eine Scene gegeben hätte.

»Da oben ist's?« fragte sie ihn im Emporsteigen.

»Jenseits unten! Du hast Deinen Willen durchgesetzt; aber wirst Du auch stark genug sein, den Anblick zu ertragen?«

»Ich denke es!«

»So komm!«

Oben angelangt, blieb er halten, um ihr einen Ueberblick zu lassen. Sie schauderte zusammen. Er fühlte es.

»Nun, jetzt kommt die Ohnmacht?« höhnte er.

»Wohl nicht,« antwortete sie. »Es gehört jedenfalls ein ganz und gar gefühlloses und entmenschtes Herz dazu, hier nicht zu erschrecken!«

»Schön! Ich verstehe Dich: ein solches Herz habe ich!«

»Wie es scheint!«

»Pah! Ich befinde mich wohl dabei. Was aber nun?«

»Was nun? Was ist da noch zu fragen? Ich werde mit helfen Verbände anzulegen.«

»Du?« fragte er zornig. »Die Baronesse de Sainte-Marie?«

»Ja, ich! Eine Baronesse hat dieselben Menschenpflichten wie ein jedes andere Weib.«

»Das klingt ganz nach Socialdemokratie und Commune!

Aber, hm, ich will nichts dagegen haben, stelle jedoch eine Bedingung.«

»Bei der Erfüllung meiner Pflicht lasse ich mir natürlich keine Bedingung stellen!«

»Teufel! Du bist seit einigen Tagen ganz außerordentlich emancipirt. Ich werde Sorge tragen, daß Dir die Flügel etwas mehr beschnitten werden.«

»So werden diese Flügel mich fortgetragen haben, ehe die Scheere sie berührt!«

»Werden sehen! Da Du keine Bedingung eingehen willst, gebe ich Dir einen Befehl. Verstanden!«

»Ja. Dieser Befehl imponirt mir nicht, und Dir wird er nicht viel nützen.«

»Oho! Ich werde ihm Nachdruck zu geben wissen!«

»Das ist entweder unnöthig oder erfolglos. Verlangst Du Etwas, was ich nicht thun kann, so werde ich es eben unterlassen; ist es aber Etwas, was sich mit meinen Anschauungen vereinbaren läßt, so wäre gar kein Befehl nöthig; eine Bitte, ein Wunsch würde genügen!«

»Sapperment! Befehlen darf ich also nicht mehr. Nur Bitten oder Wünsche darf ich dem gnädigen Fräulein unterbreiten!«

»So ist es allerdings. Höflichkeit ist das erste Gesetz des geselligen und also noch vielmehr des familiären Lebens. Das solltest Du endlich einmal wissen. Alt genug bist Du dazu!«

Da schleuderte er ihren Arm aus dem seinigen, drehte sich ihr gerade entgegen und wollte losdonnern. Sie aber machte eine so hoheitsvolle und gebieterische Handbewegung, daß ihm das Wort auf den Lippen erstarb.

»Still!« sagte sie. »Hier giebt es Leute, welche nicht zu ahnen brauchen, welcher Tyrann Du bist! Also, was ist es, was Du von mir verlangst?«

Er würgte seinen Zorn mit aller Gewalt hinab und antwortete:

»Blicke einmal gerade von uns hinab. Siehst Du den Herrn und die Dame, welche soeben einen gebrochenen Arm in die Binde legen?«

»Ja.«

»Der Herr ist ein Amerikaner Namens Deep-hill. Er wird bei uns wohnen und ich hoffe, daß Du Dich ihm gegenüber eines freundlicheren Verhaltens befleißigen wirst, als gegen mich.«

»Das wird auf ihn ankommen. Grobheit kann nie Liebe und Höflichkeit ernten.«

»Schön! Doch laß das Philosophiren. Die Dame neben ihm ist eine Engländerin.«

»Verheirathet?«

»Nein, da sie sich Miß nennen läßt.«

»Vom Stande?«

»Jedenfalls, denn ihr Name ist de Lissa. Sie wird bei Doctor Bertrand wohnen. Ich habe allen Grund zu der Vermuthung, daß sie in diplomatischen Aufträgen hier ist.«

