Lieferung 97

Karl May

5. Juli 1884

Waldröschen
oder
Die Rächerjagd rund um die Erde.

Großer Enthüllungsroman
über die
Geheimnisse der menschlichen Gesellschaft

von

Capitain Ramon Diaz de la Escosura.


// 2305 //

»Ist auch nicht nothwendig. Machen Sie nur auf!«

»Darf ich nicht!«

»Warum nicht?«

»Des Nachts haben nur Beamte Zutritt.«

»Bin doch vorhin auch mit dagewesen!«

»Wann?«

»Als wir die beiden Gefangenen brachten.«

»Ah, da war der Alkalde dabei.«

»Also ich darf nicht hinein?«

»Nein.«

»Auf keinen Fall?«

»Auf keinen Fall!«

»Da schlage doch gleich der leibhaftige Teufel drein! Und dabei darf und kann man nicht einmal durch die Mauer spucken, sonst würde ich mir einmal eine Güte thun! Sind die beiden Gefangenen noch da?«

»Nein.«

»Kreuzelement! Da hat man das Malheur! Wo stecken sie denn?«

»Beim Gouverneur.«

»Was wollen sie dort?«

»Weiß nicht.«

»Ein Offizier hat sie geholt?«

»Ja.«

»Ein französischer Capitän?«

»Ja.«

»Den haben Sie wohl aber hineingelassen?«

»Natürlich!«

»Ja, Spitzbuben läßt man hinein in diese Bude, ehrliche Leute aber nicht. Kerl, der Offizier war ja gar kein Offizier, sondern ein Schwindler und Betrüger. Sie sind so dumm, daß es Einen erbarmt. Ihre Dummheit kann mit Scheffeln gemessen und nur nach Meilen berechnet werden. Wenn Ihr Kaiser lauter solche Esel hat, so verdenke ich es ihm freilich nicht, daß er Euch da herüberschickt, denn der arme Kerl weiß sonst gar nicht, wohin mit diesem Viehzeuge!«

»Halt!« rief da der Posten, indem er den Schlüssel ansteckte.

»Halt, jetzt können Sie eintreten. Kommen Sie herein, lieber Freund!«

»Danke sehr! Weil ich raisonnirt habe, darf ich hinein, nicht wahr? Aber natürlich um arretirt zu werden? Nein, so dumm sind wir nicht wie Ihr. Ich danke für das Privatvergnügen! Laß Dich für mich einsperren, wenn Ihr noch leere Plätze habt. Ich empfehle mich bestens, mein lieber Sohn!

Als der Posten das Thor auf hatte und ihn fassen wollte, war Geierschnabel bereits an der nächsten Ecke. Er kehrte zu dem malträtirten Offizier zurück.

»Kommen Sie endlich wieder?« wehklagte dieser bereits von Weitem.

»Ja,« antwortete er.

»Ich dachte, daß Sie mich ganz und gar verlassen hätten.«

»Unsinn! Ich wollte nur sehen, ob Sie mich belogen haben oder nicht.«

»Nun, was haben Sie erfahren?«


// 2306 //

»Sie sind Offizier. Sie haben mir die Wahrheit gesagt.«

»Nun, so befreien Sie mich endlich einmal von den Fesseln.«

»Möchte gern, aber es geht ja nicht.«

»Mein Gott! Warum denn nicht?«

»Weil wir sonst den Kerl nicht fangen!«

»Welchen Kerl?«

»Der Sie überfallen hat.«

»Aber, Monsieur, wir könnten, wenn Sie wissen, wo er ist, ihn ja viel leichter ergreifen, wenn ich nicht gefesselt bin.«

»Nein, Master! Ich weiß ja gar nicht, wo er ist; aber er wird ganz sicher wiederkommen.«

»Wirklich? So müssen Sie mich ja erst recht losmachen!«

»Nein, sondern ich muß Sie erst recht gebunden lassen. Ja, ich muß Ihnen sogar den Knebel wieder anlegen.«

»Gott, warum denn aber?«

»Damit er nicht weiß, daß Jemand dagewesen ist. Er muß denken, Sie liegen noch grad so da wie erst, als er sie herlegte.«

»Das begreife ich nicht.«

»Aber ich! Und das ist mir die Hauptsache. Ich kenne diese Jäger. Ich weiß ganz genau, wie sie sich zu verhalten pflegen.«

»Aber wenn er mich nun noch weiter malträtirt?«

»Das fällt ihm gar nicht ein. Er hat gegen Sie nicht das Geringste. Er hat Sie nur deshalb niedergeschlagen, weil er Ihre Uniform gebraucht hat. Sobald er sie nicht mehr braucht, bringt er sie wieder.«

»So holen Sie doch lieber Hilfe herbei. Sie können ihn ja dann ganz leicht abfassen.«

»Ist nicht nothwendig. Ich weiß ja noch gar nicht einmal, was ich mit ihm anzufangen habe. Vielleicht werden wir noch die besten Freunde miteinander.«

»Sie und er?«

»Ja.«

»Mit diesem Garotteur? Er muß auf alle Fälle bestraft werden.«

»Das wollen wir uns erst überlegen. Alle Teufel! Horch! Da kommen zwei Leute! Er lauschte gespannt in das Gäßchen hinein.

»Nein,« sagte er dann, »es sind nicht Zwei, sondern Drei. Zwei treten gewöhnlich auf; der Dritte aber hat den leisen Savannenschritt. Sie sind es. Schnell das Tuch wieder um den Mund. Stellen Sie sich nur so, als ob Sie noch immer besinnungslos seien, und reden Sie kein Wort, sonst könnte es Ihnen doch noch schlimm ergehen!«

Ehe er es sich versah, hatte der Offizier den Knebel wieder an dem Munde, und dann war der Jäger mit einem raschen Satze über die alte Mauer hinüber.

Dort drückte er sich so an dieselbe, daß er auf keinen Fall gesehen werden konnte, aber jedes Wort hören mußte.

Die Schritte nahten und blieben in der Nähe halten. Ein leises Flüstern


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war zu hören, und dann löste sich eine Gestalt von den Dreien. Sie trat näher und bückte sich zu dem Offizier herab.

»Donnerwetter, muß mein Hieb dieses Mal ein kräftiger gewesen sein,« sagte der Mann halblaut, so daß die beiden Anderen ihn hören konnten.

»Warum?« fragte Einer.

»Der Kerl ist noch immer besinnungslos!«

»So haben Sie ihn vielleicht gar erschlagen!«

»Nein, Leben hat er noch. Ich werde jetzt seine Uniform ausziehen und ihm wieder herlegen.«

»Und die Fesseln? Die lassen Sie ihm?«

»Nein, ich nehme sie ihm ab. Wenn er erwacht, soll er sich frei entfernen können. Wollen Sie warten?«

»Nein. Wir gehen.«

»Nach dem Hotel?«

»Noch nicht. Wir haben erst noch einen kleinen Weg. Aber in einer halben Stunde sind wir dort und werden auch Sie einlassen.«

»Gut, so werde ich sehen, wie ich meine Zeit bis dahin verbringe.«

Die Zwei entfernten sich. Natürlich war es Niemand anders, als Cortejo und Landola. Als sie eine Strecke zurückgelegt hatten, meinte der Erstere zu dem Letzteren:

»Warum belogen Sie ihn?«

»Belogen? Wieso?«

»Indem Sie sagten, daß wir erst noch eine kleine Besorgung haben.«

»Ach so! Errathen Sie das nicht?«

»Nein.«

»Nun, daß wir ihn los werden.«

»Los werden? Warum?«

»Er kann uns von jetzt an nur schaden.«

»In wiefern?«

»Wer mir nichts nützt, der schadet mir, und Nutzen hat er uns genug gebracht. Wir wissen von ihm, wohin wir uns zu wenden haben. Am Liebsten möchte ich ihm eine Kugel durch den Kopf jagen.«

»Donnerwetter, er hat uns aus der Gefangenschaft befreit.«

»Ja, das ist auch der Grund, daß ich ihn nicht erschieße.«

»Und außerdem ist er Ihr Bruder.«

»Das geht mich ganz und gar nichts an. Ein Jeder ist sich selbst der Nächste. Er hat da draußen auf dem Gottesacker die Wächter belauscht. Wer weiß, was er da gehört hat. Wie nun, wenn er erfahren hat, daß ich Landola, sein Bruder bin.«

»Das wäre allerdings schlimm; aber ich bin überzeugt, daß er es nicht weiß.«

»Wieso?«

»Ich habe einen ganz und gar triftigen Grund dazu.«

»Den ich natürlich erfahren darf?«

»Das versteht sich. Er sucht seinen Bruder, um sich an ihm zu rächen.


