Lieferung 99

Karl May

12. Juli 1884

Waldröschen
oder
Die Rächerjagd rund um die Erde.

Großer Enthüllungsroman
über die
Geheimnisse der menschlichen Gesellschaft

von

Capitain Ramon Diaz de la Escosura.


// 2353 //

»Bei mir.«

»Wo?«

»Hier im Kloster.«

»Gott sei Dank!« athmete Cortejo auf. »Sie befinden sich hier?«

»Freilich!«

»So ist mir eine große Sorge vom Herzen. Kann ich sie sprechen?«

»Natürlich, Sennor!«

»So holt sie herbei, aber rasch!«

»Nur nicht so sehr hitzig, Sennor!« meinte der Pater. »Ich darf sie nicht nach diesem Zimmer bringen.«

»Warum nicht?«

»Denkt Ihr etwa, ich bewohne dieses Kloster allein? Natürlich darf kein Mensch ihre Gegenwart ahnen.«

»Ah, so sind sie also ganz und gar versteckt?«

»So daß kein Mensch außer mir sie zu sehen bekommt.«

»Wo?«

»Unterirdisch.«

»Pfui Teufel!«

»Es geht nicht anders, Sennor. Uebrigens dürft Ihr Euch unser Unterirdisches ganz und gar nicht grausig vorstellen. Habt Ihr einen kleinen Begriff von dem Leben in früheren Klöstern?«

»Hm! Das sehr wohl.«

»Nun, so werdet Ihr wissen, daß es da unten oft Cabinete gab, welche schöner, besser und bequemer waren, als diejenigen, welche über der Erde liegen. In solchen Räumen sind Euer Bruder und Eure Nichte untergebracht.«

»Sie leiden doch nicht etwa Mangel?«

»Nicht den mindesten. Sie haben im Gegentheile Ueberfluß an Allem, leider aber auch an Langerweile.«

»Da werden wir schon Hilfe bringen. Aber sagt, wie kamt denn Ihr dazu, von den Beiden in das Geheimniß gezogen zu werden?«

»Das ist sehr einfach und hatte doch auch seine ganz besonderen Gründe. Ich muß Euch nämlich sagen, daß ich keineswegs ein Freund des Grafen Ferdinando de Rodriganda bin. Ich habe mit ihm eine sehr alte und ebenso bedeutende Rechnung abzumachen. Es ist mir dies niemals gelungen, obgleich ich mich darnach gesehnt habe wie die Seele im Fegefeuer nach Erlösung. Euer Bruder aber hat mir die Erfüllung dieses Wunsches gebracht.«

»Dadurch, daß er Euch zum Mitwisser machte?«

»Ja. Er hatte mit seiner Tochter fliehen müssen. Mein Neffe gehörte zu seinen Anhängern, hatte an seiner Seite gekämpft und ihn und seine Tochter vom Tode errettet. Er verhalf ihnen zur Flucht und brachte sie zu mir.«

»Ah! Ist es so? Da sind wir Euch allerdings zur allergrößten Dankbarkeit verpflichtet.«

»Wenigstens denke ich, Euer Mißtrauen nicht verdient zu haben. Ich gewährte Sennor Pablo und Sennorita Josefa meinen Schutz und verbarg sie vor


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den Verfolgern. Natürlich mußten sie mir diese nennen, damit ich wußte, wie ich mich gegebenen Falles zu verhalten habe -«

»Wer waren diese Verfolger?« fiel Landola ein.

»Zunächst sind da seine politischen Gegner zu nennen, unter denen ich alle Anhänger des Juarez und des Kaisers Max sowie auch alle Franzosen verstehe, aber das sind bei Weitem nicht die gefährlichsten. Zehnmal gefährlicher waren seine privaten Feinde.«

»Und diese waren?«

»Sternau, Mariano, Büffelstirn, Bärenherz und Alle, die zu diesen gehörten.«

»Ah, ja! Sie waren hinter ihm her?«

»Natürlich. Sie hatten Sennorita Josefa ja bereits an einen Baum gehängt. Mein Neffe errettete sie. Da ich selbst eine Rache mit Don Ferdinando abzumachen hatte, was Euer Bruder sehr bald erfuhr, so entschloß er sich, mich in das Vertrauen zu ziehen und mir Alles zu erzählen. Er hat wohl daran gethan.«

»Ich will es glauben,« sagte Cortejo, indem er dem Pater die Hand hinstreckte. »Ich danke Euch! Ihr könnt versichert sein, daß wir uns bemühen werden, Euch unseren Dank auch durch die That zu beweisen.«

»O bitte! Ich brauche nichts. Mein Lohn besteht darin, daß Eure Affaire mir Gelegenheit bietet, meine Rechnung mit dem Grafen endlich einmal quitt zu machen.«

»Aber wo befinden sich Sternau und Consorten?« fragte Landola, auf das Höchste gespannt auf die Antwort.

»Ah, darauf seid Ihr neugierig! Nicht wahr, Sennor?«

»Ungeheuer. Natürlich.«

»Ja, es mag kein geringer Schreck für Euch gewesen sein, als Ihr in Erfahrung brachtet, daß auf jener Insel die Mäuse während der Abwesenheit der Katze entkommen seien.«

»Eine verdammte Geschichte!«

»Ja, diese Geschichte hat mir viele Sorge gemacht und Alles von Neuem über den Haufen geworfen,« meinte auch Cortejo. »Also wo sind diese Menschen jetzt, Sennor?«

»O, gar nicht weit,« antwortete der Pater lächelnd.

»Wohl im Hauptquartiere des Juarez?«

»Nein, sondern in dem meinigen.«

»In dem Eurigen? Was soll das heißen?«

»Nun, könnt Ihr Euch nicht denken, was ich unter meinem Hauptquartiere verstehe?«

»Doch nicht etwa dieses Kloster?«

»Natürlich!«

»Was?« rief Cortejo aufspringend. »Sie befinden sich hier?«

»Ja.«

»Hier bei Euch im Kloster?« fragte Landola, ebenfalls vor freudiger Ueberraschung in die Höhe fahrend.

»Natürlich!«

»Sapperment! Was thun sie da?«


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»Was sollen sie thun? Sie hoffen, daß es ihnen doch einmal noch ebenso gelingen werde wie auf jener Insel.«

»Fliehen zu können vielleicht?« rief Cortejo.

»Wieder frei zu werden etwa?« fragte auch Landola.

Beide hatten den Sinn von den Worten des Paters zugleich errathen.

»Ja, freilich,« antwortete dieser.

»So sind sie gefangen?« jubelte Cortejo.

»Ja.«

»Dank, Dank, tausendfacher Dank sei den Heiligen dafür gewidmet. Wer hat denn dieses Kunststück fertig gebracht?«

»Ich, Sennores,« antwortete der Pater stolz.

»Ihr? Ah, so gebührt Euch noch viel größerer Dank als diesen Heiligen. Aber wie habt Ihr es angefangen?«

»O, das ging eigentlich sehr leicht.«

»Erzählt es. Erzählt es!«

»Da giebt es gar nicht viel zu erzählen. Euer Bruder und seine Tochter waren den beiden Indianerhäuptlingen und diesem Helmers, den sie Donnerpfeil nennen, entkommen. Diese Drei jagten ihnen nach und kamen hierher. Euer Bruder hatte mich inzwischen zu seinem Vertrauten gemacht, und so lockte ich diese drei Kerls in die Falle und steckte sie in eines unserer geheimen Gefängnisse.«

»Prächtig! Prächtig,« riefen die Beiden. »Weiter!«

»Sternau merkte, daß den Dreien etwas geschehen sein müsse und machte sich mit den Anderen auf, um sie zu suchen. Er fand ihre Spur. Er muß überhaupt ein tüchtiger, respectabler Kerl sein.«

»Ja, das ist er, ein verdammt schlauer Kopf und zugleich ein Wagehals sondergleichen. Er kam auch nach dem Kloster?«

»Freilich!«

»Und Ihr stecktet ihn ebenfalls ein?«

»Natürlich!«

»Das war der beste Streich von Euch. Sternau ist die Seele des Ganzen. Fehlt er, so fehlt der Kopf. Weiter.«

»Nun fehlte mir nur noch die Hauptperson.«

»Wer?«

»Der alte Graf.«

»Ah, das ist wahr. Er dürfte nicht wieder nach Mexiko kommen.«

»Er hatte auf Fort Guadeloupe krank gelegen und kam später. Grad als er sich auf der Hazienda del Erina am Sichersten wähnte, sandte ich meinen Neffen hin.«

»Der tödtete ihn?«

»Nein. Ich selbst wollte persönliche Rache. Ich mußte ihn lebendig haben. Mein Neffe mußte ihn bringen.«

»Durch List?«

»Nein, sondern durch Gewalt. Er schlich sich unter einer falschen Vorspiegelung ein, gab dem Alten des Nachts einen Hieb, der ihn besinnungslos machte, und brachte ihn hierher.«


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»Also lebendig?«

»Ja.«

»Und er lebt noch?«

»Natürlich. Er steckt unten bei den Anderen.«

»Das ist herrlich. Das ist prächtig,« jubelte Cortejo. »Also wir dürfen hinab und sie sehen?«

»Das versteht sich, Sennor. Sobald Ihr Eure beiden Verwandten gesehen habt, zeige ich Euch die Gefangenen.«

»Ah, das wird eine Genugthuung. Was werden sie sagen, wenn sie mich sehen.«

»Und mich,« knirschte Landola.

