Lieferung 85

Karl May

30. Juli 1887

Deutsche Herzen, deutsche Helden.

Vom Verfasser des »Waldröschen« und »der Fürst des Elends«.


// 2017 //

»Dann schimpfe mich nicht einen Lügner.«

»Du bist einer! Oder meinst Du, daß ich Dich nicht kenne? Da täuschest Du Dich.«

»Es ist möglich, daß Du mich einmal in Jekatarinenburg gesehen hast.«

»Dort? O nein. In Platowa habe ich Dich gesehen. Verstanden, mein gutes Brüderchen?«

»Da irrst Du Dich!

»Ich irre mich nie. Du wurdest mir ganz besonders gezeigt. Ich habe mir Dein Gesicht so genau gemerkt, daß ich es nie vergessen werde. Du trägst zwar jetzt Civilkleider, aber ich weiß, daß Du eigentlich in die Uniform gehörst.«

»In die Uniform?« fragte Georg erstaunt. »Da verkennst Du mich freilich außerordentlich.«

»So! Kennst Du vielleicht Karparla, die Tochter des Fürsten Bula der Tungusen?«

»Nein.«

»Besinne Dich!«

»Ich brauche mich nicht zu besinnen.«

»Hast Du sie nicht einmal aus dem Wasser gezogen?«

»Nein.«

»Gestehe es nur ein!«

»Ich habe noch nie ein Mädchen aus dem Wasser gezogen, am Allerwenigsten eine Prinzessin.«

»So! Da muß ich Deinem schwachen Gedächtnisse doch ein Wenig zu Hilfe kommen.«

»Das ist vergeblich. Mein Gedächtniß ist gut.«

»Es scheint nicht so. Ich wurde vor einiger Zeit von meinem Sotnik nach Platowa gesandt, um dem Rittmeister dort einen Brief zu überbringen. Da habe ich Dich gesehen. Ich saß in der Schänke, und Du gingst vorüber. Man zeigte Dich mir und erzählte mir, daß Du Karparla errettet hättest.«

»Das ist ein Irrthum.«

»Ich habe Dir bereits gesagt, daß ich mich niemals irre. Du bist ein Kosak.«

»Ich - ein - Kosak!« rief Georg im Tone des größten Erstaunens. »Du mußt es mir doch gleich ansehen, daß dies unmöglich ist.«

»So? Inwiefern denn?«

»Habe ich die Gesichtszüge eines sibirischen Kosaken?«

»Nein.«

»Meine Züge sind europäisch, und Europäer werden bei Euch nur als Offiziere eingereiht. Wäre ich ein Kosak, so müßte ich also ein Offizier sein. Und wenn das der Fall wäre, so würde ich mich nicht so geduldig von Dir verhören und einen Lügner nennen lassen.«

»Brüderchen, ereifere Dich nicht. Es giebt noch andere Leute, welche Europäer sind, ohne Offizier zu sein. Kennst Du sie?«


// 2018 //

»Nein.«

»Es sind die Verbannten, welche zum Dienst eingereiht werden. So einer bist Du.«

»Darüber möchte ich fast lachen.«

»Das Lachen wird Dir schnell vergehen. Du trägst nicht einmal einen Namen, sondern Du hast nur eine Nummer.«

»Das wird ja immer romantischer!«

»Ja. Du bist Nummer Zehn.«

Bis jetzt hatte Georg in gleichgiltigem Tone gesprochen. Jetzt aber brauste er auf:

»Ich habe geglaubt, daß Du Dir einen Scherz machen willst. Nun aber sehe ich, daß es wirklich Dein Ernst ist. Das verbitte ich mir!«

»Oho! Verbitten! Was fällt Dir ein! Wenn Du mir so kommst, so spreche ich nun auch in einem anderen Tone. Du bist mein Gefangener. Ich arretire Dich.«

Ueber das Gesicht Georgs flog ein Lächeln.

»Ah,« sagte er, »ich habe mich wirklich geirrt.«

»Nicht wahr! Gestehst Du nun ein?«

»Das meine ich nicht. Ich habe mich geirrt, als ich dachte, daß Du im Ernst redest. Mich zu arretiren, kann nur ein Spaß sein, und zwar ein schlechter, wie ich nebenbei bemerke.«

»Es ist ein sehr guter Witz. Aber das Lachen darüber wirst Du bald sein lassen. Ich erkläre Dir nochmals, daß Du mein Arrestant bist und mich nach der Stanitza begleiten wirst.«

Stanitza werden die befestigten Dörfer der Grenzkosaken genannt. War Georg einmal dort, so war eine Fortsetzung seiner Flucht unmöglich. Er griff nach seiner Waffe in die Tasche. Gisa, der Tunguse, bemerkte das. Er wollte den Versuch machen, den ihm anvertrauten Mann lieber durch List als durch eine Gewaltthätigkeit frei zu machen. Darum sagte er zu dem Kosaken:

»Brüderchen, Du irrst Dich wirklich. Ich kann es versichern.«

»Du? Auf Deine Versicherung kann ich gar nichts geben.«

»Nicht? Nun, so will ich Dir einen andern Mann nennen, dessen Wort mehr gelten wird.«

»Wen?«

»Peter Dobronitsch.«

»Ah, Der! Was ists mit ihm?«

»Er kennt diesen Herrn.«

»So? Woher denn?«

»Ich weiß es nicht. Frage meinen jungen Begleiter selbst. Er hat es mir gesagt.«

Das war ein Fingerzeig, welchen er Georg gab. Dieser sah sofort ein, daß er sich auf Peter Dobronitsch berufen solle. Was aber würde der Bauer sagen, der von gar nichts wußte?

Der Kosak lachte höhnisch auf und sagte:


// 2019 //

»Dieser Peter Dobronitsch kann ihn freilich kennen. Jedenfalls hat er ihn in Platowa gesehen. Er wird aussagen müssen, daß er der Kosak Nummer Zehn ist.«

»Er wird mich legitimiren als den Kaufmann Skobeleff aus Jekatarinenburg,« sagte Georg.

»Schweig! Was geht mich Dobronitsch an! Ich habe keine Zeit. Du reitest mit mir direct nach der Stanitza.«

Da richtete Georg sich im Sattel auf, blickte den Kosaken drohend an und fragte:

»Kennst Du die Gesetze und Deine Instructionen?«

»Natürlich!«

»So handle auch darnach.«

»Das thue ich!«

»Nein, das thust Du eben nicht! Wenn ich Dir sage, daß Peter Dobronitsch mich legitimiren werde, so hast Du mich zu ihm zu begleiten. Verstanden!«

»Wenn es mir gefällig ist. Da es mir aber nicht beliebt, so werde ich es nicht thun.«

»So magst Du die Folgen tragen.«

»Sehr gern! Vorwärts!«

Er ergriff die Zügel von Georgs Pferd.

»Weg mit der Hand!« gebot dieser.

»Oho, Bürschchen! Wenn Du mir so kommst, werde ich Dich fesseln.«

"Versuche es! Siehe da!"

»Versuche es! Siehe da!«

Er zog eine Pistole aus der Tasche und hielt sie ihm entgegen. Die beiden Hähne knackten. Der Wachtmeister ließ sofort die Zügel los und wollte nach seinem Gewehre greifen; da aber donnerte Georg ihn an:

»Halt! Keine Bewegung, sonst schieße ich!«

Da ließ der Kosak die erhobene Hand schnell wieder sinken und rief erschrocken:

»Mensch, was fällt Dir ein!«

»Das, was einem jeden Andern auch einfallen würde. Ich habe keine Lust, mit Dir spazieren zu reiten, wohin es Dir beliebt.«

»Du bist aber ja mein Arrestant!«

»Noch nicht. Wir reiten zu Peter Dobronitsch.«

»Fällt mir nicht ein!«

»Nun, so reite, wohin es Dir beliebt, mich aber laß in Ruhe!«

»Du hast die Waffe gegen mich erhoben! Weißt Du, was das heißt?«

»Jawohl! Das heißt, daß ich Dich sofort niederschießen werde, wenn Du es wagst, nochmals nach Deinem Gewehre zu greifen.«

Das imponirte dem Kosaken. Er fluchte:

»Himmeldonnerwetter! Das kann Dich den Kopf kosten.«

»Meinetwegen! Also vorwärts, zu Dobronitsch!«


// 2020 //

»Na, ermorden lasse ich mich nicht; ich reite also mit; aber die Folgen werden sicher über Dich kommen.«

»Das geht Dich nichts an! Gisa, wie weit ist es noch bis zu dem Hofe?«

»Zwei Werst ungefähr.«

Die Drei setzten sich in Bewegung, der Kosak neben Georg vorneweg und der Tunguse hinterher. Dieser Letztere blieb absichtlich immer mehr zurück. Der Wachtmeister sah es und rief ihm zu:

»So beeile Dich doch, wenn Du mit uns fortkommen willst. Ich habe keine Zeit.«

»Ich kann nicht so schnell fort. Mein Pferd ist lahm.«

»So komm langsam nach. Ich habe keine Lust, auf Dich zu warten.«

Das hatte Gisa beabsichtigt. Seine List war ihm gelungen. Er ließ die beiden Voranreitenden hinter einem Buschwerk verschwinden und wendete sich dann schnell zur Seite, von der bisherigen Richtung ab.

