Lieferung 78

Karl May

11. Juni 1887

Deutsche Herzen, deutsche Helden.

Vom Verfasser des »Waldröschen« und »der Fürst des Elends«.


// 1849 //

»Du wolltest diese beiden Flaschen vertauschen. Ihr wolltet Wutki trinken, und wir sollten den Fliegenpilz bekommen.«

»Das ist nicht wahr!«

Da holte Sam aus und gab ihm einen kraftvollen Hieb mit der Knute. Der Getroffene brüllte vor Schmerz laut auf.

»Mensch!« schrie er. »Merke Dir, was Du thust! Du wirst Deine Strafe bekommen!«

»So bin ich neugierig, wie sie ausfallen wird. Zunächst aber ist nur von Deiner Bestrafung die Rede. Sobald Du wieder ein Wort sagst, welches eine Beleidigung enthält, bekommst Du die Knute! Kannst Du ferner leugnen, daß Ihr ausgemacht habt, so weit mit uns in die Steppe hineinzureiten, daß es uns unmöglich ist, in drei Minuten nach Platowa zu kommen?«

»Ich weiß ja gar nichts davon!«

»Habt Ihr nicht gesagt, daß dieses Gift hier in drei Minuten tödtlich wirkt?«

»Nein.«

»Nun, ich habe gar nicht die alberne Absicht, von Euch ein Geständniß zu erlangen. Es versteht sich ja ganz von selbst, daß Ihr leugnet, so lange und so weit Ihr nur könnt. Darum werden wir mit Euch gar nicht viel Federlesens machen und Euch von der Strafe, welche Euch treffen wird, gleich jetzt eine kleine Abschlagszahlung geben.«

»Das sollt Ihr nur thun!«

»Ah!« lachte Sam. »Du willst uns drohen?«

»Es würde Euch eine strenge, eine fürchterliche Strafe treffen!«

»Von wem denn?«

»Vom Gouverneur.«

»Der ist mein Freund.«

»So schreibe ich an den Czar.«

»Ich bin sein Schwiegersohn. Mir thut der also nichts, gar nichts. Uebrigens wie wollt Ihr Euch denn beschweren, Ihr Hallunken? Seid Ihr nicht Fälscher? Führt Ihr nicht einen Namen, welcher Euch gar nicht gehört?«

»Beweise es uns erst!«

»Du meinst also, ich kann das nicht?«

»Ich meine es. Es ist Alles Lüge!«

»Und doch hast Du mir Geld dafür geboten, daß wir schweigen sollen.«

»Nur, um Dich loszuwerden.«

»Ach so! Ja, das glaube ich wohl, daß Ihr uns loswerden wollt. Dazu war ja hier die Fliegenpilzflasche da. Aber Ihr werdet Eure Hiebe haben. Dein Sohn noch zehn und Du grad so viel, wie er bekommen hat, nämlich dreißig.«

»Heilige Madonna!«

»Bete nur! Das hilft Dir doch nichts. Jim und Tim, gebt einmal dem Herrn Rittmeister die richtige Lage. Er mag die Mutter Erde von vorn


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und den herrlichen Abendhimmel von hinten anschauen. Dann zeichne ich ihm die Astronomie so auf die Hosen, daß er alle Sterne flimmern sieht.«

»Gnade!« stöhnte der Rittmeister.

»Unsinn! Gnade einem Mörder! Macht schnell, daß wir fertig werden!«

Die beiden Brüder drehten den Officier so, wie Sam es geboten hatte. Dieser holte mit der Knute aus und meinte:

»So! Jetzt will ich ihn vorbereiten zu dem Schäferstündchen, welches er heute Abend mit Karparla halten wird!«

Der Rittmeister biß die Zähne zusammen; aber als der erste Hieb niederfuhr, stieß er doch einen lauten Weheschrei aus. Während der übrigen neun aber gelang es ihm, ruhig zu bleiben.

Als dieser Theil der Execution beendet war, meinte Sam:

»Der hat seine Geburtstagsgratulation. Nun zum Vater. Es soll Niemand von uns sagen können, daß wir partheiisch seien und dem Vater weniger gönnen als seinem Sohne.«

Jim sagte:

»Der Alte verdient wenigstens ebenso viel wie sein Junge. Halte Du ihn, Sam. Wir Beide wollen es ihm geben. Jeder fünfzehn. Das geht besser im Takte.«

»Recht so! Also will ich ihn herumdrehen.«

Als er den Kreishauptmann ergriff, um ihm die geeignete Lage zu ertheilen, sah dieser ein, daß er auf die bisherige Weise keine Vortheile erzielen könne. Er schlug einen anderen Ton an.

»Halt!« sagte er. »Ich bin wirklich unschuldig!«

»So wie die liebe Sonne, die jetzt am Himmel steht.«

»Ihr könnt's mir glauben!«

»Wir glauben es ja. Darum sollst Du ja als Belohnung Deines Wohlverhaltens zum Ritter der heiligen Knute geschlagen werden.«

Er faßte ihn fest an und drehte ihn um.

»O, Ihr guten Leute!« jammerte der Mensch, als er nun auf dem Bauche lag. »Habt doch Nachsicht mit einem armen, alten Manne.«

»Die haben wir auch!«

»Das sehe ich aber nicht.«

»O doch. Blos aus reiner Nachsicht geben wir Dir die Hiebe dahin, wo sie Dir Niemand wieder abnehmen kann.«

»Es wäre besser, Ihr gebt sie mir gar nicht!«

Alle Drei lachten aus vollem Halse.

»Schau,« meinte Sam, »was für ein kluger Kerl Du bist! Hast Du denn ebenso gedacht, wenn Du als Kreishauptmann Jemandem die Knute dictirt hast?«

»Ich bin stets sehr mild gewesen.«

»Das habe ich gehört. Selbst beim geringsten Vergehen hast Du die Armen bis auf das Blut schlagen lassen. Die Reichen kamen, da sie zahlen konnten, freilich besser weg.«


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»Das ist nicht wahr!«

»Die reine, fürchterliche Wahrheit ist es! Erst vor einem Monate hast Du den Sohn einer Wittwe, welcher drei Rubel Zins nicht zahlen konnte, knuten lassen, daß er daran gestorben ist!«

»Der Schuft! Er hätte noch weiter leben können bis an sein seliges Ende; aber er ist nur mir zum Schure gestorben, damit ich in schlechten Ruf kommen soll.«

»Nun, so kannst Du Dich heute rächen und dafür uns zum Schur sterben, wenn Du Deine dreißig Hiebe erhalten hast.«

»Ich bitte Euch! Uebt doch Gnade!«

»Gnade gegen Dich wäre ein Verbrechen gegen Andere. Wollen beginnen.«

»Nein, nein!« schrie er. »Erlaßt mir die Hiebe! Ich bezahle sie Euch!«

»Hier wird keine Bezahlung angenommen. Das Vergnügen, welches wir dabei empfinden, kann gar nicht bezahlt werden.«

»Ich gebe viel Geld!«

»Wie viel denn?«

»So viel, wie Ihr verlangt!«

»Lump! Du hast keinen einzigen Rubel!«

»Hier nicht! Aber wenn der Graf kommt, so giebt er mir Geld!«

»Und von uns bekommst Du Hiebe, so hast Du Beides. Fangt an!«

»Nein, noch nicht!« rief er. »Bedenkt, daß der Graf mich rächen wird!«

»Der wäre der Kerl dazu.«

»Ihr habt die Wahl. Nehmt seine Rache oder sein Geld!«

»Wir brauchen keines von Beiden.«

»Aber Ihr wißt gar nicht, wie entsetzlich er ist in seinem Zorne!«

»Und er weiß gar nicht, wie fürchterlich wir sind in unserem Grimme. Der Kerl ist uns ganz so schnuppe wie Dein Fliegenpilz. Er bekommt ebenso gut seine Haue wie Du. Wir prügeln hier Alles. Deshalb sind wir hergekommen, und in diesem Vergnügen lassen wir uns nicht stören.«

Er knieete auf dem Rücken des Kreishauptmannes, um ihm jede Bewegung zur Unmöglichkeit zu machen. Der Beamte merkte daraus, daß die Execution jetzt beginnen werde.

»Meine Brüder, meine lieben Brüder, ich bitte Euch um Eurer Kinder willen!«

»Haben keine!« lachte Sam.

»Um Eures Seelenheiles willen!«

»Grad um dessenwillen dürfen wir Dir nichts schenken. Also los nun endlich!«

»Gut!« sagte Jim. »Wer hat den ersten Hieb?«

»Du!«

»So hat Tim den letzten. Die Musik kann also beginnen!«

Er holte aus. Die Knute fuhr mit einem förmlich pfeifenden Tone hernieder.