»Die Freude wird allerdings sehr groß sein,« lachte der Pater.

»Also sagt, welche Personen es sind, welche Ihr als Gefangene bei Euch habt.«

Hilario zählte sie auf und erklärte ihnen dabei die Anwesenheit des kleinen André. Landola blickte nachdenklich vor sich nieder und sagte dann:

»Das ist Alles sehr gut. Ihr habt Eure Sache herrlich gemacht, Sennor, leider aber genügt das nicht.«

»Wieso?«

»Es handelt sich nicht nur um die Hauptpersonen. Es ist auch höchst nothwendig, daß keine Zeugen vorhanden sind. Wer von Sternau, Mariano und dem Grafen Ferdinando, oder irgend einem Anderen in das Geheimniß gezogen worden ist, der ist uns ebenso gefährlich wie die Genannten selbst.«

»Ja, was wäre da zu thun?«

»Sie müssen unschädlich gemacht werden.«

»Sie müssen verschwinden, Alle, Alle,« stimmte Cortejo bei.

»Wer wäre das Alles?« fragte der Pater, welcher bei dieser Erwähnung sehr nachdenklich geworden war.

»Denken wir einmal nach,« meinte Landola. »Zunächst die beiden Frauen, welche mit auf der Insel waren.«

»Emma und Karja?«

»Ja. Sodann Petro Arbellez und die alte Maria Hermoyes. Auch gilt zu erforschen, was auf Fort Guadeloupe geschehen ist. Wer dort Mitwisser oder Mitwisserin wurde, muß auch sterben.«

»Da giebt es allerdings viel und neue Arbeit,« meinte Hilario.

»Das ist wahr. Aber damit sind wir leider nicht fertig. Es gilt ferner, einen Eurer Fehler gut zu machen, Sennor.«

»Welchen?«

»Daß Ihr diesen Grandeprise schicktet!«

»Der? O, der weiß nichts!«

»O, er weiß Alles!«

»Er hat von mir kein Wort erfahren.«

»Das mag sein, aber er ist bei uns gewesen und hat uns durchschaut und dann verrathen.«

Diese Angabe war eine wissentliche Lüge. Es kam Landola darauf an, seinen Stiefbruder zu verderben.

»Verrathen?« fragte der Pater. »In welcher Weise denn?«


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»Ihr sollt es hören,« antwortete Landola. »Drüben in Deutschland leben Personen, welche auch Alles zu wissen scheinen -«

»Ah,« fiel Hilario ein, »ich errathe sie.«

»Nun?«

»Gräfin Rosa und alle Verwandten dieses Sternau und Helmers.«

»Richtig. Mit ihnen rechnen wir später ab. Der Sohn dieses einen Helmers ist mit einem Menschen, der sich Geierschnabel nennt und mit einem Dritten herübergekommen, um unsere Geheimnisse aufzudecken. Ich wollte den leeren Sarg des alten Grafen mit einer Leiche versehen. Wir brauchten einen Dritten, und da Ihr diesen Grandeprise geschickt hattet, so glaubten wir, ihm Vertrauen schenken zu können -«

»Welche Unvorsichtigkeit!« rief der Pater.

»Allerdings! Aber es ist nun nicht zu ändern. Grandeprise verrieth uns diesem Helmers. Wir nahmen eine Leiche aus einem Begräbnisse, und als wir grad darüber waren, diese in den Sarg des Grafen zu legen, wurden wir überfallen.«

»Sapperment,« rief der Pater. »Wie gut, daß ich Euch hier sehe!«

»Warum?«

»Nun,« lachte er, »das ist doch der beste Beweis, daß Ihr entkommen seid.«

»Das ist wahr. Aber die ganze Hauptstadt kennt nun die Sache!«

»Verflucht!«

»Und diese verdammten Kerls werden uns bis hierher verfolgen.«

»Wer?«

»Dieser Helmers und seine Genossen.«

»Wissen sie denn, daß Ihr hierher seid?«

»Natürlich!«

»Von wem denn?«

»Von Grandeprise, das versteht sich doch ganz von selbst.«

»Ah, Ihr hattet ihm gesagt, daß Ihr zu mir wollt?«

»Ja.«

»Das ist allerdings fatal, höchst fatal!« sagte der Pater. »Ich kann dadurch in eine schlimme Lage gerathen.«

»Pah! Der Jäger kann gelogen haben.«

»Auf alle Fälle müssen auch diese Kerls verschwinden!«

»Ja, dann fehlt die Handhabe. Außerdem giebt es jedoch noch Zwei, welche wir bisher vergessen haben.«

»Wen?«

»Diesen verfluchten Sir Lindsay und seine Tochter Amy.«

»Ah, den Engländer? Richtig,« stimmte der Pater bei.

»Aber, wo mag er zu finden sein?«

»Auf der Hazienda del Erina.«

»Wirklich?«

»Ja. Mein Neffe war ja dort. Lindsay ist als Begleiter des Juarez dort angekommen.«


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»So scheint die Hazienda das Nest zu sein, in welchem sich die meisten unserer Stechwespen versammeln. Man muß es ergründen.«

»Damit wäre uns nichts geholfen,« entgegnete der Pater. »Die Hazienda ist von großem Umfange und von Stein gebaut.«

»Was aber dann thun?«

»Ich wüßte etwas,« meinte Cortejo.

»Was?«

»Ihr seid ja Arzt, Sennor Hilario.«

»Allerdings. Aber was hat das mit der Hazienda zu thun?«

»Sehr viel. Es müßte Einer hinreiten, grad so, wie es Euer Neffe gemacht hat und - ah, ich weiß nicht, ob das gehen wird.«

»Was?« fragte der Pater mit großer Spannung.

»Wie kocht man auf einer solchen Hazienda? Wohl für Verschiedene auch verschieden?«

Hilario ahnte sofort, was Cortejo meinte.

»Zuweilen essen die Herrschaften anders als die Vaqueros und Dienenden,« antwortete er, »stets aber wird das zum Kochen nöthige Wasser aus dem großen Kessel genommen, der entweder in den Heerd gemauert ist oder an einer Kette über dem offenen Feuer hängt.«

»Das ist gut, sehr gut. So geht also mein Plan auszuführen.«

»Welchen Plan meint Ihr?«

»Es müßte Einer ein Pülverchen in diesen Kessel werfen.«

Beide, Cortejo und Landola, blickten den Pater erwartungsvoll an. Er hielt den Kopf gesenkt und sagte nichts.

»Es müßte doch ein solches Pülverchen geben,« meinte Landola.

»Ah, Gifte giebt es genug,« antwortete Hilario.

»Es müßte eins sein, welches bei der Section nicht nachzuweisen wäre.«

»Auch solche giebt es.«

»Kennt Ihr sie?«

»Ja.«

»Nun, was sagt Ihr dazu?«

»Der Gedanke ist nicht übel, aber die Ausführung, da hapert es. Wen sollte man hinschicken?«

»Ich kann nicht hin,« meinte Cortejo.

»Ich auch nicht,« fügte Landola hinzu. »Diese Amy Lindsay würde mich sofort erkennen.«

»Mich ebenso!«

»Aber meinen Neffen kann ich auch nicht schicken,« sagte der Pater nachdenklich. »Er hat den Grafen geholt.«

»Hm,« brummte Landola, indem er einen prüfenden Blick auf Hilario warf. »Wir dürfen doch Niemand in das Geheimniß ziehen.«

»Unmöglich,« antwortete dieser.

»Einer von uns muß also gehen.«

»Das ist richtig.«

»Wie wäre es mit Euch, Sennor Hilario?«


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Der Gefragte schüttelte den Kopf; aber das Lächeln, welches er dabei nicht zu unterdrücken vermochte, war doch seltsam.

»Oder mit Euch?« fragte er.

