Lieferung 56

Deutscher Wanderer

11. Oktober 1884

Die Liebe des Ulanen.

Original-Roman aus der Zeit des deutsch-französischen Krieges von Karl May.


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Der Changeur ging. Sein Plan war an dem Mißtrauen des Grafen gescheitert. Dennoch hatte der Letztere einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht.

Was sollte er nun beginnen? Auf dem Rückwege nach seiner Wohnung dachte er an die Gefahren, welchen die heimlich Angebetete ausgesetzt war. In einem Hause, in dem Mädchen wie die beiden Kellnerinnen bedienten und fast nur der Abschaum der Menschheit verkehrte - was Alles konnte da bis morgen geschehen.

»Nein!« sagte er zu sich. »Ich werde zwar das Wort halten, welches ich gegeben habe, aber doch auch thun, was ich vielleicht zu thun vermag. Wenn es in meiner Macht liegt, soll dieses herrliche Wesen keine Secunde zu lang sich in den Händen dieser Ungeheuer befinden. Martin ist schlau und muthig; er soll mir helfen.«

Als er nach Hause zurückkehrte, hatte der Diener bereits längst mit großer Spannung auf ihn gewartet.

»Nun, Monsieur Belmonte,« fragte er, »kann der Tanz endlich losgehen?«

»Ja.«

»Der General macht mit?«

»Nein. Er mißtraute mir.«

»Hole ihn der teuflische Satanas!«

»Er glaubt nämlich, daß ich zu den Räubern gehöre und nur gekommen bin, um zu erfahren, ob er das Geld zahlen oder andere Maßregeln ergreifen will.«

»Geld?«

»Ah, Du weißt es ja ebenso wenig, wie ich es wußte. Ich muß Dir das Nähere erläutern.«

Er erzählte nun, was ihm gestern in dem Branntweinkeller begegnet war, und fügte daran die Unterredung mit dem Grafen Latreau. Martin hörte aufmerksam zu und sagte dann:

»Nach dem, was ich gehört habe, ist es dem Grafen gar nicht zu verargen, daß er Ihnen nicht traut. Aber, hunderttausend Franken! Kreuzmillionenschockdonnerwetter! Wieviele Schuhzwecken könnte man dafür kaufen, acht Stück für einen Pfennig, nämlich von der Mittelsorte! Wenn man sich diesen Sparpfennig verdienen könnte!«

»Das geht nicht!«

»Nein, aus reiner Ambition nicht! Aber gut, so machen wir es umsonst und heirathen dann das Mädchen. Dann sind die Hunderttausend doch noch unser!«

»Martin, Martin!«

»Schon gut, Monsieur Belmonte! Sie meinen, ich soll zwischen meine Ausdrücke einige Ellen Ehrerbietung mit einschieben? Das soll von jetzt an geschehen. Also, was haben Sie ehrerbietigst zu thun beschlossen?«

»Du bist unverbesserlich! Ich werde sehen, ob es nicht möglich ist, die Dame auch ohne Hilfe der Polizei zu befreien.«

»Warum soll das nicht ehrerbietigst möglich sein! Der Martin ist dabei, und wo der seine Hand im Spiele hat, da ist stets das ungeheuerste Glück in schuldigster Hochachtung und tiefster Unterthänigkeit vorhanden!«

»Mensch, scherze jetzt nicht!« mahnte Belmonte unwillig.

Die Hauptsache ist natürlich, daß sich meine Vermuthung bestätigt, ich meine, daß die Comtesse sich wirklich bei Vater Main befindet.«

»Ich möchte gar nicht daran zweifeln.«

»Ich auch nicht.«

»So müssen wir einen Feldzugsplan entwerfen!«

»Das ist unmöglich, da wir die Factoren ja gar nicht


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kennen, mit denen wir zu rechnen haben. Weißt Du die Kneipe?«

»Ich kenne sie nur aus der Beschreibung, welche Sie mir von ihr gegeben haben.«

»So wirst Du sie ohne mich finden.«

»Wir gehen nicht mit einander?«

»Nein. Wir dürfen uns gar nicht kennen, müssen aber in inniger Fühlung bleiben, um gegebenen Falls eingreifen zu können.«

»Gut, ich greife hinein, mag es nun Tinte, Quark oder Syrup sein, aus dem wir die ehrerbietigste Comtesse herausziehen müssen.«

»Mache es endlich zu Ende mit diesem Unsinn! - Wir dürfen uns auch nicht zu einander setzen.«

»Woher soll da die Fühlung kommen?«

»Die wird von Sally besorgt werden.«

»Ah! Ist mir lieb! Solche Fühlung ist angenehmer als Tornister an Tornister, und die Ellbogen dazwischen. Sie glauben also, diesem Mädchen vertrauen zu dürfen?«

 »Ich hoffe es und werde sie noch ein Wenig bearbeiten.«

»Mit Fühlung?«

»Unsinn über Unsinn! Hast Du die Revolver geladen?«

»Alle vier. Dort auf dem Tische liegen sie und daneben die beiden Todtschläger.«

»Das ist gut, sehr gut. An sie habe ich gar nicht gedacht, obgleich sie viel praktischer sind als Schießwaffen. Mit ihnen läßt sich ganz unhörbar arbeiten, während die Revolver trotz des nicht sehr schrecklichen Geräusches, welches sie verursachen, uns doch verhängnißvoll werden können.«

»Wahr, sehr wahr! Wir befinden uns heute zwar auf sehr guten, braven und lobenswerthen Wegen; aber dennoch ist es immer besser für uns, unbemerkt zu bleiben. Die Polizei würde uns zwar zu Hilfe kommen, uns vielleicht ein Verdienstdiplom ausfertigen lassen, aber sie könnte doch wohl auch einige unbequeme Fragen an uns thun, welche am Besten unausgesprochen bleiben.«

