Lieferung 21

Karl May

14. April 1883

Waldröschen
oder
Die Rächerjagd rund um die Erde.

Großer Enthüllungsroman
über die
Geheimnisse der menschlichen Gesellschaft

von

Capitain Ramon Diaz de la Escosura.


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Er hielt Beiden zur Betheuerung die Hände entgegen; sie ergriffen dieselben und drückten sie.

»Bärenherz ist wirklich der Bruder und Freund des Häuptlings der Miztecas; er mag mit mir gehen,« sagte Büffelstirn, »sobald ich hier fertig bin. Jetzt aber komme er mit zu unserem weißen Freunde, den ich besuchen will!«

Er nahm die Decken, in welche die Kostbarkeiten geschlagen waren, und der Apache half ihm in Gesellschaft der Indianerin dabei. Als sie in das Krankenzimmer eintraten, saß Emma bei dem Leidenden. Ihre Züge waren bleich, und ihre Augen standen voller Thränen.

»Weint nicht, Sennora,« sagte der Miztecas, indem er seinen Packt niederlegte. »Ich werde den Freund untersuchen.«

Er nahm ihm den Verband ab, welchen er erneuerte, und fuhr dann weiter fort:

»Er wird nicht sterben.«

Da hellte sich das Gesicht des schönen Mädchens auf.

»Ist's wahr?« rief sie.

»Ja.«

»Wirklich?«

»Gewiß!« nickte er.

»Wie lange wird es währen, bis er gesund ist?«

Bei dieser Frage machte Büffelstirn ein sehr ernstes Gesicht.

»Das kann ich nicht sagen,« erklärte er, »aber sterben wird er nicht.«

»O, was an der Pflege liegt, das soll sicher geschehen!

»Ich glaube es, Sennora. Darf ich Euch um Etwas fragen?«

»Frage nur, Büffelstirn!«

»Sennor Helmers hat zu Euch von dem Schatze der Miztecas gesprochen?«

»Ja.«

»Ihr wißt auch, daß ich ihn mit in die Höhle des Schatzes genommen habe?«

»Ja. Der Graf wollte ihn ja dort tödten!«

»Der Schatz ist wieder verschwunden; aber die Kinder der Miztecas haben beschlossen, dem Bruder Donnerpfeil ein Andenken an diesen Schatz zu geben. Er liegt krank. Wollt Ihr es an seiner Stelle nehmen und für ihn aufbewahren?«

»Gern,« sagte sie. »Was ist es denn, was Ihr bringt?«

»Seht es selbst!«

Er breitete die Decken auseinander, so, daß die Goldbrocken und das Geschmeide im hellen Strahle der Sonne am Boden lag. Emma vergaß einen Augenblick lang den kranken Verlobten und alle ihre Betrübniß. Sie schlug die Hände zusammen und rief:

»O Dios, welche Pracht, welcher Reichthum! Und das soll Sennor Helmers gehören?«

»Es ist sein,« sagte der Miztecas einfach.

»O Madonna, so ist er ja reicher als ich und als mein Vater!«

Der Häuptling warf einen ernsten Blick auf den Kranken und fragte dann:

»Nicht wahr, Sennora, Donnerpfeil wird Euer Gemahl werden?«

»Ja,« antwortete sie, doch ein wenig erröthend.


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»Und Ihr werdet ihn nie verlassen?«

»Niemals!« betheuerte sie. »Warum fragst Du so?«

»Weil er es vielleicht sehr bedürfen wird, daß Ihr ihn nicht verlaßt. Hat er nicht von seiner Heimath zu Euch gesprochen?«

»Ja.«

»Woher ist er?«

»Aus der Gegend von Mainz in Deutschland.«

»Hat er Verwandte?«

»Einen Bruder.«

»Was ist dieser?«

»Steuermann.«

»Uff! Wenn Donnerpfeil dieses Goldes nicht bedarf, so wünsche ich, daß sein Bruder es bekommt. Wollt Ihr mir dies besorgen?«

»Gern. Es ist ein großer Reichthum, aber er blendet mich nicht. Vater ist reich genug, um mich und Sennor Helmers glücklich und ohne Sorgen zu sehen; der Bruder in Deutschland wird das Gold erhalten.«

»Und auch die Schmucksachen?«

»Alles. Uebrigens wird Sennor Helmers sich nicht sträuben, diese Sachen nach Deutschland zu schicken; ich glaube, mich da nicht zu täuschen.«

Büffelstirn warf abermals einen Blick auf den Kranken und sagte:

»Nein, er wird sich sicherlich nicht sträuben. Also Ihr versprecht mir, das Gold zu schicken?«

»Ich werde es fortsenden.«

»Und ihn nie zu verlassen?«

»Nein! Aber wie kommst Du mir vor mit diesen Fragen?«

»Ich habe meine Gründe, die Ihr sicher noch erfahren werdet. Ist der Arzt noch nicht angekommen, nach dem Ihr gesendet habt?«

»Nein.«

»So bin ich begierig, zu wissen, was er sagen wird.«

Er trat abermals zu dem Kranken, um ihn zu betrachten. Emma aber bückte sich nieder und ließ die Ketten und Ringe funkelnd durch ihre Finger gleiten. Dadurch entstand ein leiser, golden-metallischer Klang, der einen eigenthümlichen Eindruck auf den Kranken hervorbrachte. Sobald dieser Klang sich hören ließ, öffnete Helmers die Augen und blickte im Kreise umher. Sein Blick hatte nichts Gestörtes oder Stieres an sich; er war unendlich traurig; er schien die anwesenden Personen zu sehen, aber nicht zu erkennen.

»Ich bin erschlagen!« flüsterte er.

»O Dios, er redet!« rief Emma.

Sie eilte mit raschen Schritten zum Bette.

»Was sagtest Du, mein Lieber?« fragte sie mit zitternder Stimme.

Er blickte sie an und antwortete:

»Ich bin erschlagen worden.«

»Ah, er phantasirt!« sagte das Mädchen ängstlich. »Antonio, kennst Du mich denn nicht?«

»Ich kenne Dich,« antwortete er.


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»So sage meinen Namen!« bat sie.

»Ich weiß ihn nicht.«

»O Madonna, er weiß ihn nicht! Kennst Du denn Deine Emma nicht?«

»Ich kenne sie; aber ich bin erschlagen worden.«

Da strömte ihr das Wasser aus den Augen, und sie fragte unter Thränen:

»Kennst Du diese beiden Häuptlinge?«

»Ich kenne sie, weiß aber nicht, wer sie sind.«

»O, kennst Du denn Büffelstirn und Bärenherz nicht?«

»Ich kenne sie; aber ich bin erschlagen worden.«

»Er redet irre; er hält sich für todt!« jammerte sie.

Da trat Büffelstirn zu ihr heran, legte ihr die Hand auf den Arm und fragte:

»Sennorita, wollt Ihr mir eine Frage recht wahr beantworten, und so wahr, als ob Euch der große Geist selber fragte?«

»Ja.«

»Was werdet Ihr thun, wenn unser Freund Donnerpfeil stets so bleibt, wie er jetzt ist?«

»O, ich werde ihn nicht verlassen, nie, nie! Aber er wird wieder zu sich selbst kommen.«

»Es ist möglich, daß er wieder gesund wird, aber sein Gehirn ist erschüttert. Gebt uns die Hand darauf, daß Ihr ihn nicht verlassen wollt!«

Das schöne Mädchen zerfloß fast in Thränen. Sie reichte den beiden Kriegern die Hand und sagte mit energischem Tone:

»Ich bin seine Verlobte; ich werde sein Weib sein, mag er nun so bleiben oder nicht. Aber Eines wünsche ich!«

»Was?«

»Daß er gerächt werde an Dem, der ihn erschlagen wollte!«

»Er wird gerächt; ich habe es geschworen,« sagte der Miztecas.

»Er wird gerächt; auch ich habe es geschworen,« sagte der Apache.

»Ja, er wird gerächt,« sagte die Indianerin. »Wir schwören es hier abermals!«

Da hörte man das Getrabe von Pferden im Hofe. Emma trat an das Fenster.

»Der Arzt!« sagte sie. »O, nun werden wir sogleich hören, was wir zu hoffen und zu befürchten haben.«

Es dauerte nicht lange, so brachte der Haciendero den Arzt in das Zimmer. Dieser ließ sich Alles genau erzählen und trat dann an das Bett, um den Kranken zu untersuchen. Dieser verzog während der Untersuchung das Gesicht zwar außerordentlich schmerzlich, gab aber keinen Laut von sich. Er hielt selbst in der geistigen Gestörtheit den Satz fest, daß man den Schmerz beherrschen müsse. Dann fragte ihn der Arzt:

»Wer sind Sie, Sennor?«

»Ich weiß es,« antwortete er mit unendlicher Trauer.

