Lieferung 60

Karl May

12. Januar 1884

Waldröschen
oder
Die Rächerjagd rund um die Erde.

Großer Enthüllungsroman
über die
Geheimnisse der menschlichen Gesellschaft

von

Capitain Ramon Diaz de la Escosura.


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Sie war höflich und bescheiden. Ihr Ton hatte eine eigenthümliche Weichheit fast als ob er irgend einen Fehler begangen hätte, den er sich verzeihen lassen müsse. Und doch klang diese Stimme fest, so fest wie diejenige eines Mannes, welcher nicht Lust hat, etwas mehr zu leiden, als er freiwillig leiden will.

Der Wirth ging hinaus in den Laden und brachte das Verlangte. Dann setzte er sich wieder an das Fenster. Der Gast nippte von dem Branntweine und schien ebenso wie der Wirth, seine ganze Aufmerksamkeit durch das Fenster zu concentriren; ein aufmerksamer Beobachter aber hätte bemerken können, daß sein Blick zuweilen verstohlen hinüber zu dem schönen Mädchen flog, welche den ihrigen erröthend senkte. Und das war wirklich kein Wunder, denn ein unpartheiisches Urtheil hätte sicherlich dahin gelautet, daß dieser Mann recht gut geeignet sei, noch selbst das jüngste Mädchenherz zu erobern.

Der Alte fand das lange Schweigen denn doch zu drückend schwer für sich. Er räusperte sich ein Wenig und sagte dann zum dritten Male, allerdings jetzt zu dem Gaste:

»Fürchterlicher Wind!«

Der Fremde antwortete nicht; darum fragte der Wirth nach einer weiteren Pause:

»Nicht? Was?«

»Nicht sehr,« lautete die gleichgiltige Antwort.

»Aber schrecklicher Staub!«

»Pah!«

»Pah? Was meint Ihr? Das soll kein Staub sein?«

»Staub ist es. Aber was thut das?«

»Was das thut? Welche Frage!« rief der Wirth ärgerlich. »Fliegt Einem dieser Staub in die Augen, so - - -«

»So macht man sie zu,« fiel der Fremde ein.

»Zumachen? Ah, ja, das wird das Beste sein!«

Der geistreiche Wirth fühlte sich zum dritten Male geschlagen, fügte aber hinzu:

»Doch die Kleider, die Kleider, die werden zu Schanden!«

»So zieht man schlechte an!«

Das war Wasser auf die Mühle des Wirthes. Er machte eine rasche Wendung nach dem verhaßten Gaste zu und sagte:

»Ja, die Eurigen sind allerdings schlecht genug. Habt Ihr denn keine besseren?«

»Nein.«

Dieses Wort wurde so gleichmüthig gesprochen, daß es den Alten empörte. Der Mexicaner hält sehr viel auf sein Aeußeres. Er kleidet sich in eine bunte, höchst malerische Tracht, trägt gern schimmernde Waffen und schmückt sein Pferdegeschirr mit goldenen und silbernen Zierrathen. Von Alledem war bei dem Fremden nichts zu bemerken. Er hatte an seinen groben Stiefeln nicht einmal Sporen, die der Mexicaner stets mit ungeheuren Rädern trägt.

»Warum denn nicht?« fragte der Wirth.

»Sie sind mir zu theuer.«

»Ah, so seid Ihr ein armer Habenichts?«


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»Ja,« antwortete der Gefragte gleichmüthig. Er bemerkte aber wohl, daß die Tochter unwillig erröthete und ihm einen Blick zuwarf, in welchem es wie eine Bitte um Verzeihung lag.

Der Wirth bemerkte dies nicht; erfuhr in seinen Fragen fort:

»Was seid Ihr denn eigentlich?«

»Jäger.«

»Jäger? Und davon lebt Ihr?«

»Allerdings.«

Der Alte warf ihm einen höchst verächtlichen Blick zu und sagte stolz:

»Da sollt Ihr mich dauern. Wie kann ein Jäger jetzt leben? Es giebt keinen mehr. Ja früher war es etwas Anderes. Da gab es Kerls, vor denen man Respect haben mußte. Habt Ihr einmal von Bärenherz gehört?«

»Ja. Er war ein berühmter Apache.«

»Oder von Büffelstirn?«

»Ja, er war der König der Büffeljäger.«

»Und von Donnerpfeil?«

»Ja, er war ein Deutscher.«

»Mein Landsmann!« sagte der Wirth stolz. »Ich bin nämlich aus Pirna, von wo her sie in Dresden die Elbe beziehen. Der größte Jäger aber ist der »Fürst des Felsens« gewesen, der eigentlich auch ein Deutscher war. Er war eigentlich ein großer Arzt und hat Sternau geheißen - - -«

»Sternau?« unterbrach ihn der Fremde schnell.

»Ja, Sternau.«

»Wie lautete sein Vorname?«

»Carlos, Sennor Carlos Sternau. Mein Vetter hat mir von ihm erzählt, als ich ihn vor einigen Jahren besuchte.«

»Und wer ist dieser Euer Vetter?«

»Das ist der reiche Sennor Petro Arbellez, Besitzer der Hazienda del Erina.«

»Ist dieser Sennor Sternau verheirathet?«

»Ja, nämlich mit der Gräfin Rosa de Rodriganda.«

»Er ist's, er ist's; er ist derselbe!« sagte da der Jäger für sich, aber so, daß es der Wirth und dessen Tochter hörten.

»Wer ist er? Wer ist ganz derselbe?« fragte der Erstere. »Kennt Ihr ihn?«

»Ja, sehr gut.«

»Woher?«

»Er hat meine Schwester aus dem Wasser gezogen.«

»Seht Ihr, was für ein Kerl er ist! Er zieht sogar die Leute aus dem Wasser heraus. Ja, er war ein großer Jäger, wie es keinen wieder giebt. Wir haben jetzt gar keinen berühmten Wald oder Prairieläufer mehr, Einen höchstens ausgenommen, der soll aber auch ein ganz verteufelter Kerl sein. Habt Ihr von ihm gehört?«

»Wen meint Ihr denn?«

»Den schwarzen Gérard. Ihr müßt nämlich wissen, daß sich die Waldläufer einander gern beim Vornamen nennen und dann noch irgend eine Bezeichnung


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dazusetzen. Ich muß Euch das sagen, weil Ihr zwar ein Jäger seid, aber jedenfalls kein solcher, der diese Gebräuche kennt. Dieser Mann heißt Gérard und soll einen schwarzen Bart haben; daher wird er der schwarze Gérard geheißen. Kennt Ihr ihn?«

»Ich habe von ihm gehört.«

»Nun, so werdet Ihr wissen, daß dies der einzig berühmte Kerl ist, den wir jetzt hier an der Grenze haben. Er fürchtet sich vor dem Teufel nicht; sein Schuß geht niemals fehl und sein Messer trifft stets den richtigen Fleck. Vor so einem Mann muß man Respect haben. Er hat es ganz besonders auf die Raubbanden in der Llano estacado abgesehen. Seit er von Norden droben heruntergekommen ist, sind die Wege von ihnen fast ganz gesäubert worden. Ich habe ihm sehr viel zu verdanken, denn früher fingen sie mir meine Waaren zehnmal auf, ehe ich sie einmal bekam. So ein Kerl sollte mein Schwieg - - -« er besann sich und hielt mitten im Worte inne. In Gegenwart dieses Gastes durfte er doch unmöglich in seine Lieblingslitanei verfallen. Darum fuhr er fort: »Ich möchte wohl wissen, was für ein Landsmann er ist. Wohl auch ein Deutscher und am Ende gar aus Pirna, denn die Leute dort sind alle ganz ungeheuer tapfer. Wie hätte denn der Königstein nach Pirna kommen können, wenn sie ihn nicht für sich erobert hätten! Und dies hat ihnen bis jetzt noch Niemand nachgemacht. Aus welchem Lande seid Ihr denn eigentlich gebürtig?«

»Aus Frankreich,« sagte der Jäger.

»O weh! So seid Ihr ein Franzose?«

»Natürlich.«

»So! Hm! Hm! Das ist gut, Sennor!«

Er drehte sich schnell um und machte keinen Versuch, das Gespräch fortzusetzen. Es war klar, daß die Franzosen aus irgend einem Grunde in Mißkredit standen. Nach einer Pause erhob er sich und verließ das Zimmer, gab aber vorher seiner Tochter einen Wink ihm zu folgen. Sie gehorchte und fand ihn im Verkaufsraume.

»Da,« sagte er, »hast Du gehört, was er ist?«

»Ja, ein Franzose,« antwortete sie.

»So muß ich Dich warnen!«

»Warum?«

»Das darf ich Dir nicht sagen, aber da das Schweigen gefährlich werden könnte, so muß ich mit Dir darüber reden. Weißt Du, daß uns die Franzosen einen deutschen oder vielmehr einen österreichischen Prinzen herübergebracht haben, welcher Kaiser von Mexico werden soll?«

»Warum sollte ich dies nicht wissen? Man spricht doch überall davon.«

»Nun so will ich Dir sagen, daß die Oesterreicher alle gute Kerls sind. Sie rechnen zwar nach Gulden, die blos siebzehn Groschen gelten, aber mich gehen die übrigen drei Groschen ja gar nichts an. In Pirna ist man nobel. Ich habe gegen die Oesterreicher gar nichts und dieser Prinz Max soll ein außerordentlicher guter Mensch sein. Den Mexicanern gefällt es jedoch nicht, daß er sich von den Franzosen bringen läßt und darum wollen sie von ihm nichts wissen. Sie sagen, der Napoleon sei ein Lügner; er werde seine Versprechungen nicht erfüllen und


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auch den Prinz Max später sitzen lassen. Sie wollen keinen Kaiser haben; sie wollen einen Präsidenten, und der soll Juarez sein.«

»Der jetzt in Paso del Norte ist?«

»Ja. Die Franzosen wollen ihn daher gern fangen. Sie haben bereits das ganze Land besetzt und ihn in Chihuahua beinahe ergriffen. Er ist ihnen aber glücklich nach Paso del Norte entkommen. So weit zur Indianergrenze wagen sie sich zwar nicht herauf, aber man spricht davon, daß sie ein Streifkorps absenden wollen, um ihn aufzuheben. Darum muß man vorsichtig sein und sich vor jedem Franzosen hüten.«

»Du doch nicht. Was gehen Dich die Franzosen und was geht Dich Juarez an?«

»O, sehr viel,« antwortete er mit wichtiger Miene. »Ich habe es Dir bisher verschwiegen, daß ich eine außerordentliche Begabung für Politik habe - - -«

»Du?« unterbrach sie ihn, im höchsten Grade erstaunt.