»Ich habe meinen Grund gesagt. Man würde mich erkennen.«

»Und ich kann nicht fort von hier. Habt Ihr nicht noch einen kleinen Vorrath von Schminke oder was es ist, mit deren Hilfe Ihr Euer Gesicht verändern könnt?«

»Versehen sind wir allerdings noch damit.«

»Nun, so ist uns doch gleich geholfen.«

»Ihr würdet also das Gift geben?«

»Ja. Aber das besprechen wir schon noch. Jetzt haben wir es mit der Gegenwart zu thun. Wie seid Ihr gekommen? Doch zu Pferde?«

»Ja.«

»Wo seid Ihr abgestiegen? In der Stadt?«

»Nein, im Kloster.«

»So stehen Eure Pferde noch hier?«

»Ja.«

»Hm! Man darf natürlich nicht wissen, daß Ihr hier seid.«

»Werdet Ihr uns ein Asyl geben?«

»Gern.«

»Bei meinem Bruder und meiner Nichte?« fragte Cortejo.

»Ihr werdet mit ihnen zusammenwohnen. Aber wir müssen sehr vorsichtig sein. Hat Euch jemand Besonderes nach dem Kloster reiten sehen?«

»Alle Wetter, ja,« antwortete Landola. »Wir wollten Euch fragen. Eben fällt es mir erst ein.«

»Wer war es?«

»Kurz vor dem Kloster begegnete uns ein kleiner, dicker Kerl, den wir nach Euch fragten.«

Der Pater entfärbte sich denn doch ein wenig.

»Das ist höchst unangenehm,« sagte er. »Dieser Mann war vorher bei mir.«

»Er sagte es. Was ist er?«

Der Pater mußte sie in Besorgniß setzen, ohne daß er nothwendig hatte, die Wahrheit zu sagen, darum antwortete er:

»Was er ist? Das ist ja eben das Unangenehme! Er ist ein geheimer Polizeispion.«

»Donnerwetter! In wessen Dienste?«

»Er dient allen Parteien, je nachdem welche es grad ist, die am Ruder steht.«

»Desto schlimmer und gefährlicher ist er. Er sah mir wie ein verkappter Mönch aus. Ich habe ihm nichts Gutes zugetraut. Und ein Polizistenauge hatte dieser verteufelte Kerl, denn er machte uns darauf aufmerksam, daß wir die Haut von unseren Gesichtern verlören.«

Der Pater erschrak abermals und zwar noch tiefer als vorher.

»Das sagte er?« fragte er.

»Ja. Ich hätte ihn niederschießen mögen!«

»Das ist fataler, als Ihr wissen und ahnen könnt!«


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»Könnte man nichts dagegen thun?«

Der Pater sann eine Weile nach. Dann hellte sich seine Miene wieder auf. Er fragte:

»Also Eure Gesichter sind ihm aufgefallen?«

»Ja.«

»Er hat bemerkt, daß sie bemalt waren?«

»Freilich.«

»So wird er den Ort nicht verlassen, ohne zu erfahren, wo Ihr bleibt, und möglichen Falles auch noch, wer Ihr seid.«

»Wo wartet er da?«

»Grad wenn Ihr vom Kloster nach dem Orte hinunterreitet, ist das erste Haus rechter Hand der ersten Gasse eine Venta (Schänke). Von dort aus kann man den Klosterweg genau übersehen und dort wird er sitzen, um seine Beobachtungen anzustellen.«

»Wir müßten zum Scheine hinunterreiten und dort einkehren.«

»Das ist mein Plan.«

»Aber wir haben uns ja die Gesichter gewaschen!«

»Dafür habe ich mir bereits eine Ausrede erdacht.«

»Welche?«

»Diese hier.«

Er öffnete abermals eine Schublade seines Tisches, suchte darin und brachte dann zwei Medaillen zum Vorscheine, welche er ihnen hinzeigte.

»Ah!« lachte Cortejo, als er die Inschriften gelesen hatte. »Zwei Polizeimedaillen aus der Hauptstadt. Wie kommt Ihr dazu?«

»Hm,« brummte der Pater lächelnd. »Man hat sich in meiner Stellung mit gar Mancherlei zu versehen, was andere Leute, Spitzbuben und dergleichen nicht gebrauchen können.«

»Hört, Pater, Ihr seid ein geistreicher Kerl!« meinte Landola, sehr gut gelaunt. »Ihr seid wunderbar gut zu gebrauchen und ich habe allen Respect vor Euch, was ich in den ersten Minuten unseres Zusammentreffens gar nicht geahnt hätte!«

»Ja, man täuscht sich sehr oft,« schmunzelte der Pater, »und zwar meist in den besten und bravsten Menschen.«

»Also, wie ist Euer Plan? Ich muß ihn doch hören, obgleich ich ihn bereits ahne.«

»Sehr einfach. Habt Ihr das Wasser gesehen, welches unten neben dem Wege hinfließt?«

»Ja. Unsere durstigen Pferde haben daraus getrunken.«

»Nun, sobald Ihr da unten ankommt, steigt Ihr ab, wascht Euch die Gesichter und trocknet sie ab. Er wird das von der Venta aus sehen und dabei denken, daß Ihr erst jetzt den Bewurf Eurer Gesichter entfernt. Dann reitet Ihr zur Venta, laßt Euch ein Glas Wein geben und das Uebrige läßt sich leicht denken.«

»Schön. Ihr meint, wir zeigen ihm die Medaillen?«

»Nur wenn es nothwendig ist.«

»Und sagen, daß wir Einen bei Euch suchten?«


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»Ja, Einen, von dem Ihr hörtet, daß er sich krank stelle.«

»Natürlich haben wir ihn aber nicht gefunden.«

»Das versteht sich!«

»Hat der Kerl auch eine Medaille?«

Da der kleine Dicke ja gar kein Polizist war, so antwortete der Pater:

»Ich glaube nicht, daß er sie hier, wo er sie gar nicht braucht, bei sich trägt. Uebrigens verlasse ich mich auf Eure Klugheit.«

»Und dann, wenn wir ihn los sind?«

»Ihr dürft die Venta nicht eher verlassen, als bis er fort ist. Ihr seht, wohin er reitet und sorgt dafür, ihm nicht wieder in den Weg zu kommen. Bis Abend bleibt Ihr fort. Dann kommt Ihr wieder zum Kloster, aber nicht herein, denn kein Bewohner desselben darf wissen oder auch nur ahnen, daß ich zwei Gäste bekommen habe. Ihr haltet Eure Pferde an der hinteren Ecke der Klostermauer angebunden und Einer von Euch kommt heimlich unter dieses Fenster, wo er leise klatscht. Ich sende Euch meinen Neffen. Das Uebrige ist meine Sache. Jetzt geht, Sennores!«

Sie gehorchten dieser Weisung und entfernten sich. Der Pater trat an das Fenster und sah sie das Kloster verlassen. Kaum war dies geschehen, so trat sein Neffe ein, der ein sehr erstauntes Gesicht zur Schau trug.

»Oheim, ich weiß nicht, ob ich mich irre!« sagte er.

»Worin?« fragte der Alte.

»In den beiden Männern, welche bei Dir waren. Hatten sie jetzt nicht ganz andere Gesichter als vorher?«

»Ja. Hat es noch Jemand gesehen?«

»Nein. Ich weiß, was Du liebst. Ich habe alle Leute entfernt und allein im Hofe auf sie gewartet.«

»Das ist gut; ich wußte es. Uebrigens kommen sie wieder.«

»Aber, was war das mit den Gesichtern?«

»Sie hatten einen sehr triftigen Grund, sich die Gesichter unkenntlich zu machen. Höre, Manfredo, ich muß Dir eine Frage vorlegen.«

»Frage nur zu, Oheim!«

Der Alte lehnte sich mit dem Rücken wieder gegen die Tischkante, kreuzte die Arme über die Brust und sagte:

»Du hast mir Jahre lang treu gedient, ohne zu fragen, warum ich Dies oder Jenes wollte; ich bin mit Dir stets zufrieden gewesen und habe lange daran gedacht, Dich einmal rechtschaffen zu belohnen.«

»Das soll mir lieb sein!« lachte Manfredo.

»Ich wollte nicht davon sprechen, bis ich nicht einmal etwas Ordentliches und Tüchtiges fände, und heute habe ich es gefunden.«

»Bei den beiden Männern?«

»Ja; sie haben es mir gebracht.«

»Was ist's?« fragte Manfredo, im höchsten Grade neugierig.

Der Alte sah ihn mit eigenthümlichen Blicken an und fragte:

»Willst Du Graf werden?«

»Graf?« meinte der Junge, höchlichst erstaunt.