»Was das betrifft, so brauchen wir solche Fragen ganz und gar nicht zu fürchten. Ich bin mit ausgezeichneten Legitimationen versehen und stehe unter sicherem Schutze.«

»Das beruhigt mich. Also, ich bin in dieser Kellerkneipe noch niemals gewesen. Darf ich um eine Beschreibung der Räumlichkeiten bitten, damit ich weiß, woran ich bin.«

»Sobald Du die Stufen hinabkommst, trittst Du in das eigentliche Schanklokal. Dort kann ein Jeder verkehren. Durch eine Thür kommt man dann in einen zweiten Raum, wo sich Stammgäste und andere Bevorzugte aufhalten dürfen. Daran stößt linker Hand ein kleines Seitenkabinet, in welches sich der Wirth mit seinen Vertrauten zurückzuziehen pflegt, wenn er mit ihnen eine wichtige, heimliche Besprechung vorzunehmen hat. Von da aus liegt weiter nach hinten ein Raum, in welchem allerhand Geräthschaften und leere Fässer aufbewahrt werden, und aus welchem eine steinerne Treppe nach dem Hofe und nach dem Innern des Hauses emporfährt. Hier führt nun auch eine starke, mit Eisen beschlagene Thür in den tiefen Hinterkeller hinab.«

»Schön! Und das Innere des Hauses?«

»Ist mir unbekannt. Ich kenne nur ein Zimmer des ersten Stockwerkes, welches nach dem Hofe hinaus liegt, und in dem wir zu spielen pflegen.«

»Schön. Wir werden jedenfalls die Laterne mitnehmen müssen.«

»Allerdings. Weiter läßt sich nichts vorbereiten. Wir müssen uns nach dem Augenblicke richten.«

»Und wann brechen wir auf?«

»Sofort.«

»Theilen wir die Revolver?«

»Natürlich! Jeder zwei.«

»Ah! Da fällt mir ein, daß wir doch die Hauptsache vergessen haben. Wenn man mich nun fragt, wer ich bin?«

»Wirklich, wirklich! Daran dachte ich nicht, das ist allerdings ein höchst kitzlicher Punkt. Für einen ehrlichen Kerl darfst Du Dich nicht ausgeben.«

»Das ist mir Wurst wie Haut. Ich habe heut all mein Ehrgefühl verloren und will ein Spitzbube werden.«

»Aber was für einer?«

»Wie wäre es, wenn ich mütterlicher Seits ein Urenkel vom Schinderhans und väterlicher Seits ein Großenkel des bayrischen Hiesel wäre?«

»Laß das Scherzen.«

»Ein Paletotmarder?«

»Ist nichts!«

»Ein ausgewiesener Sozialdemokrat aus Sibirien?«

»Unsinn! Du giebst Dir irgend welchen Namen und bist nach der Hauptstadt gekommen, weil Du - - -«

»Weil - ah, da fällt mir es ein,« unterbrach ihn der Diener. »Sie erzählten ja, daß Franctireurs angeworben werden sollen! Ich bin also nach Paris gekommen, weil ich munkeln gehört habe, daß man hier Leute suche, welche zu diesem Geschäfte passen.«

»Das mag gehen!«

»Gut, so gehe ich auch! Adieu, Monsieur Belmonte!«

Er ging zur Thür hinaus, wohlgemuth und trällernd, als ob es sich darum handle, eine Vergnügungsparthie anzutreten.

Sein Herr folgte ihm bald. Er hatte die Revolver eingesteckt, den Todtschläger und das Laternchen ebenso. Er begab sich zunächst nach seiner zweiten Wohnung, in deren Nähe er die Haartour anlegte und den tänzelnden Schritt annahm.

Als er stolz an dem Portier vorüberging, murmelte dieser ärgerlich in den Bart:

»Dieser Mensch kann nicht grüßen! Gestern Abend fort und jetzt erst wieder zurück! Wo mag sich der Kerl herumtreiben. Da lobe ich mir seinen Nachbar, welcher seit gestern Abend noch nicht ausgegangen ist. Jetzt nun wird er wohl ein Wenig Luft schöpfen. Es ist ihm das zu gönnen.«

Wirklich kam dieser scheinbare Nachbar in seiner Blouse gekleidet, bereits nach einigen Minuten herab.

»Spazieren, Monsieur?« fragte der Portier freundlich.

»Ja, mein Lieber. Aber nicht lange. Man hat zu arbeiten.«

»Sie scheinen mit Ihrem Nachbar gar nicht zu sympathisiren?«

»Wieso?«

»Wenn er kommt, so gehen Sie und wenn Sie kommen, so geht er.«

»Wir sprechen allerdings gar nicht mit einander. Auf Wiedersehn!«

»Wiedersehn!«


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Als Belmonte - denn dieser war es wirklich - in den Schankkeller trat, saßen nur zwei Gäste in dem vorderen Raume. Er kannte sie nicht. Sollte Martin so zuversichtlich gewesen sein, sogleich in die nächste Abtheilung getreten zu sein, aus welcher ein wüstes Schreien und Lachen herausscholl?

Eine Kellnerin war auch nicht vorhanden. Beide waren wohl augenblicklich beschäftigt. Bald aber trat Sally ein, welche sich außerordentlich freute, als sie ihn erblickte. Er hatte sich in die Ecke zurückgezogen, in welcher er gestern mit ihr gespielt hatte und verlangte eine Flasche Wein. Nachdem sie ihm dieselbe gebracht hatte, nahm sie an seiner Seite Platz.

»Hast Du denn Zeit, heute hier zu sitzen?« fragte er.