»Ja, ich. Alle Leute in Pirna sind groß in Politik. Das haben wir noch vom Finkenfang bei Maxen her. Ich habe drüben im Präsdo noch einige Ländereien, und weil ich daselbst eine Stimme besitze, so ist es mir nicht gleichgiltig, ob wir den Prinzen Max bekommen oder den Juarez. Der Max ist gut, aber er kann sich unmöglich halten. Er hängt von den Franzosen ab. Der Napoleon hat, um ein mexikanisches Kaiserreich zu gründen, zwei Anleihen gemacht; davon ließ er Mexiko lumpige vierzig Millionen zukommen, fünfhundert Millionen aber hat er für Frankreich selbst behalten. Das ist der offenbarste Betrug und der arme Max weiß sich nun keinen Rath. Juarez hingegen kennt unser Land; er will nichts von den Franzosen wissen und darum wollen wir ihn. Dazu gehört aber Geld. Daher hat er zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gesandt, um sich mit ihm zu verbinden und eine Anleihe zu machen. Vor einigen Tagen nun ist der Bote zurückgekehrt und hat die Nachricht gebracht, daß die Staaten von einem mexikanischen Kaiser, den der Franzose bringt, nichts wissen wollten und uns dreißig Millionen Dollars bewilligt haben. Einige Millionen sind bereits unterwegs. Sie sollen durch die Llano estacado nach el Paso del Norte zu Juarez transportirt werden. Davon aber haben die Franzosen Wind bekommen und es ist wahrscheinlich, daß sie den Geldtransport überfallen wollen. Er kommt in schleunigen Tagemärschen heran. Im Falle der Noth soll er, wenn es unmöglich ist, ihn weiter zu bringen, hierher nach Fort Guadeloupe geschafft und in unserem Hause einstweilen versteckt werden. Deshalb wird Juarez eine stärkere Besatzung herlegen, deshalb haben wir aber auch die Franzosen doppelt zu fürchten. Sie werden Kundschafter senden, um uns auszuhorchen, und ich ahne, daß der Kerl, welcher jetzt drinn sitzt, ein solcher Spion ist. Er spricht nur wenig und verwendet keinen Blick vom Fenster, um ja genau zu sehen, was draußen vorgeht. Nicht einmal Dich sieht er an.«

Resedilla wußte dies besser; sie hütete sich aber, es zu sagen.

»Ich glaube nicht, daß er das Auge eines Spions hat,« meinte sie.

»Nicht? Da irrst Du! Nun mußt Du aber wissen, daß man es einem Diplomaten gleich ansieht, was für ein großer Mann er ist. Darum will ich mich lieber vor diesem Franzosen gar nicht sehen lassen. Er könnte es meiner Miene


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ansehen, daß ich zur großen Schule gehöre und Verdacht schöpfen. Darum sollst Du allein ihn bedienen. Aber ich bitte Dich um Himmels willen, laß Dir nichts merken, daß ich ein Anhänger von Juarez bin!«

Sie unterdrückte ein Lächeln und antwortete:

»Habe keine Sorge! Ich habe von Dir eine diplomatische Ader. Er soll mich nicht fangen.«

»Ja, ich glaube selbst, daß Du diese Ader hast. Das ist wieder die Erbschaft vom Vater auf die Tochter hinüber, ohne daß man weiß, woher es eigentlich kommt. Also kehre in die Schänkstube zurück und mache Deine Sache gut. Sei lieber etwas liebenswürdig mit ihm, um ihn kirre zu machen. Ein guter Diplomat muß seine Feinde mit dem Lächeln fangen; ich kenne das von Pirna her!«

Sie ging in die Schänkstube zurück, wo der Gast während der langen Zeit dieser sonderbaren Unterredung ganz allein gesessen hatte. Auf ihrem Gesichte lag ein Ausdruck allerliebster Schelmerei. Sie nahm an ihrem Fenster wieder Platz, ohne ein Wort zu sagen; da er aber auch schwieg, so wurde ihr diese Stille denn doch zu drückend; daher beschloß sie, eine Unterredung zu beginnen und dabei sofort auf ihr Ziel loszugehen.

"Seid Ihr wirklich ein Franzose, Sennor?"

»Seid Ihr wirklich ein Franzose, Sennor?« fragte sie.

»Ja,« antwortete er. »Sehe ich aus wie ein Mann, der Euch belügen könnte, Sennorita?«

»Nein,« gestand sie aufrichtig. »Ich glaubte nur, Ihr hättet Scherz gemacht. Man liebt hier in dieser Gegend die Franzosen nicht.«

»Ich auch nicht.«

»Ah!« sagte sie erstaunt. »Und doch seid Ihr ein Franzose?«

»Ja. Ich meine aber damit nur, daß ich in Frankreich geboren bin. Ich werde niemals wieder in mein Vaterland zurückkehren.«

»Habt Ihr es gezwungen verlassen müssen?«

»Nein; ich bin freiwillig gegangen; ich habe mit meinem Vaterlande nichts mehr zu schaffen!«

»Das muß traurig sein!«

»Nicht so traurig wie andere Dinge.«

»Andere Dinge? Welche meint Ihr?«

»Untreue und Verrath.«

»Habt Ihr die erduldet?«

»Leider!«

»Von einer Geliebten?«

»Ja.«

Bei diesem Worte trat der melancholische Ausdruck seiner Züge und seines Blickes deutlicher hervor. Aber seine Antwort hatte die Wißbegierde des schönen Mädchens im hohen Grade erregt. Sie wollte nun auf alle Fälle mehr erfahren und fragte also:

»So ist Euch eine Geliebte untreu geworden?«

»Ja.«

»Das muß ein böses, hartes, herzloses Mädchen gewesen sein, Sennor!«

Sie sagte dies so eifrig und ihr Gesicht hatte den Ausdruck solcher Auf-


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richtigkeit, daß er bemerken mußte, sie selbst würde ihm nicht untreu werden. Dennoch änderte sich kein Zug seines ernsten Gesichtes. Er sagte nur:

»Sie war mehr als das, sie war schlecht.«

»Darf ich ihren Namen wissen?«

»Sie wurde Mignon genannt.«

»Mignon? Erst konnte ich diesen Namen sehr gut leiden, nun aber gewiß nicht mehr. Aber, Sennor, Ihr grämt Euch wohl gar noch über sie?«

»Ja.«

»So habt Ihr sie sehr lieb gehabt?«

»Sehr, Sennorita.«

Er antwortete so kurz und einfach, aber gerade dies zog sie am Meisten an. Ein Anderer hätte einer Dame gegenüber das Alles verschwiegen, so wenigstens dachte sie.

»So müßt Ihr sie zu vergessen suchen, Sennor!«

»Das geht nicht. Ich habe sie zwar nicht mehr lieb, doch hat sie mich so unglücklich gemacht, daß ich sie unmöglich vergessen kann.«

»Das begreife ich nicht, Sennor. Wie könnt Ihr unglücklich sein, wenn Ihr sie nicht mehr liebt?«

»Weil mein Unglück eigentlich nicht eine Folge ihrer Untreue, sondern ihres Verrathes ist.«

»Ah, sie hat Schlimmes von Euch gesagt?«

»Ja.«

»Aber es war eine Lüge?«

»Nein; es war die Wahrheit.«

Es war ihr bei diesen Worten ganz sonderbar und fremd zu Muthe. Sie konnte sich keine Rechenschaft über ihr Verhalten geben, aber sie fragte weiter:

»Nicht wahr, jetzt habt Ihr im Scherz gesprochen?«

»Warum sollte ich mit Euch scherzen, Sennorita? Ich sagte Euch die Wahrheit.«

Sie senkte den Kopf. Es war doch ein Gefühl der Enttäuschung aus ihrem Gesichte zu lesen, und ihre Stimme klang kälter als vorher, als sie sagte:

»So verzeiht, daß ich Euch mit meinen Fragen belästigt habe! So oft Ihr jetzt zu uns gekommen seid, habt Ihr so still und traurig dagesessen, daß es mich gedauert hat. In Eurem Auge ist es stets, als ob eine Thräne hervorbrechen wolle.«

»Ja, es mag zuweilen Menschen geben, welche eine ganze Fluth von Thränen in sich tragen und doch zu stolz sind, dies merken zu lassen.«

»O, ich habe es doch bemerkt. Und da dachte ich mir, daß Euch ein freundliches Wort vielleicht erfreuen würde. Es giebt Personen, die Einem gar nicht wie fremd erscheinen können, Sennor. Habt Ihr das noch nicht erfahren?«

»Ja, doch erst hier bei Euch, Sennorita.«

Sie erröthete. Er bemerkte es und fuhr daher entschuldigend fort:

»Ihr dürft mir diese Worte nicht übel nehmen. Wenn sie Euch wehe thun, werde ich gehen und nie wiederkommen.«

»Nein, das dürft Ihr nicht, Sennor!« sagte sie rasch. »Es würde mir sehr


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angenehm sein, Euch etwas weniger traurig zu sehen als immer bisher. Ihr sollt mir von Euch gar nichts sagen, aber Euren Namen möchte ich gern erfahren.«

»Nennt mich Mason, Sennorita.«

»Mason? Ja, das ist ein französischer Name. Und Euer Vorname?«

»Ihr wollt ihn auch noch wissen?«

»Ja. Wir Frauen denken uns einen Mann gern bei seinem Vornamen und bringen die Bedeutung desselben mit den Eigenschaften des Trägers in Verbindung.«

»Ich heiße Gérard.«

»Gérard? Ah, grad wie der »schwarze Gerard«, von dem mein Vater vorhin sprach. Ihr habt auch einen solchen schwarzen Bart, wie er ihn tragen soll. Aber könnt Ihr mir vielleicht sagen, welche Bedeutung der Name Gérard hat?«

»Er bedeutet der Kraftvolle oder der Vertheidiger; so hat mir einst mein Lehrer gesagt.«

»Der Kraftvolle? Ja, das paßt für Euch. Und wer kraftvoll ist, der kann auch gut ein Vertheidiger sein.«

»Leider bin ich es nicht gewesen, sondern grad das Gegentheil.«

»Wie meint Ihr das, Sennor?«

Er blickte traurig hinaus in das Weite und antwortete:

»Ich war Garotteur.«

»Garotteur? Das verstehe ich nicht. Was bedeutet es?«

»Ja, Eurem unschuldigen Sinne ist dies noch nie zu nahe getreten. So wißt denn, Sennora, daß in großen Städten, in denen Millionen beisammen wohnen, Hunderttausende des Abends kaum wissen, woher sie des Morgens Brod nehmen sollen. Noch schlimmer daran aber sind die Tausende, welche sich des Abends sagen: Wenn Du Dir nicht des Nachts Dein Brod stiehlst, so mußt Du morgen hungern. Diese sind die Sclaven des Verbrechens. Die Meisten sind nicht ganz schuldig und Viele sind sogar unschuldig. Der Vater erzieht den Sohn und die Mutter die Tochter zum Verbrechen; ein Rechtsgefühl wird nicht entwickelt, und so leben diese Leute auf dem Fuße des Fuchses oder des Löwen, deren Natur den Raub oder Diebstahl gebietet. Sie sind die Raubthierklasse des Menschengeschlechtes.«

»Mein Gott, das muß doch sehr, sehr traurig sein!«

»Trauriger als Sie denken!«

»Und Ihr, Sennor? Ihr wolltet doch wohl von Euch reden?«

»Allerdings. Auch ich war ein solches Raubthier.«

»Unmöglich!« fuhr sie erschrocken auf.

»Doch leider! Ich klage Niemand an, doch gehorchte ich meinem Vater. Wir waren arm und lernten die Arbeit verachten. Mein Vater war schwach und stahl; ich aber war stark und garottirte; das heißt, ich ging des Nachts auf die Straßen, zog den mir Begegnenden mit einer Schlinge den Hals zusammen und leerte ihnen dann, wenn sie die Besinnung verloren hatten, die Taschen. Wir verführten auch meine Schwester. Sie widerstand uns und warf sich in den Fluß, um sich zu ertränken. Doctor Sternau, von dem vorhin Euer Vater sprach, sprang ihr nach und rettete sie.«

»O mein Gott, wie ist dies doch so schrecklich!« rief Resedilla.


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Sie war leichenblaß geworden. Da saß der Mann, der einzige, dem sie ihre Liebe hätte schenken mögen, und erzählte ihr, daß er ein Verbrecher sei. Warum diese fürchterliche Aufrichtigkeit? Sie schauderte an allen Gliedern.

»Ja, schrecklich ist es,« sagte er mit jener Gleichgiltigkeit, welche bereits das Schlimmste hinter sich weiß. »Aber es kam noch schlimmer. Kein ehrliches Mädchen hätte mich geliebt. Ich lernte jene Mignon kennen. Wir liebten einander und ich gab ihr Alles, was ich raubte. Dann lernte ich einst einen schlechten Menschen kennen; vielleicht erfahrt Ihr einmal, wer es gewesen ist. Er bot mir große Summen an, für ihn ein Verbrechen zu begehen. Ich ging scheinbar darauf ein; aber ich schützte den Bedrohten und nahm dem Mörder zur Strafe sein ganzes Geld ab. Nun wollte ich ein ehrlicher Mann werden. Ich gab Mignon Alles, was ich hatte; ich glaubte, ihr trauen zu dürfen. Sie aber betrog mich. Sie lernte einen vornehmen Herrn kennen, den sie mir vorzog. Mit ihm verpraßte sie meinen Raub. Und als ich ihr drohte, sagte sie, daß sie mich anzeigen werde.«

»Was habt Ihr da gethan? Sie getödtet?«

»Nein,« antwortete er verächtlich.

»Oder ihn?«

»Nein. Ich bin gegangen und habe gearbeitet. Damals habe ich viel gelitten und gestritten und gekämpft; ich selbst war ja mein schlimmster Gegner. Aber ich hatte mir nun einmal vorgenommen, ein ehrlicher Mensch zu werden, und ich bin es geblieben, denn was ich einmal ernstlich will, das pflege ich auch durchzuführen. Aber in der Gesellschaft guter Leute ist mir erst das volle Bewußtsein meiner Sünden gekommen. Es hat mich hinausgetrieben, fort von der Heimath. Ich will sühnen und dann sterben.«

Es entstand eine lautlose Stille. In dem Auge des Mädchens stand eine Thräne. War es eine Thräne des Schmerzes, der Entsagung; oder lag in dem feuchten Glanze derselben ein Wiederschein des Bibelwortes von dem bußfertigen Sünder, über welchen im Himmel mehr Freude ist, als über neunundneunzig Gerechte? Ein tiefer, tiefer Seufzer entquoll ihrem Herzen; sie erhob das Auge voll zu ihm, sah ihm ernsthaft in das seinige und fragte dabei:

»Aber, Sennor, warum erzählet Ihr denn mir dies Alles?«

»Das will ich Euch aufrichtig sagen,« antwortete er. »Ich habe geglaubt, jene Mignon zu lieben, aber das war eine Täuschung. Ich ging nach Amerika; ich durchwanderte die Berge, die Wüsten und Savannen; ich wurde während der Zeit dieser langen Jahre ein Jäger, ein Scout (Wegweiser), der einen guten Namen hat. Die Einsamkeit ließ mich mein Herz erkennen, und als ich dann Euch erblickte, da wußte ich, was wahre Liebe sei. Ich konnte ohne Euren Anblick nicht mehr sein; es zog mich zu Euch wie es den Gläubigen zu den Füßen der Madonna zieht. Aber als ich bemerkte, daß auch Euer Auge voll Theilnahme auf mir ruhte, da erwachte in mir das Bewußtsein meiner Pflicht. Ihr dürft Euer Herz nicht an einen Unwürdigen verschenken; darum habe ich Euch erzählt, was ich gewesen bin, damit Ihr mich verabscheuen lernen sollt. Das wird der beste Schutz für Euch sein. Und außerdem ist es mir gewesen, als ob ich jetzt zu meinem Beichtvater oder zu Gott selbst gesprochen habe: Wer seine Sünden bekennt und bereut, dem werden sie vergeben. Ich werde jetzt gehen und nicht wiederkehren. Ihr werdet


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von der Verunreinigung mit dem Verdammten bewahrt bleiben; aber ich bitte Euch, über das, was ich Euch erzählt habe, zu schweigen; Ihr würdet sonst Viele in Schaden bringen, denen ich jetzt nützlich bin. Ich müßte ja diese Gegend ganz verlassen.«

Er erhob sich und ergriff sein Gewehr. Er wollte gehen, ohne sein Glas ausgetrunken zu haben. Da stand sie auch auf. Ihr Antlitz war noch bleicher geworden als vorher. Sie trat ihm in den Weg und sagte:

»Sennor, Ihr seid so außerordentlich aufrichtig gegen mich gewesen; seid es zum letzten Male und sagt mir, ob Ihr ein Spion der Franzosen seid!«

»Nein, ich bin es nicht.«

»Darf ich dies wirklich glauben?«

»So, als ob Gott selbst es Euch gesagt hätte.«

»Und Ihr haltet Euch nicht zu den Franzosen?«

»Nein. Ich hasse den Kaiser, der nur durch Blut und Lüge regiert. Ich könnte ihn tödten, ihn, der jetzt wieder einen wohlgesinnten, ehrlichen Fürsten in das Verderben führt; aber seine Zeit wird einst kommen! Ich stehe zu den Mexicanern, und ich liebe Juarez. Ist dies Euch genug, Sennora?«

»Ja, vollständig; ich bin beruhigt.«

»So lebt denn wohl!«

»Wollt Ihr wirklich gehen, Sennor?«

»Ja.«

»Für immer?«

»Für immer von Euch aber nicht von Guadeloupe. Man wird mich hier Wiedersehen.«

Er senkte seinen Blick tief in den ihrigen; ihrer beider Augen standen voller Thränen. Es war ihm, als ob er jetzt seine Arme um sie schlingen dürfe, ohne sie zu beleidigen, als ob sie bereit sei, ihr Köpfchen an sein Herz zu legen, ohne sich vor ihm zu grauen; aber er beherrschte sich; er durfte ihr Schicksal nicht an das Seinige ketten und ging.

