Nummer 29

Der
Gute Kamerad

Spemanns Illustrierte Knaben-Zeitung.

14. April 1888

Der Geist der Llano estakata.

Von K. May, Verfasser von »Der Sohn des Bärenjägers«.


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Diese Art, zu sprechen, verfehlte den beabsichtigten Eindruck nicht. Niemand entgegnete ein Wort, und selbst Gibson schwieg. Freilich machten sie höchst finstere Gesichter; aber als die Brüder sich jetzt nach verschiedenen Seiten entfernten, wagte es keiner, sie zu hindern oder sich ihrer Tiere wieder zu bemächtigen.

Jeder der beiden schritt, den Boden sorgfältig untersuchend, einen weiten Halbkreis ab, dessen Mittelpunkt die Leiche war. Als sie zusammentrafen, teilten sie sich ihre Ergebnisse mit und kehrten dann zurück. Nun untersuchten sie auch das Pferd, den Toten und den zerstampften Boden. Die Sorgsamkeit, mit welcher sie sogar einzelne Steinchen betrachteten, wollte den anderen fast lächerlich erscheinen. Zuletzt sprachen sie wieder eine Weile leise miteinander, bis sie zu einer festen Ansicht gekommen zu sein schienen. Dann wendete Tim sich an den Advokaten:

»Master Gibson, Ihr wolltet uns arretieren, weil wir uns hier befinden, und weil ich in die Taschen dieses Toten griff. Mit ganz denselben Rechten könnten wir Euch festnehmen, da Ihr Euch ja auch von außen um diesen Platz herumgeschlängelt und dann dieselben Taschen untersucht habt. Wir wissen aber, daß Ihr unschuldig seid, und Ihr habt also nichts zu befürchten.«

»O, das wissen wir auch überdies. Was sollte uns von euch geschehen!«

»Alles, was uns beliebte. Ihr habt ja gar keine Ahnung von der Art und Weise eines Westmannes. Wenn es uns beiden beliebt, so bringen wir euch alle sechs trotz eurer Waffen gebunden nach Helmers Home. Ihr hättet die Wahl nur zwischen Gehorsam oder Tod. Gut für euch, daß es anders steht! Als wir ankamen, sahen wir euch bei der Leiche. Wir hatten also Veranlassung, Verdacht gegen euch zu hegen, während euer gegen uns gezeigtes Mißtrauen ein ganz unsinniges war. Schon daß der Mann skalpiert worden ist, mußte euch auf die Vermutung bringen, daß er durch die Kugel eines Indianers fiel. Wir dachten das sofort und haben es bestätigt gefunden. Uebrigens ist ihm wohl sein Recht geschehen. Erst bemitleideten wir ihn, doch ohne Grund, wie sich jetzt herausgestellt hat. Er ist ein schlimmer Kerl gewesen, das Mitglied einer Bande von Bushrunners, welche hier ihr Wesen zu treiben scheinen. Nehmt euch vor ihnen in acht!«

Seine Worte wurden mit dem größten Staunen entgegengenommen.

»Wie?« fragte Gibson. »Das alles wollt Ihr aus den Spuren ersehen haben?«

»Das und noch viel mehr.«

»Das ist ganz unmöglich!«

»So sagt Ihr, weil Ihr ein Neuling seid. Man kann eine Fährte so gewiß lesen wie die Zeilen und Seiten eines Buches. Freilich gehört unbedingt dazu, daß man sich eine Reihe von Jahren von außen um den wilden Westen herumgeschlängelt hat. Das ist nicht bei Euch, aber bei uns der Fall. Der Mann ist nicht auf dem Platze, wo er sich jetzt befindet, erschossen worden. Habt Ihr bemerkt, daß die Kugel ihm den ganzen Körper durchbohrt hat und zum Rücken hinausgedrungen ist?«

»Ja.«

»So kommt einmal mit zur Seite!«

Die anderen folgten ihm, bis er nach einigen Schritten stehen blieb und auf den Boden deutete, welcher aus hartem, nacktem Gestein bestand. Da lag eine große Lache geronnenen Blutes.


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»Was seht Ihr hier?« fragte er.