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»O Himmel, o Hölle! O Gott, o Teufel!« schrie der Kreishauptmann. »War aber das ein Hieb!«

»Schau, ob ich auch so treffe!« lachte Tim.

Der seinige pfiff herab. Der Getroffene bäumte sich mit aller Kraft empor, wurde aber von Sam gehalten.

»Heilige Kathinka!« brüllte er. »Heiliger Severin! Laßt Feuer regnen auf diese Missethäter!«

»Und Hiebe auf diesen Schreihals!« lachte Sam. »Weiter!«

Die Züchtigung wurde fortgesetzt. Der Kreishauptmann vermochte nicht zu schweigen. Er brüllte, jammerte, zeterte und wimmerte in Einem fort, daß es weit, weit in die Steppenebene hineinschallte. Erst nach dem letzten Hiebe war er still.

»Nun, Brüderchen,« fragte Sam. »Bist Du zufrieden?«

Er antwortete nicht.

»Nein? Gebt ihm noch zwanzig, bis er zufrieden ist!«

»Gleich!« meinte Tim. »Ich habe wieder den ersten Hieb!«

»Halt, halt!« zeterte jetzt der Kreishauptmann. »Ich bin - bin zufrieden!«

»Die Hiebe waren also gut?«

»Ja, ja!«

»So bedanke Dich!«

»Himmeldonnerwetter! Auch noch bedanken! Das sollte mir-«

»Gebt ihm noch zwanzig! Er bedankt sich nicht. Er hat also noch nicht genug!«

»Halt, halt! Ich habe ja genug, vollständig genug!«

»So bedanke Dich!«

»Alle tausend Teufel! Das ist - ist -«

»Nun, ganz wie Du willst! Aber wenn ich zum dritten Male sage, daß Du noch zwanzig bekommen sollst, so erhältst Du sie auch!«

»Nun gut, so - so will ich mich bedanken.«

»Nun, so danke!«

»Ich - ich - sage Euch Dank! - Himmel und Hölle! Das halte der Teufel aus!«

»Was?«

»Die Knute erhalten und auch noch dafür bedanken!«

»Ist das bei Dir noch nie vorgekommen?«

»Niemals!«

»So merke es Dir für später. Wenn Du sie wieder einmal erhältst, so bedanke Dich hübsch dafür! Jetzt aber sind wir einstweilen mit einander fertig.«

»Gott sei Dank!«

Jim und Tim wanden ihre Lassos wieder los. Die beiden Geknuteten erhoben sich langsam von der Erde. Als sie aufrecht standen, war ihre erste


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Bewegung, die Hände schleunigst auf diejenige weiche Stelle zu legen, auf welche sie getroffen worden waren.

»Fffffffff!« machte es der Rittmeister.

»Fffffffff!« machte es auch sein Vater.

»Fffffffffff!« lachte Sam. »Jetzt pfeifen sie aus F-dur. Nehmt Euch fein in Acht, daß Ihr nicht wieder in unsere Hände gerathet, sonst geht es so, daß Ihr nachher in Fis-dur pfeift. Jetzt könnt Ihr nach Hause!«

»Nach Hause!« seufzte der Vater. »Aber wie?«

»Zu Pferde natürlich.«

»Ich laufe lieber.«

»Nein, Ihr reitet! Das macht viel mehr Vergnügen, und ein Vergnügungsritt war es ja, den Ihr unternommen habt. Ihr könnt mit dem Resultate sehr zufrieden sein.«

»Danke ergebenst!«

»Bitte sehr! Also steigt auf!«

»Wird nicht gehen!«

»Werde helfen, geehrter Herr Kreishauptmann, und zwar sofort!«

Er hob die Peitsche empor.

»Sachte, sachte!« schrie der Bedrohte. »Ich steige ja schon auf.«

Er nahm sein Pferd beim Zügel, ergriff mit der Rechten den Sattelknopf und wollte den Fuß in den Bügel setzen, ließ ihn aber sogleich wieder nieder.

»Au!« schrie er auf.

»Was giebts?« fragte Sam.

»Es geht nicht!«

»Paß auf, es geht!«

Er holte aus und versetzte ihm einen solchen Hieb, daß der Kreishauptmann mit einem einzigen schnellen Satze in den Sattel sprang.

»Alle Teufel!« schrie er auf. »Auch das noch!«

»Ja, und noch viel mehr, wenn Ihr Euch noch länger hier umher drückt.«

»Wir können ja noch nicht fort.«

»Warum?«

»Wir müssen erst unsere Flaschen wieder haben.«

»Ach so! Das ist gar nicht unklug von Dir. Wenn wir Dir die Flaschen wiedergeben, so haben wir kein Beweismittel in der Hand. Aber so klug wie Du sind wir auch.«

»Aber sie sind mein Eigenthum.«

»Sage das nur auch dann, wenn Du verhört wirst.«

»Ich verlange sie unbedingt zurück,« sagte er.

»Mache, daß Du fortkommst, sonst helfe ich nach!«

»Komm, Vater!« knirrschte der Rittmeister, welcher still aufgestiegen war.

»Nein,« beharrte dieser. »Meine Flaschen will ich haben!«

»Nun,« antwortete Sam, »Dich werden wir gleich fortbringen. Paß auf, und halte Dich fest an!«


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Er versetzte dem Pferde einen kräftigen Hieb. Es schlug aus, ging mit allen Vieren in die Luft und rannte dann in rasendem Laufe davon.

Der Sohn versuchte, dem Vater zu folgen. Er holte ihn erst in der Nähe der Stadt ein, wo der Gaul freiwillig ein langsameres Tempo einschlug.

Da ritten sie eine kurze Zeit schweigend neben einander her. Sie rückten im Sattel nach hinten und vorn, nach rechts und links. Ihre Schwielen brannten wie höllisches Feuer.

»Tausend Donnerwetter!« fluchte der Alte. »Thut's Dir weh?«

»Meinst Du, daß es gut thut!« stieß der Sohn hervor.

»Wahrhaftig nicht! Ists bei Jedem so, welcher die Knute erhält?«

»Natürlich!«

»Alle Teufel! Da ists freilich nichts Gutes! Mir ists, als säße ich auf Nadeln!«

»So weißt Du, wie mirs heut Morgen war.«

»Diese verdammten Hallunken! Wenn man nur wüßte, wer sie sind.«

»Du hasts ja im Paß gesehen.«

»Pah! Sie treten ganz anders auf! Sie thun ja, als ob sie die Herren von ganz Sibirien seien.«

»Sie sollen es nicht mehr lange so treiben.«

Er knirrschte laut mit den Zähnen.

»Wie willst Du das anfangen?«

»Auf irgend eine Weise.«

»So kommen sie Dir wieder so entgegen wie jetzt.«

»Diese Hunde scheinen allwissend zu sein.«

»Sie erfahren Alles.«

»Und wir sind selbst schuld daran.«

»Wieso?«

»Weil wir zu unvorsichtig sind. Warum haben wir heut so laut gesprochen, daß der dicke Mensch Alles hat hören können!«

»Meinst Du, daß er gelauscht hat?«

»Natürlich! Wie hätte er sonst Alles so ganz genau wissen können!«

»Verdammt! Und wenn wir einmal lauschen, so haut er uns die Thüre in das Gesicht, noch dazu in unserem eigenen Hause! Ich bin ganz kaput! Mir zittern alle Glieder! Ich werde mich, wenn wir heimkommen, sofort mit Salbe einreiben.«

»Und dann?«

»Ins Bett legen, natürlich!«

»Das geht nicht.«

»Warum nicht?«

»Wir müssen doch zu Karparla.«

»O wehe! Das fehlt nun noch!«

»Geht aber nicht anders!«

»Können wir nicht absagen?«

»Unmöglich! Karparla sagte, daß sie dieses Mal nicht so lange dableiben


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werde, wie sonst. Vielleicht wollen Sie sehr bald fort. Da dürfen wir keine Zeit verlieren, die Sache in Ordnung zu bringen.«

»Hm! Was Du sagst, ist sehr richtig. Aber wenn ich in meinem Zustande stundenlang im Zelte sitzen soll! Ich bin ganz wund. Ich glaube nicht, daß ich einen Fetzen Haut mehr habe!«

»Geht mir ebenso!«

»Hoffentlich legt man uns weiche Kissen unter. Auf einem harten Sitze könnte ich es gar nicht aushalten.«