»Warum nicht?«

»Weil darin viele Gäste zu sein scheinen. Da gilt es, aufmerksam zu bedienen.«

»Gerade deshalb kann ich abkommen. Heute giebt es viel Trinkgeld; da sieht es Betty gern, wenn ich ihr allein die Gäste überlasse.«

»Viel Trinkgeld? Was ist denn los?«

»Es werden Rekruten für die Franctireurs gemacht. Man trinkt nur Wein.«

»Giebt es denn Leute, welche sich anwerben lassen?«

»Ja. Der Emissär des alten Capitäns ist tagsüber sehr thätig gewesen. Jetzt nun kommen sie nach und nach herbei. Der Letzte kam vor kaum einer Viertelstunde und sitzt nun auch bereits bei ihnen.«

»Kennst Du ihn?«

»Nein. Er wurde gefragt. Es ist ein relegirter Student der Weltweisheit aus Tours. Er hat bereits mit Allen Brüderschaft getrunken und zu diesem Zwecke ein ganzes Dutzend Wein gegeben. Bei jedem Schlucke singt er eine lateinische Strophe. Horch, da wieder!«

Der Changeur lauschte und hörte die Worte:

»Bos bos dicetur, terris ubicunque videtur.«

»Was heißt das?« fragte das Mädchen.

»Kommt ein Ochs in fremdes Land, wird er gleich als Rind erkannt.«

»Sonderbar! Diese Studenten sind eigenthümliche Menschen. Er ist überhaupt ein hübscher, allerliebster Junge!«

Der Changeur hatte die Stimme Martins erkannt. Dieser wollte ihm jedenfalls hören lassen, wo er sich eben befinde.

»Gefällt er Dir?«

»Nicht so, wie Du,« antwortete sie.

»Schmeichelkätzchen! Wo ist der Wirth?«

»In der Seitenstube. Brecheisen, Dietrich und noch Drei sitzen bei ihm. Sie trinken schweren Wein und scheinen über außerordentliche Geheimnisse zu verhandeln. Vater Main bedient selbst. Weder ich noch Betty darf hinein.«

»Hat man gestern oben noch gespielt?«

»Nein. Aber bemerkt habe ich, daß man irgend Etwas durch das Hofthor gebracht hat.«

»Jedenfalls Waare?«

»Hm!« brummte das Mädchen nachdenklich.

»Nicht?« fragte er so unbefangen wie möglich.

»Ich darf nichts sagen.«

»Pah! Wer zwingt Dich zum Schweigen?«

»Der Wirth.«

»Ich denke, Du willst fort von hier?«

»Kann ich denn, bei den Schulden, die ich vorher an Vater Main zu bezahlen hätte? Fortzukommen wär mir nur dann möglich, wenn Du es gestern ernst gemeint hättest.«

»Ich habe es ernst gemeint, Sally. In solchen Sachen treibe ich niemals Scherz.«

»Mein Gott! Wie glücklich würde ich sein!« flüsterte sie, indem ihre Augen aufleuchteten. »Bist Du denn wohlhabend?«

»Hm, für eine gute Freundin habe ich immer einige Franken übrig.«

»O, es ist mehr als nur einige Franken!«

»Wieviel bist Du schuldig?«

»Ueber dreihundert. Und wenn ich zu meinem Bruder will, brauche ich doch auch noch einiges Geld. Also vierhundert Franken. Hätte ich sie, so könnte ich ein braves, ehrliches Mädchen werden. Nun aber ist dies doch unmöglich.«

»Man darf nicht verzweifeln. Vierhundert Franken würde ich wohl noch für Dich zusammenbringen.«

Da fuhr sie schnell nach seiner Hand, faßte dieselbe und sagte:

»Ist's wahr, ist's wahr? O, welch ein Glück! Ich wollte Tag und Nacht arbeiten, um Dir diese Summe einst zurückzahlen zu können.«

»Ich schenke sie Dir - oder vielmehr, Du könntest unter Umständen noch mehr erhalten.«

Sie blickte ihn ganz erstaunt an.

»Noch mehr? Das ist doch nur Scherz. Sei aufrichtig mit mir, lieber Arthur.«

Er ließ ihr seine Hand, rückte noch ein Wenig näher an sie heran und antwortete:

»Ich will aufrichtig sein. Ich habe einen Freund, einen reichen, sehr reichen Mann, der sich freuen würde, wenn Du ein gutes Mädchen werden wolltest. Er würde Dir geben, was Du zum Eintritte in ein besseres Leben bedarfst, nur aber müßtest Du ihm beweisen, daß es Dir wirklicher, voller Ernst ist.«

»Wie gern, wie gern würde ich ihm das beweisen. Aber wie soll ich dies anfangen?«

»Das möchte ich Dir gern sagen, wenn ich nur wüßte ob ich mich auf Dich verlassen kann.«

»Ist es etwas Unrechtes?«

»O nein, sondern im Gegentheile etwas sehr Lobenswerthes.«

»So werde ich es thun.«

»Ich bezweifle es noch, obgleich es Dir vielleicht tausend Franken einbringen könnte.«

Sie legte die Hände zusammen wie Jemand, dem man etwas Erstaunliches, Unbegreifliches gesagt hat.

»Tausend Franken! Ist das wahr?«

»Ja, gewiß!«

»So sage mir schnell, was ich machen soll!«

»Hast Du heute die Zeitung gelesen?«

»Nein. Vater Main leidet das nicht.«

»Hast Du auch nicht gehört, was in den Zeitungen gestanden hat?«

»Nein.«


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»Nun, ich will Dir einmal mein ganzes Vertrauen schenken. Du brummtest vorhin so eigenthümlich, als ich fragte, ob es Waare sei, welche man gestern Abend durch das Hofthor gebracht habe. Was hat dieses Brummen zu bedeuten?«

Da legte sie ihm die Hand auf die Schulter so, daß sie ihren Mund seinem Ohre nähern konnte und antwortete:

»Auch ich will aufrichtig sein. Es war keine Waare.«

»Was denn?«

»Eine Person.«

»Weißt Du das genau?«

»Sehr genau. Ich weiß sogar, daß es ein Frauenzimmer ist.«

Der Changeur konnte seine Freude kaum verbergen, doch zwang er sich zu einem möglichst gleichgiltigen Tone, in welchem er vor sich hinbrummte:

»Eigenthümlich! Vater Main wird Besuch bekommen haben. Vielleicht eine Verwandte.«

»O nein! Ich war neugierig und schlich mich hinauf, als er seinen Mittagsschlaf hielt. Ich lauschte an der Thür, die mit zwei starken Hängeschlössern verschlossen ist, und da hörte ich ein leises Weinen. Es war die Stimme eines Frauenzimmers.«

»Hast Du nicht angeklopft und gefragt?«

»Das darf ich nicht wagen. Ich bin ebenso leise fortgeschlichen, wie ich gekommen bin.«

Da nahm er, ungesehen von den beiden anderen Gästen, einige Scheine aus der Tasche, zeigte sie ihr und sagte:

»Siehe hier diese fünfhundert Franken! Die könntest Du sofort als Dein Eigenthum einstecken, wenn Du mir einen Gefallen thun wolltest.«

Ihre Augen wurden größer. Es wurde ihr hier eine Summe geboten, wie sie eine solche noch niemals besessen hatte, und doch schob sie die Hand Belmontes zurück und sagte:

»Mein lieber Arthur, ich bin ein ungutes Geschöpf geworden, halb mit, halb ohne mein Verschulden. Ich bin die Sklavin des Vaters Main; ich darf nicht auf die Gasse, nicht in den Hof; ich habe keinen Willen und kein Recht. Ich sehe, wie glücklich Andere sind und möchte es auch gern sein. Die Summe, welche Du mir bietest, könnte mich retten, denn wenn ich meine Schuld an den Wirth bezahle, bin ich frei. Aber ich habe nach unserer gestrigen Unterredung mir selbst das heilige Versprechen gegeben, nichts Unrechtes mehr zu thun. Dieses viele Geld kann man nur durch ein Unrecht so leicht und schnell verdienen. Ich bitte Dich, es zu behalten.«


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Er sah, welche Ueberwindung ihr dieser Entschluß verursachte und fühlte sich im Herzen tief gerührt.

»Du irrst, liebe Sally,« antwortete er. »Ich verlange kein Unrecht von Dir. Es wäre ganz im Gegentheile eine Sünde oder gar ein Verbrechen, wenn Du mir meinen Wunsch nicht erfüllen wolltest. Ich bin Dir gut, wenn ich auch nicht von Liebe reden will, ich glaube Deiner Versicherung, daß Du gern ein anderes, besseres Leben beginnen möchtest; ich habe Vertrauen zu Dir und weiß, daß Du das, was ich von Dir erbitten möchte, auch ohne Bezahlung thun würdest. Ich biete Dir das Geld nur deshalb an, damit Du überzeugt sein kannst, daß Du, wenn Du das Gute beginnst, nicht wieder zum Bösen zurückzukehren brauchst.«

»Ist das wahr? Ist das wahr?« fragte sie.

»Ich will Dein Glück. Glaube es mir.«

»Gut, ich will es glauben! Was soll ich thun, Arthur?«

»So höre! Es ist gestern eine Dame geraubt worden, die Enkelin eines Grafen und Generales. Ich vermuthe, daß sie sich hier im Hause befindet. Die Polizei suchte bisher vergebens nach ihr, wird sie aber noch finden, und dann wird das Verderben auch Dich mit erfassen.«

»Gott, ich weiß ja gar nichts davon! Warum hat man sie geraubt?«

»Um ein Lösegeld zu erpressen.«

»So haben es die Fünf gethan, welche jetzt bei dem Wirth draußen sitzen.«

»Ja, sie sind es. Man muß ihnen ihr Opfer entreißen. Gelingt dies mit Deiner Hilfe, so darfst Du auf eine hohe Belohnung rechnen.«

Sie blickte lange schweigend vor sich nieder. Er sah es ihr an, daß ihr Inneres sich in großer Aufregung befand. Endlich sagte sie leise:

»Vater Main würde sich fürchterlich rächen.«

»Das kann er nicht. Er wird unschädlich gemacht.«

»Ich fürchte die Polizei.«

»Diese soll ja gar nicht dabei sein.«

»Wie soll man die Dame sonst aus dem Hause bringen?«

»Das zu entwerfen wird Deine Aufgabe sein.«

»Es geht nicht. Sobald der Wirth merkt, daß sie fort ist, würde es mir traurig ergehen.«

»Du sollst ja dieses Haus mit ihr verlassen.«

Da erhob sie schnell den Kopf und fragte:

»Ihr wollt mich mitnehmen?«

»Natürlich.

»Und für mich sorgen? Ich meine, dafür sorgen, daß der Wirth sich nicht an mir rächen kann?«

»Ja. Entschließe Dich. Die Zeit drängt.«

»Arthur, ich möchte gern. Aber wenn wir ertappt werden!«

»Ich bin bewaffnet und habe einen Gehilfen mit.«

»Wer wäre das?«

»Der relegirte Student da draußen. Er ist mein Diener.«

»Dein Diener? Hast Du, der Changeur, einen Bedienten?«

Er nickte ihr lächelnd zu und antwortete:

»Ich bin kein Changeur, kein Verbrecher. Ich habe das nur gesagt, um hier ungestört sitzen zu können. Wenn Du thust, was ich von Dir erbitte, so stehst Du unter einem sichern Schutze, mein liebes Kind.«

Da zog sie seine Hand an ihre Lippen, blickte ihn verklärten Auges an und fragte:

»So bist Du wohl ein vornehmer Herr?«

»Was ich bin, wirst Du sehr bald erfahren; hier aber ist zu solchen Mittheilungen nicht der richtige Ort. Aus meiner Aufrichtigkeit aber mußt Du sehen, welches Vertrauen ich zu Dir habe.«