// 2362 //

»Ja, ein Graf!«

Oheim, Du bist heute allerdings bei sehr guter Laune!«

»Das ist wahr; aber was ich sage, ist trotzdem nicht Laune. Also, willst Du ein Graf werden?«

Donnerwetter! Natürlich, wenn es möglich ist! Aber es ist doch nur Spaß!«

»Nein, es ist Ernst.«

»Wirklich?«

»Vollkommen!«

Manfredo warf einen forschenden Blick auf seinen Verwandten. In diesem Blicke lag sehr deutlich die Sorge, daß der Pater wohl übergeschnappt sei. Dieser fragte lachend:

»Ah, Du meinst wohl, ich sei nicht recht bei Sinnen?«

Beinahe, wenn ich aufrichtig sein soll, Oheim.«

»Und doch bin ich noch niemals so gut bei Ueberlegung gewesen wie heute, das kannst Du mir glauben.«

Nun gut, ich werde ja erfahren, wie die Sache gemeint ist. Also, was für ein Graf soll ich denn werden?«

»Der von Rodriganda.«

»Himmel! Deren giebt es ja bereits vier!«

»Wieso?«

»Zwei alte, die gestorben sein sollen, ein junger, der es sein will, aber nicht ist, und ein zweiter junger, der es auch nicht ist, aber eigentlich sein sollte.«

»Nun gut, diese sind alle problematisch und Du machst den fünften, der es sein will und auch sein wird.«

»Wieso?«

»Rathe, wer die beiden Männer waren, die soeben fortgeritten sind.«

»Wer kann das rathen!«

»Du! Ist Dir an dem Einen nichts aufgefallen?«

»O doch.«

»Was?«

Eine große Aehnlichkeit mit Pablo Cortejo und eine noch viel größere mit der Photografie von Gasparino Cortejo, welche wir dieser albernen Sennorita Josefa abgenommen haben.«

»Diese Aehnlichkeit hat Dich nicht getäuscht.«

»Donnerwetter! So war es wirklich Gasparino Cortejo?«

»Ja. Und der Andere?«

»O, das ist nun sehr leicht zu errathen: Landola?«

»Ja. Auch ich errieth das sofort.«

»Sie sagten Dir es nicht freiwillig?«

»Nein. Ich mußte sogar zum Revolver greifen.«

Er erzählte nun dem Neffen den ganzen Verlauf des Gespräches. Am Schlusse des Berichtes rief Manfredo aus:

»Das ist ganz außerordentlich! Was wirst Du thun? Ich hoffe doch, daß Du diese beiden Menschen mit zu den Uebrigen stecken wirst!«

»Das versteht sich ganz von selbst.«


// 2363 //

»Sie haben es verdient, mehr als alle Anderen.«

»Richtig. Ich gebe ihnen da ihren Lohn und sorge zugleich für mich und Dich. Das geschieht noch heute. Von morgen an aber muß ich sämmtliche Gefangenen nur allein Deiner Obhut anvertrauen.«

»Wieso?«

»Ich verreise.«

»Wohin?«

»Nach der Hazienda del Erina.«

»Ah, nach der Hazienda? Was Teufel willst Du dort?«

»Auch für uns sorgen.«

»Wieso?«

»Das wirst Du später erfahren. Es ist nicht gerathen, bereits jetzt davon zu sprechen.«

»Wie lange wirst Du fortbleiben?«

»Fünf bis sechs Tage.«

»So lange werde ich mit den Gefangenen ganz gut verkommen.«

»O, Du wirst es noch weiter versuchen müssen!«

»Noch länger? Warum?«

»Weil ich nach meiner Rückkehr sofort wieder verreise. Ich muß nämlich binnen heute und zehn Tagen in der Hauptstadt sein.«

»In der Hauptstadt?« fragte der Neffe verwundert. »Was sollst Du dort?«

»Es ist mir eine ganz bedeutende politische Rolle aufgetragen worden. Wer weiß, was daraus entsteht. Jetzt bin ich überzeugt, daß es zu unserem Glücke sein wird. Ich vielleicht Minister und Du Graf von Rodriganda. Was willst Du mehr?«

»Oheim, bei allen Heiligen, ich fange nun an, zu glauben, daß Du im Ernste sprichst!«

»Natürlich.«

»Aber wie willst Du es denn anfangen, mich zum Grafen zu machen?«

»Sehr einfach. Du trittst an des richtigen Grafen Stelle.«

»Das wäre Mariano.«

»Ja.«

»Ah, wir sind gleichen Alters und gleicher Gestalt. Aber die Beweise?«

»Die erzwingen wir von unseren Gefangenen und dann werden Alle, welche hinderlich sein könnten, beseitigt. Laß nur Deinen Oheim sorgen. Kann dieser Pablo Cortejo seinen Neffen zum Grafen Rodriganda machen, so kann ich es wohl noch besser und leichter als er. Was aber die Gefangenen betrifft, so will ich es Dir leichter machen, sie zu versorgen, während ich von hier abwesend bin.«

»Wieso?«

»Wir nehmen sie aus den Löchern heraus und stecken sie zusammen in den Felsensaal, wo sie angebunden werden.«

»Da wird auch ihnen die Gefangenschaft leichter. Pablo Cortejo und Josefa auch mit dazu?«

»Nein. Diese bleiben, wo sie sind, und Landola nebst Gasparino Cortejo werden zu ihnen gesteckt. Das Erstere wollen wir gleich jetzt versorgen. Komm!«


// 2364 //

Sie stiegen mit einander in die geheimen Keller hinab.

Unterdessen waren Cortejo und Landola den Klosterweg hinabgeritten. Unten hielten sie an, stiegen von den Pferden, wuschen sich die Gesichter und trockneten sich dieselben mit ihren Serapen ab. Die Serape ist eine Art Plaid oder wollene Decke, welche in Mexiko ein jeder Reiter bei sich trägt. Dann ritten sie dem Orte entgegen, in dessen erster Gasse sie die ihnen vom Pater bezeichnete Venta fanden.

Ein Pferd hielt vor der Thür. Sie erkannten in demselben dasjenige des dicken Männchens, welches ihnen begegnet war. Auch sie banden ihre Pferde an und traten dann in die Stube, wo sie sich ein Glas Wein geben ließen.

Als einziger Gast saß der Dicke an einem der Tische. Er betrachtete sie mit erstaunten Blicken; sie aber thaten, als ob sie das gar nicht bemerkten und schlürften von ihrem Weine.

Aber als der Wirth sich einmal entfernt hatte und also von einem Gespräche nichts hören konnte, vermochte der Dicke nicht länger an sich zu halten. Er fragte:

»Sennores, Eure Pferde kommen mir sehr bekannt vor!«

»Hm!« brummte Landola mißmuthig.

»Auch Eure Anzüge!«

»Möglich!«

»Ich kenne sie sehr genau.«

»So habt Ihr sie im Kleiderladen gesehen. Gestohlen haben wir sie Euch nicht.«

»O, Sennores, verzeiht, das wollte ich auch nicht sagen. Aber ich weiß nicht, was ich aus Euren Gesichtern machen soll.«

»Was sollte daraus zu machen sein? Laßt sie doch unsere Gesichter bleiben.«

»So meinte ich es nicht. Haben wir uns nicht bereits gesehen?«

»Möglich!«

»Wir sind uns jedenfalls begegnet?«

»Mag sein.«

»Aber wann und wo? Vielleicht vorhin erst?«

»Hm! Ich bestreite es nicht.«

»Auf dem Wege nach dem Kloster?«

»Ja.« »Ihr fragtet nach dem Pater?«

»Ja.«

»Und ich bezeichnete Euch den Weg?«

»Zum Henker, ja. Was aber sollen diese Fragen?«

»Verzeihung! Aber ich frage nur wegen Euern Gesichtern.«

»Was gehen Euch unsere Gesichter an?«

»Sie erregen mein höchstes, ja mein allerhöchstes Interesse. Waren sie vorhin nicht ganz anders?«

»Wie wäre das möglich!«

»Sie waren jünger. Sie hatten keine Falten.«

»Nun, so sind wir indessen älter geworden.«

»Ich machte Euch auf die Haut aufmerksam, welche Risse und Sprünge bekam.«

»Ja. Ihr hattet diese Gewogenheit!«


// 2365 //

»Es war wohl Schminke oder Salbe?«

»Was geht Euch das an?«

»Nichts, gar nichts. Aber man pflegt sich doch für so etwas höchst seltsames zu interessiren. Habt Ihr mit dem Pater gesprochen?«

»Ja. Habt Dank für Eure Auskunft.«

»Bitte sehr! Also der Pater hat Euch nicht erkennen sollen?«

»Wie kommt Ihr zu dieser Vermuthung?«

»Nun, weil Ihr mit falschen Gesichtern zu ihm gingt und die Schminke erst dann entferntet, als Ihr ihn verlassen hattet.«

»Vielleicht galt unsere Veränderung gar nicht dem Pater.«

»Wem sonst?«

»Hm! Einem Anderen.«

»Dann müßte dieser Andere bei dem Pater gewesen sein.«

»Allerdings. Auch Ihr wart ja bei ihm. Nicht?«

Dabei erhob sich Landola und gab Cortejo einen Wink, ihm zu folgen.