Nun zeigte es sich, daß sein Pferd keinesweges lahm sei, denn in gestrecktem Karrière ritt er einen Bogen und jagte sodann auf das Gut zu, bei welchem er vor den Beiden ankam.

Peter Dobronitsch stand vor dem Wohnhause. Er erblickte den Reiter und rief:

"Gisa, Du? Willkommen!"

»Gisa, Du? Willkommen! Was führt Dich sobald wieder zurück?«

»Wirsts erfahren,« antwortete der Tunguse. »Höre jetzt, ich habe keine Zeit, und Niemand darf verrathen, daß ich jetzt hier war.«

»Was giebt es denn?«

»Ich bringe Dir einen Flüchtling, den Kosaken Nummer Zehn aus Platowa. Karparla sendet ihn. Am Flusse hat der Wachtmeister Wassilei ihn arretirt - - -«

»Der? Ah!«

»Da hat der Kosak sich für einen Kaufmann und Ackerbauer aus der Umgegend von Jekatarinenburg ausgegeben und gesagt, daß Du ihn kennst.«

»Schön! Wie soll er den heißen?«

»Skobeleff, ein Verwandter des Generales.«

»Auch noch!« lachte der Bauer.

»Und sein Vorname?«

»Den hat er gar nicht genannt.«

»So kann ich ihn heißen, wie ich will?«

»Ja.«

»Ich werde ihn Iwan nennen.«

»Wie es Dir gefällt. Nun aber muß ich wieder fort.«

»Du bist nicht mit arretirt?«

»Nein. Ich habe gesagt, mein Pferd gehe lahm; darum bleibe ich zurück. Nun reite ich wieder fort und komme später nach.«

»Gut. Hat der Arretirte gesagt, ob er bereits einmal hier gewesen ist?«

»Nein.«

»So weiß ich, was ich zu thun habe. Also laß Dich nicht erblicken!«


// 2021 //

»Nein. Ich reite einen Bogen. Aber, fast hätte ich es vergessen. Der Flüchtling ist ein Edelmann. Karparla liebt ihn.«

Er jagte wieder von dannen. Der Bauer wollte schnell in das Haus treten. Da stand Mila hinter ihm. Sie hatte die letzten Worte gehört.

»Karparla liebt ihn? Wen?« fragte sie verwundert.

»Einen Gefangenen, welchen der Wachtmeister jetzt bringen wird!«

»Mein Gott! Ist das möglich! Sie liebt! Karparla liebt! Und zwar einen Gefangenen! Väterchen, liebes Väterchen, den müssen wir retten!«

»Natürlich!«

»Du willst, Du willst?« rief sie froh.

»Ja. Deshalb war Gisa hier. Komm schnell herein! Ich muß Dich und die Mutter instruiren.«

Nach kurzer Zeit kam der Wachtmeister mit Georg geritten. Der Letztere hatte noch immer das gespannte Pistol in der Hand. Hätte er es eingesteckt, so wäre der Kosak sicher so klug gewesen, nun seinerseits zur Waffe zu greifen und ihm zuvorzukommen.

»Heda!« rief der Wachtmeister. »Peter Dobronitsch! Heraus mit Dir!«

Anstatt des Genannten aber kam Mila, seine Tochter.

»Was willst Du?« fragte sie.

»Ist Dein Vater daheim?«

»Ja, er ist in seinem Stübchen.«

»Rufe ihn! Ich habe mit ihm zu reden.«

»Gleich! Aber kann ich - - -«

Sie hielt inne und machte ein sehr erstauntes Gesicht. Sie that, als ob sie Georg erst jetzt richtig betrachte. Dann rief sie aus:

»Heilige Antonia! Ists möglich! Sehe ich recht? Das ist ja unser guter Iwan Skobeleff. Oder irre ich mich?«

Georg war ganz erstaunt, sie in dieser Weise sprechen zu hören. Doch ließ er seine Verwunderung nicht merken. Er sprang vom Pferde, eilte auf sie zu, gab ihr die Hände alle beide und antwortete:

»Natürlich bin ich es, liebes Schwesterchen, natürlich! Du kennst mich also noch?«

» Ja. Wie könnte ich Dich vergessen haben! Und auch Du erkennst mich sogleich?«

»Das versteht sich. Wer das schöne Gesichtchen von Mila Dobronitsch einmal gesehen hat, der kann es nie vergessen.«

Er kannte ihren Namen, da Gisa von ihr gesprochen hatte. Auch hatte er es ihr sofort angesehen, daß sie die Tochter sei, und der Kosak hatte nach ihrem Vater gefragt, also war kein Irrthum möglich.

»So komm nur gleich herein, komm!« sagte sie und wollte ihn mit sich fortziehen.

Da aber sagte der Wachtmeister, welcher mit finsterem Blicke zugesehen hatte:

»Halt! So schnell geht das nicht.«

»Warum?« fragte sie.


// 2022 //

»Dieser Mann ist mein Gefangener.«

»Dein Gefangener? Warum?«

»Er ist ein Flüchtling.«

»Was fällt Dir ein!«

»Ja, ich kenne ihn.«

»Schweig! Ich kenne ihn viel besser! Er ist unser liebes Freundchen Iwan Skobeleff. Das weiß ich ganz genau.«

»Beweise es!«

»Beweisen? Wie soll ich das beweisen? Komm her, Mütterchen. Kennst Du ihn?«

Jetzt war die Bäuerin aus der Thür getreten. Sie spielte ihre Rolle auch gut. Sie streckte Georg die Hände entgegen und sagte, indem ihr gutes Gesicht vor Freude glänzte:

»Iwan Skobeleff, mein Herzchen, mein Söhnchen. Du bist hier! Welch eine Ueberraschung! So Etwas konnte sich kein Mensch vermuthen. Wo ist denn mein Väterchen, mein Männchen? Ich muß ihn holen!«

Sie eilte in das Haus zurück und kehrte nach wenigen Augenblicken mit dem Bauer wieder, den sie hinter sich herzog.

»Da ist er, da! Nun wirst Du es wohl glauben, mein Peterchen!« sagte sie.

Der Bauer machte ein freudig erstauntes Gesicht und sagte:

»Bei Gott, er ist es! Ich wollte es nicht glauben. Iwan Iwanowitsch, mein Söhnchen, komm in meine Arme, komm!«

Er umarmte ihn und küßte ihm nach der dortigen Sitte Stirn und Wangen und fragte dabei in stürmischer Weise:

»Wie geht es Deinem Väterchen?«

»Gut!«

»Dem Mütterchen?«

»Sehr gut.«

»Den Anderen allen?«

»Ebenso. Sie sind in Platowa.«

»Was! In Platowa? Was thun sie dort?«

»Sie wollen den Jahrmarkt mit abwarten, um Manches einzukaufen. Mich aber haben sie vorausgesandt, um Euch über ihre Ankunft zu benachrichtigen.«

»Was sagst Du, Herzchen? Ueber ihre Ankunft? Wollen sie zu uns kommen?«

»Ja.«

»Welche Freude, welche Freude das ist! Da sind also alle zusammen aufgebrochen, um uns zu besuchen?«

»Nicht eigentlich zu besuchen.«

»Was denn?«

»Väterchen will sich hier niederlassen.«

»Wie herrlich! Will er sich ein Gut kaufen, eine Besitzung erwerben?«


// 2023 //

»Ja. Er meint, daß Du ihm dabei mit Rath und That beistehen werdest.«

»Natürlich! natürlich! Wie mich das freut. Wir sind entzückt, ganz entzückt. Komm aber nur herein, komm schnell.«

»Ich darf nicht.«

»Nicht? Warum? Warum solltest Du nicht in mein Haus treten dürfen?«

»Der dort hat es mir verboten.«

»Der?« fragte der Bauer.