»Ja, ich sehe es. Und das macht mich glücklich. Sei wer Du immer seist. Ich liebe Dich und darum schmerzte es mich, Dich unter den Verbrechern zu wissen. Wenn ich von Dir träumte, erschienst Du mir als hoch und rein und nun ist dieser Traum zur Wirklichkeit geworden. Ja, Arthur, ja, ich bin bereit, zu thun, was Du von mir verlangst. Aber beantworte mir vorher eine Frage. Liebst Du die verschwundene Dame?«

Er erschrak fast über diese Frage. Aber es widerstrebte ihm, ein Wesen, welches begonnen hatte sich aus dem Schmutze empor zu ringen, durch eine Unwahrheit wieder in denselben hinabzustoßen. Er wagte viel, aber er wagte es doch, indem er antwortete:

»Ja, Sally, ich liebe sie.«

»Weiß sie es?«

»Nein.«

Sie war bleich, sehr bleich geworden. Sogar aus ihren Lippen war die Farbe gewichen, und auch in ihren Augen schimmerte es feucht, als sie stockend sagte:

»Ja, mich konntest Du nicht lieben. Aber daß Du mir Deine Liebe gestanden hast, ist der größte Beweis Deines Vertrauens. Eine Andere würde sich kränken und ärgern und vielleicht Schlimmes planen; aber Du hast vorhin gesagt, daß Du mir gut seist und das ist fast mehr, als ich verlangen darf. Ja, Arthur, ich werde Dir helfen. Ich werde sogar das Leben wagen, um Dir die heimlich Geliebte zu retten: aber ich thue es nicht für Geld; ich nehme nichts von Dir. Aber wenn es uns gelingt und Du wolltest mir dann für meine Beihilfe einen - einen Kuß, einen einzigen Kuß geben - Arthur, ich verlange ihn nicht, er soll nicht Bedingung sein; Du darfst ihn mir verweigern; aber dieser Kuß von Dir, der Du kein Verbrecher bist, o, es würde sein, als ob mir mit einem Male alle meine Sünden vergeben wären.«

Er blickte hinüber zu zwei anderen Gästen. Der Eine schlief und der andere stierte betrunken in sein Glas. Sie beobachteten ihn und Sally gar nicht. Da legte er den Arm um sie, zog sie an sich heran und drückte seinen Mund ein, zwei, drei Mal auf ihre Lippen. Sie schloß die Augen und ließ die Arme nieder. So lag sie eine Weile an seinem Herzen. Dann aber öffnete sie die Lider, blickte ihm mit einem langen, unergründlichen Ausdrucke in die Augen und sagte, in ein leises, stilles Weinen ausbrechend:

»Ich danke Dir. Ich komme bald wieder.«

Sie erhob sich und verließ das Zimmer. Er hatte nicht das Gefühl, als ob er sich durch diesen Kuß entehrt hätte; es war ihm vielmehr zu Muthe wie einem Priester, welcher einem Reuigen die Absolution ertheilt hat.

Er brauchte auf ihre Rückkehr gar nicht lange zu warten. Sie trat mit einer Hast ein, daß er sofort erkannte, daß etwas Wichtiges geschehen sei.

»Was ists?« fragte er.

»Um Gotteswillen, was soll da geschehen!« antwortete sie.


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»Ich sah, daß Vater Main einen Schlüssel von seinem Bunde los machte und Brecheisen und Dietrich gab. Diese Beiden sind die Treppe hinaufgegangen.«

»Und der Wirth?«

»Sitzt wieder am Tische bei den anderen Dreien.«

»Was können sie oben wollen?«

»Sie können nur zu der Dame sein.«

»Alle Teufel! So muß ich ihnen nach!«

»Das ist gefährlich!«

»Darnach darf ich nicht fragen. Weiß der Wirth, daß ich hier bin?«

»Noch nicht.«

»Kann er mich sehen, wenn ich an der Thüre vorübergehe?«

»Nein, sie ist zu. Sie haben sie zugemacht, damit Niemand hören soll, was gesprochen wird.«

»Und die Anderen, welche draußen sitzen? Sind viele Bekannte dabei?«

»Nur Einer, der Emissär nämlich, welcher Dich gestern gesehen hat.«

»Er wird mich nicht beachten, wenn ich rasch an ihm vorübergehe. Der Bajazzo, welcher gestern bei uns saß, ist nicht hier?«

»Nein. Er wollte aber noch kommen.«

»Gut. So kann es noch glücken. Gieb dem Studenten einen Wink. Wenn ich zu lange oben bin, so ist Gefahr vorhanden. Er soll mir da zu Hilfe kommen.«

»Aber Du hast kein Licht.«

»Ich habe eine Laterne. Vorwärts!«

Er wollte fort; sie hielt ihn noch für einen Augenblick zurück und fragte:

»Und ich? Was soll ich thun?«

»Das kann ich jetzt nicht wissen. Schicke nur den Student nach und suche dann, uns den Wirth und die Gäste fern zu halten. Wenn ich die Comtesse wirklich oben finde, so kann ich sie unmöglich durch diese Räume entfernen. Giebt es keinen anderen Weg?«

»Hinten zum Hofthore hinaus. Aber da müßte man den Schlüssel haben. Die Mauer ist viel zu hoch.«

»Wo ist der Schlüssel?«

»Vater Main hat ihn am Bunde.«

»Ich muß ihn haben und zwar um jeden Preis und möglichst schnell. Sage das dem Studenten.«

Bei diesen Worten schob er sie von sich und trat in den zweiten Raum. Dort saßen gegen dreißig Personen, lauter Galgengesichter. Sie kannten ihn nicht und waren übrigens so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß sie ihm nicht die mindeste Aufmerksamkeit schenkten. Er gelangte unaufgehalten an ihnen vorüber in den dritten Raum, von welchem aus die Treppe emporführte.

