Lieferung 109

Karl May

14. Januar 1888

Deutsche Herzen, deutsche Helden.

Vom Verfasser des »Waldröschen« und »der Fürst des Elends«.


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»Aber Sie willigten doch ein, den Derwisch und auch Ihren Verlobten zu tödten!« sagte er.

»Das war nur zum Scheine.«

»So haben Sie mich betrogen und verrathen?«

»Ja, sie hat uns gerettet,« antwortete der Agent, »und nun sollst Du desselben Todes sterben, für den Du uns bestimmt hattest.«

»Allah! Was meinen Sie?« fragte der Pascha voller Angst.

»Wir werden Dich in den Brunnen werfen.«

»O Himmel! Das thut Ihr nicht! Das ist ja Mord!«

»Ibrahim Pascha, Du kennst mich nicht; Du hast Dich stets in mir geirrt. Du hast mich für Deinen Freund, Deinen Diener, Deinen Verbündeten gehalten, und doch bin ich stets der ärgste und unversöhnlichste Deiner Feinde gewesen. Entsinnst Du Dich noch des herrlichen Weibes, welches Du liebtest, damals in Stambul, auf der Straße der Aladschy in Pera?«

»Meinst Du Anna von Adlerhorst?«

»Ja. Du trachtetest nach ihr, ich selbst aber liebte sie wie rasend. Ich hätte sie errungen; ich hätte sie ihrem Manne abspenstig gemacht, der mein Herr gewesen war; aber Dein tolpatschiges Wesen verdarb mir Alles; ich erntete Verachtung anstatt Liebe, nur allein Deinetwegen. Von da an schwor ich Dir Rache. Ich habe mich an ihrer ganzen Familie gerächt durch Dich, und ich habe mich an Dir gerächt, indem ich Dich den Weg des Bösen führte, tiefer, immer tiefer hinab. Heut bist Du am Ziele angelangt. Du hast Mord gesäet und wirst dafür Mord ernten. Wir schließen Dich in die Brunnenstube und werden Dich hinabstürzen! Vorher aber sollst Du tausendfache Qualen erdulden. Du sollst warten und warten, jeden Augenblick gewärtig, daß der Boden unter Deinen Füßen weiche, bis die fürchterliche Angst Dir den Rest Deines Verstandes raubt.«

Es lag eine so große Entschiedenheit und Entschlossenheit in dem Gesichte und Tone des einstigen Derwisches, daß der Pascha erkannte, daß er wirklich keine Nachsicht zu erwarten habe. Das gab ihm den Muth der Verzweiflung. Er trat um einige Schritte zurück und rief in drohendem Tone:

»Oho! So spricht man mit mir! Bin ich ein Knabe, ein altes Weib, daß Du meinst, ich könne mich Eurer nicht erwehren?«

»Blase Dich nicht auf,« lachte der Derwisch höhnisch. »Du bist ein Feigling und sprichst nur aus Angst die Worte eines Helden. Wir werden Dich jetzt fesseln. Gieb Deine Hände her!«

»Hole sie Dir!«

Ibrahim ballte die Fäuste und nahm eine Stellung an, als ob er kämpfen wolle. Da richtete der Derwisch den Lauf des Revolvers gegen ihn und drohte:

»Beim geringsten Widerstande schieße ich Dich nieder wie einen Hund! Jetzt bin ich Dein Herr, und Du hast zu gehorchen!«

Da trat der Kastellan, welcher bisher geschwiegen hatte, zwischen sie und sagte:


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»Keinen Kampf, keinen Schuß, der uns verrathen könnte!«

»Wer könnte den Schuß hören?« fragte der Derwisch, zornig über diese Einrede. Er eilte zur Thüre, öffnete dieselbe und blickte hinein. Er befand sich vor dem hübschen Stübchen, welches über Tschita's Gefängnisse lag. Es war leer.

»Niemand ist da,« sagte er.

»Und doch war es mir, als ob ich Stimmen gehört hätte,« antwortete der Kastellan.

»Das muß ein Irrthum sein - - und doch, da geht ein Loch hinab. Sollte sich doch Jemand hier befunden und uns belauscht haben?«

Er trat an das Loch und blickte hinab. Die Anderen folgten ihm nach, auch der Pascha, welcher nachher für einen Augenblick die Gefahr vergaß, in welcher er sich befand.

»Da unten ist es dunkel,« sagte der Derwisch; »aber ich sehe die Sprossen einer Leiter. Ist Jemand unten?«

Diese letztere Frage rief er laut in das Loch hinab.

»Ja,« antwortete eine weibliche Stimme von unten herauf. Tschita kam emporgestiegen.

Sie stand in größter Ruhe vor ihm und blickte ihm furchtlos und frei in das erregte Gesicht.