Als er die Stube verlassen hatte, stand sie noch auf demselben Flecke, auf dem sie vor ihm gestanden hatte. Sie verbarg das Gesicht in beide Hände und brach in ein jähes Schluchzen aus, unter dem ihr ganzer Körper erbebte.

»Gérard heißt er,« sagte sie weinend. »Ja, er verdient diesen Namen, er ist wirklich der Kraftvolle, denn er hat sich selbst besiegt; er ist der Beschützer, denn er hat mich vor sich selbst beschützen wollen. Wie schwer muß es ihm geworden sein! Und wie schwer wird es mir werden - vielleicht unmöglich, nun erst recht unmöglich!«

Er hatte ihr ausbrechendes Schluchzen noch unter der Thür gehört, aber er kehrte nicht um. Er trat in die Verzäunung und bestieg sein Pferd. Er befestigte das Sturmband seines Hutes fest unter das Kinn, warf die Flinte über den Rücken, zog sein Pferd vorn empor und gab ihm die unbespornten Fersen. Mit einem kühnen Sprunge setzte es, den Ausgang vermeidend, über die hohen Planken hinweg und flog im Galopp gerade auf das Wasser zu. Dort warf es sich in die tiefen Fluthen des Rio Puercos und schwamm an das andere Ufer. Er achtete die Nässe nicht, welche seine Kleider durchdrang und auch des Sturmes nicht, der ihm


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entgegenheulte. Mitten in der Prairie endlich stand das Pferd. Er sprang ab und warf sich zu Boden, um das erschöpfte Thier ruhen und grasen zu lassen, er hatte seiner Liebe entfliehen wollen, ohne gewiß zu sein, ob dies überhaupt möglich sei.

Der freundliche Leser weiß nun wohl, daß dieser Mann kein Anderer war als Gérard, der Pariser Garotteur, den Alfonzo de Rodriganda einst mit nach Deutschland genommen hatte, um durch ihn die Gräfin Rosa tödten zu lassen. Aus dem einstigen Sünder war ein Bußfertiger geworden, aber nicht ein Büßender im Sacke und in der Asche, der elend seine Tage verjammert, sondern ein Büßer mit der Büchse in der Faust, der es sich zur Aufgabe gestellt hatte, das Verbrechergesindel der Savanne auszurotten. Er hatte es vorgezogen, Resedilla zu verschweigen, daß er selbst es sei, den man allgemein den schwarzen Gérard nenne.

So hatte er, ohne zu wissen wie viel Zeit, lange, lange dagelegen. Sein Pferd hatte sich satt gefressen und lag nun still im Grase. Da plötzlich sprang es auf, sträubte die Mähne und stieß glühenden Auges jenes Schnauben aus, welches dem Besitzer ein sicheres Zeichen ist, daß sich ein Mensch oder irgend ein feindliches Wesen naht.

Sofort schnellte auch Gérard empor und überflog mit scharfem Auge die ebene Prairie. Er bemerkte einen Reiter, welcher im Galoppe grad auf ihn zugesprengt kam. Seine erst so gespannten Züge nahmen den Ausdruck der Befriedigung an.

»Beruhige Dich!« rief er dem Pferde zu. »Es ist Bärenauge, unser Freund.«

Das Pferd hatte den Namen so gut verstanden, daß es sich augenblicklich wieder niederlegte und kein weiteres Zeichen von Unruhe gab.

Der Nahende war von einem Kenner bereits von Weitem als ein Indianer zu recognosciren. Er trug zwar nicht indianisches Kostüm und wilden Rabenfederschmuck, sondern die neumexikanische Kleidung, aber seine weit vorn auf dem Halse des Pferdes liegende Haltung bezeichnete ihn mit Sicherheit als einen Rothen. Nur ein langjähriger Savannenmann reitet auf diese Weise.

Er sprang, bei dem Wartenden angekommen, mit einem einzigen Satze und im völligen Galoppe vom Pferde. Er wußte, daß sein weiterstürmendes Thier in einem Bogen zu ihm zurückkehren werde. Jedenfalls handelte es sich hier um ein Stelldichein, und es war ein Beweis für den scharf ausgeprägten Ortssinn der beiden Männer, daß sie sich so präzis auf einem freien Punkte der offenen Prairie zu treffen wußten. Weniger erfahrene Jäger hätten dies nicht fertig gebracht.

Der Indianer war noch jung, und Jemand, der einst mit Bärenherz bekannt gewesen wäre, der hätte wohl zwischen Beiden eine große Aehnlichkeit constatiren müssen.

»Mein rother Bruder hat lange auf sich warten lassen,« sagte der Franzose.

»Glaubt mein weißer Bruder, daß Schosheinta nicht reiten kann?« antwortete der Indianer. »Ich bin lange geblieben, weil ich lange lauschen mußte.«

»Lauschen? Wo?«

»Ich war in Paso del Norte bei Juarez, dem Häuptlinge der Mexicaner, um ihm zu sagen, daß ich ihm fünfhundert tapfere Apachenkrieger bringen werde, um Chihuahua wieder zu nehmen. Ich sagte ihm, daß ich meinen weißen Bruder


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hier treffen werde und er bat mich, Dir zu sagen, daß Du Sennorita Emilia besuchen solltest.«

»Ich werde es sogleich thun, denn ich selbst halte es für nothwendig.«

»Wie lange wirst Du bleiben?«

»Ich weiß es nicht; vielleicht eine Woche.«

»So wirst Du mich in Paso del Norte finden. Ich ritt über die Sierra del Diablo (Teufelsgebirge) und war bereits dem Flusse nahe, als ich die Spuren dreier Männer fand.«

»Indianer?«

»Weiße.«

»Zu Fuß?«

»Zu Pferde.«

»Woran erkanntest Du an den Spuren der Pferde, daß die Reiter weiß seien?«

»Sie waren nicht hinter einander geritten, sondern neben einander. Das thun nur die dummen Bleichgesichter, wir Indianer aber niemals.«

»Du rittest den Spuren nach?«

»Ja. Ich ritt über eine Stunde und fand, daß die Weißen abgestiegen waren und sich niedergelassen hatten. Sie hatten den Pferden die Sattels abgenommen und wollten also eine lange Ruhe halten. Ich schlich mich heran, um sie zu belauschen. Der Eine konnte die Sprache des Landes reden, er war ein Mexikaner und machte den Dolmetscher; die beiden Anderen sprachen nur die Sprache der Franzosen.«

»Ah! Was hatten sie für Kleider?«

»Sie hatten sich gekleidet wie Jäger, waren aber keine.«

»Woran erkanntest Du dies?«

»Ihre Messer waren neu und schön und ihre Hände weiß wie der Schnee des Gebirges; sie hatten noch nie eine schwere, rauhe Rifle (Büchse) ergriffen.«

»Wahrscheinlich Offiziere!«

»Mein weißer Bruder hat Recht. Sie sprachen zu dem dritten, wie nur der Offizier zu dem Soldaten redet. Auch hatte der Eine eine Schnur am Halse, an welcher zwei runde Gläser hingen. Er setzte sie auf die Nase und blickte hindurch wie Einer, der vier Augen hat anstatt zweien.«

»Ah, ein Nasenklemmer! Es ist kein Zweifel, es sind verkleidete Offiziers. Hat mein rother Bruder etwas von ihrem Gespräche verstanden?«

»Nein. Ich lag hart hinter ihnen und konnte Alles hören, aber nichts verstehen, denn sie redeten in der schnellen Sprache, welcher sich die Franzosen bedienen. Ich wartete lange, ob einmal ein spanisches Wort fallen werde, aber vergebens; daher ritt ich schnell zu Dir, um Dir diese Sache mitzutheilen.«

»Wie weit ist es von hier?«

»Wir reiten den vierten Theil der Zeit, den Ihr eine Stunde nennt.«

»So laß uns aufbrechen, denn ich muß hin!«

Sie bestiegen eiligst ihre Pferde und flogen im schnellsten Galoppe der Gegend zu, aus welcher Bärenauge gekommen war. Dieser ritt voran und Gérard


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so aufmerksam hinter ihm, daß sein Pferd stets genau in die Spuren des indianischen Rosses griff.

Nach Verlauf von zehn Minuten erhöhte sich die Prairie zusehens. Es entstanden Hügel und Berge, welche ziemlich dicht bewaldet waren und die von tiefen Schluchten getrennt wurden. In eine derselben ritt der Indianer hinein. Dort sprang er ab und band sein Pferd an einen Baumstamm. Gérard that dasselbe.

»Folge mir!« sagte Bärenauge dann leise.

Er klimmte an der einen Seite der Schlucht empor, schritt zwischen den Bäumen über den Kamm hinüber; dann ging es drüben in eine zweite Schlucht hinab. Dabei aber gingen sie nicht auf den Füßen, sondern sie legten sich auf den Boden nieder und glitten, jedes Geräusch vermeidend, den Abhang hinunter.

Fast unten angekommen, sahen sie durch das Laub der Zweige in eine runde Oeffnung des Gesträuches, in welcher drei Männer saßen, unbesorgt ihre Cigarretten rauchend. Nicht weit davon hörte man ihre Pferde grasen.

Sie sprachen französisch und zwar so laut, als ob sie sich auf einem Jahrmarkte und nicht mitten in der mexikanischen Wildniß befänden.