»Müßtest es aber doch aushalten. Es ist eine Beleidigung des Wirthes, wenn der Gast sich erhebt, bevor das Mahl vorüber ist.«

»Auch eine hundsföttische Sitte. Es muß aber gewagt werden. Wie aber rächen wir uns an diesen drei Amerikanern?«

»Fürchterlich!«

»Fürchterlich!« lachte der Kreishauptmann grimmig. »Das ist nur ein Wort, und so ein Wort ist leicht und bald gesagt. Mache lieber einen Vorschlag. Der ist mehr nütze, als ein bloses Wort.«

»Vorschlag! Meinst Du, daß man Entwürfe nur so aus den Aermeln zu schütteln braucht?«

»Hast Recht, zumal diesen Kerls gegenüber.«

»Am Klügsten ist es, man jagt ihnen eine Kugel durch den Kopf.«

»Wo aber?«

»Wo man sie nur erwischt, heimlich natürlich. Niemand darf es merken.«

»Aber Alle würden es ahnen, wer es gewesen ist.«

»Was thut das? Wenn man uns nur nichts beweisen kann.«

»Lassen wir es jetzt. Da ist die Stadt. Ueberlegen können wir später Alles. Jetzt wollen wir uns lieber so vorbereiten, daß wir trotz unserer Schwielen den Abend bei Karparla zubringen können. Vielleicht ist es uns möglich, diese drei Teufels heut noch bei ihrer Rückkehr abzulauern. Dann geben wir Jedem eine Kugel, und kein Hahn wird nach ihnen krähen.«

Das konnte ihnen freilich nicht gelingen, denn Sam befand sich mit Jim und Tim bereits jetzt schon auf dem Heimwege. Die Drei hatten sich gleich nach dem Aufbruche der Gezüchtigten auch aufgemacht. Sie waren nur ein klein Wenig von der graden Richtung abgewichen, um ja nicht etwa auf die beiden Feinde zu stoßen.

»Vielleicht haben wir uns für heut Abend Alles verdorben,« sagte Jim.

»Warum?« fragte Sam.

»Wir haben sie gehauen, daß sie gar nicht sitzen können. Vielleicht kommen sie nun gar nicht.«

»O, die lassen Karparla nicht los. Da könnt Ihr Euch darauf verlassen!«

»Meinst Du?«

»Ja. Sie werden sich gehörig einreiben und sich dann draußen im Lager einstellen. Unser Plan wird unbedingt ausgeführt.«

»Sollte mich auch ärgern, wenn wir gestört sein würden. Es wird ja


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ganz gewiß ein Hauptjux, wenn der Kreishauptmann plötzlich entdeckt, daß seine Vorrathskammer ausgeräumt ist.«

»Ja. Eigentlich ist es eine ganz verfluchte Spitzbüberei, eine Einbrechergeschichte, von welcher wir Herrn Steinbach um Gotteswillen nichts wissen lassen dürfen. Aber ich kann die Verbannten herzlich bedauern, und wenn wir einem Würdigen zur Freiheit verhelfen, so darf uns der Umstand nicht stören, daß vielleicht zwei Unwürdige mit dabei sind.«

Sie stiegen am Anfange des Lagers von ihren Pferden und gaben die Letzteren in die Obhut eines Tungusen. Er erhielt die Weisung, sie nicht bis an das Zelt des Fürsten kommen zu lassen.

Nun schickte Sam seinen Jim nach dem Regierungsgebäude, wo er recognosciren sollte. Er selbst aber begab sich mit Tim nach der hinteren Seite des erwähnten Zeltes, wo sie sich mit einander wartend in das Gras niedersetzten. Sie wollten sich von den Bewohnern desselben nicht sehen lassen.

Karparla kam zu ihnen.

Nach einiger Zeit kam Karparla zu ihnen. Sie wollte sich überzeugen, ob Sam sich bereits auf seinem Posten befinde.

»Da bist Du ja,« sagte sie. »Das ist gut. Ich denke, daß die Gäste bald kommen werden.«

»Hast Du das Zelt bereits gelockert?«

»Noch nicht.«

»Ich habe nach einer solchen Stelle gefühlt, aber keine gefunden.«

»Ich wollte bis zur allerletzten Zeit warten, weil ich dachte, daß Vater oder Mutter es sehen könne, und es ist doch wohl besser, wenn sie gar nichts davon wissen.«

»Ganz richtig. Du wirst Dich heute über die beiden Männer freuen. Ich glaube, daß sie recht wunderliche Gesichter machen werden.«

»Warum denn?«

»Sie haben die Knute erhalten.«

»Schon wieder?«

»Ja, alle Beide.«

»Du wagst zu viel! So Etwas ist noch niemals dagewesen. Bedenke, wenn es ihnen einfällt, sich zu rächen.«

»Sie müssen froh sein, wenn wir darüber schweigen.«

»Was haben sie gethan?«

»Sie wollten uns vergiften.«

»Ist das möglich?«

»Ja, man sollte es gar nicht glauben. Ich würde daran zweifeln, wenn ich es nicht selbst mit angehört hätte, als sie davon sprachen.«

Er erzählte ihr die Episode. Als sie hörte, welche Hiebe die Beiden erhalten hatten, sagte sie:

»Sie sind gar nicht zu bedauern. Sie haben es reichlich verdient. Es giebt nicht einen einzigen Armen hier, welcher nicht die Knute erhalten hätte, und die Wohlhabenden haben nun auch nichts mehr zu geben, weil ihnen bereits Alles abgenommen worden ist. Bald wird also die Knute nun auch über


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sie kommen. Der Kreishauptmann hat seine Stellung nur dazu benutzt, sich Geld und immer wieder Geld zu verschaffen. Wer beim geringsten Vergehen nicht zahlen konnte, der erhielt die Knute. Jetzt nun weiß er selbst, wie es thut. Ihm ist also ganz recht geschehen. Und ich werde dafür sorgen, daß er die Strafe ordentlich empfindet.«

»Wieso?«

»Ich werde ihn so hart setzen, ihn und seinen Sohn, daß sie denken sollen, sie sitzen auf glühendem Eisen.«

»Die Sitte aber erfordert doch, daß Du ihnen Kissen vorlegst.«

»Das werde ich auch thun. Aber wir haben heut einen ganzen Sack Kartoffeln gekauft. Ich werde die beiden besten Kissen ein Wenig öffnen, und so viele Kartoffeln hineinstecken, daß Derjenige, welcher darauf sitzt, selbst wenn er die Knute nicht erhalten hat, wünschen müßte, weit weg zu sein.«

»Karparla, Kindchen! Du bist ein ganz famoses, allerliebstes Wesen!«

»Meinst Du?«

»Ja. Du passest zum alten Sam Barth so gut, daß er Dich wirklich noch zu seiner Frau machen wird.«

»Nur nicht gleich!«

»Nein. Die Sache hat gar keine solche Eile. Wir warten, bevor wir Mann und Frau werden, bis wir verheirathet sind.«

»Einverstanden! Denn heirathen darfst Du mich doch nicht.«

»Warum?«

»Weil ich eine halbe Heidin bin, und Du bist doch Christ.«

»Pah! Ich wollte, ich hätte einen Harem von einigen Dutzenden halber Heidinnen. Es könnten sogar auch ganze Heidinnen sein. Ich glaube, daß ich mich ganz wohl bei ihnen befinden würde. Nun aber mach, daß Du wieder in das Zelt kommst, und Deine Vorbereitungen triffst, sonst bist Du noch nicht fertig; wenn die guten Herrschaften kommen.«

Sie ging hinein, und Sam sagte seinen Genossen:

»Hast Du verstanden, was sie sagte?«

»In der Hauptsache, ja«, antwortete Tim.

»Was sagt Ihr zu den Kartoffeln?«

»Ein ganz famoser Gedanke.«

»Nicht wahr? Ja, diese halbe Heidin hat ganz die Anlage, eine gute Christin zu werden. Ich wollte, ich könnte mit im Zelte sitzen und die Gesichter ansehen, welche die beiden Kerls schneiden werden.«

»Nun, darauf brauchen wir wohl nicht ganz zu verzichten. Wenn wir uns recht sputen, so kommen wir immer noch früh genug zurück, um noch einige zeitlang bei ihnen sitzen zu können. Da, schau, Sam! Das Zeug bewegt sich hier unten. Karparla macht Luft.«

Sie sahen, daß von innen der untere Zeltrand da, wo sie saßen, so gelockert wurde, daß man leicht hineingreifen konnte, und zu ihrer Befriedigung ließ sich bald darauf Pferdegetrappel vernehmen, ein Zeichen, daß die Gäste kamen.


