Lieferung 75

Deutscher Wanderer

21. Februar 1885

Die Liebe des Ulanen.

Original-Roman aus der Zeit des deutsch-französischen Krieges von Karl May.


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Der Oberschaffner entfernte sich. Fritz kroch auf den Wagen, unter das Glanzleinen, und zog den Revolver. Er konnte durch das Laternenloch Alles genau beobachten. Der Amerikaner lag wirklich wie eine Leiche unter den Trümmern. Sein Rock war vorn geöffnet, so daß man sehr leicht zur Tasche gelangen konnte.

Der Beamte war an seinen früheren Standort zurückgekehrt, um seines Amtes weiter zu walten. Er beobachtete die beiden Männer, welche sich scheinbar eifrig bei der Rettungsarbeit betheiligten, sich aber nur wenige Augenblicke an einer und derselben Stelle verweilten. Jetzt, da er aufmerksam gemacht worden war, mußte er bemerken und überzeugt sein, daß sie nach einem Gegenstande suchten. Er trat ihnen näher, sagte einige belobende Worte und fügte dann hinzu:

»Da hinten giebt es auch noch Arbeit, Leute. In der zweiten Classe saßen einige Weinreisende, und in der ersten Classe fuhr ein Amerikaner. Man hat noch nichts von ihnen erblickt.«

Er sah ganz deutlich, wie sie sich erfreut ansahen. Sie wurden da gerade auf das, was sie suchten, hingewiesen; darum ließen sie sich den Befehl nicht zum zweiten Male geben. Der Beamte wendete sich ab und that gar nicht so, als ob er sie beobachte.

»Das trifft sich gut!« flüsterte der Eine dem Andern zu. »Also in der ersten Classe liegt er! Ich brenne vor Begierde, ob er das Geld bei sich hat!«

»Das wird sich sofort zeigen. Komm!«

Sie traten an das Coupee und blickten hinein.

»Donnerwetter! Der muß ganz zerquetscht sein!« sagte der Eine.

»Man sieht es, daß er todt ist!«

Die meisterhaft vertheilten Trümmer täuschten sie.

»Oben ist er noch gut erhalten. Also, zugegriffen!«

Der Sprecher fuhr nach der Rocktasche und zog das Buch hervor. Er öffnete es und sagte, beinahe zu laut für die Lage, in der sie sich auch ohne Beobachtung befunden hätten:

»Alle tausend Teufel! Sieh, diese Zahlen! Lauter Zehn-, Zwanzig- und Fünfzigtausend!«

»Rasch weg damit!«

»Schön! Da hab ich's nun in meiner Tasche! Aber was nun? Gehen wir?«

»Nicht gleich. Das würde auffallen. Sehen wir erst in die zweite Classe. Man hat nach Thionville und Königsmachern Nachricht gegeben. Es kann jeden Augenblick Hilfe kommen. Sobald diese eingetroffen ist, machen wir uns davon.«

»Bleibt es bei unserem Plane?«

»Ja. Der Alte bekommt keinen Heller.«

»Und Lefleur?«

»Der mag im Buchsbaum jetzt auf uns warten. Was geht er uns an? Wir haben nichts gefunden.«

»Dann vorwärts also!«

Sie entfernten sich und machten sich an anderen Wagen zu schaffen. Dabei gelang es Fritz, unbemerkt von dem seinigen herabzukommen und wieder zu dem Oberschaffner zu gelangen.

»Haben sie es?« fragte dieser.

»Ja.«

»Das paßt! Hören Sie! Man sendet von Thionville Hilfe. Ich höre das Rasseln der Räder. Warten wir, bis diese da ist, und dann nehmen wir die Teufels fest!«


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»Auch sie wollen nur das Nahen der Hilfe abwarten, um sich dann sogleich zu entfernen.«

»So ist es nothwendig, sie zu bewachen. Wollen Sie das thun?«

»Gern.«

»Sie haben einen Revolver, wie ich bemerkte, Monsieur?«

»Ja.«

»So schießen Sie, ehe Sie einen der Kerls entkommen lassen, ihn lieber kaput! Ah, da kommt eine Maschine mit Waggons! Gott sei Dank! Diese Hilfe ist sehr nöthig!«

Er eilte fort. Fritz aber machte sich an die beiden Männer und that, als ob er sie bei ihrer Arbeit unterstützen wolle.

Auf die Nachricht von dem Eisenbahnunfalle war von Thionville sofort ein Zug abgelassen worden. Er enthielt Beamte, Militair und einige Aerzte. Diese Passagiere sprangen sofort aus den Waggons, als die Maschine vor der Unglücksstelle hielt. Der Oberschaffner eilte sofort auf den Offizier zu, welcher die Truppen anführte, und sagte:

»Mein Capitän, ich ersuche Sie dringend, zunächst dafür zu sorgen, daß von den Personen, welche bisher hier gegenwärtig gewesen sind, keine den Ort verlassen darf!«

»Warum dies?« fragte der Hauptmann.

»Die Urheber des Unglückes befinden sich unter ihnen.«

»Sacré bleu! Ist denn dieser gräßliche Sturz des Zuges vom Damme beabsichtigt worden?«

»Ja. Man hat Steine auf die Schienen gelegt.«

»Und Sie kennen die Thäter?«

»Ja. Ich werde sie Ihnen nachher bezeichnen.«

»Gut, mein Lieber! Diese Kerls werden ihren Lohn finden!«

Die Maschine hatte ausgehängt und ging nach Thionville zurück, um die Wagen, welche man dort schleunigst von der Richtung nach Metz her requirirt hatte, nachzuholen. Die Soldaten, welche ausgestiegen waren, erhielten den gegebenen Befehl so laut, daß es Jedermann hören konnte, Jeden niederzuschießen, welcher ohne Erlaubniß ihres Kommandanten versuchen sollte, den Platz zu verlassen. Sie vertheilten sich in Folge dessen so, daß sie das ganze Terrain vollständig beherrschten.