»Wie heißen Sie?«

»Ich weiß es nicht.«

»Kennen Sie nicht den Sennor Helmers?«


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»Ich kenne ihn; aber ich bin erschlagen worden.«

»Wo befindet er sich jetzt?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wer hat Sie denn erschlagen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Und wo wurden Sie erschlagen? Wissen Sie auch das nicht?«

»Ich weiß es, aber ich bin erschlagen worden.«

So beantwortete er alle an ihn gerichteten Fragen. Er behauptete, Alle zu kennen und Alles zu wissen, aber erkannte Niemand und wußte nichts, als daß er erschlagen worden sei. Der Arzt schüttelte den Kopf und sagte:

»Es ist ein Schädelbruch vorhanden; aber ich kann nichts thun. Das Wundkraut, welches Sie aufgelegt haben, ist das Einzige, was helfen kann. Wenn der Bruch zuheilt, kommt ihm vielleicht die Erinnerung wieder. Darum darf man nicht denken, daß Alles verloren sei.«

Als er mit den Anderen das Zimmer verlassen hatte, warf sich Emma neben dem Kranken auf die Kniee, erfaßte seine Hände und fragte:

»Kennst Du mich wirklich nicht, Antonio?«

»Ich kenne Dich,« sagte er.

»So nenne mich beim Namen, o, nur ein einziges, einziges Mal!«

»Ich weiß den Namen nicht.«

»Hast Du mich lieb?«

»Ich habe Dich lieb!«

»Sehr?«

»Sehr!« betheuerte er mit dem stereotypen Ausdruck der Trauer im Angesichte.

»O, ich werde Dich nicht verlassen, auch wenn Du immer krank bleibst!«

»Ich bin nicht krank; ich bin erschlagen worden!« sagte er.

Sie schluchzte laut auf, netzte sein Gesicht mit ihren Thränen und trocknete es wieder durch die heißen Küsse, welche er leidend entgegennahm, ohne sie zu erwiedern.

Drunten im Hofe und draußen im Felde wurden jetzt die Leichen der Comanchen zusammengetragen, um auf Pferde gebunden und nach dem Teiche der Krokodile getragen zu werden. Alles, was sie bei sich getragen hatten, überließ der Haciendero seinem Gesinde. Als die Transportpferde eingefangen, an einander gebunden und dann mit ihrer todten Menschenlast beladen worden waren, bildeten sie einen langen Zug.

Von der großen und kriegerischen Zahl der Comanchen lebten nur noch sechs, und auch diese konnten nicht sagen, ob sie ihre Jagdgründe wiedersehen würden. Die Alligatoren aber hatten nach so langem Hungern eine Zeit des gräßlichen Ueberflusses, denn die in den Teich geworfenen Leichen brachten diesen fast zum Ueberlaufen. Es bedurfte langer Zeit, ehe die Bestien diesen Fraß zu bewältigen vermochten, und es konnten wohl Wochen vergehen, ehe eine menschliche Lunge die Atmosphäre der Tempelruinen wieder einathmen konnte. - - -

In Mexiko, der Hauptstadt des alten Aztekenreiches, stand in der Nähe des Paseo einer der reichsten Paläste, den die Stadt Montezuma's aufzuweisen hatte.


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Und dieser Palast gehörte einem der bedeutendsten Großgrundbesitzer des Landes, nämlich dem Grafen Ferdinando de Rodriganda de Sevilla.

Dieser saß in seinem Arbeitskabinet, umgeben von allem Luxus eines exotischen Landes, und ging die Rechnungen durch, welche ihm sein Sekretär vorgelegt hatte.

Wer den Advokaten Gasparino Cortejo in Manresa oder Rodriganda kannte und hier diesen Sekretär in Mexiko erblickte, der würde über die Aehnlichkeit Beider erstaunt gewesen sein, und wirklich - der Sekretär hieß Pablo Cortejo und war der Bruder des Advokaten Gasparino Cortejo.

Er schien sich gegenwärtig in keiner rosigen Laune zu befinden. Seine lange, hagere Gestalt war demüthig zusammengeknickt; seine bleichen, schmalen Lippen preßten sich unmuthig nach innen, und aus seinen kleinen Augen funkelte zuweilen ein unbemerkbarer, aber desto giftigerer Blick auf den Grafen hinüber, der mit gerunzelten Brauen auf die Papiere schaute.

»Wahrlich, das ist nicht gut,« sagte Don Ferdinando; »das kann ich nicht billigen!«

»Junges Blut hat keine Tugend, Erlaucht!« sagte Cortejo, wie um zu entschuldigen.

Der Graf sah ihn ernst an und antwortete:

»O, ich denke, daß junges Blut zwar rauscht und schäumt, aber doch auch Tugend besitzen müsse. Und ist das Tugend, was ich hier sehe?«

»Es ist eine kleine, gesellige Schwäche!«

»So, Ihr nennt es also eine gesellige Schwäche, wenn mein Sohn an einem einzigen Abende zwölftausend Pesos im Spiele verliert?«

»Er hat auch oft ähnliche Summen gewonnen, Don Ferdinando.«

»Ah, also spielt er oft? Also ist er ein Gewohnheitsspieler?« fragte der Graf in zorniger Verwunderung. »Ich werde ihm die Zügel kürzen lassen!«

Er blätterte weiter.

»Was ist das?« fragte er. »Ist diese Angelegenheit nicht geordnet worden?«

»Don Alfonzo hat die Summe, welche Sie ihm dazu gewährten, anderweit verwenden müssen.«

»Wozu?«

»Er hat mir das nicht mitgetheilt; er ist ja mir keine Rechenschaft schuldig.«

»Rechenschaft allerdings nicht,« sagte der Graf; »aber ich glaubte, er könne es Euch so im Vertrauen mitgetheilt haben. Es will mir überhaupt erscheinen, als ob mein Sohn Euch mehr Vertrauen schenkte als mir.«

»O, Don Ferdinando, das scheint nur so! Ich erfreue mich allerdings einigen Vertrauens von Seiten Don Alfonzo's, aber -«

»Und als ob Ihr,« fuhr der Graf mit scharfer Stimme fort, »von diesem Vertrauen nicht den rechten Gebrauch machtet!«

»Erlaucht!«

»Schon gut. Wenn mein Sohn in so vielen Stücken nicht mein Wohlgefallen besitzt, so seid Ihr allein es, auf den ich die Schuld zu schieben habe. Wollt Ihr etwa nach so langjähriger Dienstzeit entlassen werden?«

Die Brauen des Sekretärs zogen sich wie drohend zusammen, nahmen aber im


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nächsten Augenblicke ihre gewöhnliche Stellung wieder ein. Und auch die Antwort erklang im unterthänigsten Tone:

»Darf ich vielleicht mir die Ansicht erlauben, daß Durchlaucht sich irren?«

»Ich irre mich nicht,« sagte der Graf streng. »Warum liegt mein Sohn während des ganzen Tages bei Euch? Warum seid Ihr bei ihm, sobald ich Eurer bedarf? Ihr wißt, daß ich nicht gern und nicht viel spreche, wenn ich aber einmal rede, so weiß ich auch, was ich sage. Warum entschuldigt Ihr seine Leidenschaft für das Spiel?«

»Andere junge Herren thun auch so.«

»Das ist für ihn kein Grund, mein Geld zu vergeuden. Und warum giebt er Wechsel mit meiner Unterschrift?«

»Ein kleiner Zufall, Erlaucht!«

»Was?« brauste der Graf auf. »Das nennt Ihr einen Zufall? Ist mein Sohn bereits so vom Credit gefallen, daß man seine Wechsel nicht mehr honorirt, sondern meinen Namen verlangt! Wer hat meinen Namen auf das Papier gesetzt, er oder Ihr?«

»Er.«

»Er soll es zum letzten Male gethan haben. Und auch Ihr werdet weder Blankett noch Formulare von mir in die Hand bekommen. Hier die letztere schmutzige Angelegenheit« - er deutete auf einen der Briefe - »war meinerseits mit fünftausend Piaster beigelegt. Wem habe ich diese Summe gegeben?«

»Mir,« antwortete der Sekretär in kleinlautem Tone, aber mit kochendem Blute.

»Wozu?«

»Ich sollte sie dem Mädchen auszahlen.«

»Jetzt nun sagt Ihr, daß mein Sohn sie anderweit verwenden mußte, so habt Ihr also ihm das Geld gegeben?«

»Er bat mich darum.«

»Ach so! Der Wunsch des leichtsinnigen Sohnes gilt mehr als der Befehl des Vaters, in dessen Dienst Ihr steht! Ich werde meine Maßregeln ergreifen müssen, um mir Gehorsam zu verschaffen. Verstanden?«

Er nahm die anderen Scripturen eine nach der andern auf, um sie durchzulesen. Da plötzlich schoß ihm ein dunkler Blutstrom in das aristokratisch bleiche Angesicht; es war die Röthe der Scham und der Entrüstung. Er sprang empor und trat dem Sekretär mit blitzendem Auge entgegen.

»Wißt ihr, wo Alfonzo sich jetzt befindet?« fragte er.