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In jenen Gegenden, wo selbst der Aermste ein Pferd besitzt, gilt es für eine Schande, Besuche zu Fuß zu machen. Darum kam auch der Kreishauptmann trotz der kurzen Strecke Weges, welchen er zurück zu legen hatte, mit den Seinen zu Pferde geritten.

Sie stiegen ab und wurden von dem dicken Fürsten Bula und seiner noch umfangreicheren Gattin Kalyna auf das Freundlichste empfangen. Auch Karparla zeigte sich über den Besuch so erfreut, daß dem Rittmeister das Herz zu schwellen begann, trotzdem ein anderer Theil seines Leibes, der noch mehr als das Herz angeschwollen war, ihm die größten Schmerzen bereitete. Die Freude der schönen Tungusin galt natürlich nicht ihm, sondern Gökala, welche von Karparla schnell in das Zelt geführt wurde und dort den Ehrensitz erhielt.

Als dann auch die Andern eintraten, wies Karparla dem Kreishauptmanne und seinem Sohne die für sie bestimmten Plätze an. Beide waren innerlich erfreut, als sie bemerkten, daß sie auf sehr hohe, weicherscheinende Kissen plazirt werden sollten.

Stühle gab es nach dortiger Sitte nicht.

Die Kreishauptmännin hatte wirklich, wie zu vermuthen gewesen war, ihren Pompadour mit. Sie wollte, bevor sie sich setzte, ihn und ihr Tuch selbst ablegen, aber Karparla kam ihr zuvor, nahm ihr Beides ab und legte es dorthin, wo sie die Lücke gemacht hatte, tief auf den Boden nieder. Dabei schüttelte sie den Beutel ein Wenig und hörte zu ihrer Genugthuung Schlüssels in demselben klirren.

Nachdem auch ihre Eltern sich gesetzt hatten, begann sie, den Thee herum zu reichen. Als sie bemerkte, daß sämmtliche Gäste sehr eingehend mit demselben beschäftigt waren, machte sie sich noch auf kurze Zeit beim Theekessel zu schaffen und trillerte dabei einige Strophen eines kleinen tungusischen Liedchens.

Sie hielt indessen den Blick auf den Beutel gerichtet und sah Sams Hand erscheinen, welche ihn hinauszog. Nach wenigen Augenblicken wurde er wieder herein geschoben.

Nun war sie befriedigt. Sie setzte sich zu Gökala.

Da machte die Kreishauptmännin eine Bewegung, als ob sie aufstehen wolle.

»Was willst Du, Mütterchen?« fragte Karparla schnell.

»Meinen Strickbeutel. Ich habe das Taschentuch darin.«

»Ich werde es Dir holen.«

Sie stand auf, holte eilig das Tuch herbei, gab es ihr und setzte sich dann wieder nieder. Die Kreishauptmännin warf einen sehr befriedigten Blick auf ihren Mann und ihren Sohn und sagte:

»Welch ein gutes, aufmerksames Kind!«

»Sie wird voraussichtlich auch eine ebenso aufmerksame Frau und Schwiegertochter werden,« antwortete der Gatte.

Hätten Beide gewußt, aus welchem Grunde sie so aufmerksam war.

Das Gespräch drehte sich um gleichgiltige Dinge. Es wurde dabei sehr sorgfältig vermieden, die Verhältnisse Gökala's zur Sprache zu bringen.


// 1859 //

Das Auge des Rittmeisters hing bewundernd an Karparla, und sie gab sich Mühe, ihm zuweilen einen freundlichen Blick zuzuwerfen. Sein Gesicht erglänzte vor Freude. Leider aber hielt dieser freudige Ausdruck nie sehr lange an, sondern es machte sich allemal schnell darauf ein schmerzhaftes Zucken bemerklich.

»Was hast Du denn?« fragte sie in scheinbarer Theilnahme.

»Was soll ich haben?«

»Du ziehst so eigenthümliche Gesichter.«

»Ich? Davon weiß ich ja gar nichts.«

»O doch! Und Dein Vater macht es ganz ebenso.«

Der Kreishauptmann zeigte ein sehr erstauntes Gesicht und meinte:

»Ich? Ich soll Gesichter schneiden?«

»Ja.«

»Fällt mir doch gar nicht ein!«

»Ich sehe es ja! Es sieht ganz so aus, als ob Ihr von Zeit zu Zeit gestochen würdet.«

Der Rittmeister machte ein sehr verliebtes Gesicht und antwortete:

»Da müßten mich höchstens Deine schönen Augen stechen, und zwar tief ins Herz hinein.«

»O mir scheint, daß die Stiche viel, viel tiefer treffen.«

Und dann, als sich die Gelegenheit dazu bot und sie nicht bemerkt wurde, flüsterte sie Gökala zu:

»Beide haben wieder von Sam die Knute erhalten, und ich habe Kartoffeln in ihre Sitzkissen gesteckt.«

Beinahe hätte Gökala laut gelacht. Sie mußte sich alle Mühe geben, ihre Heiterkeit zu verbergen. Die Sache war sowohl vorn ästhetischen als auch vom sittlichen Standpunkte keinesfalls zu billigen; aber die beiden Gemarterten waren Leute, denen eine solche Züchtigung gegönnt werden konnte. Darum war die heimliche Schadenfreude der beiden Mädchen zwar nicht ganz zu billigen aber doch wenigstens leicht zu begreifen.

Sie hatten im weiteren Verlaufe vielfach Gelegenheit, zu beobachten, daß die auf den Kartoffeln Sitzenden sich in einer keinesfalls angenehmen Situation befanden. Der Schweiß trat Beiden auf die Stirn. Sie rückten fleißig hin und her und zogen Gesichter, wie sie kein Comiker hätte tragikomischer fertig bringen können.

Unterdessen war Sam mit Tim draußen verschwunden. Sie schritten nach dem Regierungsgebäude zu.

»Hast Du die Schlüssel?« fragte Tim.

»Ja. Ich hoffe, daß es die richtigen sind. Karparla hat ihre Sache gut gemacht. Hier ist das Wirthshaus. Wir müssen einmal hinein gehen.«

»Dazu haben wir keine Zeit.«

»O nur eine Minute.«

»Man wird uns sehen, und doch soll es heißen, daß wir ausgeritten sind.«

»Schadet nichts.«


// 1860 //

»Wenn dann der Diebstahl an den Tag kommt und der Kreishauptmann erfährt, daß wir anwesend gewesen sind, so wird er den Verdacht auf uns werfen.«

»Meinetwegen immer! Es soll ihm schwer werden, uns Etwas zu beweisen. Ich muß einmal ins Wirthshaus.«

»Um zu sehen, ob die Bediensteten des Kreishauptmannes drin sind?«

»Ja, und auch um nach dem Polizisten zu schauen. Wenn ich diesen Leuten nicht Einhalt thue, muß ich gewärtig sein, sie trinken sich zu Tode.«

»Na, dann komm!«

Sie gingen hinein. Es bot sich ihnen eine Scene, wie sie nur unter solchen Leuten vorkommen konnte.

Unter dem Tische lag die Frau des Polizisten, so vollständig betrunken, daß sie das Bewußtsein verloren hatte. Auf dem Leibe derselben saß ihre Tochter, ganz stieren Blickes und lallte immer nur die drei Worte vor sich hin:

»Ich bin Braut, ich bin Braut!«

Sie hatte ihre Jacke ausgezogen und sich wie einen Mantel um die Achseln gelegt. Von dem Stroh, welches wegen der übernachtenden Gäste auf dem Boden lag, hatte sie sich einen riesigen Kranz gewunden und auf den Kopf gesetzt.

Am Tische sass ihr Vater.

Am Tische saß ihr Vater, das Gesicht in die Hände gestemmt und dabei immer nur mit sich selbst sprechend. Vor ihm standen nicht mehr und nicht weniger als siebzehn leere Schnapsflaschen.

An einem andern Tische saßen mehrere Tungusen mit einigen Kosaken, denen sie sehr fleißig zutranken. Diese Letzteren waren jedenfalls die Dienstleute des Kreishauptmannes, welche von den Ersteren in den Gasthof gelockt worden waren.

Der Polizist erkannte trotz seiner Betrunkenheit Sam sofort.