Er blickte nach dem Kosaken hin, auf welchen Georg gezeigt hatte, und that so, als ob er diesen erst jetzt bemerkte.

»Ja. Er duldet es nicht, daß ich mit Dir in das Haus trete.«

»Warum nicht?«

»Ich bin sein Gefangener. Er hat mich arretirt.«

Auf Mila hatte der bildschöne, junge Mann einen sehr guten Eindruck gemacht. Besonders interessirte er sie, weil sie gehört hatte, daß Karparla ihn liebe. Sie fiel sehr schnell ein:

»Ja, denke Dir! Arretirt ist er.«

Der Bauer zog die Stirne kraus.

»Weshalb denn?« fragte er.

»Ich soll ein Flüchtling sein, ein entflohener Kosak Nummer Zehn aus Platowa.«

»Wer hat ihm denn das weiß gemacht?«

»Er selbst.«

»Sapperment! Bist Du toll, Wachtmeister!«

Der Wachtmeister wußte nicht, was er antworten solle. Die Art und Weise, in welcher der angebliche Skobeleff empfangen worden war, bewies zur Evidenz, daß er wirklich Derjenige sei, für den er sich ausgegeben hatte. Vielleicht war er dem Kosaken Nummer Zehn nur ähnlich. Ueberhaupt wußte der Wachtmeister ja gar nicht, daß der Letztere entflohen sei. Er kannte ihn, hatte ihn vorhin in der Kleidung eines Tungusen gesehen und natürlich daraus geschlossen, daß er aus Platowa geflohen sei. So stand die Sache. Es war klar, daß hier nur eine Aehnlichkeit obwalte. Aber auslachen lassen wollte er sich doch nicht. Es gab noch immer einen Grund, den Mann festzuhalten. Darum sagte er, indem er die Brauen finster zusammenzog:

»Von einer Tollheit ist keine Rede. Solche Fragen muß ich mir verbitten!«

»Pah! Nimm es mir nicht übel, mein Freundchen Iwan Skobeleff für einen Flüchtling zu halten. Das ist mir denn doch zu viel.«

»Kannst Du mir das Gegentheil beweisen?«

»Kannst Du mir beweisen, daß er jener Kosak Nummer Zehn ist?«

»Ich kenne ihn.«

»Und ich kenne ihn als Iwan Skobeleff. Wer hat nun Recht von uns Beiden?«


// 2024 //

»Ich!«

»Oho! Er ist mein Verwandter!«

»Aber ich bin Polizei, und was ich da sage, das gilt. Er ist ein flüchtiger Kosak.«

»Und er ist der Sohn meines Freundes aus Jekatarinenburg. Dabei bleibt es. Du wirst ihn mir hier lassen müssen.«

»Und wenn ich ihn dennoch mitnehme?«

»So werden wir uns beschweren, er und ich.«

»Davor fürchte ich mich nicht.«

»Du wirst schon anders reden, wenn Du Deine Strafe erhältst. Ich garantire dafür, daß er Iwan Skobeleff ist, folglich hast Du ihn bei mir zu lassen. Das Uebrige ist nicht Deine Angelegenheit, sondern Sache Deines Sotnik. An den kannst Du Dich wenden. Er mag, wenn er meinen Worten nicht glaubt, seine Befehle geben. Du aber bist nur der Wachtmeister und hast hier nun nichts mehr zu sagen.«

»Da dürftest Du Dich doch irren!«

»O nein! Ueberhaupt werde ich baldigst einmal ein Wort mit der Behörde über Dich sprechen. Du wirst mir zu gewaltthätig. Erst vorhin habe ich wegen einem Anderen, welcher der Zobeljäger Boroda sein sollte, einen Auftritt mit Dir gehabt, und jetzt willst Du mir da meinen Herzensverwandten arretiren. Das ist mir zu viel!«

»Ich werde ihn arretiren. Ich will es aus purer Freundlichkeit einmal gelten lassen, daß er Dein Verwandter ist und daß ich mich geirrt habe; aber er hat die Waffe gegen mich gezogen; er hat gedroht, auf mich zu schießen, auf mich, den Vertreter der kaiserlichen Polizeigewalt. Da muß ich ihn arretiren, und er wird seine Strafe erleiden.«

Der Bauer wendete sich an Georg:

»Hast Du ihm wirklich gedroht?«

»Ja.«

»Hattest Du Ursache dazu?«

»Natürlich. Er wollte Gewalt anwenden, und das durfte er nicht. Ich hatte ihm gesagt, daß Du mich legitimiren werdest, er aber wollte nicht mit hierher zu Dir. Er wollte mich zwingen, mit ihm direct nach der Stanitza zu reiten.«

»So hat er freilich seine Befugnisse überschritten. Hat er sich an Dir vergriffen?«

»Ja.«

»Nein!« behauptete der Kosak.

»Hast Du nicht mein Pferd am Zügel ergriffen?«

Jetzt schwieg der Gefragte.

In diesem Augenblicke kam Gisa. Er war zu Fuße und zog sein Pferd hinter sich her. Auch jetzt spielte der Bauer seine Rolle gut. Er that einige Schritte auf den Nahenden zu und fragte:

»Was ist das? Wer kommt denn da? Ist das nicht Gisa, unser Freundchen?«


// 2025 //

»Ja, ich bin es,« nickte der Genannte. »Ich hoffe, daß ich Euch willkommen bin.«

»Natürlich bist Du uns sehr willkommen. Aber Ihr seid erst so kurze Zeit fort von hier. Wie kommt es, daß Du bereits wieder hier am Mückenflusse bist?«

Er reichte ihm die Hand und drückte sie ihm herzlich. Auch Frau und Tochter bewillkommneten den Tungusen freundlich.

»Frage den da,« sagte dieser, indem er auf Georg von Adlerhorst deutete.

»Den?«

»Ja. Mit ihm bin ich gekommen.«

»Mit ihm? Wie meinst Du das?«

»Ich bin sein Wegweiser gewesen. Aber als er arretirt war, konnte ich nicht so schnell folgen, weil mein Pferd lahm ist.«

»Ach, so ist es! Also bist Du der Wegweiser meines Freundchens gewesen? Das freut mich sehr. Dafür muß ich Dir dankbar sein. Kommt nun herein, Alle herein in das Haus, damit ich Euch Speise und Trank vorsetzen kann!«

Sie folgten ihm Alle. Nur der Wachtmeister blieb. Er wußte, daß die Einladung ihm nicht mit gegolten habe. Als Gisa sein Pferd angehängt hatte und an ihm vorüber ging, sagte er zum Wachtmeister:

»Nun, wie steht es mit der Arretur?«

»Schweig!« schnauzte der Gefragte ihn an.

»Nimmst Du ihn mit nach der Stanitza?«

»Schweig, sage ich Dir! Oder soll ich Dir das lose Maul etwa stopfen?«

Er griff nach der Peitsche. Gisa hatte die seinige auch anhängen. Er antwortete lächelnd, aber in drohendem Tone:

»Weißt Du etwa nicht, daß die Tungusen geschickter im Gebrauche ihrer Peitschen sind, als Du?«

»Drohst Du mir?«

»Ganz so wie Du mir! Wenn ich morgen wieder nach Platowa zurückkehre, kannst Du mich begleiten, um dort den Kosaken Nummer Zehn zu finden, den Du ja gern haben willst.«

Er trat in das Haus. Der Wachtmeister aber gab seinem Pferde die Sporen und ritt von dannen. Unterwegs brummte er:

»Verdammtes Volk! Da habe ich mich wieder blamirt! Aber wartet nur! Heut Abend werde ich Euch Alle mit dem Boroda erwischen, und dann arretire ich Euch Alle mit einander!«

Peter Dobronitsch hatte seine Gäste in die Stube geführt und bot ihnen den Willkommentrunk. Georg von Adlerhorst konnte sich nicht erklären, wie der Bauer Alles so schön hatte wissen können. Er fragte ihn:

»Aber sage mir doch einmal, ob Du allwissend bist! Fast möchte ich Dich dafür halten.«

»Warum?«


// 2026 //

»Weil Du mich Iwan Skobeleff nanntest, und doch konntest Du nicht wissen, daß ich mir diesen Namen zugelegt hatte.«

»O doch, denn Gisa hatte es mir gesagt.«

»Gisa? Der blieb doch zurück!«

»Ja,« lachte der Tunguse. »Ich blieb zurück, aber nur, um hinter dem Rücken des Wachtmeisters schnell zu Peter Dobronitsch zu reiten und ihm seine Rolle zu sagen.«

»Ach so! Drum wunderte ich mich, daß Dein Pferd so schnell lahm geworden sein sollte. Ich konnte es nicht begreifen. Aber, Ihr lieben Leute, Ihr begebt Euch in eine große Gefahr meinetwegen.«

»Wieso?« fragte der Bauer.