»Ja, mit dem Juarez ist es aus,« sagte der Eine. »Er hat seine letzte Pfeife verblasen und mag nun sehen, ob die rothen Hallunken ihn zu ihrem Kaiser machen.«

»Pah, was liegt überhaupt an ihm!« meinte der Zweite. »Der ganze Feldzug war ja nur ein Kinderspiel. Es war gerade, als ob man Fliegen mit dem Taschentuche zerstreute. Mehr Mühe hätte ich mir für diesen Erzherzog auch nicht geben mögen.«

»Für den? Was denkst Du denn! Für ihn ist nicht das Mindeste geschehen. Er wurde als Strohmann mitgenommen, damit die Invasion bei den Mächten nicht als eine französische Eroberung betrachtet werden möchte. Der Strohmann wird der Sache bald müde sein und herzlich gern abdanken. Ja, er wird jedenfalls noch gute Worte geben, nach Hause gehen zu dürfen. Dann wird Bazaine Präsident von Mexiko und seine Sache ist es, derartige Conflicte herbeizuführen, daß der Kaiser gezwungen ist, einzuschreiten und das Land für eine französische Provinz zu erklären.«

»Und die Mächte?«

»Pah! Die Sache ist dann bereits fertig; Niemand kann es ändern. Uebrigens ist das Land wunderschön; am Besten gefallen mir jedoch die Damen.«

»Ich billige Deinen Geschmack!«

»Sie sind wirklich allerliebst!«

»Sogar schön!«

»Voll Geist und Feuer!«

»Nicht sehr penibel.«

»Sage lieber hingebend.«

»Ja, Mexico ist das Land der Eroberungen auch in Beziehung auf die schöne Welt. Sahst Du in Paris jemals so eine Schönheit, wie diese Sennorita Emilia?«

»Der Teufel hole sie!«


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»Warum? Hat sie Dir einen Korb gegeben?«

»Einen förmlichen Tragkorb! Und doch ist sie es, der vor Allen der Preis gebührt.«

»Ja, sie ist eine wirkliche Schönheit.«

»Eine Venus!«

»Eine Diana!«

»Eine Juno!«

»Pah, sie hat das Göttliche und Menschliche von allen andern Göttinnen zusammen.«

»Mich berauscht am meisten ihr prickelndes Wesen. Berührt man ihren wunderschönen, herrlich geformten, alabasterweißen Arm, so ist es bei Gott, als ob man die vorüberspringenden electrischen Funken knistern hörte!«

»Ja. Und dieser Hals!«

»Diese Büste. Es ist geradezu zum Verzweifeln, ein solches Weib nicht für immer besitzen zu können!«

»Alle Teufel, ich wäre froh, sie nur eine einzige Woche besitzen zu können!«

»O, sie ist wählerisch, mein Lieber, und Du bist nur Lieutenant.«

»Und Du nur Capitän; das ist kein großer Unterschied.«

»Den Major hat sie ganz in den Händen. Ich habe da kürzlich ihre Augen studirt. In diesen dunklen, sprühenden Sternen liegen tausend Himmel und zehntausend Höllen zugleich; sie ist ein Engel und ein Teufel zugleich.«

Bei dem Lobe dieses wunderbar schönen Wesens glitt ein eigenthümlicher Zug über das Gesicht Gérards. Fast schien es, als ob er für die Sprecher Mitleiden fühle.

»Laßt diese Sirene sein!« sagte der Lieutenant. »Wann brechen wir auf?«

»Wir können es sogleich thun, Du hast einen weiten Weg.«

»Ja, Du bist besser daran. Du kannst in anderthalb Stunden an Deinem Ziele sein, ich aber habe noch fünf Tage zu reiten, ehe ich Chihuahua erreiche. Also Du warst bereits schon einmal in diesem Fort Guadeloupe?«

»Bereits viermal recognosciren. Jetzt bleibe ich für längere Zeit, um meine Compagnie zu erwarten, welche das Ding erstürmen und dann besetzen soll.«

»Da wirst Du dort diese Donna Emilia sehr vermissen. Oder giebt es dort ähnliche Acquisitionen?«

»Ich kenne nur eine einzige.«

»Ah, also doch eine! Wer ist es?«

»Die einzige Tochter eines gewissen Pirnero. Er ist Kaufmann und der reichste Mann des Ortes.«

»Schön?«

»Ja, aber nicht mehr ganz jung.«

»Liebenswürdig?«

»Mehr freundlich möchte ich es nennen.«

»Leicht zu erobern?«

»Verteufelt schwer!«

»Also gar kein Feuer oder doch ein wenig Coquetterie?«

»Nicht die Spur. Sie ist das personifizirte kalte Pflichtgefühl, aber in ver-


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dammt vollendet plastischen Formen. Eine wirklich zärtliche, aufrichtig liebevolle Umarmung von ihr dürfte mehr werth sein, als selbst die von Donna Emilia.«

»Verdammt! Das Mädchen möchte ich sehen!«

»Und ich möchte es besitzen!«

»Das wird Dir schwer werden, vielleicht gar unmöglich.«

»Oho, da dürfte ich kein Franzose sein. Wollte ich, so müßte sie heute noch mein werden. Es wäre dies überhaupt eine ganz treffliche Belohnung für die Anstrengung unserer gegenwärtigen Recognitionsreise.«

»So nimm sie Dir. Aber dazu gehört Muth in diesem Lande.«

»Glaubst Du etwa, daß er mir fehlt?« fragte der Capitän beleidigt.

»Ein Wenig,« lächelte der Lieutenant. »Wenn diese mexicanischen Damen nicht wollen, so pflegen sie zu beißen.«

»Pah! Wollen wir wetten?«

»Um was?«

»Tausend Stück der feinsten Puros (Cigarren).«

»Topp! Auf Ehrenwort?«

»Auf Ehrenwort! Topp!«

Sie schlugen ein und dann fragte der Lieutenant im Tone der Neugierde:

»Aber wie willst Du es anfangen?«

»Hm!« brummte der Capitän.

»Ist ein Geheimniß?«

»Das nun eben nicht.«

»Nun, so schieße los!«

»Also, ich habe Dir gesagt, daß ich bereits viermal dort gewesen bin.«

»Und ich habe gnädigst geruht, es anzuhören,« lachte der Neugierige.

»Ich habe dann jedesmal dort geschlafen.«

»Alle Teufel! Und eine Attacke gemacht?«

»Noch nicht. Doch bin ich so klug gewesen, mir die Thüren und Schlösser genau anzusehen.«

»Das nenne ich, seine Vorbereitungen gut treffen! Was sind es für Schlösser?«

»Keine Pariser. Kannst Du Dich besinnen, daß es in unseren Knabenjahren auf den Dörfern und in kleinen Städten noch Schraubenschlösser gab?«

»Schraubenschlösser? Hole Dich der Teufel! Hältst Du mich etwa für einen Schlosser oder Hufschmied, daß Du mir zumuthest, solche Termini technici zu verstehen?«

»Ich meine jene altmodischen Schlösser, zu denen man keinen Schlüssel brauchte.«

»Ah, ich beginne, nachzudenken!«

»Es wurde ganz einfach mit dem Drücker geöffnet, welcher zugleich als Schlüssel diente. Im Schloß befindet sich ein großes Schlüsselloch mit Schraube und im Drücker ist die correspondirende Schraubenmutter ausgehöhlt. Steckt man nun den Drücker ein und dreht ihn ein paar Male um, so öffnet sich die Thür.«

»Jetzt, jetzt besinne ich mich! Aber die Schlösser sind verteufelt altmodisch!«


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»Hier in Mexico noch nicht. Die Thüren des Sennor Pirnero haben alle solche Schlösser und hierauf baue ich meinen Plan.«

»Das wird Dich nicht sehr fördern.«

»Sogar ganz außerordentlich. Du vergissest nämlich zweierlei, Kamerad.«

»Ich bin neugierig, es zu hören!«

»Wenn man den Drücker abzieht und mit in die Stube nimmt, hat man sich eingeschlossen; daher sind diese Thüren nicht mit einem besondern Nachtriegel versehen.«

»Alle Teufel! Mir beginnt zu ahnen, was nun folgen wird.«

»Ferner sind diese Schlösser und Drücker einander alle ungeheuer ähnlich. Sie sind alle über eine Schraube gemacht. Der Drücker der einen Thür schließt also auch alle andern auf.«

»Dann ist aber das Einschließen ja ganz illusorisch geworden.«

»Allerdings; aber daran scheint man in diesem glücklichen Lande gar nicht zu denken. Uebrigens weiß ich, wo Sennorita Resedilla schläft.«

»Resedilla? Ein sehr duftiger Name; ganz wie Kresse und Ranunkel!«

»Meinetwegen! Und zweitens weiß ich auch ganz genau, wo ich schlafen werde.«

»Das ist von ungeheurem Vortheile.«

»Und drittens habe ich bereits bei meiner letzten Anwesenheit probirt, ob mein Drücker die Thür der Sennorita öffnet.«

»Klug wie ein Kadi des Morgenlandes!« spottete der Lieutenant. »Wie fiel diese Probe aus?«

»Sehr gut. Schmiere ich meinen Drücker ein wenig mit Oel oder Talg ein, so gelange ich ganz unbemerkt an das Bette der Sennorita. Das Uebrige ist meine Sache. Ich denke, eine Eroberung kann nicht leichter sein wie diese.«

»Sie wird um Hilfe rufen!«

»Ein Mädchen, welches vollständig in den Armen der Liebe erwacht! Pah! Das mußt Du Einem sagen, der noch keine Frau oder kein Mädchen auf diese Weise bezwungen hat. Ich bin überzeugt, daß ich nicht das Mindeste zu befürchten habe.«