»Das ist Blut,« antwortete Gibson.

»Bemerkt Ihr weiter nichts?«

»Nein.«

»So habt Ihr freilich keine Kriminalistenaugen, obgleich Ihr es wagtet, uns arretieren zu wollen. Seht Euch einmal diesen kleinen Gegenstand an! Für was haltet Ihr ihn?«

Er nahm den betreffenden Gegenstand aus der Lache. Derselbe war klein, fast wie eine Münze breit gedrückt und zeigte trotz des an ihm klebenden Blutes einen matten, metallischen Glanz. Alle betrachteten ihn, und Gibson sagte:

»Das ist eine breitgedrückte Bleikugel.«

»Ja, und zwar diejenige, welche diesem Manne den Tod gebracht hat. Sie ist ihm genau durch das Herz gedrungen; also ist er augenblicklich tot und bewegungslos gewesen. Er kann sich unmöglich noch dorthin, wo er liegt, geschleppt haben, sondern ist von anderen oder wenigstens einem anderen dorthin geschafft worden. Gebt Ihr das zu?«

»Wie Ihr es erklärt, erscheint es freilich wenn als nicht gewiß so doch wahrscheinlich.«

»Nun seht Euch einmal das trockene Hartgrasplätzchen hier neben dieser felsigen und blutigen Stelle an! Was seht Ihr da?«

»Das Gras ist niedergedrückt worden.«

»Wovon oder von wem?«

»Ja, wer soll das wissen!«

»Wir wissen es. Hier hat ein Mensch gelegen, und da nicht die mindeste Spur von Blut zu entdecken ist, so muß man annehmen, daß er unverwundet war. Geschlafen hat er nicht da, denn ein jeder, auch der ärmste Westmann hat eine Decke bei sich, welche er unbedingt unterlegt, wenn er am Boden ausruhen will. Auch ist in Anbetracht der Zeit, welche seit dem Morde vergangen ist, diese Spur so undeutlich, daß mit Sicherheit anzunehmen ist, er habe nur kurze Zeit hier gelegen. Hart daneben seht Ihr einen Strich im weichen Sandboden. Er ist oben breit und verengert sich nach unten. Womit ist dieser Strich gemacht worden?«

»Vielleicht mit dem Stiefelabsatze.«

»O nein! Ich werde Euch gleich beweisen, daß der Mann, welcher hier lag, keine Stiefel, sondern Moccassins trug. Dieser Strich würde eine ganz andere Gestalt oder Form haben, wenn er von einem Stiefel herrührte. Er würde muldenförmig sein. Man kann getrost tausend Eide darauf schwören, daß er mit der Ecke des Gewehrkolbens gemacht worden ist, und da er nicht gleichmäßig ist, sondern tief beginnt und am anderen Ende in einem flachen, seitlich gebogenen Haken ausläuft, so ist es gewiß, daß er nicht langsam, in ruhiger Bewegung, sondern äußerst hastig gemacht wurde. Endlich seht Euch einmal den Eindruck hier am unteren Ende der Spur an! Welchem Umstande verdankt sie ihre Entstehung?«

Erst nachdem Gibson die betreffende sandige Stelle genau betrachtet hatte, antwortete er:

»Es scheint fast, als ob jemand hier sich auf dem Absatze umgedreht habe.«

»Dieses Mal habt Ihr Recht. Der Eindruck ist aber auch so deutlich, daß man gar nichts anderes raten kann. Wenn Ihr die Stelle genau prüft, werdet Ihr sagen müssen, daß hier von einem Stiefelabsatze nicht die Rede sein könne, sondern von einem Schuhwerke mit stumpfer Ferse, also einem Moccassin. Ihr seht den Eindruck nur eines Fußes, nicht aber den des anderen, obgleich der Boden sehr weich ist. Was folgt daraus?«

»Das weiß ich freilich nicht.«

»Die Hastigkeit, welche ich bereits vorhin erwähnte. Der Betreffende hat sich hier in größter Eile niedergeworfen, so daß der zweite Fuß in der Luft schwebte und also gar keinen Eindruck im Sande machen konnte. Hätte der Betreffende Zeit gehabt, sich in aller Behaglichkeit hier auszustrecken, so müßte man unbedingt die Spuren beider Füße sehen. Es ist also mit voller Gewißheit anzunehmen, daß für ihn ein Grund vorhanden war, sich plötzlich hinzuwerfen. Und welche Ursache könnte das wohl sein?«

Der Advokat kratzte sich nachdenklich hinter dem Ohre.