»Väterchen, Väterchen, liebes Väterchen,« lallte er. »Hier ist der Himmel!«

»So! Gefällt es Dir?« lachte Sam. »Vorher war es schön. Jetzt nicht mehr.«

»Warum?«

»Vorher gabs im Himmel Wutki, jetzt aber ist er alle.«

»So habt Ihr Alles ausgetrunken?«

»O nein. Aber der dort, der! Der giebt keinen mehr her.«

»Warum?«

»Weil er meint, wir hätten genug.«

»Mir scheint es auch so.«

»Was? Ich habe doch erst nur gekostet, nur einmal an die Flasche geleckt. Nun sollte es losgehen; aber Der, Der giebt nichts mehr her!«

Er deutete auf den Wirth.

Dieser kam mit demüthig zusammengebogenem Oberkörper herbei, machte eine tiefe Verbeugung und sagte:


// 1861 //

»Theures Väterchen, Deine Güte ist sehr groß. Du mußt auch sehr reich sein.«

»Warum?«

»Weil Du gesagt hast, daß Du bezahlen willst, was diese da trinken.«

»Das werde ich auch thun.«

»Aber schau hin, wie viel es ist. Er hat acht, seine Frau fünf und seine Tochter vier Flaschen getrunken.«

»Schadet es ihnen?«

Der Wirth machte ein so erstauntes Gesicht, als ob er etwas ganz und gar Unbegreifliches gehört habe. Er schüttelte den Kopf, riß die kleinen Augen weit auf und fragte:

»Was hast Du gesagt, Väterchen? Habe ich Dich richtig verstanden?«

»Ob der Wutki ihnen vielleicht schadet.«

»Ah, der! Jetzt verstehe ich Dich erst richtig. Was soll ihnen denn der Wutki schaden?«

»In solcher Menge!«

»Frage doch lieber, was das Wasser dem Fische schaden soll! Je mehr, desto wohler ist es ihm.«

»Ach so! Das ist freilich beruhigend.«

»Du bist wohl sehr weit von hier zu Hause?«

»Ja.«

»Das merkt man, denn sonst würdest Du wissen, daß der Wutki keinem Menschen Etwas anhaben kann. Und ein Polizist bei uns säuft doppelt so viel als ein jeder Andere.«

»Gratulire! Bei mir daheim haben sechs Mann an einer Flasche genug.«

»Was sind das für Menschen? Wohl so sehr klein?«

Er hielt die Hand bis an sein Knie hinab, um anzudeuten, welche geringe Höhe nach seiner Ansicht Menschen haben müssen, welche genug haben, wenn sechs Personen eine Flasche austrinken.

»O nein. Sie sind so groß wie ich, noch viel länger, so wie hier mein Begleiter.«

»So müssen sie einen außerordentlich kleinen Magen haben, vielleicht nur so groß wie eine Heringsblase!«

»Wo sind die Ratniki? Ich sehe sie nicht. Ich dachte, sie würden auch hier zu treffen sein.«

»Die wollten ihren Wutki mit Bequemlichkeit trinken, so daß sie nicht nach Hause getragen zu werden brauchen. Sie haben ihn sich mit heim genommen.«

»Ganz gescheidt. Wieviel denn wohl?«

»Jeder fünfzehn Flaschen.«

»Donnerwetter!«

»Meinst Du, daß dies zu viel ist?«

»Ja.«


// 1862 //

»O da kennst Du uns schlecht. Unser Nachtwächter hat es einmal bis auf zwanzig gebracht.«

»Und dann hat er gewacht?«

»Wie konnte er das? Er hat fünf Tage und fünf Nächte ohne Unterbrechung geschlafen, und dann war er kräftiger und gesünder als vorher. Du siehst also, daß der Wutki ein wirkliches Himmelsgeschenk, ein großes Labsal ist. Willst Du nicht auch einige Flaschen trinken?«

»Nein. Gieb hier dem Polizisten noch eine oder zwei.«

Als das der Polizist hörte, richtete er sich mühsam auf, kam hinter dem Tische hervorgetaumelt, breitete seine Arme weit aus und rief:

»Väterchen, mein süßes Herzensväterchen, ich muß Dich küssen!«

Er wollte die Arme um Sam's Hals schlagen; der Dicke aber trat zurück.

»Laß das!« sagte er. »Ich bin kein Freund vom Geküßtwerden.«

»Aber von mir mußt Du es Dir gefallen lassen. Ich bin Dein bester Freund auf Erden. Komm, halte still!«

Er breitete die Arme wieder aus. Sam trat abermals zurück. Darum schlug der Polizist die Arme in der Luft zusammen, gab der Gegend, in welcher sich vorher Sam's Kopf befunden hatte, einen schallenden Schmatz, wurde von seinem Rausche einmal rundum gedreht, taumelte hin und her, griff mit beiden Armen um sich und setzte sich dann mit einem lauten Plumps auf den Boden nieder.

»Schön! Schön! O wie schön!« lallte er. »Sitzen, sitzen, sitzen muß man beim Trinken!«

Sam ergriff ihn bei beiden Armen und sagte:

»Komm, ich werde Dir aufhelfen!«

»Aufhelfen? Nein, Väterchen, nein! Hier, hier, hier will ich trinken! Wutki her! Gebt mir meinen Wutki! Väterchen bezahlt Alles.«

Der Wirth gab ihm in jede Hand eine Flasche. Er blickte erst die eine und dann die andere an, schüttelte den Kopf und rief verlegen:

»Ja, welche denn? Aus allen Beiden zugleich?«

»Setze doch eine weg!« meinte der Wirth.

»Ja, daß Du sie fortnehmen und mir austrinken kannst.«

»Fällt mir nicht ein!

»Gut, gut! Aber hierher setze ich sie nicht. Da - da giebts Leute.«

Er gab sich große Mühe, eine Wendung zu machen, und setzte die Flasche hinter sich. Er glaubte, daß sie da für ihn sicherer sei. Dann ergriff er die andere mit beiden Händen, hob sie zum Mund empor und trank, trank, ohne abzusetzen und Athem zu holen die ganze Flasche aus, schnalzte dann mit der Zunge, stellte die leere Bulle neben sich und sagte:

»Das war gut, ah, sehr gut! Jetzt nun gleich auch die andere.«

Er langte hinter sich - er fühlte die zweite Flasche nicht. Erschrocken drehte er sich um. Sie war weg. Aber wohin sie gekommen war, das sah er.

Während er nämlich trank, hatten sich die bisher ausdruckslosen Augen seiner Tochter belebt. Sie sah die volle Flasche hinter seinem Rücken. Sie


// 1863 //

schob den Strohkranz nach hinten, beugte sich vor, nahm die Bulle weg und setzte sie an die Lippen - sie trank, trank grad sowie ihr Vater, ohne eher aufzuhören, als bis die Flasche leer war. Dann hielt sie dieselbe vor sich hin, betrachtete sie schmunzelnd und drückte sie dann mit warmer Innigkeit an ihren Busen.

Ihr Vater hatte sich zu ihr umgedreht. Er blickte sie ganz erstaunt an.

»Töchterchen!« lallte er. »Was thust Du?«

»Deinen Wutki habe ich getrunken, ha - ha -,« lachte sie.

»So! Ist das recht von Dir, daß Du Deinem alten Vater sein einziges Labsal stiehlst?

»Warum sollte ich nicht. Das dicke Väterchen dort wird Dir eine andere Flasche dafür geben.«

Das leuchtete ihm sofort ein, denn seine betrübte Miene erheiterte sich sofort, und er sagte zu Sam:

»Hast Du es gehört, Väterchen? Nun mußt Du mir eine andere kaufen.«

»Gut,« antwortete der Dicke. »Aber nur noch eine!«

»Noch zwei, noch fünf, noch zehn!«

»Fällt mir nicht ein!«

»Väterchen, willst Du zum Lügner werden? Willst Du so eine große Schande auf Deine Seele nehmen?«

»Eine Schande?«

»Ja. Du hast mir versprochen, so viel zu bezahlen, wie ich ich trinken kann.«

»Ja, aber wie viel kannst Du noch trinken?«

»Zehn, zwölf, fünfzehn noch. Ich weiß es nicht genau. Ich muß es erst probiren.«

»Alle Teufel! Höre, ich will mein Wort halten und mache Dir einen Vorschlag. Morgen kaufe ich Dir fünfzehn oder heut noch drei. Wähle!«

»Morgen fünfzehn - - oder heut noch drei - - o weh, o weh!«

Er kratzte sich mit beiden Händen in der allergrößten Verlegenheit den wirren Kopf, welchem vielleicht seit Monaten kein Kamm zu nahe gekommen war.