»So stehen Dir also Erfahrungen zu Gebote?«

»So viele als Du willst. Ich habe auf diese Manier Gräfinnen und Waschweiber, Mädchen und Professorsfrauen, Nonnen und Schauspielerinnen, barmherzige Schwestern und Fischerinnen besiegt. Keine schreit, und Keine ruft, denn sie fühlt die beginnende, unwiderstehliche Liebe, abgesehen auch davon, daß sie sich ungeheuer blamiren würde, wenn sie öffentlich gestehen wollte, daß ein fremder Mann in ihrem Bette gelegen hat. Der Augenblick des Erwachens ist der kritische; aber ein Kuß verschließt ja auch den beredtesten Mund und einer innigen Umarmung ist meiner Ansicht nach nie zu widerstehen. Ich weiß sicher, daß ich auch heute siegen werde.«

»Ich wünsche Dir Glück dazu! Du wirst mir aber ausführlich berichten?«

»Natürlich!«

»Ueber Glück oder Unglück!«

»Das versteht sich. Es geht ja auf Ehrenwort. Du sollst Alles so ausführ-


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lich erfahren, als ob dieser Schuft, den sie den schwarzen Gérard nennen, zugesehen hätte.«

»Ja, ein Schuft ist dieser Kerl. Ihn hat unser Heer mehr zu fürchten als zehn andere Spione.«

»Zehn? Sage hundert!«

»Zumal er nicht nur listig ist wie ein Wiesel, sondern auch tapfer wie ein Teufel. Ich möchte mir wohl den Preis verdienen, den Bazaine auf ihn gesetzt hat.«

»Wieviel war es?«

»Erst drei- und dann fünftausend Franken. Er hat Juarez mehr als eine ganze Armee genützt. Dieser Mensch ist gefährlicher als der Panther des Südens, der doch auch berühmt oder vielmehr berüchtigt ist. Er erfährt fast alle unsere Vorbereitungen, auf welche Weise, das ist ein wahres Räthsel. Und wird ja einmal einer seiner Berichte aufgefunden, so ist er genauer und ausführlicher als unser Original. Es sollte mich wundern, wenn er nicht bereits wüßte, daß wir bei den Comanchen gewesen sind. Unsern Contract, daß uns sechshundert dieser Teufel zur Verfügung stehen werden, wird er allerdings nicht sogleich erfahren, wenigstens nicht vor der Zeit. Und dann ist es für Juarez und ihn ja viel zu spät.«

Wie gern hätte Gérard diesen Männern gesagt, daß er bereits jetzt schon Alles wisse; aber mit diesem Spaße hätte er ja ebenso Alles verdorben.

»Also wann wird Deine Compagnie Fort Guadeloupe erreichen?«

»Von heute an in fünf Tagen. Sie wird am Rio Conchos hinuntergehen, unterhalb dessen Einmündung den Rio del Norte überschreiten und dann direct das Fort anlaufen. Dieser Coup kann gar nicht mißlingen; es weiß kein Mensch davon, nicht einmal der Major, welcher denkt, daß es sich nur um eine Demonstration handele.«

»So wirst Du vielleicht Commandant des ganzen Presidio.«

»Das hoffe ich. Jetzt aber laß uns aufbrechen. Draußen auf der Ebene weht ein verdammter Wind und ich muß noch vor Nachts das Fort erreichen.«

Sie brachen auf. So lange warteten die beiden Lauscher; dann kehrten sie zu ihren Pferden zurück, bis wohin der Apache schwieg. Dann aber fragte er:

»Hat mein Bruder Etwas gehört?«

»Ja.«

»War es wichtig?«

»Sehr. Heut über fünf Tagen wird eine Compagnie Franzosen das Fort überfallen.«

»Uff! Was wirst Du thun?«

»Ich rufe Deine Hilfe an.«

»Ich werde kommen.«

»Mit Deinen fünfhundert Apachen?«

»Mit den fünfhundert. Aber Du mußt mir versprechen, Juarez nicht vorher Etwas zu sagen!«

»Warum?«

»Er wird dann seine Leute senden, welche uns die Beute nehmen. Meine


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Krieger erhalten keinen Sold. Ich muß darauf sehen, daß sie Beute bekommen.«

»Beute und Scalpe, gut. Aber ich werde dabei sein.«

»Wo treffen wir uns?«

»Genau um Mittag an der großen Eiche auf den Teufelsbergen.«

»Wirst Du um diese Zeit wieder von Chihuahua hier sein können?«

»Ja. Ich werde viele Pferde nehmen und gebe Dir jetzt das meinige mit, daß es dann frisch und kräftig ist. Aber eins noch habe ich gehört.«

»Was?«

»Diese Leute sind bei den Comanchen gewesen, von denen sechshundert ihnen beistehen werden, den Präsidenten Juarez zu besiegen.«

»Wann kommen sie?«

»Ich weiß es nicht.«

»Welcher Häuptling ist ihr Anführer?«

»Auch das haben sie nicht gesagt; ich werde es aber ganz sicher noch erfahren.«

»So werde ich jetzt von meinem Bruder scheiden, denn er wird das Fort Guadeloupe allein finden können.«

»Dort wird heute der Eine von den Leuten schlafen, welche wir belauschten.«

»Uff!« sagte der Häuptling verwundert.

»Er ist der Capitän der Compagnie, welche wir vernichten werden. Er bleibt im Fort, um sie dort zu erwarten und das Fort vorher kennen zu lernen.«

»Was wird mein Bruder mit ihm thun?«

»Ich werde ihn vielleicht tödten, um ihn für eine That zu bestrafen, welche er begehen will.«

»Darf ich meinen Bruder fragen, welche That dies sein soll?«

»Er will ein Mädchen während der Nacht überfallen.«

»Er ist ein Hund, der geschlagen werden muß, bis er stirbt. Hat mein weißer Bruder mir noch Etwas zu sagen?«

»Heute nicht mehr.«

»So möge ihn der große Geist beschützen. Ugh!«

Sie trennten sich. Bärenauge ritt, das Pferd Gérards an der Leine führend, nach Westen zurück, der Franzose aber schulterte sein Gewehr und wanderte zu Fuße auf das Fort Guadeloupe zu. Er nahm sich dabei Zeit, denn er durfte sich nicht sehen lassen. Erstens hatte er ja von Resedilla für immer Abschied genommen, und zweitens konnte er, wenn ihn der Capitän sah, leicht erkannt werden. Es war also Zeit, wenn er das Fort noch vor Schlafenszeit erreichte.

Um die Zeit der Dämmerung saß der alte Pirnero abermals am Fenster und seine Tochter auf ihrem gewöhnlichen Sitze. Der Alte hatte noch immer schlechte Laune, und da der Wind auch noch immer den Staub aufwirbelte, so war es kein Wunder, daß Wind, Laune und Staub in seinem Innern zu einem trüben Ganzen zusammenschmolzen.

Er trommelte kräftig an der Fensterscheibe und sagte:

»Verdammter Wind!«

Die Tochter achtete auf ihre Arbeit und antwortete nicht; daher brummte er weiter:


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»Ganz armseliger Staub!«

Auch für den Staub wollte sich das Mädchen nicht interessiren; darum beschloß der Alte, einen spitzen Pfeil zu versenden. Er fuhr fort:

»Den ganzen Tag kein Gast dagewesen; nur der zerlumpte Kerl allein.«

Als auch jetzt die Tochter nicht antwortete, fuhr er zornig auf und rief:

»Nun, war er es etwa nicht? War es etwa ein Anderer?«

»Er wars,« antwortete sie kurz.

»Das will ich Dir auch gerathen haben. Wie hast Du ihn denn behandelt?«

»So wie Du es wolltest.«

»Wie denn? Hast Du ihn diplomatisch angelächelt?«

»Ja.«

»Hast Du in ihm einen Spion entdeckt?«

»Nein.«

»So sind Deine diplomatischen Blicke keinen Heller werth, und es ist nicht wahr von der Fortpflanzung vom Vater auf die Tochter hinüber. Nun weiß ich endlich auch, warum Du gar nicht daran denkst, einen Mann zu nehmen. Dir fehlt nämlich die Begabung, ihn politisch zu behandeln. Aber das soll sich schon noch finden. Ich selbst werde Dir einen Mann suchen. Und wenn Du den nicht nimmst, so schicke ich Dich ins Kloster. Da ist der richtige Ort für Dich. Es ist freilich ein sonderbarer Schritt, nämlich vom Pirnschen Stammbaum mit Schornsteinen und Meerrettig in das Kloster, aber Du willst es ja nicht anders haben! Halt, dort kommt ein Reiter! Wenn er hier einkehrt, so fragst Du ihn, ob er ledig ist!«

»Das schickt sich nicht.«

»Was? Das schickt sich nicht? Ich muß wissen, wer bei mir verkehrt. Ich habe eine heirathsfähige Tochter und leide keinen Gast, der schon verheirathet ist. Ah, Himmel, es ist der reiche Goldsucher, der schon viermal bei uns geblieben ist. Kannst Du Dich nicht besinnen, ob der schon eine Frau hat oder nicht?«

»Frage ihn doch selbst,« antwortete sie, jetzt selbst ärgerlich über den Rappel des Vaters, der sich zu manchen Zeiten fast in eine förmliche Manie verwandelte.

»Ja, das werde ich auch thun; ich bin es ja, der das richtige Geschick dazu hat, denn ich bin drüben in Pirna drei Jahre lang Currentaner gewesen und habe gesungen wie eine Haidelerche.«

Bei diesen Worten ging er hinaus, um den willkommenen Gast zu empfangen. Er trat bald mit ihm ein. Es war der französische Capitän, der sich also hier für einen Goldgräber ausgegeben hatte.

»Kann ich diese Nacht abermals hier bleiben, Sennorita?« fragte er höflich.

»Fragt meinen Vater,« antwortete sie.