»Sir,« sagte er, »ich muß zugeben, daß es uns unmöglich ist, Euch in Eueren Vermutungen oder Berechnungen so schnell zu folgen.«

»Das beweist eben, daß ihr Greenhorns seid. In solchen Lagen hängt das Leben oft an der Zeit einer einzigen Minute. Da darf man nicht ewig grübeln und sinnen, sondern es kommt darauf an, daß der Blick hell, schnell und sicher ist. Ich werde euch sagen, welcher Grund vorhanden war. Bückt einmal um euch, und sagt mir, ob ihr nicht etwas Auffälliges hier in der Nähe bemerkt!«

Die Sechs schauten sich um, schüttelten aber die Köpfe.

»Nun,« fuhr Tim fort, »so seht euch diese Yuccapflanze an! An ihr müßt ihr doch jedenfalls etwas bemerken.«

Die erwähnte Pflanze war eine Yucca gloriosa, welche hier im trockenen, sandigen Boden in ihrer Entwickelung zurückgeblieben war. Sie blühte noch und trug eine Rispe weißer, purpurn angehauchter Blumen. Mehrere ihrer steifen, schmalen, lanzettlich geformten und blaugrün gefärbten Blätter lagen an der Erde. Sie waren nicht von selbst abgefallen, sondern abgerissen worden.

»Es ist jemand hier gewesen und hat sich mit der Yucca zu schaffen gemacht,« sagte Gibson in klugem Tone.

»So! Und wer ist dann dieser jemand gewesen?«

»Das kann man nicht wissen.«

»Man kann es wissen, ja, man muß es sogar wissen. Ein Mensch hat die Pflanze nicht berührt, aber er hat ihr aus der Ferne eine Kugel zugesandt, welche die Blätter abgefetzt und dann dieses Loch hier durch den Stengel geschlagen hat. Seht ihr es denn nicht?«

Sie bemerkten es erst jetzt. Tim fuhr fort:

»Kein Mensch schießt aus Langeweile eine Pflanze nieder. Die Kugel hat demjenigen gegolten, welcher sich da hinter uns zur Erde warf. Wenn wir uns nun von der Yucca aus eine Linie denken, welche die Stelle berührt, wo der letzterwähnte Mann gestanden hat, und sie in gerader Richtung verlängern, so wissen wir genau, aus welcher Gegend die Kugel gekommen ist. Da sie durch den unteren Teil des Stengels schlug, hat sich die Mündung des Gewehres, aus welcher sie kam, beträchtlich hoch über dem Erdboden befunden, und ihr könnt mir jedenfalls sagen, was daraus zu schließen ist?«

Sie blickten ihn verlegen an, antworteten aber nicht. Darum erklärte er weiter:

»Derjenige, welcher geschossen hat, stand nicht auf der Erde, sondern er saß im Sattel. Das ist für mich so gewiß wie nur irgend etwas. Aus allem, was wir hier gesehen haben, ist also folgendes zu schließen: Ein mit einem Gewehre bewaffneter Indianer hat dort, wo wir die Spur betrachteten, auf der Erde gestanden. Ein Reiter, welcher ungefähr aus Nordosten kam, schoß vom Pferde aus auf ihn, worauf der Rote, ohne von der Kugel getroffen zu sein, sich augenblicklich platt auf den Boden niederwarf, und zwar so, daß er das Gesicht nach oben kehrte. Warum


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aber that er das? Warum legt ein Unverwundeter sich nieder, wenn auf ihn geschossen wurde? Da gibt es nur eine einzige Erklärung, nämlich er will den Schützen heranlocken; er will ihn glauben machen, daß er tot sei. Der Reiter kam auch wirklich herbei - - -«

»Woraus seht Ihr das?« fragte Gibson erstaunt.