»Auf der Hacienda del Erina.«

»Weshalb?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ich wußte es auch nicht, weshalb er auf einmal eine so plötzliche Sehnsucht nach der fernen Hacienda verspürte und warum Ihr die Erfüllung dieser Sehnsucht befürwortetet; jetzt aber weiß ich es!«

Der Sekretär war jetzt doch bleich geworden. Der Graf schritt in höchster Erregung im Zimmer auf und ab, wandte sich dann plötzlich um und fragte:

»Was ist es mit dem Duell?«


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»Mit welchem Duell?« antwortete der Sekretär mit der unschuldigsten Miene.

»Cortejo!« donnerte ihn der Graf an.

»Ich weiß wirklich nichts!«

»Gut! Aber Ihr täuscht mich nicht. Wenn Ihr nicht redet, seid Ihr augenblicklich entlassen. Entschließt Euch kurz!«

Cortejo sah sich in die Enge getrieben. Er konnte nicht weichen und sagte schließlich in einem bittenden Tone:

»Verzeihung, Don Ferdinando! Don Alfonzo hat mir das strengste Schweigen anbefohlen!«

»Wer hat Euch zu befehlen, ich oder mein Sohn? Heraus mit der Sprache!«

»Don Alfonzo ging nach der Hacienda, um einem Streite auszuweichen.«

»Erklärt Euch deutlicher. Graf Embarez schreibt mir hier Folgendes:

      »Don Ferdinando.
Ich ersuche Euch, Euren Sohn zu veranlassen, heute über drei Tagen auf dem Rendezvous zu erscheinen. Die Zeit ist bereits seit drei Wochen um. Eine solche Angelegenheit erlaubt keine Minute Aufschub. Ist Don Alfonzo nicht zur angegebenen Zeit zur Stelle, so werde ich den Fall ohne alle weitere Rücksicht im »Diario oficial« und in »La Sociedad« veröffentlichen. Ich hoffe, daß Euch mehr an der Ehre Eures Hauses, als an einem Fetzen der Haut Eures Sohnes gelegen ist.
      Almanzo, Graf Embarez.«

Nun sagt, wie es steht! Liegt etwa eine Forderung zum Duell vor, wie ich nach dem Wortlaute dieser ehrenrührigen Epistel schließen muß?«

»Der Graf hat Don Alfonzo beleidigt.«

»Ah, und mein Sohn hat ihn gefordert?«

»Nein. Der Graf hat Don Alfonzo gefordert.«

»So ist es umgekehrt: mein Sohn hat ihn beleidigt. Gebt Euch um Gottes willen keine Mühe, auch diese Sache zu bemänteln. Hat mein Sohn die Forderung angenommen?«

»Er mußte.«

»Ah! Er mußte! Das heißt, eigentlich wäre er feig genug gewesen, sie nicht anzunehmen! Welch' eine Schande. Wo ist das Rendezvous?«

»Am Ufer des Sees von Tescuco.«

»Und Alfonzo ist nicht erschienen?«

»Graf Embarez ist als der gewandteste Fechter und Schütze bekannt und gefürchtet,« sagte der Sekretär mit sichtbarer Verlegenheit.

Da fuhr der Graf mit der Hand nach dem Herzen; es war ihm als ob er einen Stich in dasselbe bekommen hätte.

»Barmherziger Gott!« stöhnte er. »Mein Sohn ein solcher Feigling! Meine Ehre ist vernichtet. Er hat eine Forderung acceptirt und ist aus Angst entflohen! Der Name Rodriganda ist befleckt und geschändet für ewige Zeiten, wenn nichts geschieht, um ihn zu retten.«

Er wanderte abermals im Zimmer auf und ab, dann blieb er stehen und sagte:


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»Hört, was ich Euch befehle! Es gehen sofort zwei Couriere nach der Hacienda ab.«

»Zwei?«

»Ja, damit die Botschaft sicher läuft. Sie haben meinem Sohn zu sagen, daß er sofort nach Mexiko komme. Hört Ihr es? Sofort!«

»Erlaucht wollen bemerken, daß er binnen drei Tagen unmöglich hier sein kann!«

»Ich weiß das. Ich werde nachher zu dem Grafen fahren und ihm sagen, daß ich die Angelegenheit im Namen meines Sohnes ausfechten werde. Nach dem Wortlaute des Briefes hat Alfonzo sich für Säbel entschieden?«

Ueber das Gesicht des Sekretärs zuckte ein freudiger Blitz.

»Ja,« sagte er.

»So feig und doch so unvorsichtig. Hätte er Pistolen auf weite Distance genommen, so brauchte er nicht auszureißen. Geht jetzt, und sendet mir die alte Maria Hermoyes her!«

Der Sekretär ging; es war ihm, als sei er aus einer Hölle erlöst worden.

Nach einiger Zeit trat eine alte Frau von sehr ehrwürdigem Aeußern bei dem Grafen ein. Sie verneigte sich ehrerbietig und blieb an der Thür stehen.

»Tritt näher, Maria, und setze Dich!«

Don Ferdinando sagte dies im leutseligsten Tone. Die alte Maria Hermoyes war als die treueste Dienerin des Hauses bekannt; sie wurde als solche vom Grafen behandelt.

Er schritt noch immer im Zimmer auf und ab; es kostete ihm Mühe, seinen Zorn zu besiegen oder zu verbergen. Endlich sagte er:

»Maria, Du bist mir treu, nicht wahr?«

»Don Ferdinando,« betheuerte sie, »Sie wissen, daß mein Leben Ihnen gehört!«

»Ich weiß es. Wirst Du mir die Wahrheit sagen?«

»Ich habe Sie noch nie belogen.«

»Ich glaube es; aber es giebt Dinge, bei denen selbst der treueste Diener meint, daß es für seinen Herrn das Beste sei, das Richtige und Wahre nicht zu erfahren. Du jedoch wirst mir die Wahrheit sagen?«

»So, als ob ich vor dem Beichtvater oder vor Gott stände!«

»Nun gut! Du hast mir damals meinen Neffen von Spanien herübergebracht. Sage mir aufrichtig, ist er wirklich mein Neffe?«

Sie erschrak sichtlich.

»Mein Gott, welche Frage!« sagte sie.

»Antworte!«

»Warum sollte er es nicht sein, Don Ferdinando?«

»Du sollst mir nur mit einem einzigen Worte antworten,« gebot er. »Ja oder Nein!«

»Das kann ich nicht!«

»Warum?«

»Gnädiger Herr, darf ich wirklich reden?«

»Ja. Ich habe es Dir sogar befohlen.«


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»Das ist ein Punkt, der mir erst wenig Sorge machte, mit der Zeit sich mir aber immer mehr auf das Herz gelegt hat.«

»Ah! Hast Du bereits darüber gesprochen?«

»Zu keinem Menschen,« sagte die ehrliche Alte.

»Nun, so rede!«

»Es fiel mir immer mehr auf, daß Don Alfonzo dem Sennor Pablo Cortejo so ähnlich sieht -«

»Bei Gott, das ist mir auch aufgefallen; das eben hat mich auf Gedanken gebracht, die ich nicht wieder loswerden kann.«

»Sodann fiel es mir auf, daß er und Cortejo stets beisammen sind und immer Heimlichkeiten haben.«

»Das weiß ich. Es wird aber anders werden!«

»Und sodann -«

Sie stockte, trotz ihres Alters erröthend.

»Nun?« fragte er.

»Sodann fiel mir noch ein Drittes auf,« fuhr sie fort. »Ich muß nämlich sagen, daß der Bruder des Sennor Pablo -«

Wieder stockte sie.

»Sprich nur weiter! Was Du sagst ist nur für mich. Du meinst den Advokaten Gasparino Cortejo in Manresa?«

»Ja. Er ging mir in früheren Jahren ein Wenig nach, obgleich ich älter war als er, und da schenkte er mir einst sein Bild, welches ich noch heute besitze.«

»Und dieses Bild?«

»Es ist das leibhaftige Conterfei des Grafen Alfonzo.«

»Ah! Darf ich es einmal sehen?«

»Ja, Erlaucht.«

»So bringe es mir!«

Sie eilte fort und brachte darauf ein Portraitbild in Kreidemanier. Kaum hatte der Graf einen Blick auf dasselbe geworfen, so rief er erschüttert:

»Mein Gott, es stimmt! Das ist Alfonzo, wie er leibt und lebt!«

»Ja, das sah ich auch, Don Ferdinando, und das drückte mir fast das Herz ab.«

»Ist jener Gasparino Cortejo verheirathet?«

»Nein.«

»Hat er nie ein ernstes Verhältniß gehabt?«

»Hm! Man spricht nicht davon.«

»Du sollst aber davon sprechen!« gebot er.

»Sie werden mir zürnen!«

»Warum?«

»Weil - weil -« antwortete sie stockend - »weil es eine Verwandte von Ihnen betrifft!«

»Ah! Wer ist es?«

»Sennorita Clarissa, welche später Schwester Clarissa genannt wurde.«

Der Graf fuhr mit dem Bilde wieder empor zu den Augen und warf einen langen, scharf prüfenden Blick auf dasselbe.