Nur Martin allein hatte seinen Herrn scharf angesehen und im Vorbeipassiren von ihm einen Wink hin nach der Kellnerin erhalten, welche unter der geöffneten Thüre stand. Er erhob sich, näherte sich ihr, schob sie in die vordere Stube zurück und zog die Thüre hinter sich an. Er bemerkte sofort, daß er den Schläfer und den Betrunkenen gar nicht zu berücksichtigen brauche.

»Haben Sie sich mit dem Herrn unterhalten, welcher soeben hier hinausging?« fragte er das Mädchen.

»Ja,« antwortete sie schnell. »Sie sind doch sein Diener?«

»Ah, er hat sich Ihnen anvertraut?«

»Ich weiß Alles.«

»Werden Sie uns helfen?«

»Ganz gewiß. Ich glaube wirklich, daß die Dame oben steckt. Zwei der Räuber sind hinauf zu ihr, und Monsieur Arthur ist ihnen nach. Sie sollen schnell folgen und den Schlüsselbund mitbringen, welchen der Wirth am Schürzenbande trägt.«

Martin stieß ein kurzes, leises Lachen aus und meinte:

»So! Also den Schlüsselbund am Schürzenbande. An dieser Schürze aber hängt unglücklicher Weise eben der Wirth, der es sich nicht gefallen lassen wird, wenn ich ihn bitte, das Band aufknüpfen zu dürfen. Alle Wetter! Den Schlüsselbund am Schürzenbande! Als ob das so etwas ganz und gar Leichtes und Einfaches sei!«

»Auch ich weiß da keinen Rath!« sagte sie ängstlich.

»Auch Sie nicht?« fragte er nachdenklich. »Hm, da muß ich sehen, daß ich Rath bei mir selbst finde.«

»Aber eilen Sie, eilen Sie!«

»Warum? Wie viele sind hinauf?«

»Zwei.«

»O, dann hat es keine so sehr große Eile. Mit Zweien wird dieser verteufelte Monsieur Arthur schon fertig werden. Sagen Sie mir lieber, auf welche Weise die Dame aus dem Hause gebracht werden soll.«

»Hinten zum Hofthore hinaus. Hier hindurch ist es unmöglich. Ich soll auch mitgehen.«

»Sie auch? Das dachte ich mir. Der heutige Abend wird zu Ihrem Glücke sein. Lassen Sie uns also überlegen! Die Schürze hängt am Wirthe, das Band an der Schürze, der Bund am Bande und der Schlüssel zum Hofthore wohl am Bunde?«

»Ja, freilich, Monsieur. Aber beeilen Sie sich doch, sonst könnte Ihrem Herrn ein Leid geschehen!«

Er sah ihr ruhig in die angstvollen Züge und antwortete:

»Ein Leid? Welche Sorte von Leid meinen Sie denn?«

»Wenn sie ihn sehen, werden sie ihn ganz gewiß tödten!«

»Tödten? Ah pah! Dieser Monsieur Arthur nimmt es schon mit diesen Banditen auf! Der Thorschlüssel hängt also am Schlüsselbunde, dieses am Schürzenbande, dieses an der Schürze und diese an dem Wirthe; also, wer den Schlüssel haben will, der muß vorher den Wirth haben. Nicht?«

»Mein Gott,« klagte sie, »ich begreife Sie nicht! Mir ist es nicht wie Scherz zu Muthe!«

»Mir auch nicht, denn ich habe mir zu überlegen, wie ich nun zum Wirthe komme. Ah, vielleicht habe ich's! Ihre Kollegin hat uns den Wein aus dem Keller gebracht. Giebt es denn da unten nicht eine Sorte, welche der Wirth unter seiner eigenen Aufsicht hat?«

»Ja. Es ist der Champagner.«

»Schön! Bestellen Sie mir ein halbes Dutzend von diesem Gemisch; aber schnell, weil Sie solche Eile haben.«

»Was wollen Sie thun?«

»Das werden Sie sehen. Passen Sie auf. Ich folge dem Wirth in den Keller. Wenn ich wieder heraufkomme, müssen Sie an der Treppe bereit stehen, mir nach oben zu


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folgen, natürlich mit einer Lampe. Nehmen Sie mit, was Sie hier haben und augenblicklich brauchen; denn Sie werden in diesem Paradiese hier nicht wieder Engel sein.«

Er kehrte wieder in den andern Raum auf seinen Platz zurück. Sally zitterte vor Angst und Aufregung. Sie trat in das Seitengemach, in welchem der Wirth mit seinen drei Complicen saß und meldete, daß sechs Flaschen Champagner bestellt worden seien. Er erhob sich, um den Wein selbst zu holen.

Kaum hatte er die dritte Abtheilung betreten, so folgte ihm Martin. Er sah ihn eben noch mit dem Lichte in der Tiefe des Kellers verschwinden. So leise und vorsichtig wie möglich folgte er ihm. Auf der Sohle des Kellers angekommen, sah er ihn in der hintersten Ecke kauern, um die Flaschen aufzunehmen. Er zog den Todtschläger hervor, schlich sich hinzu und versetzte dem nichts Ahnenden einen Hieb auf den Kopf, daß er sofort zusammenbrach.

»So, lieber Papa Main,« murmelte er. »Todt bist Du nicht, aber eine Weile wirst Du doch suchen müssen, ehe Du den ersten Gedanken findest. Bis dahin leihe ich mir dieses Schlüsselbund. Später kannst Du es Dir vom Thore holen.«

Er band die Schlüssel los, verlöschte das Licht und tappte sich wieder hinauf. Droben in der dritten Abtheilung, deren Thür nicht geöffnet war, erwartete ihn Sally mit einer Lampe in der Hand. Sie sah die Schlüssel und fragte bestürzt:

»Wo aber ist der Wirth, Monsieur?«

»Er studirt das große Einmaleins. Wenn er es auswendig kann, kommt er herauf. Jetzt vorwärts!«

Droben, wo die Treppe in die Hausflur mündete und man von da aus in den Hof und nach den Stockwerken gelangen konnte, war eine Thür angebracht.