»Wenn nun der Kosak Anzeige macht?«

»Er wird sich hüten, es zu thun.«

»Und thut er es dennoch - -!«

»Nun, so kommt man, Dich zu suchen, findet Dich aber natürlich nicht.«

»So werdet Ihr bestraft!«

»O nein. Um uns brauchst Du keine Sorge zu haben. Wer will beweisen, daß der wirkliche Kosak Nummer Zehn bei uns gewesen ist? Du warst Iwan Skobeleff und bist wieder fort. Wer will uns bestrafen?«

»Hm! Es sollte mich freuen, wenn wirklich Alles so gut ablaufen sollte.«

»Natürlich wird es gut ablaufen. Karparla sendet Dich - ah, weißt Du, wer sie ist?«

»Der Engel der Verbannten.«

»Richtig! Der Engel sendet Dich, und so stehst Du unter unserem Schutze. Wir werden Alles thun, Dich frei zu machen. Hier meine Hand!«

Sie schüttelten einander die Hände herzlich, und dann wurde den Beiden, nämlich Georg und Gisa, ein sehr reichliches Mahl vorgesetzt. Während des Essens fragte der Erstere besorgt:

»Glaubst Du, daß ich hier sicher bin?«

»Für eine Stunde oder zwei ganz gewiß. Essen kannst Du ohne Sorgen; dann aber werde ich Dir einen Ort zur Wohnung anweisen, an welchem Dich kein Mensch finden kann.«

»Ist das Versteck so sehr gut?«

»Es kann kein besseres geben. Hunderte haben bereits dort gewohnt, und Keiner von ihnen ist entdeckt worden.«

»So fühle ich mich freilich beruhigt. Hoffentlich werde ich Euch nicht lange Zeit zur Last fallen.«

»Deine Stunde wird bald schlagen, denn der Engel wird kommen. Ich habe ihm einen Eilboten nach Platowa gesandt.«

»Er ist uns begegnet.«

»So! Hat er Euch gesagt, was für eine Botschaft er auszurichten hat?«

»Ja.«

»Wir erwarten eine ganze Schaar von Flüchtlingen. Um diese über die Grenze zu bringen, muß der ganze Stamm des Fürsten helfen. Die


// 2027 //

Tungusen werden sich hoffentlich bereits in diesem Augenblicke unterwegs befinden.«

»Dann bringen sie jedenfalls auch die drei fremden Männer mit, welche mich befreit haben.«

»Wer sind diese?«

Georg erzählte in kurzen Umrissen, was sich bis zu seinem Fortritte in Platowa ereignet hatte. Sie hörten ihm aufmerksam zu und erkannten, daß er ein muthiger, hochbegabter Mann sein müsse, da er es gewagt hatte, es in dieser Weise mit dem Rittmeister und dem Kreishauptmanne aufzunehmen.

Als er seine Erzählung beendet hatte, war er auch mit dem Essen fertig. Peter Dobronitsch gab ihm nochmals die Hand und sagte:

»Ich verspreche Dir, daß Du sicher über die Grenze kommen wirst, so viel an uns liegt, natürlich. Du wirst Dich dabei in zahlreicher Gesellschaft befinden, und der Anführer, dem Ihr zu folgen habt, ist ein berühmter Mann. Schon sein Name reicht hin, überzeugt zu sein, daß der Zug gelingen wird.«

»Wie heißt er?«

»Alexius Boroda, der Zobeljäger.«

»Von dem habe ich gehört. Er soll ein so berühmter Jäger sein wie unsere Nummer Fünf.«

»Das ist er ganz gewiß.«

»Wann wird er kommen?«

»Er ist bereits schon da.«

»Ah! Wo?«

»Das weiß ich für den Augenblick leider nicht. Er mußte fliehen vor demselben Kosakenwachtmeister, welcher auch Dich arretirt hat.«

Er erzählte, was vorhin geschehen war.

»Du glaubst also, daß er wiederkommen werde?«

»Ganz gewiß, doch heut erwarte ich ihn nicht. Er wird sich bis morgen oder übermorgen verstecken, da er annehmen kann, daß der Wachtmeister heut seine Augen hier offen halten wird.«

»Möglich! Aber noch wahrscheinlicher ist es mir, daß er dennoch heut kommt.«

»Das wäre zu gefährlich.«

»Ja, aber vielleicht ist es noch gefährlicher für ihn, länger zu warten. Wenn er der Anführer einer so großen Anzahl von Flüchtlingen ist, müssen wir annehmen, daß sie sich gar nicht weit von hier befinden. Er ist ihnen vorangegangen, um Dir ihre Ankunft zu melden.«

»Das denke ich auch.«

»Wie aber will er seine ganze Schaar hier in der Nähe warten lassen, bis man nicht mehr nach ihm sucht?«

»Ich glaube ganz bestimmt, daß er sie nicht gar so nahe herangeführt hat. Dazu ist er viel zu schlau und vorsichtig. Er hat uns bereits durch einen Boten von Allem unterrichtet, worauf ich natürlich schleunigst Karparla die Botschaft zugesandt habe. Das einzige Bedenkliche dabei ist, daß den


// 2028 //

>armen Leuten< die Waffen fehlen. Sie können sich nicht vertheidigen. Und wie wollen sie sich jenseits der Grenze in den wilden Steppen ernähren, wenn sie keine Waffen haben, um sich Wild zu schießen!«

»Das ist freilich ein sehr bedenklicher Umstand. Aber vielleicht kommt doch noch Hilfe. Ich denke da an Etwas, was mir einer von den drei Männern, die mich aus dem Feuerwerkshause befreiten, gesagt hat. Es wird nämlich ein fremder Herr nach Platowa kommen, welcher außerordentlich mächtig zu sein scheint. Diese Drei gehören zu ihm, und da sie mir für ganz gewiß versprochen haben, hierher zu kommen, so bringen sie ihn vielleicht mit.«

»Was ist er?«

»Das weiß ich auch nicht. Aber aus Allem, was ich über ihn gehört habe, läßt sich vermuthen, daß er sehr einflußreich ist. Vielleicht leiht er dem Zobeljäger Boroda seine Hilfe.«

»Das glaube ich nicht. Wenn dieser Herr eine solche Macht besitzt, so ist er ein hoher Beamter des Czaren, und als solcher darf er nicht einer ganzen Schaar von flüchtigen Verbannten behilflich sein, zu entkommen. Nun aber wirst Du mir verzeihen, wenn ich Dich bitte, Dich in Dein Versteck zu begeben. Es sind fast zwei Stunden vergangen, seit der Wachtmeister fort ist. Er könnte doch Anzeige gemacht haben und mit Kosaken zurückkommen, um Dich zu holen.«

»Was sagst Du da zu ihm?«

»Daß Du nach der Stadt geritten seist.«

»Mein Pferd wird mich verrathen.«

»O nein. Ich sattele es ab und treibe es auf die Weide zu meinen Heerden. Da möchte ich den Mann sehen, welcher es herausfinden wollte.«

Georg begann, sich von den Anwesenden zu verabschieden. Da sagte Mila in bittendem Tone:

»Liebes Väterchen, willst Du mir nicht erlauben, daß ich den Herrn führe?«

»Warum Du?«

Sie flüsterte ihm in das Ohr:

»Karparla liebt ihn, und ich möchte so gern mit ihm von ihr sprechen.«

»So gehe mit ihm. Du weißt ja Alles so genau wie ich.«

Natürlich verabschiedete sich Georg mit ganz besonderer Herzlichkeit von seinem Führer Gisa, welchem er so sehr zu Dank verpflichtet war, und erhielt von diesem die Zusicherung, daß er ihn in seinem Verstecke besuchen werde. Da brach er mit Mila auf.

Sie gingen mit einander an dem Brunnen vorüber und dann zwischen Büschen immer weiter, dem See entgegen. Hier stiegen die Berge höher an. Nach und nach traten sie immer enger zusammen. Sodann gab es eine Art von Schlucht, deren Wände kaum mehr als fünfzig bis sechszig Fuß aus einander steil emporstiegen.

Hier blieb Mila stehen.

Wir sind am Ziele.

»Wir sind am Ziele,« sagte sie.