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Wüßte er, daß Sie der Gesuchte sind, so hätte er uns nicht aus der Gefangenschaft befreit.«

»Was Sie da sagen, klingt sehr klug und weise, ist es aber leider nicht. Wir waren dem Strafgerichte verfallen; mein Stiefbruder wäre also zu gar keiner Rache gekommen. Ein Prairiejäger aber, der sich rächen will, der rächt sich persönlich, der überläßt diese Rache keinem Anderen. Ich halte es für sehr leicht möglich, daß er uns durchschaut hat, ohne es uns merken zu lassen. Und ebenso wahrscheinlich ist es, daß er uns befreit hat, nur daß wir nun desto sicherer ihm allein verfallen sind.«

»Alle Teufel! Wenn dies wäre!«

»Ich sage, daß dies sehr leicht möglich ist.«

»So müssen wir uns allerdings von ihm trennen. Aber wie?«

»Er sieht uns ja nicht wieder.«

»Er kommt doch in's Hotel.«

»Da sind wir fort.«

»Ah! Sie meinen, daß wir ein anderes Hotel beziehen?«

»Fällt mir nicht ein! Wir verlassen augenblicklich die Stadt.«

»Das geht nicht.«

»Warum nicht?«

»Wir sind ja mit unserer Aufgabe noch gar nicht zu Ende.«

»Sie ist gescheitert und gar nicht mehr zu lösen. Uebrigens kann uns der Ueberfall des Offiziers viel Schaden machen, und außerdem haben wir als entflohene Gefangene hier keinen sicheren Aufenthalt.«

»Das ist wahr. Also fort.«

»Und zwar sogleich. Aber mein Bruder darf es nicht ahnen. Wir kehren nach dem Hotel zurück, schleichen uns hinein und stehlen uns nur mit dem Allernothwendigsten fort. Sieht er, daß unsere Pferde und Effecten noch da sind, so wird er glauben, wir kehren zurück und Tage lang auf uns warten.«

»Dann wird er doch nach Santa Jaga kommen und uns finden.«

»Nein, denn wir werden dort bereits zu Ende sein.«

»Wie aber kommen wir hin? Laufen können wir doch nicht.«

»Nein. Wir reiten.«

»Woher Pferde nehmen, wenn wir die unserigen zurücklassen?«

»Kaufen. Jeder Pferdeverleiher hilft uns aus, sogar mitten in der Nacht.«

»Wissen Sie einen?«

»Ich sah heute das Schild eines solchen gar nicht weit von unserem Hotel. An ihn können wir uns ja wenden.«

»Leihen wäre wohl ebenso gut!«

»Nein, denn da müßten wir sagen, wohin wir wollen. Sind aber die Pferde unser Eigenthum, so brauchen wir keinem Menschen über unser Ziel Aufschluß zu geben.«

»Das ist richtig. Beeilen wir uns also, damit wir bereits fort sind, wenn Ihr Bruder zurückkehrt.«

Als sie ihren Gasthof erreichten, stiegen sie über die Hofmauer und gelangten ganz unbemerkt auf ihr Zimmer. Dort nahmen sie, wie vorher besprochen worden


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war, nur das Allernöthigste mit und kehrten auf demselben Wege nach der Straße zurück.

Nach einigem Klopfen gelang es ihnen, den Pferdeverleiher aus dem Schlafe zu wecken. Sie sagten, daß sie auf Miethpferden soeben aus Queretaro angekommen seien und, da sie augenblicklich nach Puebla weiter müßten, so seien sie gezwungen, sich noch während dieser Nacht und in aller Eile Pferde zu kaufen.

Der Mann führte sie in den Stall und zeigte ihnen die Pferde. Sie wurden schnell handelseinig, und nahmen für jedes Thier auch einen Sattel, da sie, um Grandeprise zu täuschen, auch die ihrigen im Hotel zurückgelassen hatten.

Unterdessen war der Jäger zu dem scheinbar noch ohnmächtigen Offizier getreten und hatte die Uniform ausgezogen und den Degen abgelegt. An Stelle dieser Sachen zog er seine eigenen Kleidungsstücke an; dann entfernte er sich, nachdem er dem regungslos Daliegenden noch den Knebel und die Fesseln abgenommen hatte.

Jetzt war Geierschnabels Zeit gekommen. Er schwang sich wieder über die Mauer herüber und schritt, ohne sich weiter um den Offizier, um den er ja nun unbesorgt zu sein brauchte, zu bekümmern, dem sich Entfernenden nach. Dabei befolgte er die Klugheit, seine Stiefel auszuziehen, so daß es nun ganz unmöglich war, daß seine Schritte gehört werden konnten.

Er folgte seinem Vordermanne langsam, so wie dieser ging, durch mehrere Straßen, bis dieser, als ungefähr eine halbe Stunde verflossen war, sein Hotel erreichte. Dort blieb Grandeprise eine ganze Weile stehen; als ihm aber das Warten zu lang dauerte, stieg er über den Zaun, um durch den Hof nach seinem Gelaß zu gelangen.

Geierschnabel schritt sinnend eine kleine Strecke weiter. Es war jetzt die Nacht sehr vorgeschritten, und über den Anhöhen des Ostens begann sich ein falbes Licht auszubreiten.

Da wurde in kurzer Entfernung ein Thor geöffnet, aus welchem zwei Reiter hervorkamen. Am Thore stand ein Mann.

»A Dios, Sennores!« grüßte er. »Glückliche Reise!«

»A Dios,« antwortete Einer von den Zweien. »Der Handel, den Sie gemacht haben, ist nicht schlecht zu nennen.«

Sie ritten davon, und der Mann verschwand hinter seinem Thore. Geierschnabel blickte den Reitern nach, oder vielmehr, er horchte ihnen nach, denn von ihren Gestalten waren nicht einmal die Umrisse deutlich zu erkennen gewesen.

»Bei Gott,« murmelte er. »Die Stimme dieses Reiters war ganz genau Diejenige, welche dort bei dem gefesselten Offizier mit dem famosen Jäger gesprochen hat. Aber das muß eine Täuschung sein, da diese Reiter eine Reise antreten, während Cortejo und Landola nach ihrem Hotel zurückgekehrt sind.«

Er schritt sinnend eine kleine Strecke weiter, dann blieb er wieder überlegend stehen.

»Der Teufel traue sich, und noch weniger Anderen!« brummte er. »In dieser schlechten Welt, in der es keinen einzigen guten Menschen giebt, wird selbst der beste Mensch von den Andern betrogen. Diese beiden Spitzbuben sind so fein und schlau, daß selbst ein Geierschnabel sich gratuliren kann, wenn es ihm


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gelingt, sie ein einziges Mal zu überlisten. Das Sicherste ist doch das Beste. Ich werde mich doch erkundigen, obgleich in diesem Wigwam, was sie hier Hotel oder Gasthaus nennen, noch keine Menschenseele wach sein wird.«

Er kehrte nach dem Hotel zurück. Seit der Anwesenheit der Franzosen hatten alle diese Häuser, wo früher fest an den alten Gebräuchen gehalten wurde, sich den europäischen Sitten anbequemt. Es waren da Kellner, Kellnerinnen und Hausknechte zu finden. Ein Geist von der letzteren Sorte erschien, als Geierschnabel die Glocke zum dritten Male in Bewegung gesetzt hatte. Er machte ein höchst schläfriges und verdrießliches Gesicht und fragte:

»Wer klingelt denn mitten in der Nacht?«

»Ich,« antwortete Geierschnabel mit Phlegma.

»Das merke ich. Aber was sind Sie denn?«

»Ein Fremder.«

»Auch das merke ich. Und was wollen Sie?«

»Mit Ihnen sprechen.«

»Sogar dieses bemerke ich. Aber ich habe keine Zeit. Gute Nacht.«

Er wollte die Thür schließen; aber Geierschnabel war vorsichtig und rasch genug, ihn daran zu verhindern. Er ergriff ihn beim Arme und fragte, obgleich der Hausknecht noch viel älter schien, als er selbst:

»Mein lieber Sohn, warte noch einen Augenblick. Weißt Du, was ein Frank ist?«

Der Mann war über diese Frage ganz verblüfft.

»Ja,« antwortete er.

»Nun, was?«

»Ein französisches Geldstück, welches den fünften Theil eines Duro oder Dollar werth ist.«

»Schön, mein Sohn. Und weißt Du auch, was ein Duro oder Dollar ist?«

»Fünf mal so viel als ein Frank.«

»Siehe, Du weißt das ganz genau. So einen Duro und noch fünf Franks, also zwei Dollars oder zehn Franks gebe ich Dir, wenn Du Deinen lieblichen Mund öffnen willst, um mir einige kleine Fragen zu beantworten.«

Das war dem Manne noch selten vorgekommen. Er starrte den splendiden Fremden an und fragte:

»Ist das wahr, Sennor?«

»Ja. Und außerdem werde ich Dich Sie nennen, während ich Sie bisher Du genannt habe.«

»So geben Sie zuerst einmal das Geld!«

»Nein, nein, mein Sohn. Erst mußt Du mir sagen, ob Sie mir antworten wollen, dann werden Sie sehen, daß Du das Geld sogleich und ehrlich ausgezahlt bekommst.«

»Gut. Ich werde antworten.«

»Das freut mich. Hier haben Sie zehn Franks.«

Er griff in die Tasche, zog seinen Lederbeutel und drückte ihm ein Goldstück von dem angegebenen Werthe in die Hand.