»Ja,« lachte Sam. »Wähle schnell, denn ich habe keine Zeit mehr.«

»Fünfzehn! Das ist gut!« brummte der Polizist. »Aber morgen, das ist nicht gut. Es schmeckt mir grad heute. So werde ich nicht dumm sein. Heute ist heute. Ich nehme also die drei Flaschen. Morgen ist auch ein Tag. Da werde ich Dich aufsuchen, und Du wirst mir noch einige Flaschen schenken, denn ich habe Dir zwei Ratniki verschafft, und Du darfst mich also nicht verdürsten lassen.«

Er erhielt seine drei Flaschen. Sam berichtigte seine nicht unbedeutende Zeche und ging dann mit Tim fort, bis hinaus, begleitet von dem Wirthe, welcher Complimente machte, als ob er allen Ernstes die Absicht habe, sich aus freier Hand das Genick zu brechen.

Nun gelangten sie zum Regierungshause. Es brannte keine Laterne. Im


// 1864 //

Dunkel des Abends konnte kein Mensch sie sehen. Vor der Thür des Hauses trat ihnen ein Mann entgegen, Jim war es.

»Nun?« fragte Sam. »Wie steht es?«

»Gut. Es ist kein Mensch da.«

»So wollen wir sehen, ob wir öffnen können.«

Er zog die Schlüssels hervor und probirte sie. Einer derselben öffnete. Sie traten ein und schlossen hinter sich zu.

Die hintere Thür hatte kein Schloß, sondern nur einen Innenriegel, welcher zurückgeschoben wurde. Sam führte die Beiden hinaus in den Garten, um sie mit dem Terrain vertraut zu machen. Dann postirte er sie. Tim kam an die Hinterthür zu stehen und Jim oben an die Treppe. Sam selbst schloß mit dem dazu passenden Schlüssel die Schlafstubenthür auf.

Jim war einstweilen zu ihm getreten und ging auch mit hinein in die Stube.

»Aber nun den Schlüssel zur Vorrathsthür her,« sagte er. »Das ist die Hauptsache.«

»Der steckt hier in dem Kästchen.«

»Wird verschlossen sein.«

»So wird es aufgesprengt.«

»Das merkt aber der Kerl gleich.«

»O nein. Ich sprenge die hintere Wand los und drücke sie nachher wieder fest an. Ah! Prachtvoll!«

»Was?«

»Das Kästchen ist auf. Ich habe den Schlüssel.«

»Der Esel! Konnte er nicht zuschließen!«

»Es hat heut so viel Malheur für ihn gegeben, daß er das vergessen hat. Geh jetzt an die Treppe. Ich trage Dir zunächst das Pulver zu.«

Er schloß die Thür auf und ergriff eins der Fäßchen, welches er hinaustrug und Jim übergab. Dieser brachte es bis zu Tim an die Hinterthür herab, und dieser trug es weiter bis hinaus in den Garten, an die Plankenpforte.

Jeder kehrte schleunigst an seinen Platz zurück. Die Drei waren kraftvolle und gewandte Leute, und so waren sie nach kaum einer halben Stunde mit dem Ausräumen vollständig zu Ende. Die Thüren wurden verschlossen, der Schlüssel zum Lagerraume war natürlich wieder in das Kästchen gehängt worden, und so war das schwierige Werk sehr leicht und rasch vollbracht.

Am Lager angekommen, schlich sich Sam zunächst hinter das Zelt, zog den Strickbeutel heraus, steckte die Schlüssel hinein und schob ihn dann wieder in das Innere des Zeltes zurück. Dann begab er sich zu den Pferden, bei denen Jim und Tim seiner warteten. Sie stiegen auf und ritten bis vor das Zelt des Tungusenfürsten.

Da trat Karparla heraus, welche in großer Spannung auf sie gewartet hatte.

»Ists gelungen?« fragte sie.

»Ja.«


// 1865 //

»Prächtig! Ich werde gleich meine Leute senden.«

»Werden dieselben die Pforte auch wirklich finden?«

»Ganz gewiß.«

»Aber Niemand darf den Raub sehen.«

»Habe keine Sorge. Die Leute reisen sofort mit demselben nach dem See ab. Kommt aber erst herein, damit ich Euch Euer Mahl vorsetze.«

Sie traten ein. Der Kreishauptmann und sein Sohn erschraken, als sie die Drei erblickten.

»Willkommen!« sagte der Fürst, indem er ihnen die fetten Hände reichte.

»Seid Ihr weit fort gewesen?«

»Sehr weit.«

»So werdet Ihr hungrig sein. Setzt Euch zu uns her!«

Die Drei bekamen Fleisch vorgelegt und aßen, ohne sich um die Anderen zu bekümmern. Die Unterhaltung stockte. Karparla hatte das Zelt wieder verlassen, um den betreffenden Leuten die erwähnte Weisung zu ertheilen.

Als sie zurückkehrte, begann die Unterhaltung wieder; aber sie wurde nicht so lebhaft wie vorher. Bald stand der Kreishauptmann auf und sagte:

»Unsere Zeit ist verstrichen. Wir müssen nach Hause.«

Er hielt sich mit beiden Händen diejenige fleischige Gegend, mit welcher er auf dem Kartoffelkissen gesessen hatte. Sein Sohn stand auch mühsam auf, indem er einen lauten Seufzer des Schmerzes aber auch der Erleichterung ausstieß. Beide hatten geradezu unbeschreibliche Qualen ausgestanden.

Der Wirth und die Wirthin baten, doch noch zu bleiben, doch das fruchtete nichts. Auch die Kreishauptmännin stand auf und ließ sich Tuch und Pompadour geben.

»Komm, Gökala!« sagte sie.

Die Genannte schickte sich an, ihren Platz zu verlassen, doch war ihr anzusehen, daß sie dies nicht gern that. Sie wäre viel lieber noch geblieben. Sam sah es und sagte in deutscher Sprache:

»Fräulein, Sie wünschen jedenfalls noch zu bleiben?«

»Ja,« antwortete sie. »Sie wollten mir ja so viel erzählen.«

»Ja. Also bleiben Sie ruhig da.«

»Das wird der Kreishauptmann auf keinen Fall dulden.«

»Wollen sehen.«

Der genannte Beamte ärgerte sich natürlich darüber, daß die Beiden in einer Sprache redeten, welche er nicht verstand. Darum nahm er eine strenge Miene an und sagte:

»Gökala! Hast Du es gehört. Wir müssen jetzt fort!«

Da antwortete an ihrer Statt Sam:

»Mir scheint, Du vergissest ganz, daß man mit Damen höflich zu sprechen hat.«

»Geht Dich das Etwas an?«

»Nein.«

»So schweige!«


// 1866 //

»Wenn Dir meine Rede nicht gefällt, so gehe. Es hält Dich Niemand. Aber Gökala bleibt da.«

»Was? Wer hat darüber zu bestimmen?«.

»Nur sie selbst.«

»Sie ist mir aber anvertraut.«

»Und sie selbst hat sich mir anvertraut. Also hast Du gar nichts zu bestimmen.«

»Sie wohnt bei mir!«

»Jetzt nicht mehr.«

»Oho! Will sie sich etwa ausquartieren?«

»Ja.«

»Zu wem?«

»Zu Karparla, deren Gast sie von diesem Augenblicke an ist. Sie bleibt hier.«

»Sie muß mit. Sie hat alle ihre Sachen noch bei mir.«

»Ich werde dieselben morgen holen lassen.«

»Ich kann mich auf keinen Fall mit diesem eigenmächtigen Verfahren einverstanden erklären!«

Die Beiden standen sich drohend gegenüber. Da sagte Gökala zu Sam:

»Bitte, ich werde bei dem Herrn Kreishauptmann wohnen bleiben.«

»So! Ich meine es gut mit Dir.«

»Das weiß ich. Aber ich werde Dir noch erklären, wodurch ich gezwungen werde, den jetzigen Aufenthalt beizubehalten.«

Er nickte lächelnd vor sich hin und sagte:

»Werden sehen. Jetzt aber bleibst Du noch ein Stündchen hier?«

Er wendete sich zum Kreishauptmann:

»Du hasts gehört. Sie geht noch nicht mit.«

»Was will sie hier?«

»Das geht Dich nichts an.«

»Soll ich etwa daheim auf sie warten?«

»Nein. Ich werde sie nach Hause begleiten und ein Diener kann ihr die Hausthür öffnen. Du kannst ruhig schlafen gehen.«

»Das thue ich nicht. Sie muß gleich jetzt mit mir fort.«

»Muß? Das klingt wie Zwang.«

»Den werde ich allerdings anwenden. Ich kann verlangen, daß sie mir gehorcht.«

»Ah, wie wolltest Du das anfangen, sie zu zwingen?«

»Das wirst Du gleich sehen.«

Er trat auf Gökala zu und streckte den Arm aus, sie anzufassen.