»Eine Dame?«

»Hat es noch keine Diplomatinnen gegeben?«

»In Thionville und auf Ortry nicht!«

»Da war auch kein Capitän Richemonte vorhanden. Ich wünsche nun« - und dieses Wort »wünschen« betonte er jetzt ganz besonders - »also ich wünsche nun, daß Du ihre Bekanntschaft zu machen suchst - -«

»Ah, ich soll auch Diplomatin sein?«


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»Hast Du etwa kein Geschick, die Bekanntschaft einer Dame zu machen?«

»Nein, nämlich wenn sie mir nicht gefällt!«

»Diese wird Dir gefallen. Sie ist eine große Schönheit.«

»Wollen sehen.«

»Also Du machst ihre Bekanntschaft und versuchst, sie auszuhorchen. Verstanden?«

»Sehr gut. Aber gehorchen werde ich nicht.«

»Teufel! Warum?«

»Wenn Dein Wunsch mich zum Horchen und Aushorchen veranlassen soll. So werde ich nicht gehorchen. Das ist dreimal Horchen. Dazu habe ich entschieden kein Talent.«

»Ich werde dafür sorgen, daß Du Talent bekommst! Jetzt verlasse ich Dich. Ich hoffe, bei Deiner Heimkehr zu hören, daß Du mit dieser Dame gesprochen hast. Adieu!«

Er ging.

Als er unten beim Pferde ankam, war Doctor Müller verschwunden, das kümmerte ihn aber nicht. Er stieg auf sein Pferd, ließ dasjenige Doctor Bertrands weiter grasen und ritt davon.

Vorher, als der Alte mit Marion die Böschung emporgestiegen war, hatte Müller folgen wollen. Er hatte also die beiden Pferde an die Sträucher geführt, um sie mittelst der Zügel an einen der Bäume zu befestigen. Noch war er damit beschäftigt, da horchte er auf.

»Pst!« hatte es geklungen.

Er trat zwischen das Gebüsch hinein und erblickte Fritz, welcher hier stehen geblieben war.

»Du hier?« fragte er. »Es ist Dir also nicht gelungen, das Unheil zu verhüten?«

»Nein. Wer hätte an eine Entgleisung des Zuges gedacht.«

»Das ist richtig. Bist Du mit den Hilfswagen gekommen?«

»Nein, sondern mit dem Zuge selbst.«

»Was? Wie? Mit dem Zuge, der verunglückt ist?«

»Ja. Ich bin nämlich heute früh nach Trier gefahren, um Madelon eher zu treffen als ihre Schwester.«

»Das war gut.«

»Zugleich dachte ich mir, daß ich in einem der Wagen diesen Deep-hill finden könne.«

»Das war nicht schwer, falls er sich wirklich in dem Zuge befand.«

»Ich traf ihn aber zufälliger Weise in einem Hôtel in Trier.«

»Da benachrichtigtest Du ihn von der Gefahr, die ihm drohte?«

»Nein, sondern ich zankte mich im Gegentheile sehr gehörig mit ihm, da er sich als Deutschenfresser entpuppte. Ich kannte seinen Namen nicht. Ich erfuhr diesen erst dann, als wir im Coupee zusammentrafen.«

»So seid Ihr also mit einander gefahren?«

»Ja. Wir Beide und zwei Damen.«

»War Madelon dabei?«

»Ja, sie war eine dieser Damen.«

»Und die Andere?«

»Eine Engländerin Namens Miß de Lissa aus London.«

»Weiter.«

»Er stellte sich dieser Engländerin vor. Dabei las ich den Namen Deep-hill auf seiner Karte und wußte nun, daß er mein Mann sei. Ich machte ihn sofort mit der ihm drohenden Gefahr bekannt.«

»Glaubte er es?«

»Nein. Aber als ich seine Brieftasche und seine Millionen erwähnte, besonders als ich den Alten und Graf Rallion nannte, da war er überzeugt.«

»Und dann?«

»Ich sagte ihm einige Worte über das Erlauschte und da kam er auf den Gedanken, daß man den Zug entgleisen lassen wollte, um zu seinem Gelde zu gelangen.«

»Herrgott,« sagte Müller, »jetzt fällt es mir wie Schuppen von den Augen!«

»Mir ging es ebenso.«

»Mir wird wirklich bange! Schnell, schnell! Was thatet Ihr?«

»Wir befanden uns bereits hier in der Nähe. Sollte wirklich eine Entgleisung vorgenommen werden, so geschah sie noch ganz sicher vor Thionville.«