»Ja,« antwortete der Kleine. »Ich sagte Euch ja bereits bei unserer Begegnung, daß ich vom Pater komme.«

»Dessen entsinne ich mich sehr wohl, Sennor. Werdet Ihr uns vielleicht erlauben, uns ein wenig neben Euch zu setzen?«

Der Dicke war über diese Frage höchst erfreut, denn auf diese Weise fand er ja viel bessere Gelegenheit, diese beiden geheimnißvollen Menschen auszuhorchen.

»Gewiß,« sagte er. »Nehmt nur immer Platz, Sennores. Ihr seid mir sehr willkommen.«

Landola setzte sich zu seiner Rechten und Cortejo zu seiner Linken nieder, so daß sie ihn zwischen sich bekamen. Der Erstere, welcher bisher für Beide allein das Wort geführt hatte, behielt es auch jetzt bei. Er fragte:

»Seid Ihr auf dem Klosterberge bekannt, Sennor?«

»Nur ein wenig,« antwortete der Kleine zurückhaltend.

»Und im Kloster auch?«

»Noch weniger.«

»Aber den Pater Hilario kennt Ihr?«

»Ich besuche ihn zuweilen, wenn ich mich unwohl fühle.«

»Ah, so könnt Ihr uns vielleicht sagen, ob er genau Buch führt.«

»Worüber? Ueber seine Medicamente etwa?«

»Nein, sondern über seine Kranken.«

»Wie meint Ihr das?«

»Ich meine, ob er jeden anwesenden Kranken wirklich einschreibt.«

»Hm! Das wird er doch thun!«

»Hm!« brummte Landola ebenfalls. »Vielleicht thut er es manchmal auch nicht.«

»Welchen Grund sollte er haben?«

»Davon können wir nicht sprechen. Ihr kennt also die Räumlichkeiten des Klosters nicht genau?«

»Nein.«

»So könnt Ihr uns leider auch keine Auskunft geben.«


// 2366 //

»O, vielleicht handelt es sich grad dieses Mal um einen Raum, den ich kenne.«

»Möglich! Also sagt mir, ob es außer den offiziellen Krankenstuben vielleicht noch heimliche Zimmer giebt, in denen Kranke behandelt werden.«

»Ihr meint heimliche Krankheiten?«

»Nein, ich meine heimliche Kranke, das heißt, solche Kranke, welche im Kloster behandelt werden oder dort verkehren und sich behandeln lassen, ohne daß die Behörde es wissen soll.«

»Davon weiß ich allerdings nichts.«

»Hm! Das ist dumm. Aber vielleicht habt Ihr doch einmal eine Erfahrung gemacht, welche uns nützlich sein kann. Darf man zu Euch Vertrauen haben, Sennor?«

»O, so viel Ihr nur immer wollt,« versicherte der Kleine.

»Und Ihr seid verschwiegen?«

»Wie das Grab.«

»Das will nichts sagen. In den Gräbern soll es manchmal sogar sehr laut hergehen; das heißt, nur in denen, in welche man Weiber begraben hat. Aber ich will Euch vertrauen. Sagt uns also einmal, ob Ihr nicht vielleicht einen heimlichen Verkehr im Kloster bemerkt habt!«

»Heimlichen Verkehr?« fragte der Kleine kopfschüttelnd. »Nein.«

»Ich sehe, daß ich deutlicher sein muß. Ist Euch vielleicht die Bedeutung dieses Zeichens bekannt, Sennor?«

Er zog die Medaille hervor und hielt sie ihm hin. Der Kleine betrachtete sie und fuhr einigermaßen bestürzt zurück.

»Ah, wirklich, das kenne ich,« sagte er.

»Nun? Sagt es!«

»Ihr seid ein geheimer Polizist.«

»Und kennt Ihr auch dieses?« fragte nun seinerseits Cortejo, indem er ihm seine Medaille sehen ließ.

»Ah! Auch Ihr seid ein Detective aus der Hauptstadt.«

Der Kleine hatte jetzt die Farbe gewechselt. Landola bemerkte dies, und es kam ihm, ohne daß er das Verhältniß dieses dicken Mönches zum Pater kannte, der Gedanke, sich einen Spaß mit ihm zu machen und ihn so für sein Spioniren zu bestrafen.

»Ihr seht also, daß Ihr offen mit uns sprechen müßt,« sagte er.

»Ja, Sennores, das sehe ich,« antwortete der Kleine.

»Ihr habt also von einem solchen Verkehr nichts gesehen?«

»Nie.«

»Es sollen oft Männer zum Pater gehen, welche bei der Behörde nicht gut angeschrieben stehen.«

»Ah! Oh! Eine solche Unvorsichtigkeit traue ich dem Pater doch nicht zu.«

»O, doch! Diese Leute thun, als ob sie krank oder unwohl seien. Dann haben sie einen Scheingrund, mit ihm zu conspiriren. Sagtet Ihr vorhin nicht auch, daß Ihr zum Pater gingt, wenn Ihr Euch unwohl fühltet?«

Der Kleine blickte ihn von der Seite an und antwortete langsam und stockend:

»Sennor, Ihr werdet doch nicht etwa vermuthen, daß -«

Er hielt inne, er befand sich in einer sichtbaren Verlegenheit.


// 2367 //

»Hm! Der Mensch kann nicht genug vorsichtig sein. Da giebt es zum Beispiel einen Hauptaufwiegler, einen politischen Rädelsführer, so einen rechten, echten, schwarzen Rebellen, der der Polizei bereits viele Sorge bereitet hat.«

»Ah! Sie sucht ihn?« fragte der Kleine rasch.

»Ja, sie sucht ihn,« nickte Landola.

»Sie kennt ihn auch?«

»Sie kennt ihn auch.«

»So ist er flüchtig?«

»Nein.«

»Aber wenn sie ihn kennt, braucht sie ihn doch nicht zu suchen, wenn er nicht flüchtig ist.«

»Sie geht ihm nur nach, um ihn auf der That zu ertappen.«

»Ah, so.«

»Er soll auch beim Pater verkehren.«

»Das glaube ich nicht.«

»O, man glaubt so Manches nicht, was doch ist. Man hat sogar bereits erfahren, daß er die Absicht hatte, heute zu dem Pater in das Kloster della Barbara zu gehen.«

Die feisten Wangen des Kleinen wurden jetzt bald roth, bald bleich.

»So gut ist die Polizei unterrichtet?« fragte er.

»Nicht blos jetzt, sondern immer. Es ist möglich, daß Ihr ihn einmal gesehen habt, ohne zu wissen, daß der Nachrichter seiner schon längere Zeit wartet. Darf ich Euch einmal sein Signalement geben?«

»Ja, ich bitte darum,« meinte das Männchen, vor Angst beinahe schwitzend.

»Nun, so paßt auf.«

Er nahm sein Notizbuch heraus und schlug eine Seite desselben auf. Cortejo, welcher ahnte, was jetzt kommen werde, stemmte den Kopf in den Arm, während er den Ellbogen auf den Tisch legte, so daß er dem Kleinen grad in das Gesicht sehen konnte. Landola begann:

»Alter: Zweiundvierzig Jahre. Wie alt seid Ihr, Sennor?«

Er hatte nur gerathen, aber der Kleine antwortete doch:

»Auch zweiundvierzig.«

»Hm!« brummte Cortejo, indem er ihn scharf fixirte.

»Name thut hier nichts zur Sache, Religion auch nicht,« fuhr Landola fort. »Aber Statur: klein.«

»Hm!« brummte Cortejo, den Dicken scharf ansehend.

»Sehr dick,« fuhr Landola fort.

»Hm, hm!« verdoppelte Cortejo sein Brummen.

»Augen: klein.«

»Hm!«

»Nase: stumpf.«

»Hm!«

»Zähne: rechts oben fehlt ein Zahn.«

»Donnerwetter! Das stimmt auffällig!« fuhr Cortejo auf.


// 2368 //

Der Kleine rückte auf seinem Sitze hin und her und warf bald einen Blick nach der Thür, bald einen auf die Fenster.

»Mund: wulstig.«

»Hm!«

»Bart: rasirt.«

»Hm!«

»Haare: dunkelblond, Anfang zu einer Glatze.«

»Hm! Himmelelement!« meinte Cortejo, indem er sich erhob, um eine kleine, lichte Stelle auf dem Schädel des Dicken genauer zu betrachten.