Die beiden Kerls, welche den Amerikaner ausgeraubt hatten, waren gerade jetzt beschäftigt, einen Todten unter den Trümmern eines Wagens hervorzuziehen. Fritz stand an der anderen Seite dieser Trümmer, um zu versuchen, dieselben ein Wenig emporzuheben. Er konnte also gerade in diesem Augenblicke nicht hören, was sie sprachen.

»Tausend Donner!« fluchte der Eine halblaut. »Hast Du es gehört?«

»Den Befehl des Capitäns?«

»Ja.«

»Natürlich! Der Kerl schreit ja laut genug! Was sagst Du dazu?«

»Verdammt unangenehm!«

»Sie müssen der Ansicht sein, daß das Unglück mit Absicht hervorgebracht worden ist.«

»Ja, und daß die Thäter sich noch hier befinden.«

»Was ist da zu machen?«

»Pah! Sie können nichts, gar nichts wissen!«

»Aber wenn sie die Brieftasche bei uns finden!«

»Wie könnten sie denn wohl auf die Idee kommen, uns zu durchsuchen! Das ist unmöglich!«

»Sehr möglich sogar ist es! Es giebt hier unter den zerstreut herumliegenden Gegenständen Manches, was zum Einstecken reizt. Wie nun, wenn man den Gedanken faßt, Alle, welche mit helfen, dann zu durchsuchen?«

»Das wird man nicht thun. Das wäre eine Schande, eine Beleidigung, ein monströser Undank gegen Diejenigen, welche herbeigeeilt sind, um zu retten und zu helfen!«

»Meinetwegen! Aber besser ist besser! Ich werde doch lieber versuchen, mich davonzumachen!«

»Das ist allerdings das Sicherste. Aber wie wollen wir es bewerkstelligen, ohne daß es auffällt?«

»Sehr einfach: Wir tragen einen der Verwundeten nach den Waggons, welche droben auf dem Damme stehen. Jenseits desselben gleiten wir hinab und schleichen uns davon.«

»Sollte da oben nicht auch ein Wächter stehen?«

»Bis jetzt noch nicht.«

»Gut! Komm! Der Kerl hier ist todt. Unsere Bemühung um ihn ist völlig nutzlos. Heda, Kamerad!«

Dieser Ruf war an Fritz gerichtet. Dieser hatte sie nicht aus den Augen gelassen. Wenn er auch zwar ihre Worte nicht zu verstehen vermochte, so konnte er doch zwischen den Trümmerstücken hindurch ihre Gestalten bemerken und sich also von ihrer Anwesenheit überzeugen. Er antwortete:

»Was giebt es? Zieht doch! Bringt Ihr ihn nicht heraus?«

»Nein. Uebrigens ist er todt. Gehen wir also dahin, wo unsere Hilfe nöthiger ist!«

Sie entfernten sich, indem sie gedachten, von ihm fortzukommen. Aber im nächsten Augenblick stand er bei ihnen und sagte:

»Recht habt Ihr. Da vorn sind wir nothwendiger. Also kommt!«

»Verdammter Kerl!« fluchte der Eine, sah sich aber doch gezwungen, gute Miene zum bösen Spiele zu machen.

Unterdessen hatte Emma von Königsau ihre Besinnung wieder erlangt. Es war ein wahres Wunder, daß es den Rettern der beiden Mädchen geglückt war, den gefährlichen Sprung vom Trittbrete herab ohne Schaden zu vollführen. Dies war nur dem Umstande zu verdanken, daß die Bremsen bereits gegriffen hatten und die Wagen also bereits langsamer gegangen waren.

Als sie die Augen aufschlug, erblickte sie Madelon. Ein zweiter Blick zeigte ihr nach vorwärts die gräßliche Verwüstung und sofort war ihr das letzte Erlebniß wieder gegenwärtig.

»Gott, mein Gott!« rief sie. »Du bist gerettet!«

»Und Du auch!« jubelte die Freundin. »Dem Allmächtigen sei Dank! Kannst Du Dich erheben?«

Emma versuchte, sich aus ihrer liegenden Stellung empor zu richten. Es gelang. Zwar war es bei dem blitzesschnellen Herabgleiten vom Bahndamme nicht sanft hergegangen und sie fühlte an mehreren Stellen ihres Körpers Schmerzen, doch waren dieselben nicht bedeutend und sie erkannte, daß sie sich im vollständigen Gebrauche ihrer Glieder befand.

»Ja, es geht; dem Himmel sei Dank!« antwortete


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sie, indem sie ihre Gelenke prüfend bewegte. »Aber, wo ist er?«

»Wer?«

»Der Fremde, welcher mit mir vom Wagen sprang. Ist auch er gerettet?«

Es lag im Tone ihrer Frage und ihrem schönen, jetzt so bleichen Gesichte ein Ausdruck von Besorgniß, wie man sie fremden, gleichgiltigen Personen gegenüber nicht zu hegen pflegt.

»Ja, er ist gerettet,« antwortete Madelon.