// 2029 //

»Hier? Hier ist das Versteck?«

»Ja. Versuche ob Du es erblickst!«

Er schaute sich auf das Aufmerksamste um; aber es war nichts zu bemerken, was einem Verstecke ähnlich sah. Rechts und links ragten die senkrechten Felswände himmelan. An der einen, links, stand eine Tanne, wie Georg kaum jemals eine in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Sie war ganz gewiß über hundert Fuß hoch, eine sogenannte Pechtanne, und von einem ungeheuren Umfange. Ihre untersten Aeste waren nur fünf Fuß vom Boden entfernt. Ueberhaupt war sie so dicht beästet, daß man den Stamm gar nicht sehen konnte.

»Nun!« sagte Mila. »Siehst Du Etwas?«

»Nein.«

»So suche nur!«

»Hinter dem kleinen Gesträuch da rechts und links am Felsen kann sich kein Versteck verbergen.«

»Nein, da ist's nicht.«

»Und in den Felsenwänden sehe ich auch nicht das kleinste Loch, in welches ein Mensch kriechen könnte.«

»Da ist's auch nicht. Das Versteck ist überhaupt so groß, daß mehrere hundert Personen darinnen ganz gemüthlich Platz haben.«

»Hm! Giebt es vielleicht eine verborgene Felsenthür?«

»Auch nicht.«

»Oder eine Höhle mit Fallthüre im Erdboden?«

»Das wäre ein sehr unsicherer Ort!«

»So kann ich weiter nicht rathen.«

Sein Auge fiel jetzt auf den Stamm des Baumes. Darum erkundigte er sich:

»Oder ist die Tanne vielleicht hohl?«

»Nein. Sie ist kerngesund.«

»Ja, selbst wenn sie hohl wäre, fänden nicht mehrere hundert Personen Platz in ihr. Ich bin zu Ende mit meiner Weisheit. Und doch ist es sehr wahrscheinlich, daß diese riesige Pechtanne zu dem Verstecke in irgend einer Beziehung stehen muß.«

»Das ist freilich der Fall. Jetzt hast Du es errathen. Wir müssen hinaufklettern.«

Sein Blick stieg bis zur Spitze des thurmhohen Baumes empor.

»Geht das?« fragte er.

»Sehr leicht.«

»Aber der Stamm ist ja so dick, daß man ihn gar nicht kletternd umspannen kann!«

»Das ist auch nicht nöthig. Der Stamm hat so viele Aeste und Zweige, und diese stehen so nahe über einander, daß man wie auf einer viel verzweigten Leiter emporsteigt. Komm also!«

Sie blickte sich vorsichtig um, um zu sehen, ob vielleicht ein heimlicher


// 2030 //

Beobachter sich in der Nähe befinde. Als sie sich überzeugt hatte, daß dies nicht der Fall sei, trat sie zum Baume.

»Aber Du, Du wirst doch nicht auch da hinaufklettern wollen!« sagte Georg.

»Warum nicht?« fragte sie unbefangen, indem sie mit den beiden Händen nach einem der untersten Aeste emporgriff.

Jetzt fiel es Georg ein, daß die Frauen jener Gegend, da sie sehr viel reiten und grad so wie die Männer im Sattel sitzen, unter ihren Röcken stets Männerhosen tragen. Daran hatte er nicht gedacht. Er hatte mit seiner Frage eine Dummheit ausgesprochen. Als er nicht antwortete, sagte sie:

»Meinst Du etwa, daß ich nicht die Kraft dazu habe? Paß auf!«

Sie schwang sich mit einem kräftigen Rucke wie ein Turner hinauf auf den Ast. Er folgte ihr.

Nun gab es ein so enges Gezweig, daß man wie auf Stufen oder Leitersprossen emporsteigen konnte. In der Nähe des Stammes hatten die Aeste keine Nadeln, so daß es also auch in dieser Beziehung keine Hindernisse gab. Die Tanne war jetzt mit einem riesigen, grün ausgeschlagenen Thurme zu vergleichen, in dessen Innern es anstatt der Treppe unzählige übereinander gefügte und sich vielfach durchkreuzende Aeste gab.

So stieg Mila voran, und Georg folgte ihr, höher und immer höher. Einige Male ruhten sie, denn der Aufstieg war freilich nicht so bequem wie auf einer Treppe.

Sie mochten wohl gegen siebenzig Fuß emporgestiegen sein; da hielt Mila an.

»Jetzt sind wir fast da,« sagte sie. »Nun schau Dich einmal um!«

Er folgte dieser Aufforderung, doch vergebens. Er sah nichts als den Stamm der Tanne, aus welchem die Aeste in zahlreichen Quirlen standen, und dann rundum das dichte, undurchdringlich erscheinende Nadelgrün des Baumes.

»So folge mir!«

Nach dieser Aufforderung schritt sie auf einem starken Aste von dem Stamme rechtwinklich ab nach außen hin. Das war nicht gefährlich, denn in Schulterhöhe gab es einen zweiten Ast, an welchem man sich halten konnte. Beide Aeste waren trotz der Höhe noch immer fast so stark wie ein Mannesbein.

Dann knieete Mila nieder, balancierte sich auf dem Aste, steckte beide Arme in die grüne, dichte Nadelwand und schob dieselbe auseinander.

»Nun, siehst Du es nun?« fragte sie.

»Nein.«

Er sah wirklich nichts als eine dunkle Stelle und wußte nicht, was aus derselben zu machen sei.

»So folge mir, aber vorsichtig!«

Sie drang durch das mit Nadeln dicht besetzte Gezweig hindurch. Er schritt noch drei Schritte auf dem Aste vorwärts und drang dann auch in die Nadeln ein.


// 2031 //

Es war vollständig dunkel um ihn. Er schritt ja grad vom Stamme des Baumes ab auf dem Aste fort, immer weiter und weiter hinaus, durch Tannengezweig, welches ihn um das Gesicht schlug. Jeden Augenblick konnte der Ast alle sein, und er stürzte in die grausige Tiefe hinab.

Da fühlte er sich von Milas Hand ergriffen.

»Halt!« sagte sie. »Jetzt ists genug. Ich will Licht machen. Warte ein Wenig!«

Er hörte ein Streichholz anstreichen. Ein Flämmchen flackerte auf, und dann - brannte ein Talglicht, welches in einem Leuchter steckte, den Mila in der Hand hielt. Ihr hübsches, rosiges Gesicht blickte ihm lachend entgegen!

Er stand noch immer auf dem untersten Aste, welcher allerdings schwächer geworden war, und hielt sich mit den Händen an dem oberen fest. Rechts und links, über sich und unter sich erblickte er die Zweige der Tanne.

»Mein Gott!« rief, er. »Was - was -!«

»Nun, was denn?« lachte sie. »Worauf stehest Du denn?«

Sie stand nämlich seitwärts von ihm, nicht auf dem Aste. Es sah aus, als ob sie in der Luft stehe.

»Auf festem Boden,« antwortete sie.

»Unmöglich!«

»Gewiß! Versuche es nur auch! Taste mal mit den Füßen! Du braucht Dich nicht mehr festzuhalten.«

Er kam ihrer Aufforderung nach und versuchte, ob er neben dem Aste mit seinem Fuße einen Halt bekomme. Es gelang. Er fühlte steinigen Boden.

»Was ist denn das?« fragte er. »Hat man denn auf die Aeste Treppenstufen gelegt?«

»O nein! Von Treppenstufen ist keine Rede. Du befindest Dich in unserem Verstecke. Kannst Du Dir es denn nicht denken, wie dasselbe beschaffen ist?«

»Nein.«

»Nun, so muß ich es Dir erklären. In der senkrechten Felsenwand, an welche sich die Tanne dicht und fest anlehnt, befindet sich hier oben eine Höhle. Zwei Aeste des Baumes sind in dieselbe hineingewachsen, derjenige, auf welchem Du stehst, und derjenige, an welchem Du Dich festgehalten hast. Mit Hilfe dieser beiden Aeste bist Du in die Höhle gekommen. Du kannst Dich ruhig auf den steinigen Grund stellen!«

»Ach, das ist allerdings einzig! Das ist wirklich hochinteressant!«

»Ja. Nun sage mir, ob ein Mensch, welcher nach unserm Versteck suchen wird, es finden kann?«

»Niemals!«

»Gewißlich nicht. Nur durch Zufall ist diese Höhle zu entdecken.«

»Aber wie habt Ihr sie denn kennen gelernt? Natürlich auch durch einen Zufall?«


// 2032 //

»Ja. Ein Tunguse hat sie entdeckt, als er einen Bären verfolgte. Das Thier kletterte auf die Tanne und verschwand hier in der Höhle. Aber komm weiter!«

Sie schritt mit dem Licht voran und er folgte ihr. Der Gang in welchem sie sich befanden, war vielleicht eine drei Ellen lange Felsenspalte, welche sich nach oben immer mehr zuspitzte. Sie schien mehr als doppelte Manneshöhe zu haben.