»Besondere Kennzeichen: hat einen verkrüppelten Nagel an dem Mittelfinger der linken Hand.«

»Hm! Tod und Teufel! Sennor, zeigt mir doch einmal Eure linke Hand,« rief Cortejo.

Der Kleine zog die Hand zurück und sagte:

»Sennor, Ihr werdet doch nicht denken, daß ich -«

»Denken?« unterbrach ihn Cortejo. »Nein, denken wollen wir jetzt gar nicht, sondern sehen wollen wir.«

»Was denn?« fragte Landola, sich unwissend stellend.

»Nun, dieser Sennor hier ist zweiundvierzig Jahre alt!«

»Ja, das sagte er.«

»Hat kurze Statur.«

»Allerdings.«

»Ist dick!«

Nun fixirte Landola den Kleinen, wie Cortejo es vorher gethan hatte.

»Auch dick,« meinte er.

»Hat kleine Augen!«

»Sehr klein.«

»Eine stumpfe Nase.«

»Ja, ein sehr kleines Stumpfnäschen.«

»Rechts oben eine Zahnlücke!«

»Ah! Sapperlot! Sennor, macht doch einmal den Mund auf.«

Der Kleine aber drückte die Lippen um so fester zusammen.

»Donnerwetter!« rief Landola, indem er mit der Hand nach dem Gürtel griff. »Soll ich Euch den Mund etwa mit dem Messer aufbrechen? Auf mit dem Maule.«

So gebieterisch und kategorisch der Kleine vorher bei dem Pater aufgetreten war, so ängstlich zeigte er sich jetzt. Die Anhänger des Umsturzes sind niemals wirklich moralische Helden. Er riß den Mund auf und rief:

»Hier! Nur nicht aufbrechen, nicht schneiden.«

»Weiter auf!« donnerte Landola.

Das Männchen gehorchte, so gut es ihm möglich war, und nun blickte Landola ihm mit einem Ernste in die Mundhöhle, als ob es gelte, das Alter eines Pferdes zu taxiren.

»Ja,« sagte er. »Oben rechts eine Zahnlücke. Das stimmt.«

»Mund wulstig,« fuhr Cortejo fort.


// 2369 //

Der Kleine hielt den Mund noch immer aufgesperrt.

»Zumachen!« gebot Landola.

Der Mann gehorchte. Landola betrachtete die Lippen und bestätigte:

»Ja, wulstig.«

»Bart, rasirt!« sagte Cortejo.

»Stimmt!«

»Haare, dunkelblond.«

»Stimmt auch.«

»Anfang zu einer Glatze.«

»Wo? Zeigt her!« Bei diesen Worten zog Landola den Kopf des Männchens zu sich heran, betrachtete das kahle Stellchen so genau, als ob er ein Perrückenmacher sei, der sich ein Haar- und Barterzeugungsmittel auszugrübeln habe, und sagte dann:

»Glatze? Ja, die ist da!«

»Besondere Kennzeichen,« fuhr Cortejo fort. »Hat einen verkrüppelten Nagel am Mittelfinger der Linken.«

»Her mit der Hand!« gebot Landola.

Der Kleine gehorchte. Landola betrachtete den betreffenden Nagel und bestätigte dann:

»Der Krüppel ist da. Mensch, das stimmt ja Alles.«

»O, Sennores,« rief der Kleine. »Ich bin es nicht.«

»Der Krüppel? Der Nagel? Nein, der seid Ihr allerdings nicht, aber der Aufrührer, der Landfriedensbrecher scheint Ihr zu sein.«

»Ich schwöre es Euch bei allen Heiligen, daß ich es nicht bin. Seit wann wurde dieses Signalement abgefaßt?«

»Seit drei Wochen.«

»Und die Zahnlücke habe ich erst seit fünf Tagen, die Glatze gar erst seit nur zwei Tagen.«

Da betrachtete ihn Landola von oben herab und sagte:

»Mensch, halte uns nicht für so dumm! Solche Ausreden sind lächerlich. Wir werden Dich mit nach der Hauptstadt nehmen müssen!«

Der Kleine befand sich in der größten Angst. Er suchte nach einem Auskunftsmittel und schien endlich eins gefunden zu haben, denn sein Gesicht erhielt einen ruhigeren Ausdruck, und in einem Tone, welcher Vertrauen erweckend sein sollte, sagte er:

»Sennores, werdet Ihr mir eine Frage erlauben?«

»Meinetwegen,« meinte Landola streng.

»Ich weiß, daß der Pater nicht gastfreundlich ist. Hat er Euch irgend etwas vorgesetzt?«

»Nein.«

»Aber Ihr werdet nach einem solchen Ritte Hunger haben?«

»Riesig!«

»Und auch Durst?«

»Noch riesiger!«


// 2370 //

»Werdet Ihr mir erlauben, für Euch ein tüchtiges Mahl zu bestellen, meine werthen Sennores?«

»Zu einem solchen ist unser Einkommen zu klein.«

»O, ich werde bezahlen. Ich werde gleich den Wirth holen!«

Er wollte zur Thür hinaus, aber Landola ergriff ihn und hielt ihn fest.

»Halt!« sagte er. »Das wollen wir schon selbst besorgen.«

Der Wirth wurde gerufen und mußte sagen, was bei ihm zu haben sei. Er nahm den Auftrag des Kleinen entgegen und wollte sich dann entfernen, um denselben auszurichten; aber Landola rief dazwischen:

»Halt! Dieser Sennor will erst bezahlen.«

»Vorher?« fragte der Wirth erstaunt.

»Ja, vorher,« nickte der Kleine.

Er zog seinen Beutel und bezahlte ein Mahl für drei Personen und sechs Flaschen Wein.

Nun trat eine drückende, unheimliche Stille in der Stube ein. Dem Arrestanten war es anzusehen, daß er an einen Fluchtversuch dachte. Die beiden vermeintlichen Polizisten blieben sehr ernst, obgleich sie sich Mühe geben mußten, nicht laut aufzulachen. Da endlich zog Bratenduft aus dem Küchenverschlage herein und der Kleine meinte rasch:

»Sennores, eine Bitte!«

»Redet!« gebot Landola.

»Darf ich nicht einmal in die Küche treten?«

»Wozu?«

»Ich muß mich doch überzeugen, ob der Wirth seine Pflicht auch so erfüllt, daß die Speise Eurer würdig sei!«

»Versteht Ihr denn etwas davon?«

»O, ich brate mir Alles selbst.«

»Aber Ihr werdet uns doch nicht entfliehen!«

»Sennores, ich schwöre es Euch bei allen Heiligen zu, daß so ein frevlerischer Gedanke mir gar nicht in den Sinn kommt! Ich bin unschuldig und werde mit nach Mexiko gehen, um Euch dies auf das Glanzvollste zu beweisen.«

»Na, der Allerschlechteste scheint Ihr allerdings nicht zu sein. Geht also einmal hinaus; aber nur auf fünf Minuten!«

Er ging.

»Jetzt bin ich neugierig, ob er fliehen wird,« meinte Cortejo.

»Natürlich wird er es,« antwortete Landola.

»Aber er schwor bei allen Heiligen!«

»Pah! Das gilt bei uns Beiden nichts und bei Diesem erst recht nicht. Nicht wahr, aus der Küche geht eine Thür auf den Hausflur?«

»Ich glaube.«

»So wird er sich aus der Küche durch den Flur zum Pferde schleichen und davongaloppiren.«

»Was thun wir da? Wir sind ja froh, ihn los zu sein!«

»O, wir geben zum Spaße einige Schüsse hinter ihm her.«

»Aber doch nicht treffen!«


// 2371 //

»Nein. Oeffnen wir immer im Voraus das Fenster!«

Sie machten das Fenster auf und versteckten sich hinter den Mauerpfeiler. Richtig! Da kam der Kleine leise geschlichen, band sein Pferd los, kletterte in höchster Eile hinauf und gab ihm die Sporen.

»Halt!« schrie da Landola zum Fenster hinaus.

»Halt!« brüllte auch Cortejo.

»Wir schießen!« riefen Beide zugleich.

Aber der Kleine schoß auch, nämlich davon. Da zogen die Beiden ihre Pistolen und schossen beide Läufe hinter ihm her. Er stieß einen Angstruf aus, den sie noch hörten, und dann war er verschwunden.

Der Wirth kam voller Erstaunen in die Stube geeilt und fragte:

»Sennores, Ihr schießt? Warum denn, um der Jungfrau willen!«

»Er entflieht ja!« antwortete Cortejo.