»Sennor,« meinte der Hausknecht, »ich danke Ihnen. Unsereiner braucht


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seinen Schlaf sehr nothwendig, aber für so ein Trinkgeld stehe ich zu jeder Zeit auf. Fragen Sie!«

»Es ist nicht viel, was ich zu fragen habe. Logiren heute viele Fremde hier?«

»Nicht sehr viele. Zehn oder elf.«

»Sind drei dabei, welche zusammen gehören?«

»Nein, wenigstens glaube ich es nicht. Alle wohnen einzeln außer Zweien, welche ein Zimmer zusammen genommen haben.«

»Kennen Sie die Namen dieser Sennores?«

»Der Eine ist ein Don Antonio Veridante und der Andere sein Secretär.«

»Ein Dritter ist nicht dabei?«

»Ein Dritter kam mit ihnen, wohnt aber nicht bei ihnen.«

»Wie heißt er?«

»Ich weiß es nicht.«

»Was ist er?«

»Auch das weiß ich nicht. Er geht sehr einfach gekleidet, fast wie ein armer Vaquero oder Jäger.«

»Sind diese drei Personen am Abende ausgegangen?«

»Sie sind seit Einbruch der Nacht fort.«

»Aber sie sind wiedergekommen?«

»Ich habe nichts gemerkt.«

»Ich habe einige vertrauliche Worte mit diesem Jäger oder Vaquero zu sprechen. Wird dies möglich sein?«

»Werden Sie es verantworten, wenn ich ihn wecke, falls er überhaupt daheim ist?«

»Er ist daheim. Und verantworten werde ich es. Giebt es einen Raum, in welchem wir sein können, ohne belauscht zu werden?«

»Er schläft nur in einer Hängematte und kann Sie also bei sich empfangen, wenn er will. Soll ich ihm einen Namen nennen?«

»Ja. Sagen Sie ihm, Don Velasquo d'Alcantara y Perfedo de Rinanza y Hallendi de Salvado y Caranna de Vesta-Vista-Vusta wünscht, ihn zu sprechen.«

Geierschnabel sagte diesen Namen in einem so adelsstolzen Tone, daß der dienstbare Geist gar nicht daran zweifelte, daß der Sprecher berechtigt sei, ihn zu tragen. Nur fiel es dem Hausknecht gar nicht leicht, diese Worte mit einem Male zu behalten. Er bat daher:

»Wollen Sie mir den Namen nicht noch einmal nennen, Don Velasquo? Wir sind auf so vornehme Sennores noch nicht eingerichtet.«

»Noch nicht eingerichtet? Mit dem Gedächtnisse. Gut. Wenn ich mehr hier verkehre, wird diese Schwäche weichen. Also ich bin Don Velasquo d'Alcantara y Perfedo de Rinanza y Hallendi de Salvado y Caranna de Vesta-Vista-Vusta.«

»Schön. Jetzt weiß ich es sehr genau. Entschuldigen Sie, daß ich Sie an der Thür warten lasse, aber in dem Zimmer schlafen die Maulthiertreiber auf der Diele.«

»Thut nichts. Ich will weder die Treiber noch die Diele in ihrer Ruhe stören.«

Der Hausknecht ging. Vom Hofe aus führte eine Holztreppe nach den


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Räumen empor, welche hier mit der Bezeichnung Fremdenzimmer beehrt wurden. Der Mann klopfte leise an eine der Thüren. Grandeprise war erst vor wenigen Minuten nach Hause gekommen und schlief noch nicht. Er lag angekleidet in der Matte.

»Wer ist's?« fragte er, erstaunt über dieses Klopfen.

»Der Hausmeister. Darf ich einmal hereinkommen?«

»Ja.«

»Mit dem Lichte?«

»Immerhin.«

Die Thür öffnete sich leise, damit kein anderer Gast geweckt werde, und der Mann trat ein.

»Was giebt es denn?« fragte der Jäger, erstaunt, befremdet und besorgt zu gleicher Zeit.

»Sennor, es ist ein Fremder unten, der Sie zu sprechen wünscht.«

»Wer?«

»Ein hoher Herr von Adel. Es ist ein Don - Don - Don Alcanto de Velasquo y Rifeda de Percantara y Hallmanza de Rillendo y Carvado de Salranna y Vesta de Vista und y Vusta.«

Der Jäger schüttelte den Kopf.

»Was will er?«

»Er redete von einer freundschaftlichen Besprechung.«

»Ist er von hier?«

»Nein, jedenfalls nicht.«

Das beruhigte ihn; aber dennoch fragte er noch:

»Woher weiß dieser Don, daß ich hier wohne?«

»Er muß Sie kennen, denn als ich sagte, daß Sie wie ein Vaquero oder Jäger gekleidet seien, da schickte er mich herauf.«

»Nun, da bin ich neugierig. Er mag kommen!«

Er brannte sich, als der Hausknecht sich entfernt hatte, sein Licht an und blickte nach dem Revolver, ob dieser auch im Schusse sei. Nach dem, was heute vorgekommen war, mußte er immerhin auf eine nicht sehr angenehme Ueberraschung vorbereitet sein.

Da trat der Fremde ein und zog die Thür hinter sich zu, deren Riegel er obendrein vorsichtig vorschob. Die Beiden blickten einander ganz erstaunt an. Das hatte Keiner von ihnen erwartet.

»Alle Teufel!« rief der Eine.

»Alle Wetter!« der Andere.

»Geierschnabel!«

»Ihr hier?«

»Wie kommt Ihr hierher nach Mexiko?«

»Nein, wie kommt Ihr her?«

»Ich sah Euch doch bei Juarez!«

»Und ich sah Euch nach dem Rio del Norte gehen. Euer Gesicht kenne ich, aber Euren Namen noch nicht.«

»Grandeprise.«


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»Grandeprise? Der dort drüben am Ufer von Texas haust?«

»Ja.«

»Ah, Euer Name hat, so viel Euch betrifft, einen guten Klang, aber es ist auch etwas Widerwärtiges dabei.«

»Wieso?«

»Es giebt einen großen Schuft, der grad ebenso heißt.«

»Ah! Kennt Ihr ihn?«

»Sehr, sehr sogar,« nickte Geierschnabel.

»Persönlich?«

»Persönlich und per Renommée.«

»Ist das möglich? Hört, ich suche diesen Kerl schon seit langer Zeit! Geierschnabel blickte ihn befremdet an.

»Ihr sucht ihn?« fragte er.

»Ja.«

»Hm. Hm. Und Ihr habt ihn noch nicht gefunden?«

»Leider nicht.«

»So, so. Hm, hm. Ich denke, ein Jäger muß doch Augen haben!«

»Hoffentlich habe ich welche!«

»Ja, aber ob sie sehen gelernt haben!«

»Ich bin überzeugt davon.«

»Ich nicht. Ich bezweifle es sogar sehr!«

Die Miene Grandeprise's verfinsterte sich.

»Soll ich etwa annehmen, daß Ihr mich beleidigen wollt?« fragte er.

»Nein. Aber setzt Euch doch einmal in Eure Hängematte und erlaubt mir, mich da dieses Stuhles zu bedienen. Dann werde ich Euch etwas sagen, was wir näher zu besprechen haben werden.«

»Setzt Euch. Was ist's, das Ihr mir zu sagen habt?«

Geierschnabel setzte sich auf den Stuhl, spuckte sein Primchen mit einem dicken Saftstrahle über die ganze Stube hinüber, biß sich ein neues, gewaltiges Stück Kautabak ab und erst dann, als dieses in der Backe den gehörigen Platz gefunden hatte, sagte er:

»Ich will Euch nämlich in aller Freundschaft bemerken, daß Ihr entweder ein ungeheurer Schurke oder ein ganz und gar bedauerlicher Schwachkopf seid! Da glitt der Andere blitzschnell aus seiner Hängematte heraus, zog den Revolver, postirte sich vor den Sprecher hin und drohte:

»Hölle und Teufel! Wißt Ihr, wie man auf ein solches Wort zu antworten pflegt?«

Geierschnabel nickte phlegmatisch mit dem Kopfe und meinte:

»Unter Jägern mit dem Messer oder mit der Kugel, falls die Sache nicht zu beweisen ist.«

»Ich hoffe aber nicht, daß Ihr es beweisen könnt, Master!«

»Pah! Regt Euch nur nicht auf! Was Geierschnabel einmal sagt, das hat er auch durchdacht und überlegt und das pflegt er auch zu beweisen. Steckt Eure Drehpistole ein und hört mich an. Habe ich unrecht, so bin ich dabei, wenn wir uns die Hälse brechen wollen.«


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Der Andere behielt den Revolver in der Hand, ließ sich aber finsteren Blickes in die Hängematte zurückgleiten und sagte:

»So redet! Aber nehmt Euch in Acht! Ein Wort zu viel, und meine Kugel sitzt Euch im Kopfe!«

»Oder Euch die meine!« lachte Geierschnabel. »Ihr behauptet, mich zu kennen und täuscht Euch da doch gewaltig. Meine Kugel hätte heute schon einige Male Zeit und Gelegenheit, vielleicht auch Veranlassung gehabt, Euch im Kopfe zu sitzen.«

»Wieso?«

»Das ist jetzt Nebensache. Zunächst habe ich Euch zu beweisen, daß Ihr entweder ein Bösewicht oder ein Schwachkopf seid.«

»Ich werde auf diesen Beweis vergebens warten.«

»Ihr werdet ihn sofort erhalten. Antwortet mir einmal aufrichtig. Ihr wart in Vera Cruz?«

»Ja.«

»Dort lerntet Ihr zwei Männer kennen? Einen Don Antonio Veridante und seinen Secretär?«

»Ja.«

»Ihr kamt mit ihnen gestern nach Mexiko und machtet am Abend draußen auf dem Friedhofe die Wache, als diese beiden Männer eine Leichenschändung und einen Betrug vornahmen?«

Grandeprise blickte ganz erstaunt auf.