»Und Fritz?«

»Der Brave, Kühne! Auch er ist ohne Schaden davon gekommen.«

»Aber die anderen armen Menschen! Hilf Himmel, wie sieht es dort aus! Schrecklich! Entsetzlich!«

»Man wird dort weiblicher Hilfe recht sehr bedürfen.«

»So müssen wir eilen! Komm schnell, liebe Madelon.«

»Gern, gern! Vorher aber wollen wir uns über Dich erst klar werden. Das ist nothwendig.«

»Wieso klar werden?«

»Du hast dem Amerikaner nicht Deine richtige Karte gegeben, wie ich bemerkte?«

»Nein. Ich glaubte, vorsichtig sein zu müssen.«

»Welche denn? Ich muß wissen, wie ich Dich zu nennen habe.«

»Es stand auf dem Kärtchen: Harriet de Lissa, London.«

»Gut, so bist Du also eine Engländerin und wir haben uns ganz zufälliger Weise im Coupee getroffen. Aber, weiß Fritz auch davon?«

»Nein. Unterrichte ihn, wenn Du eher mit ihm sprechen solltest, als ich!«

Sie verwendeten noch einen kurzen Augenblick dazu, ihr Reisegewand, welches beschädigt worden war, in Ordnung zu bringen, dann begaben sie sich nach den Trümmern des verunglückten Zuges, wo ihrer ein allerdings nicht für Jedermann zu ertragender Anblick wartete.

Nanon hatte sich nach Thionville fahren lassen, um dort ihre Schwester zu erwarten und zu ihr gleich in dasselbe Coupee zu steigen. Der Zug war signalisirt worden, aber die bestimmte Zeit verging, ohne daß er eintraf. Es mußte unbedingt Etwas geschehen sein und zwar in nicht großer Entfernung von der Stadt.

Da plötzlich hörte sie laute Rufe, die sich wiederholten und im Tone des Schreckens beantwortet wurden:

»Der Zug ist verunglückt! Zwischen hier und Königsmachern!«

Diese Worte konnte sie verstehen. Das Bewußtsein schwand ihr. Als sie es wieder erlangte, sah sie einige Personen um sich beschäftigt, von denen eine jetzt die Frage aussprach:

»Sie erwarteten wohl Bekannte?«

»Ja, meine Schwester,« hauchte sie.

»Gerade mit diesem Zuge?«

»Ja. Und ich hörte, er sei verunglückt.«

»Das ist allerdings wahr. Es soll entsetzlich sein.«

»Gott, mein Gott. Ich muß hin.«

Sie wollte fort, aber sie zitterte an allen Gliedern und sank wieder auf ihren Sitz nieder.

»Fassen Sie sich, Mademoiselle!« sagte der Mann in beruhigendem Tone. »Jedenfalls sind nicht alle verletzt und man darf hoffen, daß Ihre Schwester sich unter den Letzteren befindet.«

Das gab ihr einigen Trost und auch die verlorene Kraft.

»Ich danke, Monsieur!« sagte sie. »Aber ich muß fort; ich muß hin und zwar sogleich.«

Sie erhob sich, um fort zu eilen, er aber hielt sie mit sanfter Gewalt zurück und sagte:

»Warten Sie, Mademoiselle. Man hat bereits nach Hilfe geschickt. Es wird Militär kommen, auch Aerzte werden gesucht. Glücklicher Weise ist eine geheizte Maschine vorhanden. In einigen Minuten werden einige Wagen nach der Unglücksstätte gehen.«

»Aber wird man mich mitnehmen?«

»Eigentlich würde man dies wohl kaum thun; aber ich werde dafür sorgen, daß Sie einen Platz finden.«

Der Mann war Bahnhofsbeamter und hielt Wort. Er selbst brachte Nanon in ein Coupee. So kam es, daß sie mit dem Militär zugleich an dem Schreckensorte ankam. Als sie die dortige Verwüstung erblickte, brach sie in die Kniee, und es dauerte einige Zeit, ehe sie wieder so viel Kraft gewann, die Böschung herunter zu klettern. Sie hätte laut jammern mögen; da aber erblickte sie Einen, den sie hier nicht erwartet hätte, zumal sie auf dem Bahnhofe vergeblich nach ihm gesucht hatte, obgleich er von ihr dorthin bestellt worden war - Fritz Schneeberg, der Pflanzensammler.

Das gab ihr ihre ganze Beweglichkeit zurück. Im Nu stand sie bei ihm. Er kniete mit zwei Männern bei einem Verwundeten an der Erde. Sie ergriff ihn beim Arme und sagte:

»Monsieur Schneeberg! Sie hier? Gott sei Dank! Wo ist meine Schwester?«

Er erhob sich mit vor Freude glänzendem Gesichte, deutete den Damm entlang und antwortete:

»Keine Sorge, Mademoiselle Nanon! Dort kommt sie eben!«

Sie stieß einen Schrei des Entzückens aus und eilte mit weit geöffneten Armen der Geretteten entgegen, welche mit Emma soeben sich näherte.

»Madelon, Madelon! Meine Schwester! Du bist gerettet!«

Die Angerufene warf einen scharfen Blick auf die so eilig Herbeifliegende, breitete ebenso wie diese ihre Arme aus und jauchzte:

»Nanon! Du hier! Gott, welch ein Wiedersehen!«

Sie lagen sich in den Armen; sie herzten und küßten sich; sie streichelten einander liebkosend die Wangen und schluchzten dabei vor Freude und Glück.

»Ich glaubte Dich todt und verloren,« sagte Nanon.