»So giebt es eine Fallthüre hier?«

»Ja. Ich entdeckte sie und bin heraufgestiegen. Wir haben uns hier sehr wohl befunden.«

»Wir? Wer denn noch?«

»Zykyma. Wir haben fein gegessen und getrunken und dann allerlei Kurzweil getrieben, wie Ihr hier sehen könnt.«

Sie deutete auf den noch gedeckten Tisch.

»Zykyma auch? Wie konnte diese aus ihrem Loche herbei?«

»Ganz auf dieselbe Weise. Da, schaut einmal hinaus!«

Sie öffnete die Thür zur Nebenstube. Dort saß Zykyma und schälte sich in aller Gemüthlichkeit eine Orange, um dieselbe zu verspeisen.

Jetzt kam auch der Pascha in Bewegung. Er sah, daß seine beiden ihm entflohenen Frauen sich keineswegs so, wie er dachte, in Gefangenschaft befunden hatten. Er drängte die Andern bei Seite und trat hinaus zu Zykyma. Die Uebrigen folgten, zuletzt der Kastellan. Niemand als nur die Polizistin achtete darauf, daß er hinter sich die Thür verschloß.

»Tausend Teufel!« rief der Pascha. »Ihr lebt herrlich und in Freuden, und ich habe geglaubt, Ihr steckt unten in Euren Löchern. Wer hat Euch das erlaubt?

»Wir selbst,« antwortete sie ruhig.

»Wir werden einen besseren Ort für sie finden,« sagte der Derwisch. »Sie werden in die Brunnenstube eingeschlossen, und zwar mit ihrem einstigen Herrn.«

»Um uns hinab zu stürzen?« fragte Zykyma. »Da machen wir nicht mit!«


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»Darnach werdet Ihr nicht gefragt. Ihr habt zu gehorchen!«

»Etwa Dir? Wer bist Du denn? Ein entlaufener Lakai und Renegat. Wenn Du noch einmal von Gehorsam redest, lasse ich Dir die Peitsche geben.«

»Weib,« rief er zornig, »vergiß nicht, daß Du Dich in meiner Gewalt befindest!«

»Ich? Irre Dich nicht! Du befindest Dich in der meinigen!«

Sie deutete nach der Thür, welche in der Zimmerflucht weiter führte. Sie öffnete sich, und Steinbach trat herein, gefolgt von sämmtlichen Männern, welche sich bei ihm befunden hatten. Hinter diesen sah man die Frauen stehen.

Der Derwisch fuhr entsetzt zurück.

»Steinbach!« schrie er auf.

»Ja, ich,« lächelte dieser stolz.

»Woher?«

»Daher, wo auch Du aus der Tiefe gekommen bist. Wir wurden ebenso gerettet wie Du und stehen nun hier, das letzte Wort mit Euch zu reden. Eure Rollen sind ausgespielt. Nehmt die Kerls gefangen!«

Sam, Jim und Tim traten sofort an den Derwisch heran, um sich seiner zu bemächtigen. Er aber wich einige Schritte zurück.

»Gnade!« rief der Pascha. »Ich trage keine Schuld. Der dort hat mich verführt. Er war der Teufel, der Euch verfolgte.«

Er deutete auf den Derwisch. Dieser aber schnellte zu ihm hin und schrie ihn an:

»Hund, willst Du jetzt noch unschuldig sein? Wir sind verloren; ich sehe es. Ich wollte Dich vorhin zur Hölle senden, um mir von Dir das Quartier bestellen zu lassen. Nun es aber so steht, gehen wir gleich miteinander. Komm mit zum Teufel!«

Ehe Jemand ihn daran hindern konnte, drückte er seinen Revolver gegen die Schläfe des Pascha und dann gegen seine eigene Stirn ab. Die beiden Schüsse krachten; sie hatten nur zu gut getroffen. Die Körper wankten, verloren das Gleichgewicht und schlugen schwer zu Boden.

Tschita und Zykyma schrien vor Entsetzen auf. Steinbach ergriff sie bei den Händen und führte sie hinaus zu den anderen Frauen, um dann zurückkehrend die Thür hinter sich zuzumachen.

Sam war gleich zu den beiden Getroffenen nieder gekniet, um ihre Verwundungen zu untersuchen.

»Es ist aus mit ihnen,« berichtete er.

»Wirklich todt?« fragte Steinbach.

»Ja. Der Kerl hat so ausgezeichnet gezielt, als hätte er sich jahrelang im Selbstmorde geübt. Nur zwei Sekunden waren es, und sie sind todt.«

»Jammerschade!«

»Ja. Nun geht mit ihnen das Hauptgeheimniß hinüber. Aber es war so schnell geschehen, daß man es gar nicht zu verhüten vermochte. Diesen aber wollen wir uns desto besser aufheben.«

Er deutete auf den Agenten, welcher bleich und zähneklappernd in der


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Ecke lehnte. Er kannte Steinbach und wußte, wer und was dieser eigentlich war; vor Angst und Respect war es ihm unmöglich, ein Wort zu sagen. Er wurde gebunden und fortgeschafft.