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»Verdammt, es stimmt!« sagte er. »Ich kannte diese Cousine sehr genau. Und jetzt, jetzt bemerke ich, als ob dieser Alfonzo ihr auch sehr ähnlich sähe!«

»Das ist auch mir aufgefallen, gnädiger Herr!«

»So? Gut, so laß uns einmal prüfen! Woher weißt Du, daß jener Cortejo ein Verhältniß mit dieser frommen Cousine Clarissa hatte?«

»Ich habe sie überrascht im Parke von Rodriganda, wo sie mit einander spazieren gingen.«

»Weiter weißt Du nichts? Für unsern Gegenstand beweist das nichts!«

»O,« sagte sie verschämt, »ich war damals eifersüchtig und ging ihnen nach. Ich überraschte sie, als sie mit einander auf dem Gartenstroh im Borkenhäuschen lagen.«

»Das könnte genügen.«

»Es traf sich stets, daß sie mit einander auf Rodriganda waren. Sie kam aus ihrem Stifte und er aus Manresa. Dann habe ich oft gesehen, daß er des Abends zu ihr ging und sie erst des Morgens wieder verließ.«

»Gut! Das wäre also erwiesen. Ich halte es nun für möglich, daß sie ein Kind gehabt haben. Wie aber nun weiter? Du warst die Amme des kleinen Alfonzo?«

»Ja. Er hatte sechs Monate bei mir getrunken, dann entwöhnte ich ihn. Ich sollte auf dem Schlosse bleiben, aber es gab da einen Tischler, der mich heirathen wollte; ich wurde seine Frau und zog zu ihm.«

»Weiter!«

»Mein Mann war kränklich und starb. Nun stand ich wieder allein. Das war zu der Zeit, in welcher Sie um den kleinen Alfonzo gebeten hatten. Ihr Wunsch wurde erfüllt, da damals noch ein älterer Knabe lebte, und man fragte mich, ob ich nicht Lust habe, das Kind nach Mexiko zu begleiten. Ich sagte zu, denn ich hatte Niemanden, der mir lieb war.«

»Wer stellte diese Frage an Dich?«

»Gasparino Cortejo.«

»Ah, er wollte eine Zeugin seiner Liebschaft entfernen!«

»Jedenfalls, obgleich ich daran erst später gedacht habe.«

»Du kamst also von da an bis zur Abreise wieder auf das Schloß?«

»Nein, denn viel Zeit gab es nicht, da das Schiff bereits segelfertig war. Ich wurde am Morgen der Abreise auf das Schloß verlangt und saß dann mit dem Grafen, der Gräfin und dem kleinen Alfonzo im Wagen, der uns nach Barcelona brachte. Dort fanden wir den braven Sennor Petro Arbellez, der jetzt Haciendero ist, damals aber noch Ihr Inspector war. Ihm wurde ich mit dem Kinde übergeben.«

»Wurdet Ihr mit dem Grafen und der Gräfin auf das Schiff begleitet?«

»Nein. Beide fuhren gegen Abend wieder ab, da der Abschied die liebe, gnädige Frau so sehr anzugreifen schien. Dann bin ich von dem Kinde nicht wieder fortgekommen. Aber am Morgen schien es mir, als ob der Kleine ein etwas anderes Gesicht habe.«

»Ah! Weiter nichts?«

»O, doch noch Etwas, aber nur eine Kleinigkeit. Wenn man arm ist, so ist man neugierig auf die Sachen, welche reiche Leute besitzen. Als ich den Knaben


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zur Ruhe legte und also entkleidete, sah ich mir Alles, was er trug, genau an. Und am andern Morgen war es mir, als ob das Hemdchen eine andere Nummer habe, als am Abend vorher.«

Der Graf horchte auf und fragte:

»Es schien Dir nur so? Oder war es Dir gewiß?«

»Gewiß nicht. Ich hatte die Nummer zwar ganz genau gesehen, aber nicht die Absicht gehabt, sie mir zu merken; dennoch aber möchte ich jetzt behaupten, daß sie eine andere geworden war.«

»Das wäre nun freilich von der allerhöchsten Wichtigkeit! War Deine Thür verschlossen?«

»Nein.«

»In welchem Gasthofe war es? Ich habe den Namen wieder vergessen.«

»Im Gasthause »L 'Hombre grand« in Barcelona.«

»Weiß Du nicht, wer an diesem Abende dort noch logirte?«

»Ich erkundigte mich am Morgen, aber ganz zufällig und nicht etwa, weil ich an eine Verwechslung des Kindes gedacht hatte. Aber was ich erfuhr, erschien mir in späterer Zeit doch auffällig.«

»Was?«

»Es hatte nicht weit neben uns ein Mann logirt, zu dem später zwei andere Männer kamen; sie alle Drei waren unbekannt und hatten bereits am frühesten Morgen das Haus wieder verlassen. Der Eine hatte dabei ein Bündel unter dem Arme getragen.«

»Wer hat dies gesehen?«

»Eine Magd, welche Zahnschmerzen hatte und nicht schlafen konnte.«

»Darnach könnte also der Knabe sammt der Wäsche, wenigstens sammt des Hemdes verwechselt worden sein. Hätte Cortejo auf Rodriganda zu der Kinderwäsche gekonnt?«

»Er nicht, aber die Schwester Clarissa.«

»Das ist ganz dasselbe. Giebt es noch Etwas, was Du über diese Angelegenheit zu sagen hättest?«

»Sicheres nicht, aber Kleinigkeiten, die man erst nicht beachtet, die später aber dennoch auffällig erscheinen.«

»Sage es nur immer. In solchen Fällen sind Kleinigkeiten oft von hohem Werthe.«

»Nun, der kleine Knabe sprach nie von seinen Eltern, während er doch der Trennung wegen gerade nach ihnen hätte weinen sollen.«

»Ah!«

»Ja. Es war, als sei er gar nicht bei Eltern gewesen.«

»Das ist ein wichtiger Punkt.«

»Und wenn ich einmal von dem Grafen und der Gräfin begann, so sagte er selten Papa und Mama, sondern meist nur Vater und Mutter.«

»Auch das ist werthvoll.«

»Er redete überhaupt nicht gern von der Heimath. Es war fast, als sei es ihm verboten, von ihr zu sprechen. Ferner hörte er sehr oft nicht auf den Namen Alfonzo; es war, als sei er bisher mit einem andern gerufen worden.«


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»Mein Gott, das Alles sagst Du mir erst jetzt?«

»O, das fiel mir Alles gar nicht auf. Ich war ein einfaches, dummes Ding und hatte keinen Verdacht. Hier in Ihrem Hause wurde ich ein klein wenig klüger, und als ich dann später die wunderbare Aehnlichkeit bemerkte, von welcher wir vorhin gesprochen haben, dann erst stellte sich der Verdacht ein, und ich begann nachzudenken. Aber zu spät!«

»Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Gottes Wege sind sehr oft wunderbar und unerforschlich.«

»Ferner fiel mir auf, daß der Knabe während der Reise mehr nach Sennor Pablo Cortejo als nach Ihnen fragte, und endlich habe ich hier bemerkt, daß Beide sich Du nennen, wenn sie denken, allein zu sein.«

»Wirklich?« fragte der Graf hastig.

»Ja. Ich habe sogar einmal gehört, daß der junge Graf den Sekretär Onkel nannte.«

»Sagst Du die Wahrheit?«

»Ja. Es war im Garten, und die Beiden hatten keine Ahnung davon, daß ich sie beobachte.«

»Weiter!«

»Das ist Alles, Don Ferdinando. Ich weiß nichts weiter.«

»O, es ist genug. Ich habe die Ueberzeugung, daß hier ein Schurkenstreich begangen worden ist. Aber wehe ihnen!«

»Ich soll doch schweigen über das, was wir jetzt gesprochen haben, gnädiger Herr?«

»Natürlich! Sie dürfen nicht erfahren, daß wir eine Ahnung haben, sonst würden sie den Faden zerreißen, der uns durch das Geheimniß leiten soll. Aber, wenn es so ist, wie wir denken, wo befindet sich dann der richtige Knabe Alfonzo?«

»Den haben jene drei Männer mit fortgenommen.

»Und wohl gar getödtet!«

»O mein Gott!«

»Ich werde es erfahren; ich muß es erfahren!« sagte der Graf grimmig. »Also darum ist dieser Alfonzo so aus der Art geschlagen, und darum konnte in mir kein verwandtschaftliches Gefühl für ihn aufkommen! Aber er ist mein Neffe vor den Augen der Welt, ja, ich habe ihn sogar stets meinen Sohn genannt und nennen lassen; ich muß auch heute wieder für ihn eintreten. Gehe, meine gute Maria, und sage dem Kutscher, daß er anspannen solle. Wenn ich Dich in dieser Angelegenheit wieder brauche, werde ich Dich rufen lassen.«

Die Alte ging.

Der Graf schloß die Papiere, welche ihm so viel Aerger bereitet hatten, in seinen Schreibtisch ein und ging dann hinab vor das Portal, um in die kostbare Equipage zu steigen.

»Zum Grafen Embarez!« gebot er dem Kutscher.

Die wohlbekannte Karosse des Grafen Rodriganda hielt bald vor dem Hause des Grafen. Don Ferdinando ließ sich melden und wurde angenommen. Der Graf, ein noch junger Mann, empfing ihn mit ausgesuchter aber dabei doch kalter Höflichkeit und bot ihm einen Sessel an, während er selbst doch stehen blieb.