»Gott sei Dank! Ich bin gerettet.«

»Ohne mit zerschellt zu werden! Welch ein Wunder.«

»Ja, es war ein Wunder, welches nur die Kühnheit vollbringen konnte.«

»Die Kühnheit? So ist es nicht ein Zufall, daß ich Dich so unversehrt vor mir sehe?«

»Nein. Der Zug war noch im Gehen und die Maschine gab das Nothsignal, da ergriff mich einer der Passagiere, riß mich aus dem Wagen und sprang mit mir vom Trittbrete herab.«


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»Welch eine Verwegenheit! Und welch eine Geistesgegenwart. Ist dieser Held ebenso unverletzt wie Du?«

»Ja, und ich danke Gott und allen Heiligen dafür.«

»Ich ebenso. Vor allen Dingen aber gehört auch dem muthigen Manne unser Dank. Wo ist er?«

Ueber Madelons Gesicht breitete sich ein fröhliches, erwartungsvolles Lächeln, als sie, vorwärts deutend, antwortete:

»Der hohe, kräftige Herr, welcher dort bei den Verwundeten beschäftigt ist.«

Nanon blickte nach der bezeichneten Stelle und fragte:

»Der? Wirklich der?«

»Ja, freilich.«

Da schlug sie in höchster Ueberraschung und Freude die Händchen zusammen und rief:

»Das ist ja Monsieur Schneeberg, mein Freund und Bekannter.«

»Allerdings, liebe Nanon!«

»Und der hat Dich gerettet, Der? Das ist ja gar nicht möglich!«

»Warum sollte es nicht möglich sein?«

»War er denn im Zuge? War er mit in Deinem Coupee?«

»Ja. Er stieg in Trier zu uns ein.«

»Das begreife ich nicht. Ich hatte ihn doch nach dem Bahnhofe in Thionville bestellt! Ich muß hin zu ihm, sofort, um ihm zu danken!«

»Ja, thue das; aber laß Dir vorher diese Dame vorstellen. Meine Schwester Nanon - Miß de Lissa aus London, welche auf ganz dieselbe Weise gerettet worden ist wie ich!«

Fragen und Antworten waren einander so schnell gefolgt, daß vom ersten bis zum letzten Worte nur Secunden vergangen waren. Erst jetzt nahm Nanon Notiz von Emma von Königsau. Sie verbeugte sich vor ihr und fragte:

»Auch Sie sind durch Schneeberg gerettet worden, Miß?«

»Wenn auch nicht direct, aber doch mittelbar,« antwortete die Gefragte. »Wäre er nicht in unser Coupee gestiegen, so lägen auch wir Beide zerschmettert unter den Wagen.«

»Der brave gute Mensch! Ich muß wirklich sogleich hin zu ihm!«

Sie eilte fort, und die beiden Anderen folgten ihr.

Fritz war eben beschäftigt, bei dem Verbande eines Verunglückten mit Hand anzulegen, als Nanon seinen Arm ergriff.

»Monsieur, Sie sind es gewesen, der Madelon gerettet hat?« sagte sie. »Das werde ich Ihnen nie, niemals vergessen.«

Er nickte ihr freundlich zu und antwortete:

»Es war kein Verdienst von mir, sondern der reine Zufall, Mademoiselle! Sprechen wir später davon! Jetzt müssen wir diesen armen, beklagenswerthen Leuten unsere ganze Aufmerksamkeit zuwenden.«

»Ja, ja, Sie haben Recht! Jetzt ist der Schreck vorüber und ich kann helfen.«

Die drei Mädchen wendeten sich an die beiden Aerzte, welche mit dem Zuge gekommen waren, und baten sich deren Befehle aus.

Die beiden Franktireurs befanden sich noch bei Fritz, oder vielmehr, dieser befand sich noch bei ihnen; er war ihnen nicht von der Seite gewichen. Jetzt hatten sie den Verwundeten ergriffen, um ihn nach dem Coupee zu tragen. Fritz wollte jetzt mit angreifen, allein der Eine sagte abwehrend:

»Das ist nicht nöthig! Wir bringen ihn allein fort!«

»Den steilen Damm hinauf?«

»Ja. Wir sind keine Schwächlinge!«

»Aber nicht in das Coupee hinein! Dazu gehören Drei!«

Bei diesen Worten faßte er mit an. Es fiel ihm gar nicht ein, zurückzubleiben, und die beiden Anderen konnten nichts dagegen thun, obgleich sie ihn innerlich verwünschten. Aber sie verständigten sich gegenseitig durch einen kurzen Blick, daß jetzt die geeignetste oder wohl gar die höchste Zeit zu ihrer Entfernung gekommen sei.

Sie glaubten ganz und gar nicht, daß Fritz Alles wisse. Er aber hatte auch diesen Blick aufgefangen und fühlte sich Mannes genug, ihre Flucht zu vereiteln. Als sie langsam mit dem Verwundeten die Böschung emporstiegen, trat der Oberschaffner, der erst jetzt Zeit dazu fand, zu dem Offizier.

»Capitän,« sagte er; »die beiden Männer dort sind es, welche ich meine.«

Dabei deutete er nach den Dreien.

»Ah! Der hohe, starke Mensch nicht, der mit bei ihnen ist?«

»Nein. Ihm vielmehr haben wir ihre Entdeckung zu verdanken. Er hält sich zu ihnen, um sie zu beobachten.«

»Schön! Sie werden den Blessirten in's Coupee schaffen. Dabei könnten sie aber Gelegenheit zum Entkommen suchen. Ich werde das verhindern.«

Er winkte Zweien seiner Untergebenen und gab ihnen einen leisen Befehl. Sofort machten sie ihre Gewehre schußfertig.

»Aber nur dann, wenn sie auf meinen Zuruf nicht achten,« fügte er hinzu. »Sucht dann, sie nur zu blessiren, nicht aber zu tödten. Wir müssen sie lebendig haben!«

Die Drei waren beim Coupee angekommen. Einer der beiden Männer sagte zu Fritz:

»Es kann nur Einer voran. Sie sind der Stärkste von uns, wie es scheint. Steigen Sie ein, indem Sie den Verwundeten bei den Schultern nehmen.«

»Hm!« dachte Fritz. »Wartet, Ihr Burschen! Mich betrügt Ihr schon lange nicht! Ich will Euch zum Spaße den Willen thun; das wird eine Falle, in die Ihr selbst springt!«

Er faßte den Blessirten an und stieg langsam und vorsichtig, um ihm keine Schmerzen zu verursachen, rückwärts hinauf in das Coupee. Die beiden Anderen hoben und schoben nach. Aber als der Verunglückte nun noch nicht ganz auf der Bank lag, flüsterte der Eine:

»Jetzt oder nie! Vorwärts!«

Er wendete sich um und schritt langsam und sich ganz unbefangen stellend, den Waggons entlang, um dann um den letzten derselben herum zu biegen und auf die andere, unbewachte Seite zu kommen. Der Offizier aber bemerkte es.