»Natürlich, natürlich! Weiter!«

»Wir hatten also keinen Augenblick Zeit zu verlieren. Wir stießen die beiden Thüren auf und traten auf das Trittbret, er drüben und ich hüben. Wir wollten ein Zeichen geben, da wir nicht zu der Signalleine gelangen konnten. Aber es war bereits zu spät. Das Nothsignal erscholl bereits. Auf den Schienen lag ein ganzer Haufen von Steinen.«

»Gott, was wird nun geschehen!«

»Wir konnten die beiden Damen unmöglich zerschmettern lassen. Ich riß also die Madelon aus dem Coupee und er die Engländerin. Dann sprangen wir Beide von den Trittbrettern herab, Jeder mit seiner Last natürlich und gerade zur rechten Zeit, um nicht mit in die Tiefe gerissen zu werden.«

»Gott sei Dank! Wie wird es dort drüben aussehen!«

Dabei deutete er an dem Damm empor.

»Schrecklich, schrecklich!« antwortete Fritz.

»Sind viele verletzt?«

»Sehr Viele; aber doch giebt es noch mehr Todte. Nur außerordentlich Wenige sind leidlich weggekommen.«

»Aber, wenn das so geplant gewesen ist, so muß ich vermuthen, daß die beiden Kerls gekommen sind, um nach dem Amerikaner zu suchen!«

»So war es auch!«

»Ah! Wirklich, sie kamen?«

»Ja. Der Amerikaner stellte sich todt. Sie nahmen ihm die Brieftasche, und dann, gerade als sie entfliehen wollten, hielt ich sie fest. Sie wurden gebunden und in ein Coupee da oben gesteckt.«

»Gott sei Dank, daß sie ergriffen wurden.«

»Prosit die Mahlzeit! Man hat sie zwar ergriffen, aber man hat sie leider nicht mehr!«

»Nicht mehr? Du willst doch nicht etwa sagen, daß - -?«

»Daß sie entflohen sind?«

»Ja.«

»Gerade das will ich sagen. Soeben komme ich von ihrer Verfolgung zurück. Es ist keine Spur von ihnen zu sehen.«


// 1209 //

»Aber, wie gelang es ihnen denn, zu entkommen? Es muß da oben und drüben doch so viele Menschen geben, daß eine solche Flucht ganz unmöglich erscheint!«

»Massenhaft sind die Menschen da, und zu Hunderten strömen sie noch, die Neugierigen aus den umliegenden Ortschaften. Freilich darf nicht ein Jeder herantreten. Aber denken Sie sich: Man setzte die beiden Kerls in ein Coupee und stellte auf der belebten Seite desselben einen Posten auf, auf der andern Seite aber, hier nach uns zu, wo sich kein Mensch befand, da ließ man sie ohne Wache.«

»Schrecklich dumm!«

»Ja. So Etwas bringt nur so ein glorioser Franzose fertig! Und Der diese Vorsichtsmaßregel traf, war sogar ein Capitän!«

»Also Hauptmann!«

»Bei uns daheim hat jeder Gänsejunge mehr Grütze im Kopfe.

Na, freue Dich, Frankreich, auf Deine Siege! Ich denke mir immer, Deine Heldensöhne werden ganz gewaltige Keile kriegen!«

»Nicht so laut, nicht so laut, Fritz! Du bist nicht daheim im Thiergarten oder in Deinem Stalle.«

»Ja, die Galle läuft einem doch einmal über, wenn man nichts als Dummheit sieht.«

»Also bist Du der Retter der schönen Madelon?«

»Ja. Und der Amerikaner ist der Retter der Engländerin!«

»Das gönne ich ihm und ihr, es interessirt mich aber weniger.«

Fritz machte ein höchst erstauntes Gesicht und fragte:

»Weniger?«

»Ja. Das ist nicht unmenschlich. Ich kenne Beide nicht.«

»Das möchte ich doch bezweifeln!«

»Wieso?«

»Hm! Diese Engländerin reist nämlich incognito.«

»Unter falschem Namen?«

»Ja.«

»Aber eine Engländerin ist sie trotzdem wohl?«

»Nein, obgleich sie das Englische spricht wie die feinste Lady. Denken Sie sich, sie ist aus -«