»Wie kommt Ihr zu dieser Frage?« meinte er.

»Beantwortet sie!«

»Ja, ich hatte die Wache; aber es ist dabei weder von einer Schändung noch von einem Betruge die Rede.«

»Davon seid Ihr überzeugt?«

»Ich schwöre tausend Eide darauf!« betheuerte Grandeprise.

»Nun, ich will Euch glauben. Aber damit beweist Ihr, daß Ihr zwar kein Schurke, aber dafür ein ganz gewaltiger Schwachkopf seid.«

Der Andere wollte abermals aufbrausen, aber Geierschnabel fiel ihm schnell in die Rede:

»Seid ruhig! Ich bringe Beweise. Eure beiden Begleiter wurden gefangen genommen? Nicht wahr?«

»Leider ja.«

»Um sie zu befreien, schlugt Ihr einen Offizier nieder und holtet die Kerls heraus?«

Jetzt erschrak Grandeprise.

»Alle Wetter!« meinte er. »Woher wißt Ihr das?«

»Sagt erst, ob es die Wahrheit ist oder nicht.«

»Ich kann es nicht leugnen. Es war ein wohl gelungener Trapperstreich, auf den ich stolz sein kann, und ich hoffe, daß Ihr als Kamerad mich nicht verrathen werdet!«

»Ich bin kein Verräther. Ich hätte Euch schon längst verrathen können, aber ich beneide Euch keineswegs um diesen Streich, den Ihr einen wohlgelungenen


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Trapperstreich nennt. Das war er nicht; aber wißt Ihr, was er ganz im Gegentheile war?«

»Nun?«

»Ein recht dummer Jungenstreich!«

»Master Geierschnabel -« brauste Grandeprise auf.

»Ruhig, ruhig,« antwortete der Genannte. »Ich werde Euch auch das beweisen. Vorher aber sagt mir doch einmal, woher Ihr eigentlich jenen Schurken Grandeprise kennt?«

»Warum fragt Ihr?«

»Weil ich weiß, daß ich Euch dienlich und behilflich sein kann.«

Grandeprise blickte ihm forschend in das Gesicht und sagte dann:

»Alle Welt weiß, daß Geierschnabel ein ehrlicher Kerl und ein tüchtiger Westmann ist. Vor so Einem muß man Respect haben, und darum will ich es ruhig hinnehmen, daß Ihr so mit mir redet, wie ein Anderer es niemals wagen dürfte. Ich will Euch sagen, daß dieser Seeräuber Grandeprise mein ärgster Feind ist und daß ich ihn bereits seit langen Jahren suche, um endlich einmal Abrechnung mit ihm zu halten.«

»So, so,« lachte Geierschnabel. »Das ist lustig. Ihr sucht den Kerl und habt ihn doch. Und nachdem ich mir mit Anderen die größte Mühe gegeben habe, ihn aufzufinden und festzusetzen, da holt Ihr ihn wieder heraus und laßt ihn entlaufen!«

Grandeprise wußte nicht, was er sagen und denken solle.

»Ich verstehe Euch nicht,« meinte er.

»Das glaube ich. Wer so einen dummen Jungenstreich verübt hat, der pflegt dann die klügeren Leute nicht zu verstehen. Ich muß schon Mitleid haben und Euch das Verständniß erleichtern. Ist Euch der Name Cortejo bekannt?«

»Ja,« antwortete der Gefragte sehr kurz.

»Es giebt einen Cortejo in Mexiko und einen Cortejo drüben im Mutterlande. Beide sind die größten Schufte auf der Erde und sie haben sich den allergrößten engagirt, um ihre Schlechtigkeiten auszuführen.«

»Wer ist das?«

»Landola, den Ihr Grandeprise nennt.«

»Ah! Ihr kennt auch diesen ersteren Namen?«

»Sehr gut sogar. Ist Euch der Name Rodriganda bekannt?«

»Ja. Es giebt ein Grafengeschlecht dieses Namens.«

»Dieses Geschlecht ist sehr reich. Es waren zwei Brüder da, bei denen die beiden Cortejo's als Verwalter oder Verweser angestellt waren. Diese Letzteren wollten den Reichthum an sich bringen. Den einen Grafen machten sie wahnsinnig und den anderen scheintodt. Als er begraben war, gruben sie ihn aus, weckten ihn auf und ließen ihn durch Landola in die Sclaverei verkaufen. Der eine Cortejo hatte einen Sohn, dieser wurde gegen einen Sohn des Rodriganda umgewechselt und so kam die Grafschaft in die Hände der Cortejo's. Bei dieser Geschichte spielt nun allerlei Mord und Todtschlag nebenbei. Personen, die im Wege standen, wurden beseitigt, eine ganze Reihe von Personen setzte Landola auf eine wüste Insel aus, wo sie fast zwanzig Jahre lang im Elend schmachteten. Das ist zuviel,


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da muß der liebe Herrgott einmal mit Keulen dreinschlagen, und so haben sich einige Kerls, zu denen auch ich gehöre, zusammengethan, um diesen Menschen das Handwerk zu legen.«

Als Geierschnabel jetzt eine Pause machte, fiel Grandeprise ein:

»Landola ist ein Schurke ersten Ranges. Aber was Ihr von den Cortejo's sagt, das ist wohl übertrieben.«

»Wort für Wort wahr! Ich werde es Euch erzählen.«

Er gab dem irre geleiteten Jäger eine gedrängte aber vollständige Darstellung alles dessen, was er selbst wußte. Grandeprise hörte mit immer mehr wachsendem Erstaunen zu. Als der Erzähler geendet hatte, rief er:

»Herrgott! Und diesen Cortejo habe ich gerettet!«

»Ihr?« fragte Geierschnabel überrascht.

»Ja. O, nun wird mir Alles klar. Ohne mich wäre er blind gewesen und verschmachtet.«

»Sakkerment! Das müßt Ihr erzählen.«

»Ich werde es thun, obgleich ich mich dabei gewaltig blamire. Ich fange an, zu glauben, daß ich dumm gehandelt habe.«

»O, noch zehnmal dümmer, als Ihr jetzt vielleicht noch ahnt. Aber erzählt. Dadurch kommt vielleicht nun endlich Licht in diese jetzt noch dunkle Sache.«

Grandeprise berichtete Alles von dem Augenblicke an, wo er Pablo Cortejo am Rio Grande getroffen hatte, bis zu den Ereignissen des gegenwärtigen Tages. Geierschnabel hörte mit größter Spannung zu, dann sagte er:

»Hört, Master, es giebt doch noch immer einen Gott im Himmel. Dieser ist es, der mir den Gedanken eingegeben hat, Euch hier aufzusuchen; denn nun weiß ich, wo ohngefähr wir die so spurlos Verschwundenen aufzusuchen haben. Aber nun wir gegenseitig Alles wissen, sollt Ihr auch das Letzte erfahren, was Ihr noch nicht wißt, und damit will ich beweisen, daß Ihr wirklich wie ein Schwachkopf gehandelt und einen dummen Jungenstreich begangen habt. Wißt Ihr denn, wer dieser Advocat Don Antonio Veridante eigentlich ist?«

»Nun?«

»Gasparino Cortejo!«

»Unmöglich!«

»Freilich! Er sucht seinen Bruder. Heute Abend wollte er eine Leiche in den leeren Sarg des noch lebenden Grafen Ferdinando paschen. Wir erwischten ihn. Ihr aber habt ihn wieder befreit.«

»Ich wiederhole es: das ist unmöglich!«

»Pah! In diesem Falle wird Euch das Andere noch viel unmöglicher erscheinen.«

»Was?«

»Wißt Ihr denn, wer der Secretär dieses Veridante, dieses Gasparino Cortejo eigentlich war?«

»Nicht wirklich sein Secretär?«

»O nein. Rathet es einmal!«

»Ich rathe es nicht.«


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»Nun, dieser Secretär ist kein Anderer als Der, den Ihr so lange vergeblich gesucht habt, nämlich Henrico Landola, der Seeräubercapitän Grandeprise.«

Der Jäger stand wie erstarrt da. Er war bereits vorher von der Hängematte aufgesprungen. Jetzt bot er mit seinen ausgestreckten Armen, seinem offenen Munde und seinen weit aufgerissenen Augen ein Bild des verkörperten Erstaunens, des Fleisch gewordenen Entsetzens dar.