»Wer denn?« 

»Der Kleine.«

»Der? Er entflieht? Ist er denn Gefangener?«

»Natürlich! Der unserige.«

»Ah! Wer seid Ihr denn?«

»Geheime Alguazils aus der Residenz.«

»Ach so! Laßt ihn doch fliehen, er hat Euch ja das Essen und den Wein bezahlt!«

»Meint Ihr denn, daß das so viel werth ist?«

»War er denn mehr werth?«

»Das weiß ich nicht.«

»Kennt Ihr ihn, Sennor?«

»Nein. Aber Ihr kennt ihn?«

»Auch nicht. Nun, warum habt Ihr ihn dann arretirt?«

»Damit er uns das Essen bezahlen solle und Ihr am Weine etwas verdient!«

Er sah sie eine Zeit lang ganz verblüfft an, brach aber dann in ein lautes Lachen aus und rief:

»Ihr seid, bei Gott, die klügsten Sennores, welche mir jemals vorgekommen sind! Aber er hat für drei Personen bestellt.«

»Das hörten wir.«

»Jetzt sind nur noch zwei.«

»Das ist richtig.«

»Wenn Ihr Eurer Klugheit die Krone aufsetzen wollt, so habt die Güte, zu erlauben, daß ich nun der Dritte bin.«

Da stimmten alle Beide in sein Lachen ein und Landola meinte:

»Mann, Ihr seid nicht weniger klug als wir; wir passen also für einander und so mögt Ihr die Stelle des Entflohenen vertreten.«

So geschah es. Als die Beiden später die Venta verließen, war der Kleine bereits über alle Berge. Sie brauchten seine spionirenden Augen nicht zu fürchten, machten in der Umgebung einen Spazierritt, wobei sie sich über ihre Pläne unterhielten, und kehrten mit Einbruch der Dunkelheit vorsichtig nach dem Kloster zurück.


// 2372 //

An der hinteren Mauerecke fanden sie ein Gesträuch, an welches sie ihre Pferde banden, ganz so, wie der Pater es ihnen angerathen hatte. Dann begab Cortejo sich zu dem Fenster und klatschte leise. Bereits nach wenigen Augenblicken erschien Manfredo.

»Folgt mir, Sennores!« gebot er.

»Zu Eurem Oheim?« fragte Landola, der hinzugetreten war.

»Ja,« antwortete er.

»Nach seinem Zimmer?«

»Nein, Sennores. Noch sind die Leute wach und man könnte Euch leicht sehen. Mein Oheim ist bereits hinunter, um Euch die Gefangenen zu zeigen. Ich bringe Euch zu ihm.«

»Was aber geschieht mit den Pferden und unseren Sachen?«

»Sie sind für die wenigen Augenblicke in allerbester Sicherheit; dann aber werde ich Euch Alles besorgen.«

Dieses Besorgen bestand darin, daß er die Pferde verkaufte und das Gepäck als sein Eigenthum betrachtete oder als dasjenige seines Oheims.

Er schritt voran, über den menschenleeren, stillen Hof hinüber und sie folgten ihm, auf sein Geheiß vorsichtig ihre Schritte dämpfend. Dann ging es eine dunkle Treppe hinab, wo Manfredo ein Licht hervorzog, um es anzubrennen. Sie kamen durch einige kellerartige Räume und endlich in ein Gemach, in welchem der Pater sie erwartete. Auch er trug ein brennendes Licht in der Hand.

»Eingetroffen?« fragte er mit achtungsvoller Freundlichkeit.

»Wie Ihr seht, ja,« antwortete Cortejo. »Aber sagt, sollen wir etwa in einem solchen Keller unsere Zeit zubringen?«

»Wo denkt Ihr hin! Ich führe Euch jetzt nur zu den Gefängnissen. Später erst geht es nach Eurer Wohnung.«

»Ah! Sonst wäre ich auch sofort zurückgegangen!«

Der Pater ignorirte diese Worte und fragte angelegentlich:

»Wart Ihr in der Venta?«

»Ja, Sennor.«

»Und Ihr traft den Mann?«

»Es war Alles ganz so, wie Ihr es vorhergesagt hattet.«

»Und wie lief es ab?«

»Besser und lustiger, als wir es uns vorher nur denken konnten.«

Sie erzählten ihm das Vorkommniß unter Lachen und er konnte sich nicht enthalten, in ihre Lustigkeit einzustimmen. Daß seinem Peiniger ein solcher Streich gespielt worden war, gewährte ihm einestheils die größte Genugthuung und gab ihm den Stoff in die Hand, diesem Manne mit der nicht zu verachtenden Waffe des lächerlich machenden Witzes entgegen zu treten.

»Ihr habt Eure Sache sehr gut gemacht, Sennores,« sagte er. »Nun sollt Ihr aber auch sehen, wie ich die meinige gemacht habe. Kommt!«

Er schritt voran; sie folgten ihm und sein Neffe ging hinter ihnen her. Um eine Ecke biegend, zog er jene hülsenartige Rolle aus der Tasche, brannte das eine Ende an, drehte sich rasch gegen sie um und blies in das andere Ende. Im


// 2373 //

nächsten Augenblicke sprang er weit nach vorn und sein Neffe that dasselbe nach rückwärts.

Ein Flammenstrahl war Cortejo und Landola entgegengezuckt. Sie hatten rufen wollen, brachten aber kein Wort hervor, denn es umgab sie eine penetrante Luftart, welche ihnen den Mund sofort wieder verschloß. Einen Augenblick später lagen sie besinnungslos an der Erde.

Als Cortejo wieder erwachte, war ihm der Kopf fürchterlich schwer, so daß er es kaum vermochte, seine Gedanken zu sammeln. Er fühlte um sich her und gewahrte zu seinem Entsetzen, daß er sich in einem steinernen Raume befinde, an dessen eine Mauer er mit einer Kette angeschlossen war.

»O Himmel!« rief er unwillkürlich aus.

»Ah, der Eine erwacht!« hörte er seitwärts eine dumpfe, männliche Stimme sagen.

»Er redete,« fügte eine weibliche hinzu, welche von gegenüber ertönte.

»Wer ist hier?« fragte er.

»Arme Gefangene, grad so wie Du,« antwortete die männliche Stimme.

»Ich hörte zwei Personen sprechen?«

»Ich war es und meine Tochter.«

»Wer bist Du?«

»Ein Unglücklicher. Mehr darf ich Dir nicht sagen, da ich Dich nicht kenne.«

Cortejo vermochte noch nicht, sich in seine Situation zu finden.

»Zum Teufel! Warum bin ich hier?« fragte er.

»Um gefangen zu sein!« lautete die Antwort.

»Gefangen? Ich? Unsinn!«

»Fühle an die Mauer, und fühle Deine Ketten!«

Cortejo klirrte mit den Ketten und tastete, so weit diese es ihm zuließen, an der feuchten Wand hin. Er fühlte vor sich einen Wasserkrug und ein Stück trockenen Brodes.

»Heiliger Himmel!« rief er. »Das kann doch nur ein Scherz sein.«

»Ein Scherz? O nein! Hier unten ist Alles bitterer Ernst. Auch wir glaubten an Scherz. Dann hockten wir in einem furchtbaren Loche, bis man uns eine bessere Zelle gab. Vorhin wurden wir aus dieser hierhergebracht, wo es wieder schlechter ist, und unser Peiniger sagte, daß wir Gesellschaft erhalten würden, die uns in große Freude versetzen werde. Die Gesellschaft seid Ihr, aber wo bleibt die Freude?«

»Wer ist es, den Du Euern Peiniger nennst?« fragte Cortejo.

»Der Pater Hilario. Er ist auch der Eurige.«

»Der Pater? O nein, er ist mein Freund!«

»Dein Freund? Also auch Du hast ihm vertraut grad so wie wir. Hat er Dir nicht eine giftige Luft in das Gesicht geblasen?«

»Ja.«

Cortejo hatte noch immer nicht die Besinnung und Urtheilskraft erlangt. Er antwortete wie Einer, der langsam aus dem Traume erwacht. Die dumpfe Stimme, welche er hörte, klang wie aus einem Grabe hervor, und auch ihm war es ganz so, als ob er in einem solchen liege.