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»Halt, Ihr Beiden, da oben!« rief er. »Bleibt stehen!«

Sie thaten, als ob sie den Ruf gar nicht gehört hätten, und schritten weiter.

»Halt! Steht, oder es giebt Feuer!«

Da blickte der Eine rückwärts und raunte dem Anderen zu:

»Donnerwetter! Sie haben uns im Verdacht! Da sind wir verloren, wenn wir gehorchen! Die Kerls mögen nur zielen! Zwei oder drei schnelle Sprünge, so sind wir um die Wagen herum und den Damm drüben hinab. Vorwärts!«

Im nächsten Augenblicke flogen sie am letzten Wagen vorüber!

»Feuer!« kommandirte der Capitän.

Fritz hatte, im Coupee noch mit dem Verwundeten beschäftigt, das Verschwinden der Beiden sofort bemerkt. Rasch warf er zur offenen Thür hinaus ihnen einen Blick nach.

»Richtig!« brummte er vergnügt. »Sie wollen auf die andere Seite. Wartet! Dort werde ich Euch »guten Tag« sagen.«

Er öffnete die jenseitige Thür, sprang hinaus, zog den Revolver und eilte bis zur Ecke des letzten Wagens. In demselben Augenblicke hörte er das letzte Commando des Capitäns. Die Schüsse krachten, aber die Kugeln schlugen durch die beiden Wagenwände, ohne zu treffen, und dann kamen die Flüchtigen um die Ecke gesprungen.

»Willkommen!« rief Fritz ihnen entgegen. »Habt Ihr es so eilig? Halt! Stehen bleiben!«

Die Beiden erkannten die Gefahr, in welcher sie schwebten. Der Vordere holte aus, um Fritz den Revolver aus der Hand zu schlagen, empfing aber noch eher einen solchen Fausthieb, daß er zu Boden stürzte und für einige Augenblicke seine Beweglichkeit verlor. Der Andere riß sein Messer heraus und stürzte sich auf Fritz; aber der tapfere Ulanenwachtmeister empfing ihn mit einem Fußtritte an den Unterleib, so daß auch er niederstürzte und das Messer fallen ließ. Im Nu hatte Fritz seinen Revolver in die Tasche gesteckt und kniete auf den Beiden, ihnen mit seinen kraftvollen Fäusten die Kehlen zusammenpressend.

In diesem Augenblicke kamen mehrere Soldaten und auch der Capitän um die Wagenecke gerannt.

»Ah!« rief dieser Letztere ganz außer Athem. »Da sind sie ja.«

»Ja, da liegen sie!« lachte Fritz. »Die Arbeit ist bereits gethan. Am Besten ist's, Sie lassen sie binden!«

Dieser bestimmte Ton mißfiel dem Offizier.

»Ich denke, daß ich es bin, der zu bestimmen hat, was hier geschehen soll.«

»Ich habe nichts dagegen,« antwortete Fritz, indem er die Hände von den Gefangenen nahm, seinen Hut, der ihm entfallen war, wieder aufsetzte und sich erhob. »Aber bitte, keine Unvorsichtigkeit wieder, Herr Capitän!«

»Was meinen Sie mit Ihrer Unvorsichtigkeit?« fragte dieser in zornigem Tone.

»Die beiden Kugeln, welche diese Männer treffen sollten, sind durch den Wagen gegangen. Wie nun, wenn ich getroffen worden wäre?«

»Pah! Sie selbst wären schuld gewesen! Wußten wir, daß Sie hinter dem Waggon steckten? Wer hat Ihnen überhaupt geheißen, nach dieser Seite zu gehen?«

»Ich, Herr Capitän! Hätte ich das nicht gethan, so wären die beiden Schurken entkommen. Ehe Ihre Leute erschienen wären, hätten diese Kerls da unten im Gebüsch Deckung gefunden.«

»Das fragt sich sehr, Monsieur!«

»Und überdies liegen in dem Waggon, durch den die Kugeln gegangen sind, Verwundete, welche sehr leicht getroffen werden konnten. Das hätte man sich überlegen sollen!«

»Ah, wer sind Sie, daß Sie es unternehmen, einen solchen Ton anzuschlagen?«

»Das thut hier nichts zur Sache! Die Hauptsache ist vielmehr, daß Sie sich dieser zwei Männer versichern, sonst gehen sie abermals durch!«

Er nickte dem Officier grüßend zu und kletterte wieder den Damm hinab. Der Letztere aber gab sich Mühe, seinen Aerger zu verbeißen und ließ die Gefangenen binden und in ein leeres Coupee bringen, vor welches er eine Wache stellte.

Die beiden Franctireurs meinten, daß sie sich nur durch die größte Dreistigkeit zu retten vermöchten.

»Herr Capitän,« fragte der Eine. »Was haben wir gethan, daß Sie auf uns schießen und uns dann ergreifen und fesseln lassen? Wir sind uns keines Unrechtes bewußt!«

Aber in diesem Augenblicke brachte Fritz den Oberschaffner und den Amerikaner herbei.

»Fragt diese Herren!« antwortete der Officier.

Als sie den Amerikaner sahen, war es ihnen, als ob sie einen Geist erblickten.

»Ihr habt diesen Herrn bestohlen,« sagte der Oberschaffner, indem er auf Deep-hill deutete.