»Der - -?« rief er endlich. »Der - der soll Henrico Landola gewesen sein?«

»Ja. Er hat Euch betrogen, getäuscht und ausgelacht, und Ihr, o, Ihr habt ihm vertraut; Ihr habt ihm Alles auf's Wort geglaubt; Ihr seid der Mitschuldige ihres Verbrechens geworden. Und zuletzt, als wir diesen Menschen, der eigentlich ein Teufel ist, festgenommen hatten, da habt Ihr Freiheit, Ehre, Reputation und selbst das Leben daran gesetzt, um ihn zu befreien, so daß diese Schlange nun wieder stechen und tödten kann wie vorher. Ist das nicht ein dummer Jungenstreich, der gar nicht zu begreifen ist?«

Grandeprise holte tief und gepreßt Athem und sagte dann:

»Wenn Alles möglich ist, so doch dieses nicht. Ich werde doch meinen Stiefbruder kennen.«

»Ah! Er ist noch dazu ein so naher Verwandter von Euch?«

»Ja. Diese Verwandtschaft war und ist noch heute der Fluch meines Lebens.«

»Nun, so sind Eure Augen erst recht nicht zu begreifen.«

»Und ich sage doch, er ist es nicht!«

»Pah! Sie Beide, Cortejo und er, haben es mir unten in der Gruft selbst gestanden, daß sie es sind!«

»Wirklich? Gewiß und wahrhaftig?«

»Bei Gott und allen Heiligen! Habt Ihr denn ganz und gar nicht bemerkt, daß Beide sich die Gesichter mit Kleister oder irgend einem ähnlichen Mittel beschmiert und so verändert hatten, daß allerdings ein sehr scharfes Auge dazu gehört hätte, hinter diese Schminke zu blicken?«

Da endlich fiel es Grandeprise wie Schuppen von den Augen.

»Mein Gott,« rief er, »das, ja das muß es gewesen sein. So oft ich die Stimme dieses Secretärs hörte, war es mir, als ob sie mir bekannt sei. Sie stieß mich von ihm ab. O, ich Esel aller Esel! Meine Dummheit ist gradezu grenzenlos gewesen. Geierschnabel, Ihr habt noch viel zu wenig gesagt, als Ihr mich einen Schwachkopf nanntet. Ich gebe Euch die Erlaubniß, noch ganz andere Worte zu gebrauchen.«

»Na, na,« lachte der Andere gutmüthig. »Ich konnte zwar Worte suchen wie Ochse, Rhinoceros und so weiter, aber ich will das lieber unterlassen. Sobald Einer seine Fehler erkennt, hat er schon begonnen, ein gescheidter Mann zu sein.«

»Aber die Folgen, die Folgen,« rief Grandeprise.

»Welche Folgen?«

»Daß ich bei dieser Leichengeschichte Wache gestanden bin, daß ich mich an einem Offiziere vergriffen und die Gefangenen befreit habe! Wie habt Ihr das denn herausbekommen?«


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Geierschnabel erzählte ihm auch das.

»Nein, wie dumm, wie dumm von mir,« meinte Grandeprise. »Und ich glaubte wirklich, daß dieser Offizier während der ganzen Zeit besinnungslos dagelegen habe. Wißt Ihr denn, daß Ihr mich anzeigen müßt?«

»Wenn wir streng nach dem Gesetze gehen, so habt Ihr allerdings sehr recht. Hm! Hm!«

»Werdet Ihr es thun?«

»Es ist das freilich eine ganz verfluchte Geschichte. Aber Ihr seid Jäger wie ich und sonst ein braver Kerl. Wir sind Kameraden, und in der Savanne haben wir unsere eigenen Regeln und Gebräuche. Was scheeren wir uns um die Gesetze anderer Menschen. Sodann müssen wir noch Zweierlei bedenken. Nämlich erstens wird es nicht anders und besser, wenn ich Euch anzeige; denn die beiden Entflohenen bekommen wir dadurch nicht zurück. Und zweitens ist es ein wahres Glück, daß Ihr mir in die Hand gelaufen seid. Es ist dadurch Licht in unsere Angelegenheit gekommen, und wir haben den Ort kennen gelernt, an welchem wir die Cortejo's und den Landola zu suchen haben.«

»Wo?«

»Im Kloster della Barbara zu Santa Jaga.«

Da klärte sich plötzlich das Gesicht Grandeprise's auf.

»Ihr irrt, Ihr irrt!« sagte er. »Wir haben sie näher, viel, viel näher. Ihr glaubt gar nicht, wie leicht wir sie haben können.«

Geierschnabel ließ ein fast mitleidiges Lächeln sehen und sagte:

»Da habt Ihr sehr recht; ich glaube es allerdings nicht!«

»Und doch sollt Ihr in Kurzem überzeugt sein.«

»Wohl nicht! Ihr meint, daß Landola und Gasparino Cortejo sich hier im Hotel befinden?«

»Woher wißt Ihr das?«

»O, als ich hinter der Mauer stand, hörte ich ja, daß sie Euch versprachen, nach Verlauf einer halben Stunde hier zu sein.«

»Sie sind auch hier!«

»Habt Ihr sie gesehen?«

»Das allerdings nicht.«

»Nun seht! Sie wollten Euch hier einlassen; aber Ihr habt über die Mauer steigen müssen.«

»Ah! Auch das habt Ihr beobachtet?«

»Ja. Ihr seht hieraus, daß der Geierschnabel dem Grandeprise doch wohl etwas überlegen ist, obgleich man seine alte Posaune für eine Höllenmaschine gehalten hat, hahaha! Könnt Ihr in das Zimmer kommen, welches die Beiden bewohnen?«

»Zu jeder Minute.«

»Gut, wollen sofort nachsehen!«

»Wir werden sie wecken; und dann sollen sie mir Alles bezahlen, was ich bisher bezahlen mußte!«

»Unsinn! Wir werden sie nicht wecken, denn sie werden gar nicht da sein.«

»So kommen sie noch!«


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»Hm! Ich habe so meine Ahnung, und ich glaube nicht, daß sie mich täuschen wird. Kommt, wollen sehen!«

Sie nahmen das Licht zur Hand und schlichen sich leise, um Niemand zu wecken, nach dem betreffenden Zimmer. Dasselbe war nicht verschlossen. Sie konnten ungehindert eintreten. Geierschnabel hatte recht, die Gesuchten waren nicht da.

»Sie werden aber doch zurückkehren,« behauptete Grandeprise.

»Meint Ihr? Da wären sie dumm genug. Mit Tagesanbruch wird man in der ganzen Stadt die Geschichte von dem falschen Offizier und den entkommenen Gefangenen wissen. Dann beginnen die Nachforschungen, und diese zwei Menschen sind klug genug, sich nicht so lange her zu setzen, bis sie ergriffen werden. Sie sind bereits fort.«

»Und mich hätten sie hier gelassen?«

»Warum nicht? Soll ich Euch das beweisen?«

»Wie wolltet Ihr das anfangen?«

»Sehr einfach. Schaut einmal her.«

Er hatte mit dem Lichte auf die Diele niedergeleuchtet und gesucht. Jetzt hob er etwas auf, was er Grandeprise hinhielt.

»Was ist das?«

»Straßenkoth,« antwortete der Gefragte.

»Fühlt ihn an! Wie findet Ihr ihn?«

»Donnerwetter! Er ist allerdings noch naß und weich.«

»Wann haben die Kerls diese Stube verlassen, ehe sie nach dem Gottesacker gingen?«

»Bei Anbruch des Abends.«

»Nun, von da her kann der Koth nicht stammen, denn bis jetzt wäre er hart und trocken geworden. Das, was wir hier sehen, ist vor kaum dreiviertel Stunden von dem Stiefel abgetreten worden. Sie sind also dagewesen.«

»So haben sie mich abermals betrogen!«

»Ich bin überzeugt davon!«

»Ah, ich weiß ein sicheres Mittel, um zu sehen, ob sie nach ihrer Befreiung aus dem Kerker hier gewesen sind.«

»Welches?«

»Sie legten ihre Uhren ab, als sie nach dem Kirchhofe gingen. Sie wollten sie nicht beschädigen. Dort hinter dem Spiegel müßten die Uhren noch stecken.«

Er ging hin und sah nach.

»Fort!« sagte er.

»Seht Ihr's! Während der halben Stunde, die sie Euch Zeit gaben, haben sie sich aus dem Staube gemacht. Sie haben Euch los sein wollen.«

»Donnerwetter! Das wird ihnen aber doch nicht gelingen! Sie sind ganz gewiß nach Santa Jaga, und dort werden wir sie erreichen. Wenigstens darin werde ich mich nicht täuschen.«

»Da will ich Euch nicht Unrecht geben. Aber hört meinen Rath: Die Polizei wird sehr rasch ausfindig machen, daß die Flüchtlinge hier gewohnt haben. Seid Ihr dann noch da, so ist es um Euch geschehen.«


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»Ihr habt recht. Ich gehe fort. Aber wohin?«

»Natürlich mit mir. Ihr müßt ja nothwendiger Weise dem Herrn Lieutenant Alles erzählen. Euer Gepäck ist nicht groß, und das Pferd laßt Ihr da.«

»Es ist mein Eigenthum.«

»Gut, so nehmt es mit. Der Hausknecht ist da. Bezahlt ihm Eure Zeche, so seid Ihr fertig. Meine Anwesenheit ist ein guter Vorwand, Euer Entfernen zu rechtfertigen.«

Das geschah. Nach kaum zehn Minuten ritt Grandeprise zum Thore hinaus, und Geierschnabel ging neben ihm her. Als sie bei dem Pferdevermiether vorüberkamen, stand derselbe vor der Thür. Er schien, seit man ihn aus dem Schlafe geweckt hatte, gar nicht wieder zur Ruhe gegangen zu sein. Geierschnabel benutzte die gute Gelegenheit und blieb bei ihm stehen. Er grüßte höflich und erkundigte sich:

»Habt Ihr viele Pferde im Stalle, Sennor?«

»Heute nur drei,« lautete die Antwort.