Dann blieb Mila stehen und - setzte sich auf einen Stuhl, auf einen wirklichen Stuhl.

Sie hatte die Hand so vor das Licht gehalten, daß er hinten sehen konnte aber nicht sah, was sich vorn befand. Jetzt bemerkte er, daß die Spalte plötzlich weiter wurde. Er schaute sich um und sah, daß er sich in einem Felsengemache befand. In dem Letzteren stand - - ein Tisch mit fünf oder sechs Stühlen.

»Nun, wie gefällt es Dir?« fragte sie.

»Wunderbar,« antwortete er. »Wer hätte das gedacht!«

»Du wirst noch mehr sehen. Jetzt aber vor allen Dingen muß ich wissen, wer Du bist.«

Sie griff in eine Nische und nahm ein Buch, ein Tintenfaß und ein Gestelle für Stahlfederhalter heraus, welche Gegenstände sie auf den Tisch stellte oder legte.

»So! Bitte, schreibe Deinen Namen ein!«

»Was? Meinen Namen? Ist das etwa gar ein Fremdenbuch?«

»Ja. Väterchen hat diesen Brauch eingeführt. Er hat die Theile dieser Möbels heraufgeschafft und hier zusammengezimmert. Seit dieser Ort als Versteck für Flüchtlinge benutzt wird, hat ein Jeder, der hier Schutz fand, seinen Namen eingetragen. Wenn einer nicht schreiben konnte, so schrieb mein Vater den Namen, und der Besitzer desselben machte ein Zeichen dazu. Ich bitte Dich, den Deinigen auch hineinzuschreiben!«

»Gern! Zeig her!«

Er setzte sich auf den Stuhl, öffnete das Buch, zog das Licht näher herbei und begann, in dem Buche zu blättern. Welche Namen standen da! Fürsten und Grafen, Gelehrte und Ungelehrte, Künstler und Handwerker hatten sich da eingetragen.

Dabei standen Bemerkungen und Reime in den verschiedensten Sprachen.

»Georg von Adlerhorst,« schrieb der junge Mann unter den letzten der Namen.

Mila nahm das Buch und blickte hinein. »Georg von Adlerhorst,« las sie.

»Wie? Du kannst Deutsch lesen?« fragte der Flüchtling erstaunt.

»Ja.«

»Wer hat es Dich gelehrt?«

»Meine Mutter. Sie ist eine Deutsche, bei Königsberg geboren.«

»Das erklärt die Sache freilich!«


// 2033 //

»Sie wird sich wundern und herzlich freuen, wenn sie erfährt, daß Du ein Landsmann von ihr bist. Aber jetzt sind wir hier fertig. Folge mir weiter!«

Sie ergriff das Licht und führte ihn weiter in den Gang hinein. Nach einer kleinen Weile verbreiterte sich derselbe abermals. Dieses Mal schien er ein bedeutend größeres Gelaß zu bilden.

»Ich werde die Lampe anbrennen,« sagte Mila.

»Auch eine Lampe! Diese Höhle scheint ja ganz artig eingerichtet zu sein!«

»Nach unsern Kräften. Bitte, mache einmal die Augen zu!«

Er that ihr den Willen. Er hörte abermals, daß sie ein Hölzchen anstrich. Ein Glascylinder klang; dann sagte sie:

»Jetzt mach sie wieder auf!«

Er öffnete die Augen. Was sah er?

Er befand sich in einer - Bibliothek! Ja, wirklich in einer Bibliothek! Der Raum war ziemlich genau viereckig. An den vier Seiten ragten die gefüllten Büchergestelle fast bis zur hohen Decke empor! Mehrere Tische und Bänke boten zahlreichen Lesern bequemen Raum zur Benutzung der Bücher. In der Mitte hing eine große Petroleumlampe von der Decke hernieder, deren Licht den Raum so erleuchtete, daß man überall lesen konnte.

»Aber Mila!« rief Georg. »Ist denn so Etwas möglich! Oder träume ich?«

»Gefällt es Dir?« fragte sie.

»Gefallen? Ich bin ganz entzückt.«

»Ja, Du siehst, daß wir uns Mühe geben, es unsern heimlichen Gästen so angenehm wie möglich zu machen. Väterchen hat das Alles zusammengezimmert und in den einzelnen Theilen vorher heraufgeschleppt.«

»Aber von wem sind die Bücher?«

»Vater hat sie gesammelt. Er hat keine einzige Reise gemacht, ohne welche mitzubringen. Oft bekam er sie geschenkt, oft zu einem billigen Preise, besonders von Offizieren, welche weit fort mußten und die Bücher nicht mit schleppen wollten. Zuweilen brachten die Verbannten selbst welche mit und ließen sie da. Kurz die Sammlung ist immer gewachsen. Viele Verbannte, welche Geld hatten, schenkten dem Väterchen welches, damit er Bücher und Schriften kaufen könne. Es giebt welche in russischer und englischer Sprache. Auch einige chinesische sind dabei. Willst Du den Katalog sehen?«

»Was! Auch einen Katalog giebt es?«

»Ja. Ein Flüchtling, welcher ein Gelehrter war, hat ihn angefertigt. Es kommt vor, daß so ein armer Mann Monate lang hier verbringen muß, bevor er eine sichere Gelegenheit zum Entkommen findet. Da kannst Du Dir denken, welchen Werth da diese Bücher für ihn haben.«

»Natürlich kann ich es mir denken. Aber wer ernährt so einen Mann?«

»Wir natürlich! Er erhält täglich mehrere Male Besuch von uns. Wenn


// 2034 //

die Tungusen sich in der Nähe befinden, ist Karparla die Königin dieser Höhle. O, die ist klug! Die hat viel gelernt von den gelehrten Herren, welche bereits hier gewesen sind!«

»Mir ists, als ob ich mich im Traume befände!«

»So will ich Dir gleich zeigen, daß Du wachest. Komm! Wir wollen weiter gehen!«

»Löschest Du das Licht aus?«

»Die Lampe? Nein, die bleibt brennen. Wir kehren wieder nach hier zurück. Folge mir jetzt weiter!«

Sie führte ihn weiter in den Gang hinein, indem sie ihm mit dem Lichte leuchtete. Nur wenige Schritte hatten sie zu gehen, so gelangten sie abermals in einen Raum. Die Größe desselben war nicht bedeutend, desto interessanter aber für Einen, der gezwungen war, hier längere Zeit im Verborgenen zu verweilen.

Es roch hier sehr nach Rauchfleisch und als Mila nun an den Wänden herumleuchtete, sah Georg, daß diese alle ebenso wie die Decke voller Würste, Schinken, Fleisch und geräucherter Fischwaaren hingen. Besonders viel riesige Lachse, ein Fisch, welcher sich im Baikalsee sehr häufig findet.

Unten standen Fässer, welche mit Mehl und anderen zur Speise verwendbaren Dingen gefüllt waren.

»Du siehst, daß unsere Gäste keineswegs gezwungen sind, Hunger zu leiden,« sagte sie. »Ein Jeder kann sich nehmen, was ihm beliebt.«

»Und das Alles schafft Dein Väterchen an?« fragte er.

»Nicht Alles. Karparla ist Diejenige, welche für das Meiste sorgt. Komm weiter!«

Von hier aus kamen sie in einen weiten, breiten und hohen Raum.

»Ach,« sagte er, »das ist ja ein wirklicher und gut eingerichteter Schlafsaal!«

»Das ist er. Hier können viele Flüchtlinge schlafen. Die Temperatur ist im Sommer kühl und im Winter warm genug.«

Der ganze Boden war mit Lagerstätten bedeckt, welche aus trockenem Laub bestanden, worauf Felle ausgebreitet waren.

»Das ist Alles ja ganz vortrefflich!« sagte er. »Jetzt fehlt nur noch eine Küche.«

»Auch diese ist da, doch diese wird nur benützt, wenn so viele Gäste hier vorhanden sind, daß es für uns beschwerlich sein würde, sie aus dem Hause her mit warmen Speisen zu versehen. Wohnen nur Wenige hier, so kochen wir für sie daheim.«

»Und wie bringt Ihr die Speisen herauf?«

»Das werde ich Dir nachher zeigen. Jetzt werden wir in das Freie kommen.«

Sie schritt ihm wieder voran, in den Gang hinein. Bald sah er Tageslicht schimmern, und dann öffnete sich die Spalte auf einen ziemlich großen, freien Platz.