»Kann man diese Thür verschließen?« fragte Martin leise.

»Ja. Der Schlüssel dazu hängt auch am Bunde, welches Sie hier haben.«

»So wollen wir zuschließen, damit uns die Rotte Korah, Dathan und Abiram da unten nicht zu folgen vermag. Dann aber rasch hinauf!« -

Vorher war Belmonte dieselbe Treppe emporgestiegen. Im Flur angekommen, hatte er seine Laterne angebrannt und beim Scheine derselben sehr leicht die weiter empor führenden Stufen gefunden. Obgleich ihm die Augenblicke kostbar erschienen, schritt er doch nur langsam weiter. Das Haus war alt. Die Treppensteine bröckelten, und die Diele des Corridors bestand aus Brettern, welche aus den Fugen gegangen waren und sehr leicht ein kreischendes Geräusch verursachen konnten. Das mußte vermieden werden.

Er gelangte an die zweite Treppe und es war ihm, als ob er da oben sprechen höre. Er steckte die Laterne ein, um sein Nahen nicht zu verrathen und tastete sich im Finstern empor. Ja, als er den oberen Corridor erreichte, erblickte er an der rechten Seite ein Lichtviereck, welches dadurch hervorgebracht wurde, daß in einem gegenüber liegenden Raume, welcher geöffnet war, eine Lampe brannte. Er war am Ziele angelangt.

Leise, ganz leise, Schritt für Schritt bewegte er sich vorwärts, bis er hinter der offenen Thüre stand und zwischen dieser und dem Thürgewände hindurchblicken konnte.

Da stand sie, oder vielmehr sie hing vor Ermattung in ihren Fesseln. Die Augen waren geschlossen, die Wangen bleich, ja fast weiß wie Gyps. Vor ihr standen Brecheisen und Dietrich, ihre Tabakspfeifen rauchend und die Schönheiten dieses nur halb verhüllten Körpers mit gierigen Augen verschlingend. Dabei warfen sie sich Bemerkungen zu, welche die Gefangene nicht zu verstehen schien, da ihr Aussehen vermuthen ließ, daß sie ohnmächtig sei.

»Denkst Du wirklich, daß wir sie für hunderttausend Franks hingeben?« fragte Brecheisen.

»Fällt keinem Menschen ein!« antwortete der Andere.

»Der Alte muß bluten, bis wir sein ganzes Vermögen haben. Und dann -!«

»Was dann -?«

Er schnalzte mit der Zunge, schnippste mit dem Finger und sagte:

»Dann wird sie unsere Frau.«

»Dann erst? Warum nicht jetzt schon? Schau her, ich werde ihr einen Kuß geben, ich, einer Gräfin! Donnerwetter! Das ist auch noch nicht dagewesen!«

Er trat ihr näher, um seine Absicht auszuführen. Da aber zeigte es sich, daß sie doch nicht besinnungslos gewesen war. Sie war schwach, todesmatt, und gegen die Blicke dieser Buben hatte sie kein anderes Mittel gehabt als dasjenige des kleinen Käfers, welcher sich todt stellt, sobald er sich in Gefahr befindet. Vertheidigen kann er sich ja nicht. Sie hatte also die Augen geschlossen, um die Blicke nicht zu fühlen und den Seelenschmerz, welchen dieselben hervorrufen mußten. Aber sie hörte, was gesprochen wurde; sie vernahm, daß sie geküßt werden solle, geküßt von einem solchen Ungeheuer. Das gab ihrem Körper für den Augenblick die verlorene Spannkraft zurück. Sie öffnete die Augen, erhob das Köpfchen und rief:

»Zurück, Teufel! Dein - -«

Sie sprach nicht weiter, denn hinter den Beiden tauchte eine Gestalt auf, welche einen Todtschläger in der Hand trug. Der Schein der Lampe fiel hell auf diesen Mann. Welch ein Gesicht! Sie kannte es. Sie hatte es gesehen, gesehen in der Oper und es dann nicht wieder aus ihrem Gedächtnisse und aus ihrem - - Herzen gebracht. Ihr Athem stockte, und ihre Pulse flogen. Sie wußte nicht, war es Schreck, fürchterlicher Schreck, oder ein unendliches Entzücken, in Folge dessen die Sprache ihr versagte.

»Teufel?« lachte der Schurke höhnisch auf. »Nun, mit so einer Teufelin muß es schön sein, Teufel zu sein.«

Er streckte die Arme aus.

»Halt!« ertönte es hinter ihm. Die Beiden fuhren erschrocken herum. Belmonte hatte, sich anders besinnend, die Thüre herangezogen und die Hände in die Taschen gesteckt, so daß man den Todtschläger nicht sehen konnte.

»Der Changeur!« rief Brecheisen.

»Donnerwetter, der Changeur!« fluchte auch Dietrich. »Was willst Du hier? Wer hat Dir erlaubt, nach oben zu kommen?«

»Ich selbst habe mir die Erlaubniß gegeben, um Euch zu sagen, daß in einer halben Minute hier zwei Leichen liegen werden.«

»Ah! Wer?«

»Ihr Beide!«


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»Mensch, was fällt Dir ein? Oder hast Du Dich etwa als Spion uns nachgeschlichen?«

»Nicht als Spion, sondern als Euer Richter. Ihr sollt an der Herrlichkeit sterben, welche Eure Augen hier entheiligt haben. Fahrt zur Hölle, über welche Ihr vorhin gelacht habt!«

Ein rascher Schritt zu ihnen hin, ein Aufschrei der Gefangenen und zwei fürchterliche, blitzschnelle Hiebe mit dem Todtschläger - Belmonte hatte sein Wort erfüllt; zwei Todte lagen mit total zerschmetterten Schädeln am Boden.