»Halt!« rief da Sam mit donnernder Stimme, daß er sofort den bereits erhobenen Arm wieder sinken ließ.

»Sobald Du sie anrührst, bist Du eine Leiche!«

Er zog den Revolver heraus.

»Willst Du an mir zum Mörder werden?« fragte der Beamte grimmig.


// 1867 //

»Nein, aber der Rächer! Mörder könnt nur Ihr sein. Wenn Du Dich nicht augenblicklich von dannen machst, so werde ich es laut erzählen, warum ich Euch jetzt Mörder nenne.«

»Du beleidigst uns. Wir sind Gäste des Fürsten hier. Er hat die Pflicht, jede Beleidigung unserer Personen zu rächen.«

»Macht Euch nicht lächerlich. Ihr seid eingeladen, weil ich es so haben wollte.«

»Ah! Ist das wahr?«

»Ja,« nickte Karparla.

Und Sam fügte hinzu:

»Ihr habt wohl gar gemeint, daß Ihr aus Freundschaft herbeigerufen worden seid? Solchen dummen Kerls ist es allerdings zuzutrauen, daß sie sich so Etwas einbilden. Ich will Euch einen Beweis von der Freundschaft geben, welche Ihr Euch eingebildet habt.«

Er hob die beiden Kissen empor und schüttelte sie so, daß die Kartoffeln herausfielen.

»Himmeldonnerwetter!« entfuhr es dem Rittmeister.

Zu gleicher Zeit griff er sich nach hinten, wo es brannte, als ob er auf einem glühenden Roste säße.

»Alle tausend Teufel!« schrie auch der Alte, indem auch er unwillkürlich die gleiche Stelle seines Körpers mit beiden Händen hielt.

Seiner Frau ging das gleiche Licht auf.

»Schrecklich, so betrogen zu werden,« rief sie aus. »Kommt von hinnen. Bei solchen Leuten kann unseres Bleibens keine Minute länger sein. Und Du, Du gehst natürlich mit uns!«

Diese letzteren Worte waren an Gökala gerichtet.

»Nein, sie bleibt da!« entgegnete Sam.

»So behaltet sie. Wenn sie jetzt nicht mit uns geht, darf sie unser Haus nicht wieder betreten!«

»Schön! Das ist uns sehr erwünscht. Und nun packt Euch fort. Morgen komme ich zu Euch, um noch Einiges mit Euch zu besprechen.«

»Wir werden Dich hinauswerfen lassen!« donnerte ihn der Rittmeister an.

Dann ging er fort. Die anderen Beiden folgten ihm. Nach wenigen Secunden hörte man den Hufschlag ihrer sich entfernenden Pferde.

Jetzt richtete sich Fürst Bula von seinem Sitze auf und sagte zu Sam:

»Verzeih mir. Ich glaube, Du hast mich da in eine große Verlegenheit gebracht!«

»O nein. Du täuschest Dich.«

»Die Leute werden sich an mir rächen.«

»Diese Leute werden sich morgen bereits im Gefängnisse befinden.«

»Ich erschrecke!«

»Und ich sage doch die Wahrheit. Hättest Du Deine Tochter gezwungen, die Frau des Rittmeisters zu werden, so hättest Du namenloses Elend über sie und Euch gebracht. Ich werde es Euch beweisen.«


// 1868 //

»Sie sind mir sofort als Leute erschienen, welche nicht werth sind, Vertrauen zu besitzen,« sagte Gökala. »Aber Du hast dennoch etwas zu schnell gehandelt.«

»Warum?«

»Ich muß bei ihnen wohnen bleiben.«

»Aus welchem Grunde?

»Den kann ich Dir erst später erklären.«

»Ich kenne ihn bereits.«

»Unmöglich!«

»Soll ich Dir es beweisen?«

»Ja.«

»Du heißest eigentlich nicht Gökala, sondern Semawa.«

»Um Gott!« rief sie überrascht.

»Du bist die Tochter des Maharadscha von Nubrida.«

»Wer sagt das?«

»Ich.«

»Woher weißt Du es?«

»Davon später. Dein Vater ist der Verbannte Nummer Fünf. Der Graf ist aufgebrochen, ihn zu suchen. Du bist stets der Ueberzeugung gewesen, daß an Deinem Verhalten zum Grafen das Leben Deines Vaters hänge. Darum meinst Du, daß Du auch jetzt nicht mit ihm brechen darfst.«

»Du kennst ja alle, alle meine Geheimnisse. Was hat das zu bedeuten?«

»Das hat zu bedeuten, daß Deine Leiden nun ein Ende haben werden.«

»Das ist unmöglich.«

»Ich sage Dir die Wahrheit. Wenn Sam Barth so Etwas sagt, so ist es so gut, als ob ein Anderer es mit tausend Eiden beschworen habe.«

»Ach, könnte, könnte ich es glauben!«

»Der morgende Tag wird Dir die Beweise bringen. Jetzt bist Du der Gast des Fürsten. Oder will unsere Karparla die Freundin von sich weisen?«

»Nein, nein!« rief Karparla entzückt, indem sie die Arme um Gökala warf. »Sie ist uns willkommen, so willkommen, wie keine zweite Person der Erde. Komm, meine Freundin! Ich will Dir mein Zelt zeigen, welches ich ganz allein bewohne. Du sollst es mit mir theilen.«

Gökala wehrte sich freundlich gegen den liebevollen Zwang, welcher gegen sie ausgeübt werden sollte.

»Jetzt nicht, Theure, jetzt nicht, sondern nachher erst.«

»Warum nicht jetzt?«

»Weil ich vorher noch so viel mit Sam zu besprechen habe.«

»O, dazu haben wir auch später noch Zeit,« sagte dieser. »Geh in Gottes Namen jetzt mit ihr. Auch ich habe mich auf kurze Zeit zu entfernen.«

»Wohin?« fragte Karparla.

»Ich muß dem Kreishauptmanne nach, um zu sehen, ob Alles wohl abgelaufen ist. Du weißt, was ich meine.«

»Ja, gehe. Wenn Du zurück bist, so kannst Du die Erkundigungen


// 1869 //

Gökala's beantworten. Ich gehe jetzt mit ihr nach meinem Zelte, um es mit ihr für uns Beide einzurichten.«

Sam ging. Jim und Tim wollten mit; er aber bedeutete sie, daß er sie jetzt nicht bei sich brauchen könne.

Er gelangte, ohne einem Menschen zu begegnen, an das Regierungsgebäude. Die beiden Fenster der Wohnstube waren erleuchtet, sonst keins, also war es sicher, daß man noch nicht in das Schlafzimmer gekommen war. Jedenfalls wurde der Diebstahl heut nicht entdeckt.

Nun begab er sich nach der hinteren Seite des Gartens, längs des Plankenzaunes hin. Die Pforte war zu. Er griff durch eine Lücke hinein und öffnete sie. Als er in den Garten trat, war da, wo die gestohlenen Gegenstände hingelegt worden waren, gar nichts mehr vorhanden. Die Tungusen hatten also schnelle Arbeit gemacht und waren dem heimkehrenden Kreishauptmann nicht begegnet. Es hatte also Alles einen sehr günstigen Verlauf genommen.

Jetzt wollte Sam wieder nach dem Lager zurückkehren. Als er über den Platz ging und um das Gasthaus biegen wollte, hörte er die Huftritte zweier Pferde, welche ihm entgegen kamen. Er blieb stehen. Die beiden Reiter sprachen mit einander und zwar russisch.

»Nun grad aus, am Gasthofe vorbei,« sagte der Eine. »Dann sind es nur wenige Schritte bis zum Regierungsgebäude.«

»Ist es groß, so daß man als Gast aufgenommen werden kann?« fragte der Andere.

Das war eine kräftige, sonore, außerordentlich wohl und sicher klingende Stimme.

Ja,« antwortete der Erstere. »Komm, Herr, da nach links.«

Aber da hatte Sam sich ihnen in den Weg gestellt und sagte in deutscher Sprache:

»Halt! Nicht nach links, sondern nach rechts führt der richtige Weg, Herr Steinbach.«

Auch dieser Letztere hatte sofort die Stimme des Dicken erkannt.