// 2035 //

Dieser Platz hatte ganz die trichterförmige Gestalt eines vulkanischen Kraters. Er war unten vielleicht fünfzig Meter im Durchmesser, während der Letztere oben am Rande vielleicht das Fünffache betrug. Die Wände gingen steil an, doch konnte man sie ersteigen, und waren mit Bäumen und Sträuchern dicht bestanden.

Unten am Boden kam links ein kleiner, klarer Quell aus dem Felsen heraus und verschwand dann rechts wieder in dem porösen Gestein.

»Wunderbar!« rief Georg. »Es ist, als ob Gott diesen Ort grad nur zum verborgenen Aufenthalt für Flüchtige geschaffen hätte.«

»So ist es. Besser könnte es gar nicht passen. Es giebt keinen zweiten Ein- oder Ausgang als nur denjenigen, durch welchen wir gekommen sind, und ich glaube nicht, daß ein unberufenes Auge ihn so leicht entdecken wird!«

»Sicherlich nicht!«

»Von Außen sieht man keine Spur von diesem Verstecke. Aber wer hier wohnt, der kann die ganze Umgegend überblicken.«

»Wohl vom Rande dieses Kraters aus?«

»Ja. Wenn Du hier emporsteigst und Dich oben im Gesträuch verbirgst, siehst Du weit in das Land hinein. Unten am Berge liegt unser Haus, und in der Ferne erblickst Du die Stadt. Auf der andern Seite aber schaust Du weit in den See hinein, welchen man von der großen Tanne aus in fünf Minuten erreichen kann. Du bist also im Stande jeden Feind zu sehen, welcher sich Deinem Aufenthaltsorte nähert.«

»Vortrefflich, außerordentlich vortrefflich!«

Nun zeigte sie auf ein niedriges Steingemäuer, indem sie erklärte:

»Hier ist der Heerd, auf welchem Du kochen, braten und backen kannst. Das Geschirr steht hinter demselben.«

»Und womit feuert man?«

»Mit Holz. Ich will es Dir zeigen.«

Sie führte ihn hinter ein dichtes Gebüsch, wo er eine ganz bedeutende Menge trockene Holzscheite aufgestapelt sah. Eine Axt und eine Säge lagen dabei.

»Da ist doch Alles vorhanden, was man braucht,« sagte er, auf das Angenehmste erstaunt. »Aber wie bringt Ihr das Alles herauf?«

»Komm, ich zeige es Dir.«

Sie führte ihn wieder ganz denselben Weg zurück, auf welchem sie gekommen waren. Unterwegs zeigte sie ihm, daß sich in jedem der Räume eine Klingel befand. Sie alle waren durch einen Draht verbunden.

»Schau,« sagte sie, »dieser Draht führt draußen am Felsen hin bis unten an eine Stelle, wo nur ein Eingeweihter ihn zu finden vermag. Wenn wir an demselben ziehen, so ertönen alle diese Klingeln. Das mußte so eingerichtet werden, weil wir doch nicht wissen können, in welchem Gemache sich der Gast befindet, welchem wir das Zeichen geben wollen. Wenn es aber überall klingelt, so muß er es unbedingt merken. Er weiß dann, daß wir ihm Etwas heraufgeben wollen und hat dann den Korb herabzulassen.«


// 2036 //

Sie waren während der Erklärung, die sie ihm gab, am Eingange angekommen. Dort zeigte sie ihm eine Seitennische des Ganges. In dieser stand ein Korb, welcher an einem festen Stricke angebunden war. Dieser Strick lief um eine Art hölzerne Rolle.

»Man hat den Korb hier hinaus zu lassen und dreht dann die Rolle ab. Den Strick behält man, wenn er abgeleiert ist, in der Hand, um fühlen zu können, wenn von unten an demselben gezogen wird. Das ist das Zeichen, daß man den Korb wieder heraufwinden soll. Im Falle, daß Eins von uns in die Höhle kommt, so steigen wir am Baume herauf und ziehen hier an dem Klingeldraht. Derjenige, welcher hier verborgen ist, hört das Klingeln und wird also über unser Erscheinen nicht erschrecken, weil es ihm auf diese Weise angekündigt worden ist.«

»Schwesterchen, ich muß Dir eingestehen, daß Ihr Alles auf das Vortrefflichste eingerichtet habt!«

»Es hat freilich Mühe gekostet.«

»Das glaube ich gern. Hier also werde ich wohnen. Aber wie lange Zeit wohl?«

»Das kann ich nicht wissen. Erst wenn Deine Freunde gekommen sind und wir auch etwas Näheres über Boroda wissen, läßt sich das Weitere bestimmen. Sicher bist Du hier, ganz sicher; aber die Zeit wird Dir sehr lang werden.«

»O nein. Ich befürchte doch nicht, monatelang hier bleiben zu müssen. Die Bibliothek ist ja da. Sie wird mir hinreichend Beschäftigung geben.«

»O nein, Monate lang wirst Du nicht warten müssen. Ich hoffe vielmehr, daß die Angelegenheit sich recht bald erledigen wird. Und wir werden so oft zu Dir kommen, wie es uns möglich ist. Vielleicht bekommst Du recht bald Gesellschaft; dann kannst Du Dir durch Unterhaltung die Zeit vertreiben.«

»Aber die Höhle darf ich nicht verlassen?«

»Wieso verlassen?«

»Nun, ich meine hinabsteigen, um Euch zu besuchen?«

»Ich bitte Dich, das nicht zu thun. Du könntest Dich verrathen, und das würde auch uns in Unannehmlichkeiten bringen.«

»Ich habe auch keineswegs die Absicht, es zu thun, wollte mich aber auch über dieses genau unterrichten. Ist Euer Gesinde in dieses Geheimniß eingeweiht?«

»Nicht alle Personen wissen es, sondern nur diejenigen, welche wir für treu und verschwiegen halten. Eben darum mußt Du Dich in Acht nehmen, da Du die Betreffenden ja noch nicht kennst. Wir müssen uns aber auf alle Fälle einrichten und uns auch auf Zufälligkeiten gefaßt machen. Es kann doch der Fall eintreten, daß Du die Höhle einmal ohne unser Wissen verlassen mußt. Getraust Du Dich, ohne Unfall hinabzukommen?«

»Sicher!«

»Und auch dann wieder emporzusteigen und den Eingang zu finden?«


// 2037 //

»Hm! Ob ich den betreffenden Ast gleich erkennen würde, das bezweifle ich.«

»Das kann ich mir denken. Ich habe vergessen, Dich darauf aufmerksam zu machen. Mein Vater hat in den betreffenden Ast, nämlich denjenigen, auf welchen Du die Füße setzen mußt, ganz in der Nähe des Stammes, einen großen Nagel eingeschlagen, den man unbedingt fühlen muß. Wenn Du Dir dann noch irgend ein anderes Zeichen anbringst, wenn Du zum Beispiel Etwas um den Ast wickelst, so kannst Du gar nicht fehlen. Aber schwer ist es, des Nachts auf- oder abzusteigen.«

»Allzuschwer doch nicht.«

»Man sieht nichts. Selbst wenn der Mond hell scheint, ist die Krone der Tanne so dicht, daß keine Helligkeit hindurchdringen kann.«

»Man fühlt aber doch die Aeste.«

»Das ist richtig. Auf alle Fälle wird Väterchen Dir heut noch einen Besuch machen, um zu sehen, wie Du Dich befindest. Dem kannst Du es sagen, wenn Du einen Wunsch hast.«

»Es wird nichts zu wünschen geben, denn es ist ja alles da, was ich gebrauche.«

»Ja. Die Lampe brennt. Petroleum befindet sich in einem offenen Fäßchen im Vorrathsraume, und dort giebt es auch ein Kästchen voller Lichte und Zündhölzer. Für Alles, was noch nicht vorhanden ist, werde ich Sorge tragen. Du bist uns von Karparla empfohlen, und so werden wir Dir so viele Bequemlichkeiten bieten, wie uns möglich ist.«

»Thut Ihr das nicht bei einem Jeden?«

»Nein. Das wäre zu viel verlangt. Wohnung, Speise und Trank, das bieten wir ihm gern. Auch für ein sicheres Fortkommen sorgen wir; aber es ihm so bequem zu machen, daß er sich wie daheim fühlt, das können wir nicht. Bei Dir aber ist das etwas Anderes. Für Dich wollen wir sehr gern mehr als gewöhnlich thun.«

»Warum? Warum ist es grad bei mir etwas Anderes, mein gutes Schwesterchen?«

»Weil - weil - -«

Sie stockte.