»Wir wissen nichts davon!«

»Oho!« meinte Fritz. »Gerade Der, welcher Dies behauptet, hat die Brieftasche dort auf der Brust stecken!«

Er stieg in das Coupee und zog sie ihm heraus.

»Hier ist sie, Monsieur Deep-hill. Sehen Sie nach, ob Etwas fehlt. Diese beiden Spitzbuben sprachen von hohen Banknoten.«

Deep-hill öffnete das Portefeuille, zählte nach und antwortete lächelnd:

»Es fehlt nichts. Uebrigens hätten die Räuber sich wohl sehr geirrt. Das hier sind keine Banknoten, sondern Anweisungen an meinen Cassirer, die ich erst noch zu unterschreiben hätte, ehe sie honorirt würden. Jetzt sind sie keinen Sou werth.«

»Das vermindert aber nicht die Schuld dieser Menschen,« bemerkte der Oberschaffner. »Sie haben Steine auf die Schienen gelegt, um den Zug entgleisen zu lassen und dann diese Tasche zu stehlen. Sie sind schuld an dem Tode und der Verwundung so vieler Menschen. Sie sind ohne Gnade dem Tode verfallen!«

»Man beweise uns das!« rief der Eine. »Wir können unser Alibi bringen. Wir haben beim Bahnwärter gestanden, als das Unglück geschah!«

»Das wissen wir bereits! Aber Euer Kamerad legte die Steine, während Ihr um das Alibi besorgt waret. Ihr werdet uns nicht entgehen. Wo ist dieser Kamerad?«

»Wir haben keinen!«


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»Schön! Man wird Euch schon zum Geständnisse bringen! Mein Capitän, bitte, sorgen Sie dafür, daß diese Menschen nicht abermals einen Fluchtversuch unternehmen können.«

»Das sollen sie wohl bleiben lassen!«

Sie begaben sich Alle wieder hinab zu den Wagentrümmern, wo es noch so Vieles zu thun gab; vorher aber postirte der Officier einen Soldaten an das offene Coupeefenster. Dieser Posten mußte sich auf das Trittbret stellen, um die Verbrecher unausgesetzt im Auge zu haben, und erhielt den strengen Befehl, sofort auf sie Feuer zu geben, wenn sie die geringste verdächtige Bewegung machen sollten. Hören aber konnte er doch nicht, was sie leise, ganz leise einander zuraunten:

»Du, wir sind verloren!«

»Der Teufel hole den Hund, der uns angehalten hat! Wer mag er sein?«

»Ich kenne ihn nicht!«,

»Ich auch nicht! Es wäre gelungen! Nun aber ist's aus!«

»Man scheint Alles zu wissen!«

»Auch von Lefleur, der im »Buchsbaum« jetzt auf uns wartet. Wie mag man das erfahren haben?«

»Es giebt nur eine Möglichkeit: Wir sind belauscht worden!«

»Aber von wem?«

»Das werden wir vor dem Gerichte erfahren.«

»Hölle und Teufel! Sind wir einmal dort, so giebt es keine Rettung mehr!«

»Hier auch nicht!«

»Oho!«

»Ah! Hast Du einen Gedanken?«

»Ja; aber leiser, viel leiser! Wir dürfen die Lippen gar nicht bewegen, sonst merkt dieser vermaledeiete Posten, daß wir uns unterhalten!«

»Na, die da unten machen genug Lärm, so daß unser Flüstern unhörbar wird. Also, welchen Gedanken hast Du? Strenge Dich an! Wir gehen einem schauderhaften Tod entgegen.«

»Hm! Bisher scheint uns Niemand erkannt zu haben.«

»Nein.«

»Wenn wir entkämen, wüchs mit der Zeit Gras über die Geschichte. Wir müßten auf einige Jahre verschwinden.«

»Natürlich! Aber wie hier hinaus und fort?«

»Wir werden nur auf der einen Seite bewacht, da auf der andern aber nicht - - -«

»Was nützt uns das?«

»Wenn wir öffnen könnten!«

»Der Kerl wendet doch kein Auge von uns!«

»Man müßte ihm Veranlassung dazu geben!«

»Das wäre zwar eine Möglichkeit; aber wir sind gefesselt. Wie wollen wir das Coupeefenster niederlassen, um die Thür aufzubekommen!«

»Das ist wahr. Und selbst wenn wir hinaus könnten, zu entkommen wär doch nicht möglich, da wir mit diesen gefesselten Händen nicht rasch genug laufen könnten.«

»Hölle! Hätten wir ein Messer!«

»Das ist's ja! Das meinige ist mir entfallen. Laß uns nachdenken! Jetzt ist die einzige, die letzte Zeit zur Rettung!«

»Du! Ah, da fällt mir Etwas ein!«

»Wirklich? Was?«

»Denkst Du, daß uns der Alte im Stiche lassen wird?«

»Der Capitän? Meinst Du ihn?«

»Ja, natürlich!«

»Hm! Eigentlich sollte man denken, daß ihm an unserer Befreiung eben so viel liegen sollte als uns selbst.«

»Freilich! Aber dieser Kerl ist unberechenbar.«

»Er muß sich doch sagen, daß wir ihn verrathen werden, wenn er uns aufgiebt!«

»Es fragt sich, ob er sich Etwas daraus macht. Er hat zu viele Mittel in den Händen, sich rauszureden!«

»Still!« gebot jetzt der Posten, der nun doch bemerkt haben mußte, daß die Beiden mit einander sprachen.

»Wir reden ja nicht!« erhielt er grob zur Antwort.