// 2374 //

»Er hatte kein Licht mit, als er Euch brachte,« fuhr der Andere fort, »aber ich habe doch gehört, daß er es war und sein Neffe. Sage uns, wer Du bist.«

»Auch ich kann es Dir nicht sagen, bevor ich nicht weiß, wer Du bist. Du sprichst von noch Einem. Wer ist noch da?«

»Einer, welcher mit Dir gebracht und rechter Hand von Dir an die Mauer gefesselt wurde.«

»Ah! Sollte es Lan-« er besann sich noch zur rechten Zeit und fuhr fort, sich verbessernd, »sollte es mein Gefährte sein?«

»Er wird es sein. Du bist mit ihm todt wie wir Beide auch. Hier giebt es kein Licht, kein Leben, keine Gnade und kein Erbarmen. Hier ist Alles Tod, Tod, Tod, und das einzige Leben, welches es noch giebt, das ist ein unstillbares Lechzen nach Rache, Rache, Rache!«

»Seit wann seid Ihr gefangen?«

»Ich weiß es nicht. Hier giebt es keine Sonne und keine Sterne. Hier giebt es keine Unterscheidung zwischen Tag und Nacht, denn hier ist Alles nur Nacht, Nacht, Nacht.«

Da richtete Cortejo sich auf, so weit es ging und rief:

»Das gilt wohl Euch, aber nicht mir. Ich kann, ich will, und ich darf nicht Gefangener sein!«

»Du Thor! Du bist es ja bereits!«

»Der Pater betrügt mich nicht!«

»Er betrügt Alle!«

»So werde ich sehen, ob es Ernst ist, wirklich Ernst.«

Er legte sich in seine Ketten und versuchte, sie zu sprengen; aber es gelang ihm nicht, trotzdem er alle seine Kräfte daran setzte.

»Hölle, Tod und Teufel!« rief er keuchend. »Wäre es wahr?«

»Es ist wahr. Täusche Dich nicht.«

»So wäre ich gefangen, und die Anderen sind frei?«

»Die Anderen? Welche Anderen meinst Du?«

»Er sagte mir, daß er Feinde von mir hier unten habe.«

»Sollte er es Dir grad so gemacht haben wie mir? Auch ich habe Feinde hier unten. Aber glaube nicht, daß sie oder die Deinigen frei sind. Wer diese Gewölbe betritt, der sieht das Licht der Sonne niemals wieder. Wer sind Deine Feinde?«

»Ich muß über sie schweigen. Wer sind die Deinigen?«

»Auch ich darf es nicht sagen.«

»Wer verbietet es Dir?«

»Ich selbst. Es soll mich Niemand kennen.«

Da ging ein lauter, langer Seufzer durch den feuchten Raum. Landola begann, sich zu regen. Er war vorhin vorangegangen und hatte die tödtliche Luft aus erster Hand empfangen; darum hatte er auch länger besinnungslos gelegen.

»Oh!« stöhnte er, indem er sich streckte.

Seine Ketten rasselten. Er hörte dies und horchte.

»O-o--ooh!« stöhnte er von Neuem.

Und da er sich abermals ausdehnte, so rasselten seine Ketten auch von Neuem.


// 2375 //

»Was - was - was ist das?« fragte er.

»Henrico! Henrico, sind Sie es?« fragte Cortejo.

»Henrico?« fragte Landola müde und gedehnt. »Henrico, ja, so heiße ich. Er - er hat es aus - aus meiner Hand gelesen.«

»Ah! Bei Gott, er ist es! Henrico, sind Sie es wirklich?«

Er nannte nur den Vornamen Landola's, damit die anderen Gefangenen den anderen Namen nicht hören sollten.

»Henrico?« stöhnte der Gefragte. »Wer - wer redet hier? Wo - wo bin ich?«

»Gefangen soll ich sein und gefangen auch Sie. Aber ich glaube es nicht.«

»Gefan-fangen?« stöhnte es wieder unter Kettengerassel. »Ah, was - was klirrt hier? Wer hält - hält mich fest?«

»Ketten sind es, Ketten!«

»Ketten? Ketten? Ah! Richtig! Der Pa- Pater wollte uns ja die Gefan-fangenen zeigen, Ster- -«

»Still!« fiel Cortejo rasch ein. »Keine Namen nennen!«

Landola konnte sich noch immer nicht aus seiner Betäubung finden. Er wiederholte ganz im Tone eines Menschen, welcher chloroformirt wird:

»Keinen Namen? Kei- keinen? Warum denn - warum denn nicht, Cortejo?«

Er hatte diesen Namen nun doch genannt.

»Halt! Still!« rief Cortejo.

Aber von der anderen Seite ertönte es rasch herüber:

»Welcher Name war das? Wer ruft mich?«

Da horchte Gasparino auf.

»Dich?« fragte er. »Dich ruft Keiner!«

»O doch! Es war mein Name.«

»Wie? Du heißest Cortejo?«

»Ja.«

»Wie ist Dein Vorname?«

»Es ist doch nun verrathen, und so sollst Du auch ihn hören. Ich heiße Pablo Cortejo.«

»Gott, Gott!« schrie Gasparino. »Sollte es Mehrere dieses Namens geben? Sagtest Du nicht, daß Deine Tochter hier sei?«

»Ja.«

»Heißt sie Josefa?«

»Ja. Kennst Du sie? Kennst Du uns?«

Da streckte sich Gasparino gegen seine Fesseln, daß diese klirrten und seine Knochen krachten.

»Hölle, Teufel und Verdammniß!« donnerte er. »So ist es also wahr, wahr, wahr! Dieser Pater hat mich betrogen. Ich bin gefangen, gefangen, gefangen. Gott oder Satan, ganz gleich, wer mir helfen will, aber gieb, o gieb mir Kraft, diese Ketten zu zersprengen.«

Er stemmte sich von Neuem gegen die Fesseln, doch vergeblich.

»Strenge Dich nicht an; es ist umsonst!« klagte der Andere. »Aber sage mir, woher Du unseren Namen kennst!«


// 2376 //

»Euern Namen? Ach, ich wollte, der Himmel stürzte ein und begrübe dieses Kloster unter seinen flammenden Trümmern. Weißt Du, wer Der ist, welcher vorhin, aus der Ohnmacht erwachend, Euern Namen nannte?«

»Sage es!«

»Henrico Landola.«

Da klirrten drüben bei dem Anderen die Fesseln, zum Zeichen, daß der Schreck ihn bewegt habe.

»Henrico Landola?« schrie er überlaut.

»Ja.«

»Der Seecapitän?«

»Ja,« antwortete Gasparino.

Und zu seiner Rechten ließ sich Landola's Stimme hören:

»Ja, ich bin es! Henrico Lan- Landola, der Capitän.«

»Ist's möglich! Ist's möglich! Auch das noch!« rief Pablo, die Ketten vor Grimm aneinander knirschend. »Und Du, Du? Wer bist denn Du?«

»Ich? Höre und verfluche die Erde und Alles, was Leben hat! Mein Name ist der Deinige.«

»Der meinige?«

»Ja, denn ich bin Gasparino Cortejo, Dein Bruder!«

Zwei laute Schreie erschollen, ein männlicher und ein weiblicher. Dann war es da drüben still. Pablo und seine Tochter waren in Ohnmacht gesunken. Nur hüben noch rasselten die Ketten.

- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -

Oft scheint es fast, als ob die Vorsehung sich entschlossen habe, den Frevler entkommen zu lassen und die wohlberechtigten Pläne des Guten zu Schanden zu machen. Aber Gottes Wege sind nicht unsere Wege.

Nachdem Curt Helmers seine Besuche in Mexiko gemacht hatte, setzte er sich zu Pferde und verließ in Begleitung des Matrosen Peters die Hauptstadt. Sie erreichten nach einem raschen Ritte das Städtchen, in welchem sie auf Geierschnabel und Grandeprise trafen; dann ging die Reise weiter nach Norden.

Curt war mit guten Karten versehen und besaß in den beiden Jägern zwei Führer, wie es gar keine besseren geben konnte.

Cortejo und Landola hatten als Verfolgte nicht die offene Straße eingehalten, sondern sich einen Mestizen als Führer gemiethet, so daß sie nur langsam fortkamen, der schlecht passirbaren Seiten- und Gebirgswege wegen. Curt hingegen ritt die Straße und konnte dabei solche Strecken zurücklegen, daß er aller Wahrscheinlichkeit nach vor den beiden Verbrechern in Santa Jaga ankommen mußte.

Darauf rechnete er auch bestimmt. Aber diese Rechnung sollte sich leider als trügerisch erweisen.

Es war am zweiten Abende, als er in der Stadt Zimapan ankam. Hier gab es große Truppenbewegung. Die Stadt war bisher von den Franzosen besetzt gewesen, welche sich vorbereiteten, morgen unter ihrem Befehlshaber, einem Generale, sich nach Queretaro zu concentriren, um von da aus über Mexiko den Einschiffungshafen Vera Cruz zu erreichen. Im Norden der Stadt standen die Kaiserlichen unter dem ebenso bekannten wie bescholtenen General Marquez, bereit,


Ende der neunundneunzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Waldröschen

Karl May – Forschung und Werk