»Nun, willst Du es mir nicht sagen?«

»Ich darf vielleicht nicht.«

»Wer verbietet es Dir?«

»Du könntest mir zürnen.«

»Dir? Ich bin vollständig überzeugt, daß ich Dir niemals zürnen könnte. Du bist so lieb und gut, daß auf Dich kein Mensch zornig werden kann.«

»O, da täuschest Du Dich!«

»Gewiß nicht!«

»Ganz gewiß!«

»Ich glaube nicht!«


// 2038 //

»O doch. Zum Beispiel der Kosakenwachtmeister ist sehr, sehr ungehalten auf mich.«

»Der! Das ist nicht zu verwundern. Er scheint mir ein ganz roher Mensch zu sein.«

»Das ist er.«

»Es ist aber jedenfalls der einzige Mensch, der nicht freundlich zu Dir gesinnt ist.«

»O, es giebt noch einen Zweiten.«

»Wer ist das?«

»Unser Nachbar Sergius Propow.«

»Warum zürnt denn dieser Dir?«

»Weil - weil - grad aus demselben Grunde, aus welchem mir auch der Wachtmeister zürnt.«

»Ach! Ich errathe, sie haben Dich zur Frau begehrt.«

»Das ist es.«

»Und Du hast ihnen einen Korb gegeben?«

»Ja, und zwar ohne Henkel.«

»Nun, es ist kein Wunder, daß sie das nicht gleichgiltig hinnehmen, denn wer so ein hübsches Schätzchen haben will und es nicht bekommt, der muß sich freilich ärgern.«

»Hübsch? Ach geh!«

»Du kannst es getrost glauben!«

»O nein. Karparla ist ganz gewiß tausendmal hübscher als ich. Findest Du das nicht auch?«

»Hm! Warum fragst Du so?«

»Weil ich weiß, daß sie Dir gefällt.«

»So? Wer hat Dir das gesagt?«

»Gisa.«

»Der weiß es ja gar nicht!«

»O, er weiß es sogar sehr genau. Er weiß auch noch mehr, noch viel mehr.«

»Was weiß er denn noch?«

»Daß - daß sie Dich liebt.«

»Ach, wirklich? Sie liebt mich? Wer hat ihm das denn eigentlich mitgetheilt?«

»Das weiß ich nicht.«

»So, das weißt Du nicht, und doch weiß er, daß Karparla mich liebt? Das ist sonderbar.«

»Vielleicht hat sie es ihm selbst gesagt.«

»Meinst Du?«

»Ja, als sie Dich ihm anvertraute. Oder hat er es ihr nur angemerkt. Er hat Dich uns empfohlen, weil sie Dich liebt und weil Du sogar ein Edelmann bist!«

»Kindchen, Du machst mich ganz stolz.«


// 2039 //

»Ich sage, was ich denke. Oder ist es Dir so gleichgiltig, wenn Karparla Dich gern hat?«

»O nein, gar nicht.«

»Sie ist eine Fürstentochter; aber das ist das Wenigste. Die Hauptsache ist vielmehr, daß sie ebenso gut wie schön ist.«

»Ja, das ist sie. Glücklich wird einst der sein, der sie zum Weibe bekommen wird.«

»Nun, wirst denn Du es nicht sein?«

»Leider nein.«

»Warum nicht?«

»Weil ich zurück in meine Heimath muß, und sie kann mich nicht begleiten. Sie muß natürlich hier bei ihren Eltern bleiben.«

»Ja, das ist freilich traurig! Nicht wahr, Du liebst sie auch von ganzem Herzen?«

»Von ganzer Seele! Ich werde nun niemals ein Weib nehmen, sondern allein durch das Leben gehen.«

»Könntest Du denn nicht hier bleiben?«

»Nein. Ich muß den Meinigen dieses schwere Opfer bringen, grad so, wie sie auch den Ihrigen dasselbe Opfer bringen muß.«

»So glaube ich, daß auch sie niemals einem Andern angehören wird.«

»O, vielleicht wird sie mich bald vergessen.«

»Karparla? Die vergißt Dich niemals. Ich kenne sie. Ihr Herz ist treu wie Gold. Ach, wie oft haben wir beisammen gesessen und davon gesprochen, wer einst der sein wird, dem wir unsere Herzen schenken! Sie hat niemals geglaubt, daß es ein Ausländer, ein Gefangener sein werde.«

»So wie auch Du gewiß nicht geglaubt hast, daß Du Deinen Nachbar Sergius Propow heirathen wirst,« scherzte er.

»Den? Geh! Lieber möchte ich todt sein!«

»Ist er denn gar so häßlich?«

»Häßlich wie die Sünde.«

»Das ist freilich schlimm.«

»O darauf kommt es nicht so sehr an. Man kann wohl auch einen Häßlichen lieb haben, wenn er nur recht brav und gut ist.«

»Und das ist er wohl nicht?«

»Nein. Er ist ein Heuchler, ein Frömmler, der stets Gottes Wort im Munde führt, aber grad das Gegentheil von demselben thut.«

»Ein frommer Heuchler also! Ach, da fällt mir ein - vielleicht kenne ich ihn.«

»So! Hast Du ihn gesehen?«

»Vielleicht. Ich bin heut Einem begegnet, welcher ganz das Aussehen hatte, als ob er ein Wolf im Schafskleide sei.«

»Wo ist er denn Dir begegnet?«

»Drüben am Mückenflusse.«

»Ueber den Fluß muß der Nachbar allerdings. Wie sah er aus?«


// 2040 //

»Er war ein sehr langer, hagerer Mensch. Er trug eine weiße, hohe Halsbinde.«

»Das ist er gewesen. Hat er mit Dir gesprochen? Und war er allein?«

»Ja. Er kam auf der Fähre über den Fluß. Da war er freilich allein. Aber am diesseitigen Ufer hielt der Kosakenwachtmeister, der mich nachher arretirte. Mit ihm schien er an den Fluß gekommen zu sein.«

»Ach, so haben sie sich unterwegs getroffen und auch mit einander gesprochen. Vielleicht hat er ihm gar erzählt, daß - daß ich ihm einen Korb gegeben habe, und weil sie alle beide bös auf mich sind, so haben sie ein Bündniß gegen uns geschlossen.«

»Meinst Du?«

»Ja. Vielleicht hat ihm der Wachtmeister erzählt, daß der Boroda dagewesen ist.«

»Das ist möglich.«

»Und da haben sie irgend einen Plan gegen ihn und uns verabredet. Hast Du nicht so etwas bemerkt?«

»Nein.«

»Aber es steht zu erwarten. Da müssen wir sehr vorsichtig sein. Ich muß gleich zu meinem Vater, um es zu melden.«

»Wann kommst Du wieder?«

»Morgen früh.«

»Ich freue mich sehr darauf.«

»Hat Karparla Dir nicht gesagt, wann sie kommen wird?«

»Nein. Aber sie kommt.«

»Auf ihre Ankunft freue ich mich von ganzem Herzen. Also leb wohl, Freundchen, leb wohl für heut! Morgen sehen wir uns wieder.«

»Ja, behüt Dich Gott für morgen!«

Sie reichten einander die Hand, und dann gab sie ihm das Licht, welches sie bisher gehalten hatte, und verschwand draußen im dunklen, dichten Geäst des Baumes.

Er kehrte in das Innere zurück.

Hier hielt er genau Inspection über alle Räume. Er fand noch Vieles, was Mila ihm nicht gezeigt hatte. Es war wirklich für jedes Bedürfniß nach Kräften auf das Trefflichste gesorgt.

Im Lesezimmer löschte er die noch immer brennende Lampe aus, um das Oel zu sparen. Dann begab er sich hinaus in den Krater. Er stieg an der steilen Wand desselben empor. Die Höhe betrug weit über hundert Fuß.

Als er oben angekommen war, befand er sich auf der Zinne des Felsens. Niemand konnte von Außen ahnen, daß sich hier im Innern des Felsens ein so geräumiges und vortreffliches Versteck befand. Unter den Sträuchern verborgen, hielt er Umschau in die Ferne.

Er konnte links bis hinüber zum Flusse sehen. Rechts lag in weiter Entfernung die Stadt. Weiterhin schlossen sich Stanitza an dieselbe an, be-


Ende der fünfundachtzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Deutsche Herzen, deutsche Helden

Karl May – Forschung und Werk