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Dies gab dem Grafen Rodriganda Veranlassung, den Sessel auszuschlagen und auch stehen zu bleiben.

»Ich erhielt heute eine Zuschrift von Ihnen,« begann er.

Embarez verbeugte sich zustimmend.

»Und hatte Veranlassung, mich über den Ton, in welchem sie verfaßt ist, zu wundern.«

»O, dieser Ton ist sehr natürlich!«

»Ihnen vielleicht, mir aber nicht. Ich pflege höflich zu sein gegen Jedermann.«

»Ich ebenso, wenn er es werth ist.«

Rodriganda trat einen Schritt zurück.

»Sie meinen, daß ich den Werth, den Sie meinen, nicht besitze?« fragte er scharf.

»Von Ihnen war keine Rede.«

»Aber der Brief war an mich gerichtet!«

»Und handelte von Ihrem Sohne.«

»Ich bitte um Aufklärung. Was haben Sie mit ihm?«

»Eine Ehrensache, denn er beleidigte meine Schwester, darauf forderte ich ihn auf Degen, diese Forderung er annahm.«

»Wann sollte das Duell stattfinden?«

»Drei Tage später. Leider erschien er nicht. Ich vermuthe, daß es ihm scheint, seine Ehre sei nicht eines Degenstoßes werth. Oder ist er feig. Ich muß es glauben.«

Rodriganda war bis in die tiefste Seele getroffen, dennoch behauptete er seine Kälte und sagte:

»Vielleicht irren Sie, Graf! Zunächst muß ich Ihnen bemerken, daß es mir nicht sehr edel erscheint, einen Unschuldigen, wie ich doch in dieser Sache bin, zu kränken, und sodann theile ich Ihnen mit, daß mein Sohn gezwungen war, einen Ausflug in einen verrufenen und unsicheren Theil des Landes zu machen. Unter solchen Verhältnissen kann man die ganz feste Absicht haben, sich zur rechten Zeit zu stellen, und doch daran verhindert sein. Ich an Ihrem Platze hätte höflich bei dem Vater angefragt, ehe ich gewagt hätte, einen Ehrenmann zu kränken, der Sie niemals beleidigt hat, und an dessen Namen nicht der geringste Makel klebt.«

Diese Worte machten Eindruck auf den Gegner. Er sagte:

»Was ich schrieb, galt dem Sohne!«

»Das ist keine Ausrede. Sie halten mich also für den Vertreter des Sohnes. Nun wohl, wenn Sie die Worte an mich richten, welche ihm gelten, so ersuche ich Sie, auch die Säbelhiebe gegen mich zu richten, welche Sie ihm zugedenken.«

»Ah! Sie meinen -?«

»Daß ich an Stelle meines Sohnes Ihre Forderung acceptire.«

»Graf, das war nicht meine Absicht!« sagte Embarez schnell.

»Aber die meinige.«

»Ich bitte Sie, zurückzutreten!«

»Und ich ersuche Sie, anzunehmen!« sagte Rodriganda ernst, fast drohend.

»Wohl! Wenn Sie darauf beharren, so bin ich ja gezwungen!«

»Wann beliebt es Ihnen?«


// 494 //

»Wann Sie Zeit haben.«

»Morgen?«

»Haben Sie so nothwendig, zu sterben, Don Ferdinando?« fragte Embarez sarkastisch.

»Mein Leben steht in Gottes Hand,« antwortete der Gefragte ruhig.

»Welche Waffen wählen Sie?«

»Als Stellvertreter meines Sohnes muß ich an seiner Wahl festhalten, also Degen, auch den Ort bestimme ich, den mein Sohn gewählt hat.«

»Der Sekundant?«

»Welcher Herr diente meinem Sohne?«

»Vicomte de Lorriére.«

»Ich werde Ihnen diesen Herrn sofort senden.«

»Und ich werde ihn erwarten.«

»So sind wir zu Ende, und ich bitte Sie, mich zu entlassen.«

Er ging und fuhr nach der Wohnung des Vicomte de Lorriére. Dieser war fürchterlich aufgebracht gegen Alfonzo, der auch ihn beschämt hatte dadurch, daß er nicht erschienen war, doch nahm er Rücksicht auf die Ehrenhaftigkeit Don Ferdinando's und erklärte sich bereit. Der Graf Rodriganda kehrte nach Hause zurück.

Er schrieb noch während des ganzen Nachtmittags und ließ am Abende die treue Maria zu sich rufen. Sie glaubte, daß er sie wieder wegen des Kindertausches sprechen wolle, fand sich aber enttäuscht.

»Maria,« sagte er; »ich werde Dir ein Geheimniß anvertrauen, und Du wirst es nicht verrathen!«

»O, Herr, ich werde gewiß schweigen,« sagte sie.

»Du weißt doch, was ein Duell ist?«

»Ja.«

»Ich werde mich morgen früh schlagen.«

»Ist's wahr?« fragte sie erschrocken. »O mein lieber Don Ferdinando, das werden Sie nicht thun!«

»Ich muß,« antwortete er. »Dieser Alfonzo hat eine Forderung erhalten und ist feig entflohen. Um nun die Ehre meines Namens zu retten, muß ich für ihn eintreten.«

»O mein Gott, er wird der Mörder seines Vaters sein!«

»Nein. Ich verstehe den Degen gut zu führen, wenn ich auch kein Raufbold bin. Ich hoffe, daß ich unverletzt bleibe. Aus Vorsicht aber habe ich mein Testament gemacht -«

»Ich denke, das ist bereits längst schon fertig?« fragte sie naiv.

»Ja, das, worin ich Alfonzo zum Universalerben einsetzte. Das wird jedoch jetzt anders. Ich habe Mißtrauen gefaßt und darum andere Bestimmungen getroffen. Hier ist das neue Schriftstück. Du sollst es mir aufbewahren -«

»Ich? Ach, gnädiger Herr, ich armes Weib -!« sagte sie weinend.

»Du bist treu; Du bist die Einzige, auf welche ich mich verlassen kann. Kehre ich morgen zurück, so giebst Du es mir wieder. Bleibe ich aber, so übergiebst Du es dem Gouverneur, der die nöthigen Schritte veranstalten wird. Gute Nacht!«


// 495 //

Sie wollte Widerspruch erheben; er aber schob sie hinaus, um nicht in eine weiche Stimmung zu gerathen, welche ihm nichts nützen konnte. - -

Als Pablo Cortejo vorher den Grafen verließ, fertigte er zunächst die beiden Couriere ab; dann begab er sich nach seiner Wohnung.

Er war verheirathet gewesen, und sein längst verstorbenes Weib hatte ihm ein einziges Kind, eine Tochter, hinterlassen. Diese war der Abgott seiner Seele, obgleich sie gar nichts Göttliches an sich hatte.

Sie war lang und hager wie ihr Vater, starkknochig, mit scharfen Gesichtszügen und eckigen Bewegungen. Ihr Teint war wachsgelb; die Zähne fehlten ihr bereits zur Hälfte, und ihre Augen glichen den Augen der Eule, wenn sie im Sonnenlichte sitzt und gezwungen ist, sie zu öffnen.

Er ging nicht in seine Arbeitsstube, sondern suchte seine Tochter auf, welche auf dem Hofgange des Hauses, wo eine erquickende Kühle herrschte, in einer Hängematte lag und Cigarretten rauchte.

»Ah, Papa, was wollte der Graf zu so ungewöhnlicher Stunde?« fragte sie.

»Mir die Faust in das Auge schlagen,« antwortete er grimmig.

»Was gab es denn?«

»Was anders, als Alfonzo!«

»Hm! Er ist doch sein Sohn!«

»Wie es scheint! O, wüßte der Alte, wie es steht. Ich möchte ihn sehen! Zunächst gab es die Spielschuld, dann diese verdammte Abfindungssumme für die damalige Liebelei und endlich gar die Duellgeschichte, an der nur Du allein die Schuld trägst.«

»Ich?« fragte sie verwundert.

»Wer sonst?«

»Inwiefern? Habe ich zu der Forderung Veranlassung gegeben?«

»Nein; aber Du gabst nicht zu, daß er sich stellte; Dir war um sein theures Leben bange, und ihm selbst wohl noch mehr.«

»Was hat dies mit heute zu thun?«

»Graf Embarez hat Don Ferdinando geschrieben.«

»Donnerwetter!«

Dem Sekretär fiel dieser unweibliche Fluch seiner Tochter gar nicht auf; er fuhr fort:

»Ja, das Donnerwetter habe ich bekommen. Er sprach vom Absetzen, Fortjagen und allem Möglichen.«

»Das wagt er nicht!« sagte sie geringschätzig.

»Warum sollte er nicht?«

»Alfonzo wird es nicht zugeben!«

»Pah! Der Graf will ihm die Zügel kürzer ziehen. Er behauptete geradezu, daß ich ihm seinen Sohn verderbe.«

»Du nicht, aber ich!« meinte die Dame mit Selbstbewußtsein.