Jetzt wendete er sich zu der Comtesse zurück. Das Letztere war zu viel für sie gewesen. Ihre Fesseln waren scharf angespannt, sie hing ohnmächtig an denselben. Er zog sein Messer hervor, öffnete die feine, scharfe Klinge und zerschnitt die Stricke. Die Gestalt der Besinnungslosen festhaltend, ließ er sie langsam niedergleiten.

Erst jetzt sah er die Zerstörung ihres Anzuges in ihrer ganzen Vollständigkeit. Das Blut stieg ihm nach oben; er fühlte sein Herz laut klopfen beim Anblicke einer so unvergleichlichen Fülle von Schönheit; aber er wendete sich weg, trat hinaus und schob die Thür heran.

Er nahm die Revolver zur Hand. Es war ihm zu Muthe, als ob er Englands Kronjuwelen, als ob er alle Schätze der Erde zu bewachen habe.

War unten Alles nach Wunsch gegangen? Oder war der Anschlag verrathen worden? Leichte Schritte kamen zur Treppe herauf; der Schein eines Lichtes ging ihnen voran. Waren es Feinde, oder war es Martin? Der Changeur war entschlossen, die Comtesse im ersteren Falle bis zum letzten Blutstropfen zu vertheidigen. Da, da blickte Martins Kopf vorsichtig hinter der Treppenecke hervor.

»Heda! Wer ist das dort?« fragte er, indem er zu gleicher Zeit die Hand mit dem gespannten Revolver zeigte.

»Ich, Martin,« antwortete sein Herr, erleichtert aufathmend.

»Sie selbst, Monsieur? O weh! Ich dachte, ein wenig in Bewegung kommen zu können! Sind die Beiden futsch?«

»Ja.«

»Vollständig?«

»Sie wachen nicht wieder auf.«

»Das ist unangenehm. Ich hätte so gern ein Bischen nachgeholfen.«

»Ah, da kommt Sally mit! Wie steht es unten?«

»Sehr gut. Der Wirth ist auch futsch, aber blos halb, und die Gäste sind eingeschlossen. Hier ist der Schlüsselbund, den ich Ihnen bringen sollte.«

»Wie hast Du es angefangen, ihn zu bekommen?«

»Davon später! Wie steht es mit der Comtesse?«

»Sie ist ohnmächtig. Nach Wasser zu gehen, haben wir keine Zeit; wir dürfen keinen Augenblick länger als nöthig verweilen. Sally, wo ist Ihre Stube?«

»Hier vorn, die erste Thür.«

»Offen?«

»Ja.«

»Haben Sie vielleicht einen Mantel oder ein Tuch?«

»Ein Umschlagetuch.«

»Bringen Sie es schnell.«

»Was soll ich noch mitnehmen?«

»Gar nichts. Sie werden alle Ihre Sachen später gewiß erhalten.«

Das Mädchen eilte fort, stolz darauf, daß er sie jetzt mit dem ehrbaren »Sie« angeredet hatte.

Sally war zurückgekehrt. Er nahm ihr das Tuch aus der Hand, ging zu der Besinnungslosen hinein, hüllte sie in dasselbe und nahm sie auf seine Arme.

»Sie leuchten, Sally, und Du öffnest mit dem Schlüssel!« gebot er.

So gelangten sie hinunter in den Flur. Dort blieb der voranschreitende Martin stehen und lauschte.

»Im Keller ist man noch nichts gewahr geworden, wie es scheint,« sagte er. »Wollen sehen, ob wir den Schlüssel zu dieser Hofthür auch mit haben.«

Während er suchte und probirte und Sally ihm leuchtete, war es Belmonte, als ob die Comtesse sich bewegt hätte. Er näherte seinen Kopf dem ihrigen und sah, daß ihre Augen offen standen. Er hätte gern ein Wort zu ihr gesprochen, zog es aber doch vor, zu schweigen.

Da endlich gelang es Martin, zu öffnen. Ein Lufthauch kam ihnen entgegen und verlöschte die Lampe.

»Schadet nichts,« meinte Martin. »Werfen Sie den alten Gasometer weg, Sally. Ich gehe voran. Da vorn ist das Thor.«

Die Andern folgten ihm. Sie hatten aber kaum einige Schritte gethan, so stieß Martin einen lauten Schrei aus. Man hörte einen Fall und dann ein tiefes, zorniges Knurren.

»Mein Gott! Der Hund!« rief Sally.

»Giebt es hier einen Hofhund?« fragte Belmonte.

»Ja; ich habe gar nicht an ihn gedacht. Er ist eine fürchterliche Bestie.«

»Locken Sie ihn an sich! Er wird Sie doch kennen.«

»Er gehorcht mir so wenig wie jedem Fremden. Herr Jesus, er hat Monsieur Martin niedergerissen und gestellt.«

Es war so, wie sie sagte. Martin lag an der Erde. Der Hund stand mit gefletschten Zähnen über ihm.

»Rühren Sie sich nicht!« warnte Sally. »Er zerbeißt Ihnen sonst die Kehle!«

»Das ist schlimm!« sagte Belmonte. »Wir können doch diese Kerls da drin im Keller nicht über uns kommen lassen.«

Er ließ seine süße Last langsam zur Erde gleiten und bückte sich selbst auch möglichst weit nieder, um bei der im Hofe herrschenden Finsterniß den Hund erkennen zu können.

»Sie wollen sich doch nicht etwa an den Hund wagen?« fragte die Kellnerin.

Er antwortete nicht; aber einen Augenblick später hörte man ein böses Knirrschen, ein Krachen wie von Knochen und ein fürchterliches Heulen, welches aber rasch in ein ersterbendes Röcheln überging.

»Jesus Maria!« klagte Sally. »Jetzt bringt er Beide um!«

»Nein,« ertönte die Stimme Martins; »sondern wir Beide haben ihn umgebracht. Wo sind denn die Schlüssel? Ah, hier liegen sie. Nun aber rasch auf und hinaus!«


Ende der sechsundfünfzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Die Liebe des Ulanen

Karl May - Leben und Werk