Jetzt gab es nun eine ganze Reihe höchst lebendiger Auseinandersetzungen. Der Kastellan mußte erzählen, und die Folge seines Berichtes war, daß Lina, die Polizistin, das größte Lob und die allerhöchste Anerkennung erntete.

Die beiden Leichen blieben liegen, um gerichtlich aufgehoben zu werden. Steinbach gab vor, dies besorgen zu wollen. Er mußte aus diesem Grunde schnell nach der Stadt zurück und übergab seine Semawa der Obhut Normanns.

Natürlich gab es noch unendlich viel zu erzählen und zu besprechen, und der Abend war nahe, als die Anderen endlich auch aufbrachen.

Die Meisten von ihnen begaben sich nach Normanns Villa, deren gastliche Thür Allen gern geöffnet war. Der dicke Sam hatte sich separirt. Er spazierte durch die Stadt und schlug ganz unwillkürlich die nach dem Bahnhofe führende Richtung ein. Er sagte sich, daß jetzt Alles, Alles gethan sei und er seinem Kopfe nun einmal eine lange Ruhe gönnen könne. Diesen tröstlichen Gedanken wollte er mit einem Glase Bier begießen.

Grad als er auf dem Bahnhofe anlangte, fuhr ein Zug herein. Um nicht in das Gedränge der aus- und einsteigenden Passagiere zu gerathen, blieb er an der Ecke des Perrons stehen und beobachtete das vor ihm hin- und herwogende Gewühl.

In seiner Nähe stand ein anderer stiller Beobachter, zu welchem ein ausgestiegener Fahrgast mit der Frage trat:

»Bitte, können Sie mir sagen, wo ich das Hôtel zum Sterne finde?«

Diese Stimme kam Sam außerordentlich bekannt vor, und als er nun das Gesicht des Fragers betrachtete, war es ihm, als ob er es bereits sehr oft gesehen habe.

»Ich bin hier noch fremd,« antwortete der Gefragte. »Vielleicht vermag es dieser Herr, Ihnen Bescheid zu geben.«

Der Sprecher deutete bei diesen Worten auf den Dicken.

»Gern,« meinte dieser. »Das Hôtel zum Stern liegt gleich da - -«

Er konnte nicht ausreden; er wurde unterbrochen. Der Fremde war an ihn gewiesen worden und ihm also nahe getreten. Als dann die Stimme Sams erklang, machte der Erstere eine Bewegung des Erstaunens, warf noch einen forschenden Blick auf Sams Gestalt und rief dann:

»Ists möglich? Sehe ich recht?«

»Was sehen Sie denn?« fragte der Dicke.

»Dich, Dich sehe ich! Bist ja breit genug dazu, daß man nicht an Dir vorübersehen kann.«

»Was, Du duzest mich? Kennst Du mich denn?«

»Das versteht sich!«

»Na, die Stimme kommt mir freilich vertraut vor, und auch Dein Gesicht ist mir bekannt; nur kann ich mich nicht besinnen, wo ich es gesehen habe. Es ist mir ganz so, als hätte es einmal in einem tüchtigen Vollbarte gesteckt.«


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»Das ist allerdings wahr.«

»Da mag sich freilich der Teufel besinnen. Zudem ist es hier so düster, daß man nichts deutlich sieht. Komm also mit fort zum Lichte.«

»Nein, bleib hier! Du sollst rathen, wer ich bin.«

»Im Rathen bin ich kein Held. Wo haben wir uns denn getroffen?«

»Im Todesthale. Ich war dort ein Sennor.«

»O, das sind sie Alle, und wenn sie die größten Lumpen sind, so lassen sie sich doch Sennor schimpfen.«

»Schön gesagt! Daran erkenne ich meinen dicken Sam. Ich war also auch ein Lump?«

»Unsinn! So habe ich es natürlich nicht gemeint.«

»Nicht? Na, dann bin ich befriedigt. Noch Eins will ich sagen. Wenn Du mich auch dann nicht erkennst, so lasse ich Dich warten bis in alle Ewigkeit.«

»Nur heraus damit!«

»Ich hatte meinen guten deutschen Namen ganz wirklich in das Spanische übersetzt.«

»Ah, da geht mir ein Licht auf. Es war doch nicht etwa das spanische Wort Cuartano?«

»Ja, das war es.«

»Du bist Zimmermann, Karl Zimmermann?«

»Ja, der bin ich.«

»Mensch, Freund, Kollege und Zimmermann, wer hätte Dich erkennen können! Du hast Dich sehr verändert.«

»Zu meinem Nachtheile wohl?«

»Das weiß ich noch nicht zu sagen. Ehe ich diese Entscheidung fälle, muß ich Dich genauer betrachten, und das geschieht am Allerbesten, indem wir ein Glas Bier mit einander trinken. Kannst Du das?«

»Natürlich. Du weißt ja, daß ich im schönen Bayernlande geboren bin, wo der Säugling schon Bier anstatt der Milch zu trinken bekommt.«

Er zog ihn in das Bahnhofsrestaurant, wo sie sich an einem einsamen Tischchen niederließen und zwei Gläser Bier bestellten. Dort betrachtete Sam seinen einstigen jungen Kameraden.