»Nun, aus -?«

»Aus Berlin!«

»Aus Berlin? Und reist als Engländerin? Da muß sie ganz eigenthümliche Gründe haben.«

»Sicher! Wenn man diese Gründe doch nur erfahren könnte.«

»Nun, sollte ich mit ihr bekannt sein?«

»Das ist sehr leicht möglich. In Berlin sehen sich die Leute.«

»Anderwärts auch, lieber Fritz! Aber sie kann mich in der Hauptstadt gesehen haben; jetzt erblickt sie mich - ich kann auf der Stelle verrathen sein!«

»Wohl schwerlich. Es giebt gute Gründe dagegen.«

»Welche?«

»Ihr Buckel.«

»Pah, auf den fallen die Augen nicht sogleich.«

»Ihre dunkle Gesichtsfarbe und Ihr schwarzes Haar.«

»Auch darüber kann man im Augenblicke des Erkennens hinwegsehen. Die Züge sind die Hauptsache. Also Dir kommt sie bekannt vor?«

»Ja.«

»Wie ist sie? Häßlich?«

»Schön, sehr schön!«

»Sapperlot! Schwarz oder hell?«

»Blond, gerade wie Sie, Herr Doctor, wenn Sie diese Perrücke -«

»Pst, pst! Man braucht selbst unter vier Augen das nicht zu erwähnen. Ihren Namen - na, den kennst Du natürlich nicht!«

»Ihren Vornamen habe ich erfahren.«

»Wie lautet er?«

»Emma.«

»Wie meine Schwester.«

»Sie ist von Adel. Und ihr eigentlicher Familienname klingt ganz wie Herzogswiese.«

»Herzogswiese. Eine adelige Familie dieses Namens giebt es ja gar nicht!«

»So verwechsele ich die Ausdrücke. Vielleicht soll es nicht Herzogs- sondern Fürstenwiese heißen.«

»Auch diesen Namen kenne ich nicht.«

»Dann wohl Königswiese.«

»Hm! Auch unbekannt!«

»Sapperment! Ich dachte, Sie sollten den Namen kennen! Vielleicht ist das mit der Wiese auch eine Verwechselung. Wie sagt doch gleich der Dichter anstatt Wiese?«

»Gefilde?«

»Dann hieße es Königsgefilde? Nein!«

»Welches Wort sollte es sonst sein?«

»Ich muß nachdenken. Wie war doch nur der schöne Reim, in dem die Wiese und die Frau vorkam! Ah, da fällt er mir ein! Er heißt:

»Ich flieg mit meiner ersten Frau
Und dreizehn Kindern durch die Au'.«

Ja, das ist der Reim, und das ist auch das Wort. Nicht Wiese oder Gefilde darf es heißen, sondern Au.«

Müller machte ein etwas betroffenes Gesicht.

»Verstehe ich recht, was Du meinst?« fragte er. »Nicht Königswiese soll es heißen, sondern Au', also Königsau?«

»Ja, ja; so war es!« meinte Fritz.

»Mensch, was fällt Dir ein! Aus Berlin ist sie?«

»Ja.«

»Und Emma heißt sie?«

»Jaja!«

»Und mit dieser Madelon saß sie in einem Coupee?«

»Jajaja!«

Das Gesicht Fritzens wurde bei jedem Augenblicke sonniger und heller.

»Das wäre ja meine Schwester!«

»Donnerwetter!« fluchte Fritz. »Jetzt hab ich's also heraus! Darum also kam sie mir so bekannt vor!«

»Mensch, Fritz, Kräutermann! Bist Du verrückt?«

»Fällt mir gar nicht ein!«

»So sei ernst und laß den Witz! Sag aufrichtig: Wer ist die Dame, von der Du sprichst?«

»Nun, es bleibt doch dabei, wie ich gesagt habe: Es ist das liebe, gnädige Fräulein Schwester.«

»Emma, meine Emma?«

Bei dieser Frage machte Müller ein Gesicht, welches keineswegs außerordentlich intelligent genannt werden konnte.


Ende der sechsundsiebzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Die Liebe des Ulanen

Karl May – Forschung und Werk