»Verkauft Ihr zufälliger Weise eins davon?«

»Verleihen, ja, aber verkaufen nicht. Ich brauche sie selbst. Die zwei letzten, welche ich nicht behalten konnte, habe ich heute Nacht verkauft.«

»An wen?«

»An zwei Fremde, die ich nicht kannte.«

»Woher kamen sie?«

»Aus Queretaro.«

»Und wohin wollten sie?«

»Nach La Puebla.«

Geierschnabel ließ sich ihr Aeußeres beschreiben und bekam die Ueberzeugung, daß es wirklich Cortejo und Landola gewesen seien.

Als er mit Grandeprise in seinen Gasthof kam, ließ er sofort Curt wecken. Dieser erstaunte natürlich sehr, als er erfuhr, was sich während seines Schlafes zugetragen hatte. Erst erzählte Geierschnabel, und dann kam die Reihe an Grandeprise, welcher seine Fehler eingestand ohne sie beschönigen zu wollen.

Natürlich wurde sofort beschlossen, den Flüchtigen nachzureiten. Curt hatte erst mit Herrn von Magnus und dem Alkalden zu sprechen. Er konnte also nicht augenblicklich fort. Es verstand sich ganz von selbst, daß bei den beiden genannten Herren die Betheiligung Grandeprises an den gestrigen Ereignissen mit Schweigen übergangen werden sollte. Um seiner Sicherheit willen mußte er sofort aufbrechen. Geierschnabel ritt mit ihm. Es wurde ausgemacht, daß Beide in Tula warten sollten, bis Curt mit Peters zu ihnen gestoßen sei.

Daß Cortejo und Landola beim Pferdeverleiher angegeben hatten, sie kämen aus Queretaro und wollten nach La Puebla, also grad umgekehrt ihre eigentliche Richtung, das konnte Niemand irre machen. Sie hatten gewußt, daß man sich nach ihnen erkundigen werde, und waren also beflissen gewesen, das grade Gegentheil von dem zu sagen, was eigentlich ihre Absicht sei.

Die Kunde von dem Geschehenen verbreitete sich am Morgen sehr rasch in der Stadt. Die gesammte Polizei gerieth in eine fieberhafte Thätigkeit, und entdeckte, ganz wie Geierschnabel vermuthet hatte, bald, wo die Entflohenen gewohnt hatten. Auch auf Grandeprise kam man dabei zu sprechen. Auch er war ver-


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dächtig. Der Hausknecht konnte angeben, daß noch während der Nacht ein fremder, reicher Don gekommen sei, der den Jäger oder Vaquero abgeholt hatte. Der Verdacht erstreckte sich sofort auch auf diesen Fremden. Man erkundigte sich, wie er geheißen und ausgesehen habe, und von diesem Augenblicke war im schwarzen Buche der Polizei zu lesen, daß man nach einem gewissen Don d'Alasquo Velantario y Carfedo de Peranna y Rivado de Salmanza y Hillenda de Vesta y Vista de Vusta vigilire, welcher zwar sehr noble Trinkgelder zu bezahlen pflege, aber eine ungeheure Nase besitze, welche sich ein Jeder als Warnungszeichen dienen lassen möge.

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Sechstes Capitel.

Das Ende.

In seinem Zimmer des Klosters della Barbara zu Santa Jaga, welches der freundliche Leser ja bereits kennt, saß Pater Hilario, in das Studium eines Buches vertieft. Dieses Buch war Luigi Regerdi's »Ueber die Kunst, Könige zu beherrschen«. Er war in diese Lectüre so sehr vertieft, daß er ein halblautes Klopfen an die Thür zweimal überhörte. Erst als das Klopfen zum dritten Male und zwar etwas ungeduldiger erklang, vernahm er es. Er blickte an die Uhr, zog die Brauen finster zusammen, wie man es bei einer unangenehmen Störung ja zu machen pflegt, und rief ein kurzes »Herein!«

Aber kaum hatte sich die Thür geöffnet, so daß er den Eintretenden bemerken konnte, so glätteten sich die Falten seines Gesichtes augenblicklich, und er erhob sich in einer Weise, welche deutlich besagte, daß der Kommende ihm sehr angenehm und willkommen sei.

Dieser war von kurzer, gedrungener Gestalt. Seine gelben Hängebacken ließen errathen, daß er nicht gewöhnt sei, zu darben; seine kleinen Aeuglein hatten jetzt einen freundlichen Glanz, konnten jedenfalls aber auch ganz anders blicken, und seine ganze Erscheinung war diejenige eines Mannes, welcher sich seines Werthes und seiner Würde vollständig bewußt ist.

"Tausendmal willkommen!"

»Ah, mein lieber Bruder in dem Herrn, willkommen, tausendmal willkommen,« sagte Hilario, indem er dem Eintretenden beide Hände entgegenstreckte. »Wie lieblich sind die Füße der Boten, die da Gutes predigen und Heil verkündigen. Euch hätte ich nicht erwartet; das will ich Euch aufrichtig sagen.«

Sie küßten sich gegenseitig auf die fast mit anekelnder Zärtlichkeit angebotenen Wangen, und dann antwortete der Andere:

»Der Mann des Glaubens wandelt die Wege der Vorsehung. Er weiß heute niemals, wohin sie ihn morgen führen werden, aber er bringt Segen mit seinen Schritten und Freude mit seinen Worten.«

Bei dieser mit großer Salbung hervorgebrachten Rede erheiterten sich die Züge des Paters Hilario in einer solchen Weise, daß seine Freundlichkeit eine wörtlich glänzende genannt werden konnte.

»Wie,« fragte er, »Ihr bringt mir gute Botschaft?«

»Ja,« nickte der Andere.


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»Woher? Aus dem Hauptquartiere des Juarez?«

»O nein. Was kann aus der Höhle der Hyäne Gutes kommen.«

»Aus dem Lager des französischen Marschalles?«

»Auch nicht. Der Franzose hat uns genommen, so viel er konnte; er wird uns nichts wiedergeben. Von ihm haben wir nichts zu erwarten.«

»Also vom Kaiser?« meinte er, jetzt sehr gespannt.

»Ja, lieber Bruder, vom Kaiser komme ich.«

»Ah, vom Kaiser selbst?«

»Nein. Der Kaiser ist ein Rohr. Von einer starken Hand gehalten, wird es wachsen und zunehmen, unbeschützt aber wird es der nächste Wind umbrechen, so daß es im Staube liegt. Ich komme vom obersten Diener des Herrn und habe Euch im Namen desselben einige Fragen vorzulegen.«

»Ich bin bereit, Euch zu antworten. Wollen wir aber nicht zu dem Worte auch den besten Quell des Wortes nehmen?«

Er öffnete ein kleines Schränkchen und zog eine Flasche hervor, aus welcher er zwei Gläser füllte. Sie stießen an und nahmen die Gläser an den Mund. Es war eigenthümlich, mit welcher scharfen Aufmerksamkeit der Gast sein Auge auf das Glas des Paters richtete, um sich zu überzeugen, ob derselbe auch wirklich trinken werde. Erst als er bemerkte, daß Hilario sein Glas bis über die Hälfte leerte, ließ auch er sich den süßen, starken Trank über die Lippen laufen. Es war fast, als ob er besorge, daß der Wein eine schädliche Substanz enthalten könne. Hielt er den Pater Hilario, gegen den er doch so freundlich war, für einen Giftmischer?

Sie setzten Beide die Gläser auf den Tisch und sich auf die Stühle daneben; dann begann der kleine Dicke:

»Sind wir hier vollständig sicher und unbeobachtet, mein Bruder?«

»Wir werden nicht gestört.«

»Auch wird Niemand unsere Worte vernehmen?«

»Man kann und wird uns nicht belauschen, denn mein Neffe ist angewiesen, Wache zu halten, sobald ich Besuch bei mir habe.«

»So wollen wir von Politik sprechen, oder vielmehr von einer Seite der Politik -«

Sein Blick fiel auf das aufgeschlagene Buch, welches der Pater auf den Tisch gelegt hatte. Er unterbrach sich, nahm es zur Hand, las den Titel, blätterte ein wenig darin und sagte dann, zustimmend mit dem Kopfe nickend:

»Ihr lest dieses Buch? Wißt Ihr bereits, daß es in einigen Ländern verboten ist?«

»Ja. Aber der Verfasser gehört zu den Unsrigen.«

»Folglich ist es werth, wenigstens gelesen zu werden. Auch ich habe es und kann sagen, daß ich es mit vielem Vergnügen durchlas. Was sagt Ihr zu dem Capitel über die Wahl der Mittel zu den im Titel angegebenen Zwecken?«

»Hm,« meinte der Pater mit vorsichtiger Zurückhaltung; »ich möchte fast glauben, daß der Verfasser sich hier etwas zu viel Freiheit gelassen hat.«

Der Dicke warf einen forschenden Blick auf ihn und fragte:

»Das ist Eure wirkliche, rückhaltslose Meinung?«


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»Muß es die nicht sein? Haben wir nicht nach den Regeln zu urtheilen, welche uns von den Lehren und Satzungen der heiligen Kirche vorgeschrieben werden?«

»Wollt Ihr Versteckens mit mir spielen, Pater Hilario?« fragte der Andere unter einem überlegenen Lächeln. »Was nennt Ihr Regeln, was sind Lehren und Satzungen?«