»Er hat es mir bereits erlaubt.«

»So bedurfte es meiner Zusage nicht. Vater ist Herr im Hause.«

Sie sagte dies in einem zwar höflichen, aber doch kurzen Tone. Der Mann, der sie immer mit seinen verlangenden Blicken verfolgte, war ihr nicht sympathisch.

Er bestellte sich ein Glas Pulque, welches ihm der Alte selbst herbeibrachte, und dann setzte sich der Letztere an das Fenster. Er überlegte, in welch einer


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glanzvollen Weise er dem Fremden entlocken werde, ob dieser noch ledig sei, und sagte:

»Starker Wind!«

»Sehr unangenehm,« meinte der Fremde.

»Entsetzlicher Staub!«

»Nur hier im Orte, draußen aber ist es reine Luft.«

»Reine Luft? Ja, das ist die Hauptsache. Da muß man aber verheirathet sein, damit die Frau darauf sieht, daß die Thüren und Fenster offen sind. Habt Ihr auch eine, Sennor?«

»Was? Eine Thüre?«

»Nein, eine Frau.«

»Nein, ich bin unverheirathet.«

Der Alte warf einen triumphirenden Blick auf seine Tochter und fragte dann weiter:

»Aber Vater und Mutter habt Ihr?«

»Nein.«

»Einen Onkel?«

»Nein.«

»Eine Tante?«

»Nein.«

»Auch keine andern Verwandten?«

»Nein.«

»O dios! Was thut Ihr denn da mit dem Golde, was Ihr findet?«

»Ich hebe es auf für meine Verheirathung.«

»Ach so! Da seid Ihr bereits verlobt?«

»Nein.«

»Oder Ihr habt eine Geliebte?«

»Auch noch nicht.«

Der Blick des Capitäns fiel dabei auf das Mädchen; der Alte bemerkte dies und wurde dadurch in die beste Laune versetzt. Er setzte sein Examen fort:

»Wie heißt Ihr denn eigentlich?«

»Mein Vorname ist Petro.«

»Gut! Sennor Petro, sagt einmal, was Ihr heute zum Abendbrote wollt!«

»Was Ihr habt.«

»Wir haben Alles,« meinte der Wirth stolz.

»Ich esse nur ein Schinkenbrot mit Wein.«

»Das ist sicher so Euer Geschmack?«

»Natürlich.«

»Welchen Geschmack habt Ihr denn eigentlich in Beziehung auf die Blume?«

»Ich liebe die Reseda am Meisten.«

Er gab diese Antwort, weil er bereits wußte, daß die Tochter Resedilla hieß.

Abermals warf der Alte einen triumphirenden Blick auf das Mädchen; dann fragte er weiter:

»Und in Beziehung auf die Frauen?«

»Blond müssen sie sein.«


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»Das Gesicht?«

»Schön weiß und die Wangen fein röthlich angehaucht.«

»Der Mund?«

»Klein und üppig, so recht zum Küssen, mit kleinen, weißen Zähnchen.«

»Die Gestalt?«

»Nicht gar zu lang, aber doch hoch und voll; ich hasse die magern Frauen.«

»Die Hand und den Fuß?«

»Nicht gar zu zierlich aber auch nicht zu plump.«

Er beschrieb Resedilla ganz wie sie war. Der Alte war entzückt und sagte:

»Ihr habt ganz meinen Geschmack, Sennor. Meine selige Frau hatte zwar dunkles Haar, war aber ganz so, wie Ihr jetzt die Beschreibung geliefert habt. So aber ist nun auch meine Tochter geworden, wozu mein blondes Haar gekommen ist. Das ist nämlich die richtige Abstammung vom Vater auf die Tochter hinüber. Pirna ist nämlich berühmt wegen seiner blonden Haare.«

»Pirna? Wer ist das?«

»Das ist meine Vaterstadt. Sie ist weit größer als Niederpoyritz oder Schönefeld und hat das beste Klima für die blonden Köpfe.«

Er wäre noch tiefer in das Lob seiner Vaterstadt hineingeritten, aber da ertönte draußen die Klingel, zum Zeichen, daß er in dem Laden gebraucht werde. Er ging hinaus, warf aber dabei dem Mädchen einen Blick zu, durch den er sie aufmerksam machen wollte, wie diplomatisch schlau er seine Sache angefangen habe.

Kaum war der Vater fort, so erhob sich der Capitän und spazierte im Zimmer auf und ab. Er machte dabei verschiedene Bemerkungen, um ein intimes Gespräch zu Stande zu bringen, doch wollte ihm dies nicht gelingen. Resedilla konnte die Unterredung mit Gérard nicht aus dem Gedächtnisse bringen. Am Liebsten hätte sie sich ganz allein befunden, um sich recht ausweinen zu können. Nun kam der widerwärtige Mensch, verleitete den schwachen Vater zu allerhand Lächerlichkeiten und muthete endlich ihr auch zu, in ein leichtfertiges Gespräch mit ihm einzugehen. Sie antwortete sehr kurz und abweisend, und als er es dennoch wagte, den Arm um die Lehne ihres Stuhles zu legen, so erhob sie sich, um ihm zu entgehen.

»Verzeiht, Sennor,« sagte sie. »Ich muß in die Küche, um das Abendbrot zu bereiten.«

»Von so schönen Händen muß es doppelt gut munden,« meinte er, indem er ihre Hand ergriff.

Sie entzog ihm dieselbe sofort und hastig wieder und antwortete:

»Da bedaure ich sehr, daß die Magd Euch Euren Schinken schneiden wird.«

Damit war sie zur Thür hinaus. Er blickte ihr nach und murmelte:

»Aha, schnippisch kann sie sein! Das ist mir lieb, denn das giebt ihr einen ganz neuen Reiz. Schön ist sie. So ein Vater ist ein solches Kind gar nicht werth. Ich werde mir die möglichste Mühe geben, meine Wette zu gewinnen.«

Da der Alte im Laden und seine Tochter in der Küche zu thun hatte, so blieb der Gast bis zum Abendbrote allein. Als dieses genossen war, begab er sich in sein Schlafzimmer. Dort zog er, um ganz sicher zu gehen, den Drücker ab und probirte denselben an Resedilla's Thür. Er schloß, und so waren alle Vorbereitungen zu dem geplanten Ueberfall getroffen.


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Gérard hatte erst längere Zeit nach dem Dunkelwerden das Fort erreicht. Er begab sich daher sofort nach dem Hause Pirneros, um nicht zu spät zu kommen; denn er wußte, daß man dort sehr zeitig zur Ruhe gehe.

Er umschlich es und dabei bemerkte er zu seiner Beruhigung, daß die Geliebte noch in der Küche thätig sei. In dem offenen Verschlage, in welchen er sein Pferd einzustellen pflegte, lag eine Leiter, welche jedenfalls bis zum Fenster der Bedrohten langte. Sollte er sie holen und anlegen? Sollte er sie von Außen beschützen? Das gab jedenfalls einen Lärm, der den Ruf des Mädchens in Gefahr bringen konnte. Nein, er beschloß es anders anzufangen.

Er schlich in das Haus und stieg die Treppe hinauf. Dort auf dem Boden lag ein Haufen leerer Säcke und alter Decken, der ihm mehr als hinreichenden Schutz bot. Er wühlte sich so tief hinein, daß von ihm nicht das mindeste zu sehen war und wartete nun der Dinge, die da kommen sollten.

Zunächst kam der Capitän, welcher scheinbar zur Ruhe ging; aber Gérard bemerkte, daß er dann vorsichtig und leise das Schloß versuchte. Dann kam Resedilla, später ihr Vater, welcher unten den Eingang verschloß und endlich auch das Hausgesinde. Die Vaqueros schliefen in einem Nebengebäude. Jetzt war es ruhig und vollkommen finster. Gerard konnte sich denken, daß der Capitän warten werde, bis das Mädchen eingeschlafen sei; daher fühlte er sich vollkommen sicher. Er kroch aus seinem Verstecke heraus und schlich sich zur Thür, hinter welcher die Mägde verschwunden waren. Dort drehte er den Drücker so leise ab, daß im Innern nichts gehört wurde, ging zur Thür der Geliebten, welche den ihrigen mit hinein genommen hatte und versuchte. Er merkte bereits bei der ersten Umdrehung, daß auch dieser Drücker das Schloß schließe; darum kehrte er beruhigt in sein Versteck zurück.

Es verging weit mehr als eine Stunde, bis sich ein knisterndes Geräusch vernehmen ließ, nur für das scharfe Ohr des Prairiejägers hörbar.

»Jetzt kommt er!« dachte dieser.

Er horchte noch gespannter als vorher und hörte von der Seite her, wo die Thür zum Schlafzimmer der Geliebten lag, ein leises, leises Klingen, als wenn Eisen Eisen berührte.

»Jetzt steckt er den Drücker an!«

Bei diesem Gedanken schob Gérard den Kopf unter den Säcken hervor und sah nun ganz deutlich, was geschah. Der Capitän öffnete vorsichtig die Thür. In dem Zimmer brannte ein Nachtlicht und Resedilla lag so, daß der Lauscher sie erblicken konnte.

Sie hatte, in ihrer Kammer angelangt, noch eine lange Zeit mit Weinen und trübem Sinnen zugebracht und sich dann schlafen gelegt. Erst vor wenigen Minuten hatte der Schlummer sie erreicht. Sie trug ein dünnes, weißes Nachthemde, welches ihre schönen Arme bis herauf zur Achsel sehen ließ; die eine Schleife war nicht zugeknöpft, so daß das Kleid sich geöffnet hatte und die ruhigen Athemzüge der Schlafenden wie auf weißem Marmor sehen und zählen ließ. So schön hatte sich der Capitän dieses Mädchen denn doch nicht gedacht; er zog die Thür leise hinter sich zu und huschte an das Bett.