»Das will ich Euch zeigen. Kommt nur wieder zurück nach dem Platze, an welchem sich der Tote befindet! Ich kann mir den ganzen Verlauf des Ereignisses so klar und deutlich vorstellen, als ob ich Augenzeuge desselben gewesen sei. Wer ein scharfes und gut geübtes Denk- und Beobachtungsvermögen besitzt, der schlängelt sich von außen her mit größter Leichtigkeit um so ein geheimnisvolles Ereignis herum und weiß dann sehr bald, woran er ist. Mit Eurer Jurisprudenz aber würdet Ihr da nicht weit kommen.«

Er führte ihn an der Leiche vorüber, nach einer Stelle, an welcher sich dürftig belaubtes Knieholz befand, zwischen denen es kleine, freie Sandflecke gab. Hier gab es einen größeren Eindruck im Sande, und er fragte, auf welche Weise derselbe wohl entstanden sei.

»Es scheint auch hier jemand gelegen zu haben,« antwortete Gibson.

»Mit dieser Vermutung habt Ihr recht; aber wer ist es gewesen?«

»Etwa der Tote, bevor er starb?«

»Nein, denn dieser wurde so gut in das Herz getroffen, daß er sich gar nicht mehr bewegen konnte. Es war ihm unmöglich, sich hierher zu schleppen. Uebrigens müßte sich eine Blutlache hier befinden, wenn er es gewesen wäre.«

»So war es der Indianer, welcher sich bereits da drüben einmal niederwarf?«

»Auch dieser nicht. Es gab für ihn ja gar keinen Grund, sein schlaues Manöver zu wiederholen. Auch haben wir erfahren, daß er vollständig unverletzt war, während derjenige, welcher hier gelegen hat, schwer verwundet gewesen ist. Wir haben es also jedenfalls mit einer dritten Person zu thun.«

»Aber,« sagte Gibson im höchsten Erstaunen, »dieser Sand ist für euch wirklich ein aufgeschlagenes Buch. Ich könnte nicht eine Zeile desselben lesen!«

Auch auf den Gesichtern seiner Gefährten stand die größte Verwunderung zu lesen. Jim hatte die Erklärung bisher seinem Bruder überlassen. Jetzt ergriff er das Wort:

»Darüber braucht man Mund und Augen gar nicht aufzureißen, Mesch'schurs. Was euch so unglaublich erscheint, das macht uns jeder gute Westmann nach. Wer es nicht sehr bald fertig bringt, eine Fährte oder Spur zu lesen, der mag sich in Gottes Namen schleunigst wieder von dannen machen, denn er könnte hier im Westen gar nicht existieren. Alle berühmten Jäger haben ihre Erfolge neben ihrer Kühnheit, List und Ausdauer auch dem Umstande zu verdanken, daß jeder Fußstapfe, den sie sehen, für sie ein deutlich geschriebener Brief ist, welchen der Betreffende ihnen mit oder ohne Absicht zurückgelassen hat. Wer aber kein Verständnis für solche Briefe hat, der wird sehr bald eine Kugel oder einen guten Messerstich erhalten und an irgend einer Stelle verfaulen, an welcher es nicht gut möglich ist, ihm ein Denkmal zu errichten. Mein Bruder hat gesagt, daß sich hier keine Blutlache befinde, und er hat recht gehabt. Eine ganze, große Lache gibt es freilich nicht, aber ein wenig Blut ist doch zu sehen. Diese kleinen, dunklen Stellen im Sande rühren von Blutstropfen her. Derjenige, welcher hier lag, war also verwundet und zwar schwer, denn man ersieht aus der Spur, daß er sich vor Schmerz am Boden krümmte. Schaut euch nur das nebenan stehende Knieholz genau an und den Sand, welcher sich unter den niedrig kriechenden Zweigen desselben befindet! Der arme Teufel hat vor Schmerz die Aeste losgerissen und die Finger in die Erde gekrallt. Könnt ihr mir vielleicht sagen, an welcher Stelle seines Körpers er verwundet war?«


Ende des elften Teils - Fortsetzung folgt.



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