»Ich habe es gesehen und gehört! Sprecht Ihr noch einmal, so erhaltet Ihr einen Knebel in den Mund!«

Sie warfen ihm wutherfüllte Blicke zu, mußten aber seinem Befehle Gehorsam leisten. -

Die Frau Baronin de Sainte-Marie hatte sich gestern sehr geärgert. Sie hatte sich darauf gefreut gehabt, daß ihre Stieftochter sich dem Willen des alten Capitäns werde fügen müssen. Hierin war sie getäuscht worden, und nun hatte sie Migraine. Sie hatte deshalb einen Boten nach Thionville zu Doctor Bertrand gesandt, um diesen zu sich zu rufen.

Bertrand als Hausarzt auf Schloß Ortry hatte diesem Rufe Folge geleistet. Er befand sich noch da, als ein Mann auf schäumendem Pferde in den Hof sprengte und nach dem Doctor fragte; zu ihm geführt, berichtete er:

»Herr Doctor, Sie sollen sofort kommen. Es werden alle Aerzte gebraucht. Es ist ein Zug entgleist.«

Man hatte sich gerade beim zweiten Frühstücke befunden; darum waren Alle zugegen außer der Baronin, welche sich ja angegriffen fühlte. Jedermann erschrak. Auch der alte Capitän erhob den Kopf und blickte den Boten mit gespannter Erwartung an.

»Ein Zug entgleist?« fragte der Arzt. »Wo?«

»Kurz vor der Stadt, hinter Königsmachern. Es hat Jemand Steine auf die Schienen gelegt.«

»Herrgott! Welch ein Verbrechen! Ist das Unglück groß?«

»Es sollen nur wenige Menschen davongekommen sein.«

»So muß ich fort, augenblicklich! Herr Capitän, Sie werden entschuldigen, daß ich mich so sans façon entferne.«

In den Augen des Alten glühte ein eigenthümliches Flackern. Man wußte bereits, daß das Unglück ein beabsichtigtes sei. Hatten diese Kerls ihre Sache nicht klug gemacht? Dann stand sehr, sehr viel auf dem Spiele. Er mußte sich selbst überzeugen, ob der Anschlag geglückt sei oder nicht.

»Gehen Sie immerhin!« antwortete er. »Sie bedürfen keiner Entschuldigung. Ihr Pferd steht noch im Stalle?«

»Ja,« antwortete der Gefragte, sich nach der Thür wendend.

»So können Sie noch einen Augenblick verziehen. Ich reite mit. Bei einem solchen Falle können nicht Helfer genug sein. Wir reiten gleich quer Feld ein,


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nicht nach der Stadt, sondern gleich auf die Unglücksstätte zu!«

Er öffnete das Fenster und rief den Befehl hinab, sein Pferd schleunigst zu satteln.

Marion de Sainte-Marie war tödtlich erschrocken.

»Mein Gott!« sagte sie jetzt. »Das ist ja der Zug, mit welchem Madelon kommt!«

»Madelon? Wer ist das?« fragte der Alte scharf.

»Nanons Schwester.«

»Ah! Die Germanisirte? Die deutsche Gouvernante? Um sie ist es nicht schade, wenn sie verunglückt ist!«

Da stand Marion vom Stuhle auf und antwortete:

»So sollte nur ein Teufel sprechen!«

»Schweig, Mädchen,« drohte er.

Sie aber schob ihren Stuhl kräftig bei Seite und entgegnete:

»Hier kann ich nicht schweigen! Madelon ist in Gefahr. Auch ich eile nach der Bahn. Man wird mir satteln.«

»Du bleibst!« gebot er.

»Ich reite!« beharrte sie in festem Tone. »Du weißt, was ich Dir gestern gesagt habe! Herr Doctor, begleiten Sie mich?«

Müller verbeugte sich und antwortete:

»Ich stehe zur Verfügung, gnädiges Fräulein!«

Da wendete der Alte sich ihm drohend zu:

»Wenn ich es Ihnen nun verbiete?«

»Wollen Sie die gnädige Comtesse ohne Begleitung nach einem solchen Orte gehen lassen, Herr Capitän?«

Der Alte griff an den Schnurrbart, zupfte heftig an den Spitzen desselben und antwortete dann:

»Gut! Es mag sein! Läßt sie sich nicht halten, so ist es allerdings besser, Sie reiten mit. Aber in Zukunft werde ich mir besseren Gehorsam zu verschaffen wissen. Kommen Sie, Doctor!«

Zwei Minuten später ritten sie im Galopp davon. Sie schlugen einen Feldweg ein, der sie viel schneller zur Bahn brachte als die Straße, welcher sie durch die ganze Stadt hätten folgen müssen. Sie erreichten den Damm an der Unglücksstätte, sprangen von den Pferden, ließen diese unten stehen und stiegen hinauf und drüben wieder hinab, wo sie empfangen wurden, der alte Capitän von dem Officier, der ihn natürlich kannte, und der Doctor von seinen beiden Collegen, welche sich freuten, an ihm eine so bewährte und höchst nothwendige Hilfe zu finden.

Bertrand hatte sein Besteck stets bei sich, so auch jetzt. Er griff sofort mit zu.

Vor einem Manne, dem das Bein schauderhaft zerquetscht war, knieete die Gestalt eines schönen Mädchens. Er trat hinzu und ließ sich neben ihr nieder.

»Der Aermste,« sagte sie. »Er ist vor Schmerz besinnungslos.«

»Wohl ihm!« antwortete Bertrand. »Lassen wir ihn! Hier können wir ihm nicht helfen. Das Bein muß ambutirt werden.«

Er erhob sich wieder, und sie that dasselbe. Jetzt erst konnte er ihr voll in das Gesicht blicken.