»Ich meine damit die heiligen Worte, welche aufbewahrt wurden, weil sie vom Geiste Gottes eingegeben worden sind.«

»Zugegeben. Aber lebt dieser Geist nicht mehr? Hat er etwa seine Kraft verloren? Hat er es vorgezogen, auf die Menschen nicht mehr zu wirken? Er hat auf Abraham, Moses, die Richter und Propheten, auf die Apostel und Evangelisten gewirkt. Er hat die Kirchenväter und Päpste erleuchtet; er hat sogar aus Calvin, Luther und Zwingli gesprochen. Was versteht Ihr überhaupt unter diesem Geist Gottes?«

»Kann man von ihm, von Gott und Geist eine Definition geben?«

»Nein, aber man kann den Begriff umschreiben, man kann seine Meinung in Worten ausdrücken. Hervorragende Männer werden stets vom Geiste Gottes erleuchtet. Die Menschheit entwickelt sich und der Geist accommodirt sich dem gegebenen Bildungszustande der Völker, wie sich der Lehrer dem seiner Schüler anbequemt. Die einfache Sprache, die kindliche Anschauung früherer Jahrhunderte ist überwunden. Was der Geist damals sagte, galt für die damals Lebenden, nicht für die später Kommenden. Darum ist jeder neue große Mann auch ein Reformator. Kann es also Satzungen und Regeln geben, welche für Jahrtausende hindurch unerschütterliche Geltung haben dürfen oder gar müssen?«

»Nein.«

»Nun gut. Wollen wir nun annehmen, daß der Geist nur in einigen Auserlesenen thätig sei? Wohnt er nicht vielmehr in uns Allen? Ich muß Euch da ganz bestimmt um Eure Meinung ersuchen.«

»Der Geist wohnt in Jedem, das ist nicht zu bestreiten, obgleich er, je nach der vorgefundenen Materie, den Einen mehr und den Anderen weniger erleuchtet.«

»Angenommen. Was von einzelnen Jahrhunderten, von einzelnen Nationen gilt, das muß auch für jeden einzelnen Menschen gelten. Der Geist bedient sich nicht einer Universalsprache, er spricht mit dem Einzelnen in derjenigen Weise, welche demselben verständlich ist. Die Lehren und Regeln, welche er dem Einen giebt, können nicht für einen Anderen oder für Alle passen. Auf diese Weise entwickeln sich individuelle Satzungen und Gesetze, welche, da sie vom Geiste stammen, heiliger und unverletzlicher sind, als alle die sogenannten Gesetze, welche die Herren Juristen zusammenstellen. Der Mensch, als vom Geiste Gottes beeinflußt, ist nur sich selbst verantwortlich; er hat Niemand Rechenschaft abzulegen über das, was er denkt, redet und thut. Das ist das Resultat der einzig richtigen Philosophie. Wir werden nicht das Reich der Freiheit erlangen, in welchem ein Jeder sein eigener Richter und Gesetzgeber ist. Jetzt aber gehören nur wenig Auserwählte zu demselben. Der Verfasser dieses Buches beweist, daß er einer dieser Auserwählten ist.«

Es war eine furchtbare Philosophie, welche dieser kleine, dicke Mensch ent-


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wickelte, eine Philosophie, welche allen Gesetzen Hohn sprach und einem Jeden grad das zu thun erlaubte, was ihm beliebt; es war die Philosophie der Bosheit, des Verderbens.

Er blickte scheinbar nachdenklich und wie auf eine Fortsetzung seiner Rede sinnend, vor sich hin; aber diese Pause hatte doch nur den Zweck, die Wirkung zu taxiren, welche seine Worte auf den Pater gemacht hatten. Dann fragte er:

»Darf ich annehmen, daß Ihr mit diesen Deductionen einverstanden seid?«

Der Pater zuckte die Achsel und antwortete:

»Im Allgemeinen, ja; aber im Besonderen nicht.«

»Wieso?«

»Es schmeichelt mir, daß ein jeder Mensch, also auch ich vom Geiste erleuchtet sein soll. Aber grad der Umstand, daß diese Erleuchtung je nach der Individualität eine verschiedene ist, läßt mich annehmen, daß zwei Menschen niemals vollständig, sondern nur im Allgemeinen gleicher Meinung sein können. Ich muß mir daher die Individualität meines Denkens und Handelns vorbehalten.«

Ahnte der Pater vielleicht, daß der Andere das Gespräch nicht ohne Absicht auf dieses Thema gebracht hatte? Ahnte er, daß derselbe damit irgend einen gefährlichen Zweck verfolge? Errieth er diesen Zweck und war er etwa entschlossen, sich gegen denselben aufzulehnen?

Der Andere schien dieser Ansicht zu sein, denn seine Aeuglein verkleinerten sich noch mehr und er nagte einige Augenblicke lang mit den Zähnen an der Unterlippe, ehe er in scheinbar gleichgiltigem Tone sagte:

»Wem fällt es denn ein, Eure Individualität anzugreifen? Wir sprachen ja nur darüber, daß der Verfasser dieses Buches zu weit zu gehen scheint, und es war, grad da er einer der Unserigen ist, meine Pflicht, ihn gegen diesen Vorwurf in Schutz zu nehmen.«

»Es sollte eine Meinung sein, aber kein Vorwurf,« entschuldigte sich Pater Hilario.

»Das freut mich um Euretwillen und besonders auch des Umstandes wegen, daß wir sehr oft, ja meist gezwungen sind, nach den Anschauungen dieses Buches zu handeln. Der Beweis für diese Behauptung wird sich auch Euch gegenwärtig bieten.«

»So vermuthe ich, daß Ihr mir den Stoff oder vielmehr den Auftrag zu einer solchen Handlung bringt.«

»Ihr vermuthet richtig. Es soll Euch Gelegenheit gegeben werden zu einer That des Geistes, auf welche Ihr stolz sein könnt, zu einer That, welche große Belohnung finden wird.«

»Ich bin gern bereit, Euern Auftrag entgegen zu nehmen.«

»So hört.«

Der Kleine ergriff das Glas, benetzte seine Lippen, als ob er dieselben zu dem Kommenden erst kräftigen müsse, setzte sich behaglich in seinem Stuhle zurecht und fuhr dann fort:

»Ihr kennt den Zustand unseres Landes und wißt, was wir, das heißt unsere Gesinnungsgenossen, von demselben erwarten können. Oder glaubt Ihr etwa, Euer Heil bei Juarez zu finden?«

»O, keineswegs.«

»Bei diesem österreichischen Max?«

»Ebenso wenig.«

»Oder bei irgend einem anderen Führer, welcher unseren Grundsätzen ebenso fern steht, wie er sich weigert, unsere berechtigten Forderungen anzuerkennen und zu befriedigen?«

»Ganz und gar nicht.«

»Nun gut, so sehen wir doch einmal, ob uns wirklich alle Hoffnungen genommen sind. Was haltet Ihr von der Fortdauer der französischen Invasion?«

»Die Franzosen müssen gehen.«

»Von der Fortdauer des Kaiserreiches?«

»Es wird und muß zusammenbrechen, sobald es seiner einzigen Stütze, das heißt der Franzosen, beraubt ist.«

»Was wird dann geschehen?«

»Juarez wird wieder an das Ruder kommen.«

»Und was haben wir von diesem Manne zu erwarten?«

»Die unnachsichtigste Rache, die schärfste Unterdrückung.«

»Ich sehe, daß wir übereinstimmen. Wir müssen dieses uns bevorstehende Schicksal zu vermeiden suchen; das ist eine Aufgabe, an welche wir alle Kräfte setzen müssen.«

»Es wird uns nicht gelingen, sie zu lösen,« meinte der Pater.

»Warum?« fragte der Andere, indem ein leises, überlegenes und fast höhnisches Lächeln um seine Lippen spielte.

»Wollen und können wir die Franzosen zurückhalten?«

»Fällt uns nicht ein.«

»Oder wollen wir das Kaiserreich dieses Maximilian stützen?«

»Dies ebenso wenig.«

»Oder wollen wir uns der wahnsinnigen Hoffnung hingeben, daß es uns gelingen werde, Juarez uns zum Freunde zu machen?«

»Das am Allerwenigsten. Wißt Ihr, was er kürzlich hat über uns verlauten lassen?«

»Ich hörte es noch nicht.«

»Er hat geäußert, daß es eine Partei im Lande gebe, welche er die Partei des Teufels nennen möchte. Weder republikanisch, noch kaiserlich, noch sonst irgend wie gesinnt, rekrutire sie sich aus Menschen, welche, außerhalb aller göttlichen und menschlichen Gesetze stehend, sich von der Kirche losgesagt habe und zum Scheine und zur Täuschung Anderer sich doch unter dem Pannier des Christenthums versammle. Diese Partei gebe keinen Pardon und habe also von ihm auch keinen zu erwarten. Sie sei trotz ihres frommen Habitus ja nicht etwa mit der Partei der Ultra oder kirchlich Gesinnten zu verwechseln. Sie bestehe aus nur wenigen Mitgliedern, besitze aber eine Thatkraft und Rücksichtslosigkeit, welche sie gradezu furchtbar mache.«

Pater Hilario lächelte zufrieden vor sich hin.