»Da hast Du vollständig Recht. Uebrigens hat der Brief des Grafen Embarez eine Wirkung gehabt, an die ich nie gedacht hätte. Es kann zu unserem Glücke sein -«

»Welche?«


// 496 //

»Don Ferdinando wird sich an Alfonzo's Stelle duelliren.«

Das Mädchen war mit einem Sprunge aus der Hängematte heraus.

»Ist es wahr?« fragte sie.

»Versteht sich!«

»Wann?«

»Ich weiß es nicht; jedenfalls aber baldigst, denn der Graf ist nicht gewöhnt, solche Sachen aufzuschieben.«

»Victoria, wenn er erschossen würde, Vater!«

»Erstochen!«

»Ah, es geht per Säbel?«

»Ja.«

»Das ist unter Umständen noch gefährlicher.«

»Wir hätten sofort gewonnen. Das Testament ist gemacht; Alfonzo ist der Erbe.«

»Und ich mit!« lachte das Mädchen.

»Ja, Du mit. O, es ist ein schlauer Plan, den sich mein guter Bruder Gasparino da drüben in Rodriganda ausgedacht hat. Er will für sich und seinen Sohn Alles haben, und für uns soll nur so ein Gnadentheilchen abfallen; aber wir sind ihm an Schlauheit gewachsen. Du erbst mit, dabei bleibt es!«

»Ich bin neugierig, was Alfonzo zu unserem Vorschlage sagen wird.«

»Ja sagt er nicht.«

»Warum nicht? Meinst Du vielleicht, daß ich nicht schön genug bin?« fragte sie pikirt.

»Das meine ich nicht,« sagte er.

»Was sonst?«

»Wer ein Graf wird, der heirathet eine Gräfin.«

»Will ich es denn anders? Wenn er mich nimmt, so bin ich ja eine Gräfin!«

»Hm, Deine Schlüsse sind nicht ganz dumm, dennoch aber wird es Kampf geben, ehe er einwilligt.«

»Er muß sich ergeben, entweder der Liebe oder dem Zwange!«

»Aber wenn nun Don Ferdinando im Duell nicht fällt?«

Sie blickte lange zu Boden und sagte dann:

»O, Ihr Männer, was seid Ihr doch für Schwächlinge!«

Das Auge ihres Vaters blickte forschend in ihr Gesicht; jetzt aber sagte er:

»Du meinst, er muß fallen?«

»Ja.«

»Wenn nicht durch den Säbel -«

»Dann durch etwas Anderes. Wie lange soll man warten!«

Es zuckte ein Zug grausamer, diabolischer Habgier über ihr häßliches Gesicht.

»Ja, warten,« sagte ihr Vater. »Wer länger wartet, der wird vielleicht gar fortgejagt.«

»So handele!«

»Meinst Du?«

»Jawohl! Soll ich Dir helfen?«

»Vielleicht!« antwortete er geheimnißvoll.


// 497 //

»Ah! Du hast bereits einen Entschluß gefaßt?« fragte sie. »Welchen?«

»Ich wollte bereits, ehe ich zum Grafen gerufen wurde, mit Dir darüber sprechen. Hier, lies einmal diesen Brief, der vom Bruder Gasparino ist.«

Sie riß ihm den Brief, welchen er aus der Tasche gezogen hatte, förmlich aus der Hand. Ihre Nachtvogelaugen flogen über das Papier hinweg und glühten bei jeder weiteren Zeile immer unheimlicher. Endlich legte sie das Papier zusammen und gab es dem Vater zurück.

»Nun, was sagst Du dazu?« fragte er.

»Also sterben soll er!« antwortete sie. »Gut!«

»Also der Plan hat Deinen Beifall?«

»Nicht ganz; mir gefällt nicht, daß er wieder aufwachen soll. Weg mit ihm für immer!«

»Aber er wird ja fortgeschafft!«

»Das ist nicht so sicher, wie der Tod!«

»O, wer einmal dem Seeräuberkapitän Henrico Landola in die Hände fällt, der ist noch schlimmer als todt. Wer weiß, was Gasparino noch nebenbei bezweckt, aber auch ich scheue mich, zum Mörder, geradezu zum Mörder an einem Manne zu werden, dem wir doch so viel zu verdanken haben.«

»Zu verdanken? Wo denkst Du hin! Du arbeitest doch für ihn! Aber ich will hier nichts dagegen sagen, als daß überhaupt nichts daraus werden kann, auch wenn wir wollen.«

»Warum?«

»Wer giebt uns ein solches Gift?«

»Der Apotheker allerdings nicht.«

»Giebt es überhaupt ein Gift, welches so tödtet, daß der Todte nach einer bestimmten Zeit wieder erwacht?«

»Es tödtet nicht, sondern es versetzt nur in Scheintodt. Ich kenne Einen, der alle Gifte kennt und einen geheimen, einträglichen Handel damit treibt.«

»Wer ist es?«

»Ein alter Indianer draußen in Sant Anita. Ich werde mit ihm sprechen.«

»Aber erst nachdem das Duell entschieden ist! Und wie steht es mit Alfonzo?«

»Ich habe ihn bereits vor zwei Tagen durch einen Boten von dem Nöthigen benachrichtigt. Heute befahl der Graf, gleich zwei Couriere nach ihm zu senden; diese werden ihn bereits unterwegs treffen. Er kommt also wieder, und zwar in einigen Tagen.«

»Gott sei Dank, so habe ich ihn wieder!«

Ihre Eulenaugen glühten freudig auf. Man sah, dieses Mädchen hatte Alfonzo wirklich lieb; aber in ihrer Seele steckte ein Vulkan von Leidenschaften verborgen. Wehe ihm, wenn er diese Liebe von sich wies!

Am anderen Morgen hatte die Sonne den Thau noch nicht von der Erde geküßt, als Graf Ferdinando de Rodriganda mit seinem Sekundanten, dem Vicomte, die Stadt Mexiko verließ, um nach dem See von Tescuco zu reiten. Die beiden Sennores trugen ihre mexikanische Nationaltracht.

Der große, lichte Sombrero, der Hut mit steifer, breiter Krämpe, welcher, mit Goldschnüren verziert, die Schultern überragt, die dunkle Jacke mit den vielen kleinen


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Silberknöpfchen, die reich in Gold und Silber gestickten Zapateros, welche über das gewöhnliche Beinkleid gezogen werden und von unten her über das Knie gezogen und mit einem Gurte um den Leib befestigt werden.

Auch der Sattel ist mit Gold und Silber verziert; der große Sattelknopf und die Rückenlehne sind mit Silber beschlagen, und Mundstück und Kopfzeug sind ebenso geschmückt. Die Zügel bestehen aus einer bunten, seidenen Schnur, und die großen Radsporen sind von Silber. Hinter der Sattellehne ist stets die bunte Serape (Decke) festgeschnallt, und hinter derselben fällt zu beiden Seiten des Pferdes ein Bocksfell tief herab, welches den Pistolen zum Schutze dient. Auch der Lasso hängt am Sattel.

Die beiden Sennores sprachen kein Wort mit einander. Was zu sprechen gewesen war, das hatte man gesprochen, und der Vicomte ahnte nur zu wohl, was in der Seele des Grafen vorgehen müsse, als daß er ihm durch seichtes Geschwätz hätte beschwerlich fallen mögen.

Als sie die bestimmte Stelle des Sees erreichten, war der Gegner bereits da. Er hatte den Arzt, seinen Sekundanten und einen Unparteiischen mitgebracht. Beide Gegner verbaten sich jeden Versuch der Aussöhnung und standen sich bald mit den blanken Waffen gegenüber. Das Zeichen wurde gegeben, und der Kampf begann.

Wenn Graf Embarez geglaubt hatte, mit Rodriganda schnell fertig zu werden, so hatte er sich geirrt. Don Ferdinando war ein geschickter Fechter; es gelang ihm bereits im ersten Gange, den Gegner zu verwunden, was diesen aber nur muthiger machte. Er wandte im zweiten Gange alle Geschicklichkeit und Kraft an, um Revanche zu nehmen. Er war geübter als Rodriganda; es gelang ihm eine Finte, und sein Degen fuhr Don Ferdinando in die Brust.

»Ich bin verwundet!« rief dieser, indem er zur Erde sank.

Der Arzt sprang rasch hinzu und untersuchte die Wunde. Er erklärte sie für nicht lebensgefährlich, aber doch bedeutend genug, um den Kampf zu beenden. Graf Embarez erklärte sich mit dieser Satisfaction zufrieden und ritt davon. Don Ferdinando wurde sorgfältig verbunden und in den Wagen des Unparteiischen gesetzt, in welchem man ihn nach Hause fuhr.

Der Arzt untersuchte die Wunde.