»Sam, Du?« fragte er erstaunt. »Stehst Du etwa auf Posten hier?«

»Nein. Ich kam nur zufällig vorüber und hörte den Hufschlag. Ich erwartete Sie natürlich erst morgen.«

»Meine Geschäfte in Irkutsk waren einen halben Tag früher abgemacht, als ich vorher berechnen konnte. Darum komme ich heut Abend, anstatt morgen früh.«

»Und so allein in fremdem Lande, des Nachts!«

»Dieser Mann ist ein wegekundiger Kosak, welchen ich mir an der letzten Station mitgeben ließ.«

»Aber ohne Gepäck!«

»Das kommt morgen nach. Es befindet sich unter der Aufsicht des hiesigen Kreissecretärs, welcher von einer Urlaubsreise zurückkehrt. Ich traf ganz zufällig auf ihn.«


// 1870 //

»Was ists für ein Mann?«

»Warum fragst Du?«

»Bitte erst um Antwort!«

»Er ist jedenfalls ein pflichtgetreuer und ebenso humaner wie unterrichteter Beamter.«

»So kann er morgen Kreishauptmann werden, Herr Steinbach.«

»Wieso? Wie kommst Du zu dieser Rede?«

»Weil wir den jetzigen morgen absetzen und ins Gefängniß stecken werden.«

»Sapperment! Du redest ja, als ob Du der Beherrscher dieses Ortes seiest!«

»Bin ich auch factisch!«

»Sam, Sam, keine dummen Witze!«

»Ich rede im Ernste. Herr Steinbach, wenn Sie wüßten, was wir hier erlebt haben!«

»Bedeutendes?«

»Bedeutender, als Sie denken können.«

»Mensch, hast Du Hoffnung, daß wir den Gesuchten finden können?«

»Mehr als Hoffnung.«

»Was?!«

»Ja! Ich muß Ihnen rasch berichten.«

»Aber natürlich nicht hier. Ich reite nach Deiner Wohnung, welche gewiß das Regierungsgebäude ist.«

»Nein, da wohne ich nicht. Ich bin Gast des Tungusenfürsten Bula, der sich mit einer bedeutenden Anzahl seiner Leute jetzt hier zum Markte befindet.«

»Warum das?«

»Weil mir die Familie des Kreishauptmannes bereits bei meiner Ankunft feindlich gegenübergetreten ist.«

»Sam, Du hast doch keine Dummheiten begangen!«

»Fällt mir nicht ein!«

»So soll ich nicht im Regierungshause logiren?«

»Wenigstens heut nicht.«

»Sondern bei Deinem Wirthe, dem Fürsten?

»Vielleicht. Wollen es besprechen.«

»Aber ich kann doch mein Pferd nicht -«

»Lassen Sie,« fiel Sam ein, »den Kosaken mit den beiden Pferden hier im Gasthofe bleiben. Es ist noch auf. Sie sind da sehr gut aufgehoben.«

»Meinst Du. Du kennst den Wirth?«

»Ja. Seien Sie ohne Sorge. Wir gehen dann ein Wenig allein spazieren, und ich erzähle Ihnen, was ich zu erzählen habe.«

»Gut, ich befolge Deinen Rath.«

Er stieg ab und begab sich mit Sam in den Gasthof. Als der Wirth die hohe, ehrfurchtgebietende Gestalt des Deutschen erblickte, sank er vor Höflichkeit fast in sich zusammen. Er erhielt Steinbachs Befehle und beeilte sich, denselben augenblicklich nachzukommen.


// 1871 //

Steinbach war noch immer der Alte. Seine Züge hatten sich nicht verändert. Die erlebten Strapatzen waren spurlos an demselben vorübergegangen. Anstatt des dunklen, langen Vollbartes, welcher in Constantinopel und später sein Gesicht umrahmt hatte, trug er jetzt nur einen kräftigen Schnurrbart, welcher einen wirklichen Schmuck seines männlich schönen und bedeutenden Gesichtes bildete.

Nun führte Sam ihn hinaus, seitwärts vom Lager und der Stadt. Sie schritten langsam neben einander hin.

»Jetzt kannst Du anfangen,« sagte Steinbach.

»Ehe ich erzähle, muß ich erst eine hochinteressante Neuigkeit melden. Nämlich es hat einen Verbannten hier gegeben, dessen Namen Jurji Orjeltschasta war.«

»Alle Wetter! Das heißt zu Deutsch Georg Adlerhorst.«

»Er ist der Letzte der Gesuchten.«

»Weißt Du das genau?«

»Ja.«

»Sam, diese Nachricht ist ja ein ganzes Vermögen werth!«

»Darum habe ich es Ihnen gleich gesagt.«

»Schon das allein ist eine Reise nach Sibirien werth. Wo ist er?«

»Entflohen.«

»O weh! So müssen wir ihm nach.«

»Natürlich!«

»Höchst unangenehm!«

Ich weiß, wo er sich befindet.«

»Gewiß?«

»So gewiß, daß ich ihm morgen früh nach wollte.«

»Natürlich. Wir dürfen ihn uns nicht entgehen lassen. Es ist ja ein reines Wunder Gottes, ihn hier zu finden.«

»O, er kann uns nicht entgehen. Er ist nach ganz demselben Orte, nach welchem auch die Nummer Fünf ist.«

»Wer ist das?«

»Der Maharadscha.«

»Sam!« rief Steinbach.

»Nicht wahr, das zieht!« lachte der Dicke. »Und diese Nummer Fünf ist mit Peter Lomonow auf die Zobeljagd gegangen.«

»Wer ist dieser Mann?«

»Ein Kaufmann aus Orenburg. Früher aber war er Derwisch und hieß Osman. Sodann nannte er sich in Amerika Bill Newton.«

»Sam, bist Du des Teufels! Der wäre hier?«

»Ja.«

»Du täuschest Dich!«

»Nein, gar nicht. Auch er ist nach demselben Orte, nämlich nach dem Mückenflusse. Und noch ein Anderer ist ebenfalls dahin.«


// 1872 //

»Willst Du mich auf die Folter spannen? Du hast gewiß noch eine Neuigkeit in Petto. Wer ist ebenfalls hin?«

»Graf Alexei Polikeff.«

Da hielt Steinbach seinen Schritt ein, erfaßte Sam bei beiden Schultern, schüttelte ihn derb und sagte:

»Sam Barth, treib keine Comödie!«

»Herr Steinbach, der Teufel soll mich holen, wenn es Comödie ist!«

»Wahrheit kann es nicht sein!«

»Warum denn nicht?«

»Die Personen, welche wir nun in drei verschiedene Erdtheile gejagt haben, sollen sich hier im wilden, fernen Sibirien an einem Orte beisammen befinden!«

»So ists!«

»So Etwas bringt doch kein Romanschreiber zusammen!«

»Das hat er auch nicht nöthig. Das Leben bringt es selbst fertig!«

»Der Graf ist hier? Wirklich?«

»Ja.«

»Hast Du ihn gesehen?«

»Ja.«

»Aber Du kennst ihn nicht!«

»Er ist es dennoch. Der Kreishauptmann ist sein Verbündeter.«

»Sam, Sam! Rede weiter! Wo der Graf ist, muß - muß auch Gökala sein!«

»Leider dieses Mal nicht.«

»So muß er es mir sagen, wo sie sich befindet. Diesesmal soll er mir nicht entgehen. Ich brenne vor Ungeduld.«

»Der Graf sucht den Maharadscha!«

»Ah! Er soll ihn finden, aber mich dazu. Jetzt erzähle. Nach Dem, was Du mir jetzt bereits gesagt hast, mußt Du in der kurzen Zeit seit gestern höchst Merkwürdiges erlebt haben.«

»Das ist wahr. Sie können den Gedanken segnen, mich mit Jim und Tim vorausgesandt zu haben. Kamen wir um einen Tag oder zwei Tage später, so waren wir ganz umsonst nach Sibirien gekommen.«

»So schlimm wirds doch nicht sein!«

»Hols der Teufel, ja doch!«

»Nun, ich werde sehen. Also, erzähle!

»Das geht freilich nicht so rasch, wie Sie denken. Der Fürst erwartet mich. Ich war eben jetzt fort, um Etwas für ihn auszurichten. Ich muß zu ihm. Gehen Sie mit, damit ich Ihnen den braven Kerl vorstelle!«

»Ists unumgänglich nothwendig?«

»Ja.«

»So komm!«

Sie richteten ihre Schritte nach dem Lager. An einer dunklen Stelle desselben meinte Sam:


Ende der achtundsiebzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Deutsche Herzen, deutsche Helden

Karl May – Forschung und Werk