»Dieser Juarez scheint uns zu kennen,« meinte er. »Sein Urtheil weicht nicht gar sehr von der Wahrheit ab.«


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»Ich muß es sogar als vollständig treffend bezeichnen. Wir sehen also sehr leicht ein, daß wir von den Anderen keine Vortheile, von ihm aber weder Gnade noch Erbarmen zu erwarten haben. Wird er von Neuem Präsident, so fallen wir dem unvermeidlichen Verderben anheim. Daraus folgt der Kernpunkt unserer gegenwärtigen Politik: Die Anderen gehen fort, Juarez aber geht unter.«

Der Pater schüttelte den Kopf.

»Diese Politik wäre eine gute zu nennen, wenn sie nur Aussicht auf Erfolg haben könnte,« sagte er.

Wieder spielte jenes höhnische, überlegene Lächeln um die Lippen des Kleinen. Er zuckte die Achseln und meinte leichthin:

»Wem nicht zu rathen ist, dem ist auch nicht zu helfen. Glücklicher Weise aber haben wir an unserer Spitze einen Mann, dem es nie an Rath fehlt; also läßt sich wohl annehmen, daß uns doch auch zu helfen sei.«

»Hm. Ich kenne nur einen einzigen Rath, den es geben könnte.«

»Welchen?«

»Juarez müßte sterben. Dann wäre man ihn los.«

»Ihr haltet das wirklich für den einzig möglichen Rath?«

»Ja.«

»Ihr Kurzsichtigen könnt mich dauern! Habt Ihr denn noch nie gehört, daß, selbst wenn ein Mensch stirbt, die Seele seines Wirkens doch immer weiter schafft? Wenn Juarez stirbt, so treten Andere auf, die in seinem Geiste fortarbeiten. Hilfe wird uns also nur dann, wenn man Juarez leben läßt, aber diesen seinen Geist tödtet.«

Der Pater, sonst doch ein so scharfsinniger und zugleich rücksichtsloser Mann, machte ein sehr verblüfftes Gesicht und meinte:

»Ihr sprecht mir zu hoch, Eure Worte sind mir lauter Räthsel, ich verstehe Euch nicht.«

»Nun, dann muß ich Euch abermals bedauern. Juarez selbst muß leben bleiben, er darf nicht angetastet werden, denn wir wollen ihn zu einem unserer nützlichsten Werkzeuge machen. Aber sein Geist, die Seele seines Wirkens muß sterben, muß moralisch und politisch todt gemacht werden. Ist der Augenblick da, an welchem er sein Werk zu krönen vermeint, so muß diese Krone sich in eine Verbrechermütze verwandeln, um welche sich ein Scheiterhaufen erhebt, dessen Flammen aus allen Theilen der Erde emporlodern.«

»Ich merke, daß Ihr einen bestimmten Plan vor Augen habt, doch ist es mir nicht möglich, ihn zu errathen.«

»Nun, so will ich ihn Euch in kurzen, trockenen Worten sagen: Kaiser Max ist ein unglücklicher, guter Mensch, welcher zwar den Fehler begangen hat, Mexiko glücklich machen zu wollen, aber doch die Sympathie der ganzen Erde besitzt. Sein Schicksal ist die Abdankung. Das liegt aber nicht in unserem Sinne. Sein Schicksal muß ein viel, viel schlimmeres sein und Juarez muß zum Urheber desselben gemacht werden. Mit einem Worte, Juarez muß der Mörder des Kaisers Maximilian von Mexiko werden.«

Der Pater fuhr von seinem Stuhle empor.

»Alle Teufel!« rief er. »Dann wäre er allerdings verloren. Er würde von


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aller Welt gerichtet werden, er würde unmöglich sein, er wäre in jeder Beziehung todt und abgethan.«

»Jawohl. Und dann? Kein Napoleon, kein Bazaine, kein Oesterreicher, kein Juarez! Wir hätten gewonnenes Spiel!«

»Werden aber niemals so weit kommen.«

»Warum?«

»Es wird kein Mensch Juarez dazu bringen, der Mörder des Kaisers zu sein.«

»O, ich kenne doch Einen, der dies fertig bringen soll und wird!«

»Wer wäre das?«

»Ihr! Pater Hilario aus Santa Jaga!«

Der Pater machte ein Gesicht, welches sich gar nicht beschreiben läßt. Man sah es ihm aber an, daß er mehr erschrocken als erstaunt war, grad seinen Namen hier zu hören.

»Um des Teufels willen! Was könnte denn ich dabei thun?« rief er mit dem Ausdrucke gänzlicher Rathlosigkeit.

»Fällt Euch denn wirklich gar nichts bei?«

»Soll ich den Kaiser etwa erschießen und die Schuld auf Juarez schieben?«

»Nein.«

»Oder soll ich den Kaiser vergiften und dann sagen, daß Juarez mir das Gift bezahlt habe?«

»Nein.«

»Das hieße, mich gradezu in den offenbaren Tod schicken!«

»Das beabsichtigen wir ja nicht. Es giebt da ganz andere, viel feinere und geschicktere Wege.«

»Ich sehe keinen anderen. Der Kaiser kann nicht anders sterben, als durch Meuchelmord.«

»Den verschmähen wir. Kennt Ihr denn gar nicht sein berüchtigtes Decret, in welchem er gebietet, jeden Patrioten als Räuber zu behandeln und zu erschießen?«

»Natürlich kenne ich es.«

»Aber Ihr wißt nicht, daß die Wirkung dieses Decretes auf ihn zurückfallen muß.«

»Auch das weiß ich. Wenn Max in die Hände der Republikaner fällt, so wird ihm der Prozeß gemacht. Juarez kann nicht anders; er darf ihn nicht begnadigen, wenn er nicht dadurch sich selbst verderben will.«

»Nun gut. Endlich fangt Ihr einmal an, zu begreifen! Wir haben weiter nichts zu thun, als eben einfach dafür zu sorgen, daß Max in die Hände der Republikaner fällt.«

»Wie sollte man das anfangen?«

»Ihr denkt nicht daran, daß die Franzosen abziehen werden.«

»Er wird mit ihnen gehen. Napoleon hat die hohe Verpflichtung, das Opfer, welches er uns herbeigeschleppt hat, wieder mit sich fort zu nehmen; er darf ohne dasselbe nicht abziehen, wenn er nicht von aller Welt gerichtet und verurtheilt sein will.«


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»Das ist zwar wahr; aber wie nun, wenn sich grad dieses Opfer weigert mit ihm zu gehen?«

»Das wäre Wahnsinn!«

»Allerdings. Aber der Wahnsinn, überhaupt unser Kaiser werden zu wollen, war nicht geringer. Max ist lenkbar und ein Träumer. Malt ihm eine Krone vor, und er hält die Farbe für reines Gold. Es bedarf nur eines Mannes oder zweier Männer, um den Plan gelungen zu machen. Den Einen haben wir bereits, der Andere sollt Ihr sein.«

»Ich?« fragte der Pater, abermals erschrocken. »Ich sollte dem Kaiser rathen, nicht mit den Franzosen abzuziehen?«

»Ja, Ihr!«

»Das bringe ich nicht fertig.«

»O, man wird Euch alle Mittel an die Hand geben, welche nöthig sind, diesen Maximilian zu überzeugen, daß Ihr recht habt.«

»Er wird es doch nicht glauben!«

»Ihr kennt ihn schlecht, wir aber haben ihn studirt.«

»So soll ich Santa Jaga verlassen und zu Max gehen?«

»Ja.«

»Das geht nicht, das kann ich nicht; ich habe große Verpflichtungen, welche mich hier zurückhalten.«

»So macht Eure Rechnung, und man wird Euch entschädigen.«

»Ich fühle mich für die Lösung einer solchen Aufgabe ganz und gar nicht geeignet!«

»Das kommt nicht in Betracht. Wir Anderen wissen grad, daß Ihr der geeignetste Mann dazu seid. Und das ist die Hauptsache.«

Der Pater befand sich augenscheinlich in einer schauderhaften Verlegenheit. Es war allerdings nicht wahr, daß er sich einer solchen Aufgabe nicht für gewachsen hielt; aber er dachte an die Gefangenen, welche in seinen Kellern steckten und die er zu beaufsichtigen und zu besorgen hatte. Konnte er fort von hier?

»Nein!« sagte er. »Ich bitte, von mir abzusehen. Es sind Andere da, welche eine solche Auszeichnung verdienen.«

»Diese Anderen sind bereits beschäftigt. Ich habe Euch den ganz bestimmten Befehl zu überbringen, von heute an in zehn Tagen einzutreffen.«

»In Mexiko?«

»Ja,«

»Ich denke, Max residirt in Cuernavacca!«

»Ihr werdet nach Mexiko eine Einladung erhalten, bei ihm zur Audienz zu erscheinen. Ihr seht, daß Alles eingeleitet ist und also nichts mehr redressirt werden kann.«

»Und dennoch bin ich gezwungen, zu verzichten.«

Da erhob sich der Andere. Seine Miene nahm auf einmal einen erbarmungslosen Ausdruck an; seine Augen hefteten sich fast durchbohrend auf den Pater, und in einem Tone, der dem Versuche eines Löwen, seine Stimme zu erheben, glich, fragte er:

»Ihr wollt wirklich verzichten?«


Ende der siebenundneunzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Waldröschen

Karl May – Forschung und Werk