Als er dort ankam, wollte Cortejo mit seiner Tochter ein Klagegeschrei anstimmen, doch wurden sie auf einen Wink des Grafen vom Arzte hinausgewiesen. Der Graf wollte blos die alte Marie bei sich sehen. Diese erschien und wurde mit seiner Pflege betraut. Als der Arzt ihr die nöthigen Instruktionen gegeben und sich dann entfernt hatte, sagte sie:

»Ich habe das Testament mit, gnädiger Herr.«

»Es war unnöthig,« lächelte er. »Hier hast Du den Schlüssel. Schließe es ein!«

»Wo?«

»Dort im mittleren Fache des Schreibtisches.«

Sie that es mit einer Sorgfalt und Umständlichkeit, welche ebenso groß war, wie das Vertrauen, welches sie genoß. - -

Anders war es in der Wohnung des Sekretärs. Dort saßen Vater und Tochter in düsterem Groll beisammen.

»Was haben wir ihm gethan!« zürnte Josefa, die Tochter.


// 499 //

»Nichts, gar nichts!« antwortete der Vater. »Diese alte Amme hat es verstanden, sich einzuschmeicheln, ohne daß ich eine Ahnung davon hatte.«

»Und dieser Graf Embarez, der ein so guter Fechter sein soll, ist ein ausgezeichneter Tölpel. Konnte er seinen Stich nicht etwas tiefer richten!«

»Ich werde hinaus nach Sant Anita reiten.«

»Wann?«

»Jetzt gleich.«

»Ja, man braucht uns ja nicht!«

»Und die Wunde giebt uns die beste Sicherheit gegen Entdeckung.«

»Ja, reite hinaus! Es ist jede Stunde für uns verloren.«

»Ich wollte eigentlich erst die Rückkehr Alfonzo's erwarten.«

»Das Gift kannst Du doch bestellen!«

»Das ist richtig. Also fort, hinaus!«

Er ließ satteln und ritt die lange Straße des Paseo de Bucareli hinab und immer weiter, bis er im Süden der Stadt den Paseo de la Viga erreichte; auf diesem gelangt man zu den beiden Dörfern Sant Anita und Ixtacalco. Sie sind ausschließlich von Indianern bevölkert.

Diese rothen Leute führen auf flachen Kähnen, mit denen sie den Kanal von Chalco befahren, Früchte und Blumen, Mais und Heu nach der Stadt. Frauen in grellrothen Röcken liegen nebst Kindern und Hunden neben der reichen Ladung. Eine Decke, an zwei Stöcke befestigt, schützt sie gegen die glühenden Strahlen der Sonne.

Links davon dehnen sich weithin die berühmten Chinampas, die schwimmenden Gärten der Indianer. Der Spiegel des Sees von Chalco war ursprünglich hell und klar; die Indianer aber bedeckten ihn mit Flössen und Strohmatten, auf welche sie Erde legten, um sie mit Gemüse und Blumen zu bepflanzen. Nun haben diese Pflanzen vermöge ihrer Wurzeln festen Fuß gefaßt, und die Flösse können nicht mehr von den Wellen getrieben werden, bilden aber noch kleine, von Rosenhecken umgebene Inseln, auf welchen die schönsten Gemüse und Früchte erbaut werden.

Diese Indianer sind nicht etwa wild, sondern sie sind eifrige Katholiken und werden Indios fideles genannt, im Gegensatze zu den Indios bravos, den freien, wilden Indianern. Sie haben aber aus ihrem früheren Glauben manche Anschauung und manchen Brauch mit herüber in ihr Christenthum gebracht, und es giebt welche unter ihnen, welche mehr zu fürchten sind, als ein freier Comanche oder Apache.

Ein solcher war Benito, der Giftdoktor, welcher eigentlich Malito hätte genannt werden sollen. Er hatte die Kenntniß aller inländischen Gifte, ihrer Zubereitung, Anwendung und Wirkung von seinen Vätern ererbt, war gewissenlos genug, einen ausgedehnten Handel damit zu treiben, und hatte vielleicht mehr Menschen gemordet, als unter den Waffen Büffelstirn's und Bärenherz's im ehrlichen Kampfe gefallen waren.

Seine Hütte war Jedermann bekannt; auch Cortejo kannte sie. Er lenkte sein Pferd in den kleinen Hof, welcher neben ihr lag, damit die Besucher hier unbeachtet absteigen konnten, und klopfte an.

Es wurde ihm erst nach wiederholtem Klopfen geöffnet. Das häßliche Gesicht eines alten Weibes grinste ihm entgegen und fragte:


// 500 //

»Was wollt Ihr?«

»Ist Benito, der Arzt, zu Hause?«

»Nein. Ich weiß es auch nicht, wo er ist und wann er zurückkommt.«

Da griff er in die Tasche, zog einen blanken Peso hervor und zeigte ihn der Alten. Dann fragte er zum zweiten Male:

»Ist Benito zu Hause?«

»Vielleicht. Ich will einmal nachsehen. Gebt her das Geld!«

»Das bekommst Du nur dann, wenn er zu Hause ist.«

»Er ist da,« sagte sie rasch. »Her damit!«

»Kann ich zu ihm?«

»Ja. Kommt!« 

Er reichte ihr das Silberstück entgegen und trat ein. Sie schloß hinter ihm wieder zu und führte ihn in einen kleinen Raum, welcher einem Ziegenstalle ähnlicher sah, als einer menschlichen Wohnung.

»Setzt Euch nieder,« sagte sie. »Ich werde ihn holen.«

Als sie verschwunden war, sah er sich in dem Loche nach einem Dinge um, auf welches er sich der erhaltenen Aufforderung nach setzen konnte, fand aber nichts als einen Haufen welker Pflanzen, auf den er sich nun auch niederließ.

Er mußte wieder einige Zeit warten, bis der Indianer erschien. Er war ein kleiner, hagerer Kerl mit scharfen Zügen und einer fürchterlichen Habichtsnase, auf welcher eine riesige Brille saß.

»Was wollt Ihr?« fragte er.

»Kann man offen mit Euch sprechen?« antwortete der Sekretär.

»Ja, aber auch heimlich.«

»Ihr verkauft Arzneien?«

»Ja.«

»Gute und böse?«

»Sie sind Alle gut.«

»Ich meine giftige und nicht giftige.«

»Ja. Wollt Ihr etwa über die giftigen mit mir reden?«

»Allerdings.«

»Da muß man vorsichtig sein. Wer seid Ihr?«

»Das zu wissen, ist nicht nöthig; aber, daß ich kein Alguazil (Polizist) bin, das kann ich Euch beschwören.«

»Gut! Habt Ihr Geld?«

»Ja.«

»Wer mit mir über Gifte reden will, hat zehn Pesos (45 Mark) zu geben. Wollt Ihr sie bezahlen?«

»Ja.«

»Her damit!«

Cortejo griff in die Tasche, nahm die Summe aus dem Beutel und gab sie ihm. Der Indianer steckte die Summe mit einem freundlichen Grinsen in seine weiten Hosen und sagte dann:

»Nun könnt Ihr fragen!«

»Giebt es ein Gift, welches nur scheintodt macht?« fragte Cortejo.


// 501 //

»Ja, es giebt sogar mehrere. Wer soll es erhalten?«

»Ein Mann, der ungefähr fünfzig Jahre alt und sehr reich ist.«

»Soll er wieder erwachen?«

»Ja, nach einer Woche.«

»Wann wollt Ihr es haben?«

»Gleich heute, jetzt; ich gebe, was Ihr verlangt.«

»Hundert Pesos kostet es.«

»Ich gebe sie.«

»Gut; das ist ein kurzer, schöner Handel. Wartet ein wenig, bis ich es hole und bringe.«

Er entfernte sich und war dieses Mal über eine Stunde fort. Als er kam, hatte er ein kleines Dütchen in der Hand, welches er dem Sekretär entgegenstreckte.

»Hier ist es!« sagte er.

Cortejo nahm das Dütchen, welches kaum den vierten Theil eines Fingerhutes faßte und fragte:

»Das ist es wirklich?«

»Ja.«

»Und kostet hundert Pesos!«

»Ja. Auf die Menge kommt es nicht an.«

»Darf ich es öffnen?«

»Meinetwegen!«

Cortejo machte das Papier auf, welches eine geruch- und farblose Masse, fast wie zu Mehl zerstoßenes Glas, enthielt.

»Darf man es ohne Schaden berühren?« fragte er.

»Es wirkt nur im Magen,« lautete die Antwort. »Und wie habe ich es zu geben?«

»Ihr löst es in Wasser auf und thut dieses Wasser in das Essen oder Getränk; es kann sein, was es wolle; es wirkt bereits in einer Nacht.«

»Giebt es ein Mittel dagegen?«

»Nein. Auch ist der Genuß anderer Arzneien der Wirkung nicht hinderlich.«

»So werde ich es behalten und bezahlen. Ihr aber haftet mir für die Wirkung. Versteht Ihr?«

»Ich schwöre nicht, aber Ihr werdet sehen, daß dieses Pulver hält, was ich verspreche!«

»Wäre dies nicht der Fall, so würde ich mir mein Geld wiederholen und Euch außerdem noch als Giftmischer anzeigen. Ihr wißt, daß darauf die Todesstrafe steht!«

Der Giftdoktor lächelte überlegen und sagte:

»Wer ist schuldig, Sennor? Derjenige, der das Gift macht, oder Der, welcher es dem Menschen eingiebt? Ich denke, der Zweite noch mehr als der Erste. Gebt mir das Geld und geht!«

Cortejo nahm hundert Pesos hervor, welches zwischen vier- und fünfhundert Mark beträgt, und gab sie ihm; dann steckte er das Gift sorgfältig zu sich und verließ das Haus. Draußen stieg er zu Pferde und ritt eiligst davon, denn wen


// 502 //

man aus Benito's Wohnung kommen sah, den hielt man sofort im Verdacht, ein unheimliches Geschäft abgeschlossen zu haben.