»Ist es möglich!« sagte er im Tone höchster Ueberraschung. »Das kann keine bloße Aehnlichkeit sein. Sie sind - -«

Er stockte, blickte sich vorsichtig um, ob seine Worte gehört werden könnten und fuhr dann leise fort:

»Sie sind Fräulein von Königsau?«

»Ja,« nickte sie lächelnd. »Und Sie sind Herr Doctor Bertrand, der im unglücklichen Jahre Sechsundsechzig -«

»Von Ihrem Herrn Bruder gerettet wurde und dann auch die Ehre hatte, Sie zu sehen. Aber, um Gotteswillen, dürfen Sie wagen, nach hier zu kommen?«

»Ich muß es wagen und habe, offen gestanden, dabei auch ein Wenig auf Sie gerechnet.«

»Ich stelle mich Ihnen ganz und gar zur Verfügung!«

»Ich wollte zu Ihnen nach Thionville, litt aber hier leider diesen entsetzlichen Schiffbruch, dessen Folgen -«

»Wie?« unterbrach er sie erschrocken. »Sie waren mit in dem verunglückten Zuge?«

»Allerdings, Herr Doctor. Aber ziehen wir meine persönlichen Angelegenheiten nicht diesen Unglücklichen vor, welche unserer Hilfe so sehr bedürfen! Darf ich um eine kurze Gastfreundschaft in Ihrem Hause bitten?«

»O, gewiß, mein gnädiges Fräulein.«

»So wissen Sie zunächst, daß ich eine Engländerin aus London bin und Harriet de Lissa heiße.«

»Weiß Ihr Herr Bruder, daß Sie kommen?«

»Kein Wort.«

»Und sein Diener, mein Kräutersammler, den ich dort sehe?«

»Mit ihm habe ich mich bereits verständigt. Nun aber zunächst zu unseren Hilfsbedürftigen.«

Nach diesen kurzen Unterhaltungsworten, welche allerdings höchst nothwendig gewesen waren, nahmen sie ihre erstere Beschäftigung wieder auf.

Der Officier hatte dem Alten die Hand entgegengestreckt und nach dem gewöhnlichen Gruße die Frage ausgesprochen:

»Auch Sie haben bereits von dem Unfalle gehört?«

»Ja. Leider ist es nicht nur ein Unfall zu nennen. Die Bezeichnung, welche hier die richtige wäre, kann gar nicht gefunden werden.«

Dabei blickte er sich um und that, als ob er sich eines Schauderns gar nicht erwehren könne.

»Leider!« antwortete der Officier. »Diese Leichen und diese Verstümmelungen! Es ist schauderhaft!«

»Wer hat das Unglück verschuldet? Das Zugpersonal?«

»Nicht im Geringsten! Man hat Steine auf die Schienen gelegt, eine ganze Anzahl großer Steine.«

»Entsetzlich! Gewiß nur Buben, welche ihre teuflische Freude an solchen Zerstörungen haben. Und da mußte es einen Personenzug treffen!«

»Das war ja beabsichtigt!«

»Beabsichtigt?« fragte der Alte im Tone des Erstaunens.

»Ja. Der Zug sollte verunglücken, damit man einen geplanten Raub ausführen könne.«

»Ist so etwas möglich?«

»Ja, es giebt solche Teufels! Aber wir haben die Kerls glücklicher Weise gefangen.«

Die Augenwinkel des Capitäns zogen sich für einen kurzen Augenblick zusammen, aber eben nur für einen ganz kurzen Augenblick; dann sagte er:

»Das wäre recht! Aber sind es die Richtigen?«


// 1193 //

»Ja. Wir haben ihnen den Raub wieder abgenommen.«

»Kennen Sie sie?«

»Sie sind keinem Menschen bekannt.«

»Ah! Darf man sie einmal sehen? Vielleicht könnte es mir gelingen, Ihnen Auskunft zu geben.«

»Sollte mich freuen, ganz außerordentlich freuen.«

»Wo befinden sie sich?«

»Im hintersten Coupee des vorletzten Wagens. Ich stehe sofort zur Disposition, Herr Capitän! Habe nur da drüben vorher eine Kleinigkeit zu ordnen.«

Er entfernte sich für eine kurze Zeit. Der Alte warf einen scharf forschenden Blick nach dem bezeichneten Coupee. Er sah die Wache auf dem Trittbrette, und da er, tiefer stehend, unter dem Wagen hindurchblicken konnte, bemerkte er, daß drüben auf der anderen Seite sich kein Posten befand. Sofort war sein Plan gemacht. Und ebenso resolut ging er an die Ausführung desselben.

Er griff in die Tasche seines Ueberrockes. Dort steckte ein kleines Einschlagemesser. Er öffnete es und hielt es so in der rechten Hand, daß es von dem Aermelaufschlage vollständig verdeckt wurde. Ein Blick nach dem Officiere zeigte ihm, daß dieser in einiger Entfernung mit einem Sergeanten sprach.

Er stieg langsam die Böschung hinan, als ob ihm die Rückkehr des Commandanten zu lang dauerte. Aber anstatt dann zu dem Posten zu treten, ging er um den letzten Wagen herum, indem er denselben betrachtete, als ob er sich von der Festigkeit der Transportmittel überzeugen wolle.

Drüben war kein Mensch. Ein rascher Umblick überzeugte ihn, daß er unbeobachtet sei. Er trat an die verschlossene Thür des Coupees, in welchem sich die Gefangenen befanden und öffnete es schnell, aber leise und nur so, daß ein Stoß von Innen nöthig war, um die Thür aus ihrer Lage zu bringen.

Dann schritt er weiter und kehrte auf die andere Seite zurück, immer mit der Miene eines Mannes, welcher die Festigkeit der Wagen prüfen will.

Kein Mensch hatte sein Thun beachtet, und das Oeffnen des Schlosses war so leise geschehen, daß auch der Posten nicht im Stande gewesen war, es zu bemerken. Aber die beiden im Coupee Sitzenden hatten das Geräusch doch hören können.


Ende der fünfundsiebzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Die Liebe des Ulanen

Karl May – Forschung und Werk