Im Nu war Gérard jetzt an der nun wieder verschlossenen Thür. Er be-


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feuchtete den Drücker mit Speichel, um das verrätherische Geräusch zu vermeiden, drehte um und öffnete eine schmale, kleine Lücke, durch welche er Alles beobachten konnte.

Der Capitän stand dicht am Lager, versunken in dem Anblick der Schönheiten, in denen er sich berauschen wollte. Er konnte sich nicht halten; er legte den Mund auf ihre Lippen und drückte einen Kuß darauf.

»Das bezahlst Du mir!« dachte draußen der Jäger. »Dieser eine ist Dir gestattet, ein zweiter aber nicht mehr!«

Resedilla erwachte, aber ehe sie noch ganz zum Bewußtsein kam, hatte ihr der Capitän die Hand so fest auf den Mund gelegt, daß sie nicht schreien konnte.

»Keinen Laut, Sennorita!« warnte er halblaut. »Sonst muß ich Euch tödten!«

Sie blickte ihn mit weit aufgerissenen, angsterfüllten Augen an und wagte nicht, sich zu wehren.

»Höret Ihr, was ich sage, so schließet zweimal schnell die Augen,« gebot er.

Sie gab das von ihr geforderte Zeichen.

»Wenn Ihr mir versprecht, nicht zu rufen, gebe ich Euch den Mund frei. Wollt Ihr?«

Sie bejahte durch das vorhin angegebene Zeichen und er nahm die Hand von ihrem Munde.

»Was wollt Ihr?« fragte sie, vor Scham und Angst erglühend.

»Euch, nur Euch!« antwortete er.

»Wie seid Ihr hereingekommen?«

»Durch den Drücker einer andern Thür.«

»Geht, ich bitte Euch! Geht um Gottes Willen!«

»Nicht eher, als bis ich Deine Liebe habe, Du Herrliche!«

Er wollte sich zu ihr niederbeugen, sie aber stieß ihn von sich. Da griff er in den Gürtel und zog sein Messer.

»Wähle!« sagte er. »Liebe oder Tod!«

»Tod!« antwortete sie.

»Ja, Tod!« sagte da eine halblaute Stimme hinter ihnen.

Der Capitän fuhr erschrocken herum und erblickte den jetzt hart vor ihm stehenden Prairiejäger. Er fuhr zurück und zückte das Messer; in demselben Augenblicke aber erhielt er von dem Letzteren einen Schlag, der ihn betäubt zu Boden warf. Das war Alles so blitzschnell geschehen, daß das Mädchen gar keine Zeit gefunden hatte, einen Laut auszustoßen. Jetzt stieß sie mit unterdrückter Stimme hervor:

»Sennor Gérard! Mein Gott, was ist das?«

Sie hüllte sich in die Decke hinein, daß nur noch das angsterfüllte Gesicht hervorblickte.

»Fürchtet Euch nicht vor mir, Sennorita,« beruhigte sie der Gefragte in bittendem Tone. »Ich bin nicht gekommen, Euch ein Leid zu thun, sondern Euch beizustehen.«

»Ist das wahr?« flüsterte sie, befreit aufathmend.


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»Ich schwöre es Euch zu bei Allem was mir und Euch heilig ist! Ich habe großes Unrecht gethan, aber so einen Schurkenstreich konnte ich niemals begehen.«

»Ich danke Euch! Welch ein Schreck! Welch eine Angst! Aber wie kommt Ihr dazu?«

»Ich belauschte im Walde zwei französische Offiziere, von denen der Eine wettete, daß er Euch heute Nacht besiegen werde. Ich eilte herbei, um Euch zu helfen. Erst hatte ich den Gedanken, ihn durch das Fenster zu erschießen, aber das wäre nicht klug gewesen, denn man hätte geglaubt, er sei als begünstigter Liebhaber bei Euch eingetreten und von einem Eifersüchtigen erschossen worden, darum schlich ich mich in das Haus, um diese Angelegenheit bei voller Ruhe abzumachen.«

»Aber man wird trotzdem erfahren, daß Männer bei mir gewesen sind.«

»Kein Mensch wird es erfahren. Laßt mich sorgen, Sennorita!«

»O Gott, wie schlimm wird es uns ergehen, da er ein Franzose ist! Also wirklich?«

»Ja, er ist Capitän.«

»Und bei uns gab er sich für einen Goldsucher aus.«

»Er war als Spion bei Euch; weiter darf ich Euch nichts sagen.«

»Aber was geschieht mit ihm? Ihr habt ihn erschlagen!«

Die Aufregung und Angst, in der sie sich befand, ließ sie alle Aeußerlichkeiten vergessen. Sie streckte die Arme wieder hervor und richtete sich auf, ohne daran zu denken, daß die Augen des doch von ihr Geliebten auf ihr ruhten.

»Er ist nicht todt; er wird wieder zu sich kommen.«

»Schafft ihn nach seinem Zimmer, Sennor! Ich werde Euch leuchten!«

Er besann sich einen Augenblick; dann ging über sein Gesicht ein Lächeln, welches sie sich nicht zu deuten bemühte; es war das Lächeln eines Richters, welcher nach dem Gesetze handelt: Auge um Auge, Zahn um Zahn.

»Gut,« sagte er, »ich werde Eurem Befehle gehorchen und ihn in sein Zimmer bringen. Ihr aber sollt liegen bleiben; Ihr dürft Euch nicht um mich und ihn bemühen.«

Es lag in seinem, wenn auch leisem Tone ein Etwas, welchem sie nicht zu widersprechen wagte.

»Thut, was Ihr wollt, Sennor, nur laßt es Niemanden erfahren!« bat sie. »Nehmt ihn auf. Dort liegt noch sein Drücker. Gute Nacht, Sennor Gérard!«

Sie streckte ihm die Hand entgegen. Er konnte nicht anders, er nahm sie und drückte sie an das Herz und an die Lippen. Sie ließ es ruhig geschehen und fügte hinzu:

»Ihr habt mich heute vor großer Schande bewahrt; darf ich Euch um Etwas bitten?«

»Sprecht, Sennorita!«

»Laßt uns nicht auf immer von einander scheiden!«

»Ihr sprecht diesen Wunsch nur aus Dankbarkeit aus?«

»Nein,« antwortete sie mit dem Ausdrucke der Wahrheit.

»Oder aus Mitleid?«

»Auch nicht!«


// 1440 //

»Das ist wahr, Sennorita?«

»Ich schwöre es Euch zu!«

»So danke ich Euch! Ihr werdet mich also wiedersehen.«

Sein Auge leuchtete auf wie unter dem ersten Strahle eines unendlichen Glückes. Sie bemerkte dies und eine tiefe Röthe ergoß sich über ihr Gesicht. Dann fragte sie:

»Wollt Ihr mir Etwas verzeihen?«

»Was?«

»Daß dieser Mann mich hier gesehen hat!«

»Ja, wenn Ihr auch mir verzeiht, daß ich Euch so gesehen habe.«

Jetzt erst besann sie sich auf ihre gegenwärtige Lage; sie erglühte abermals, aber dennoch streckte sie ihm den schönen, schneeweißen, wie von einem großen Künstler gemeißelten Arm mit der Hand entgegen und sagte:

»Da nehmt meine Hand, ich zürne Euch nicht. Ihr seid ja mein Retter und ich habe Vertrauen zu Euch.«

»Vertrauen? Vertrauen? Ist das wahr, Sennorita?«

»Ja.«

»Vertrauen, Vertrauen, o mein Gott!« stieß er mit einem tiefen Athemzuge hervor. »Ihr wißt Alles, Alles und schenkt mir Vertrauen! Das giebt mir neues Leben!«

Er sank an ihrem Bette nieder, ergriff ihre beiden Hände und senkte seine Stirn in dieselben. Sie stützte sich auf den Ellbogen, näherte ihr Gesicht seinem Kopfe und flüsterte:

»Ja, Sennor Gérard, ich vertraue Euch! Ihr habt viel gesündigt, aber auch viel gelitten. Ich bin überzeugt, daß Ihr niemals wieder etwas Böses thun könnt.«

»Nie, nie!« schluchzte er.

Nichts ergreift das Herz eines Weibes tiefer, als die Thräne eines starken, characterfesten Mannes. Auch ihre Augen füllten sich sofort mit Wasser. Ihre Seele zitterte unter einer heiligen Regung und sie bat mit leiser Stimme:

»Seht mich einmal an, Sennor! Erhebt Euer Angesicht zu mir!«

Er gehorchte ihr. Da senkte sie ihren Kopf herab und gab ihm einen Kuß auf die Stirn und einen zweiten auf den Mund; dann fuhr sie fort:

»Ich habe noch niemals einen Mann geküßt. Denkt, Gott habe Euch diese Küsse gesandt zum Zeichen, daß er versöhnt sei und Euch vergeben habe! Laßt Euer Leben nicht mehr so trübe und so dunkel sein und faßt Glauben und eine feste, freudige Zuversicht zum Himmel, der mein Gebet erhören und Euch begnadigen wird! Gute Nacht!«

Er hatte ihr zugehört, wie man einem Engel zuhört. So verklärt wie sein Gesicht mußten die Züge der Hirten gewesen sein, als sie die Verkündigung vernahmen: »Euch ist heute der Heiland geboren!«

»Gute Nacht!«

Mehr konnte er nicht hervorbringen. Er legte noch einmal sein Gesicht in ihre weichen Hände und nahm dann den Capitän vom Boden auf, um mit ihm das Zimmer zu verlassen. Er trug ihn nach der Gaststube, wo der Offizier sein


Ende der sechzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Waldröschen

Karl May – Forschung und Werk