Als er den Paseo de la Viga zurückritt, kam ihm ein Reiter entgegen, der den Sitz auf dem Pferde nicht gewöhnt zu sein schien. Er hielt überrascht sein Pferd an. Diesen Mann kannte er und hatte ihn hier nicht vermuthet. Er trug eine leichte Sommerkleidung und auf dem Kopfe einen wahrhaft riesenhaften Sombrero.

»Ist es möglich! Seid Ihr es oder seid Ihr es nicht, Sennor Henrico Landola?« fragte er.

»Ja, ich bin es,« antwortete der Gefragte.

»Aber, was thut Ihr hier auf dem Paseo?«

»Ich reite Euch entgegen.«

»Mir?« fragte Cortejo erstaunt.

»Ja. Wißt Ihr denn nicht, daß ich in Vera Cruz gelandet bin? Habt Ihr den Brief Eures Bruders nicht erhalten?«

»Ich habe ihn erhalten.«

»Nun, so ist ja Alles richtig. Ich bin durch das verdammte Räuber- und Fieberland geritten, um das Geschäft mündlich mit Euch zu besprechen. Ich suchte Euch auf und fand nur Eure Tochter, die mir sagte, daß ich Euch auf dem Paseo sicher begegnen würde. Das ist auch geschehen.«

»Wie unvorsichtig!«

»Unvorsichtig? Inwiefern?«

»Insofern, als Euch Niemand sehen darf. Es kennt Euch hier zwar Niemand, aber der Teufel treibt sein Spiel oft wunderbar. Zwei Männer, welche ein Geschäft wie das unserige abzumachen haben, die dürfen von keinem Menschen beisammen gesehen werden.«

»Gut! Mir auch recht!«

»Reitet jetzt spazieren, wohin es Euch beliebt, und kommt heute Abend um zehn Uhr, an dieselbe Stelle, an welcher wir uns hier getroffen haben!«

»Schön; werde mich einfinden!«

Er ritt weiter, und der Sekretär trabte seiner Wohnung zu. Als er zu Hause ankam, erwartete ihn seine Tochter mit Spannung. Sie fragte:

»Hast Du ihn getroffen, und das Mittel erhalten?«

»Allerdings. Aber verteufelt theuer ist es!«

»Erzähle!«

Er berichtete ihr seinen Besuch bei Benito, dem Giftdoktor, in kurzen Worten und sagte dann:

»Aber wie kannst Du den Fehler machen, mir den Kapitän entgegen zu schicken!«

»Einen Fehler? Inwiefern ist es einer?«

»Es darf mich kein Mensch hier mit ihm sehen!«

»Ein größerer Fehler wäre es gewesen, wenn ich ihm erlaubt hätte, hier auf Dich zu warten.«

»Wollte er das?«

»Ja freilich!«


// 503 //

»Unvorsichtiger Mensch!«

»O, nicht unvorsichtig, sondern dreist!« sagte sie sehr indignirt.

»Dreist? Inwiefern?«

»Der Kerl wollte mich küssen!«

»Küssen?« Der Sekretär machte nicht etwa ein zorniges, sondern ein ganz erstauntes, sogar ein geradezu verdutztes Gesicht; denn er hatte noch nie einen Menschen gekannt, der den sonderbaren Appetit gehabt hatte, seine Tochter zu küssen. »Was fällt ihm ein!«

»Ja, was fällt ihm ein!« rief sie. »Mich, eine spätere Gräfin küssen zu wollen!«

»Na, na,« sagte er, »ein Kuß ist doch nichts gar so Schlimmes!«

»Was! Ich glaube, Du hilfst ihm!«

»Laß gut sein!« lachte er. »Ich glaube, der Kapitän hat nur Spaß gemacht!«

»Spaß? Er streckte bereits die Arme nach mir aus!«

»Hättest Du es doch darauf ankommen lassen. Ich wette, er hätte Dich nicht geküßt!«

»Nicht?« fragte sie.

Es mochte ihr jetzt ahnen, wie ihr Vater es meine.

»Hm!« machte er.

»Meinst Du etwa, daß ich nicht hübsch genug zum Küssen bin?«

Diese Frage sprach sie mit zornigem Schmollen aus.

»Wer sagt denn, daß ich dieses meine?« entschuldigte er sich. »Diese Seeleute sind Spaßvögel. Man darf ihnen nichts übel nehmen. Er war allein?«

»Ja.«

»Sprach er von unserem Geschäfte?«

»Nein, kein Wort.«

»Und auch Du nicht?«

Sie wurde ein wenig verlegen und antwortete:

»Ich fing davon an, aber er ging nicht mit darauf ein.«

»Das glaube ich. Ein Mann wie Henrico Landola spricht über solche Dinge nicht mit Frauen. Ich glaube, daß er eher sein Schiff mit Mann und Maus auf den Grund treiben läßt, ehe es ihm einfällt, ein Weib zur Mitwisserin eines Geheimnisses zu machen. Sagtest Du ihm, wo ich war?«

»Das fällt mir gar nicht ein. Ich sagte ihm nur, daß er Dich auf dem Paseo treffen könne. Ihr habt Euch also wirklich gesehen?«

»Ja, und er theilte mir mit, daß er bei Dir gewesen sei. Ich habe übrigens nur einige Worte mit ihm gewechselt und ihn für heute Abend wieder bestellt.«

»Wohin? Doch nicht hierher?«

»Nein, sondern auf den Paseo.«

»Das ist recht,« sagte sie, und stolz setzte sie hinzu: »Ich müßte gewärtig sein, er böte mir abermals einen Kuß an. Mein Mann soll mich einst vollständig ungeküßt bekommen!«

»Da bist Du eine ganz außerordentliche Seltenheit,« lachte ihr Vater ironisch.

Sie suchte dieses Thema zu vermeiden und fragte:

»Also, Du hast das Mittel? Was ist es? Ein Pulver oder eine Tinctur?«


// 504 //

»Ein Pulver.«

»Zeige es!«

Er öffnete das Dütchen und zeigte ihr den Inhalt.

»Ah! Was kostet es?«

»Hundert und zehn Pesos in Summa.«

»Was! Das ist ja eine ganze Summe! Dieser Benito ist ein Schelm!«

»Wenn es wirkt, so mag es sein!«

»Wann wirst Du es anwenden? Noch heute?«

»Ich muß warten. Alfonzo ist noch nicht da.«

»Der braucht nicht nothwendiger Weise dabei zu sein!«

»So muß ich wenigstens vorher mit Kapitän Landola sprechen.«

»Dann kann Don Ferdinando das Pulver also morgen bekommen?«

»Möglicher Weise!«

»Aber wie?«

»Ich habe auch bereits darüber nachgedacht, doch vergebens.«

»Diese alte Maria läßt keinen Menschen zu ihm. Sie wacht über ihm wie ein Drache.«

»Es muß sich aber irgend ein Weg finden lassen. Wir wollen darüber nachdenken.«

»Wie wirkt das Mittel?«

»Es wirkt innerhalb einer Nacht, und die Wirkung hält eine volle Woche an.«

»So wird er vielleicht sterben.«

»Warum?«

»Weil er verwundet ist.«

»Das ist dann meine Schuld nicht. Ich will ihn scheintodt machen; stirbt er, so ist mein Gewissen frei von einem Vorwurfe. Nur ein Bedenken habe ich.«

»Welches?«

»Daß der Arzt es merkt, wenn der Graf blos schein, aber nicht völlig todt ist.«

»Das ist allerdings bedenklich. Er wird ihn nicht begraben lassen wollen.«

»In diesem Klima treten die Kennzeichen des wirklichen Todes schnell ein. Faulflecke sieht man bereits am nächsten Tage.«

»Sind diese nicht künstlich hervorzubringen?«

»Hm, vielleicht!«

»Wirkt keine Säure, oder ein scharfes Kraut?«

»Vielleicht der Saft des Schöllkrautes oder der Wolfsmilch. Aber Unsereiner muß vorsichtig sein. Man ist kein Chemiker, man kennt das nicht und kann sehr leicht einen Fehler begehen.«

»Ah, Du bist dumm gewesen!« fiel es ihr plötzlich ein.

»Dumm? Warum?«

»Benito hätte vielleicht ein Mittel gehabt.«

»Wahrhaftig! Daran habe ich gar nicht gedacht!«

»Du mußt noch einmal hinaus zu ihm, und zwar heute noch!«

»Du hast Recht. Ich kann zu ihm gehen, bevor ich mich mit dem Kapitän


Ende der einundzwanzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Waldröschen

Karl May – Forschung und Werk