Dieser hatte sich wirklich sehr verändert, und zwar zu seinem Vortheile. Er machte nicht nur einen recht angenehmen, sondern sogar vornehmen Eindruck.

»Du,« meinte der Dicke, »man möchte sich fast geniren, Dich Du zu nennen und mir Dir anzustoßen.«

»Warum?«

»Weil Du wie ein Baron oder gar Graf aussiehst.«

»Schwerlich!«

»Ja, ganz so. Es scheint Dir gut zu gehen?«

»Ich bin zufrieden. Ich habe nach unserer Trennung drüben noch recht gute Geschäfte gemacht. Aber, obwohl ich reich bin, so fehlt mir doch noch Eins!«

»Was denn?«

»Einem Andern würde ich es nicht sagen; zu Dir aber kann ich offen reden.«


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»Doch nicht etwa eine Frau?«

»Grad das ists.«

»Hollah! Da ist Dir leicht zu helfen: Nimm Dir eine, so hast Du eine.«

»Danke sehr! Es muß die Richtige sein.«

»Wo steckt sie denn?«

»Ja, wenn ich das wüßte!

»Meinst Du denn eine bestimmte Person?«

»Ja.«

»Das ist etwas Anderes. Sie ist Dir aus dem Auge gekommen?«

»Ja, und ich weiß nicht, wohin!«

»Da ist sehr leicht Hilfe zu schaffen.«

»Wie?«

»Kaufe Dir sämmtliche Adreßbücher der alten und neuen Welt, und lerne sie auswendig. Dabei wirst Du sicher auch auf ihren Namen stoßen.«

»Deine Art, zu helfen, scheint stets sehr ungewöhnlich zu sein!«

»Weil ich auch ein ungewöhnlicher Kerl bin. Wo hast Du Deine Holde denn eigentlich kennen gelernt?«

Der gute Sam wußte gar wohl, an wem das Herz Zimmermanns hing. Er hatte sein stilles Werben um Magda von Adlerhorst, welche sich drüben Magda Hauser nannte, bemerkt, that aber doch so, als ob er gar nichts wisse.

»In Kalifornien,« antwortete der Gefragte.

»Doch nicht etwa auch im Todesthale?«

»Grade dort und nirgends anders.«

»Ah, das ist ja romantisch. Da müßte ich sie vielleicht auch kennen.«

»Natürlich kennst Du sie. Du hast ja sie und ihre Mutter gerettet.«

»Du meinst - -?«

»Sennorita Hauser.«

»Was? Die kleine Magda?«

»Ja.«

»Nun, wo steckt sie denn?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe mir es wirklich ein gutes Stück Geld kosten lassen, um ihren jetzigen Aufenthaltsort zu entdecken, aber vergebens.«

»So nimm eine Andere!«

»Nie.«

»Pah! Es ist Eine wie die Andere.«

»Das meinst wohl Du. Ich aber denke, sie oder keine!«

»Der echte Ritter Toggenburg!«

»Lache mich immer aus! Ich bleibe doch dabei!«

»Da mußt Du ihr verteufelt gut sein!«

»Darüber läßt sich nichts sagen. Ich bin ein stilles, einfaches Gemüth und mache keine überflüssigen Worte.«

»Das ist wahr; so habe ich Dich kennen gelernt. Hier hast Du meine Hand, mein braver Junge; ich werde sehen, ob ich Dir helfen kann.«

»Du? In wiefern?«


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»Indem ich Dir helfe, Deine Magda zu suchen.«

»Wenn Du mir das versprichst, so - - ah, woran denke ich! Du kennst sie ja ebenso gut wie ich.«

»Natürlich.«

»Sie ist mit Dir und jenem Steinbach herüber.«

»Ja, aber wir trennten uns dann.«

»Weißt Du vielleicht, wo Steinbach sich jetzt befindet?«

»Ich müßte mich einmal besinnen.«

»Er muß hier sein oder beabsichtigen, hierher zu kommen.«

»Hast Du einen Grund, dies anzunehmen?«

»Ja.«

»Welchen?«

»Ich bin nicht zufällig hier. Gestern erhielt ich diesen Brief aus Berlin. Lies einmal!«

Sam las:

»Kommen Sie sofort nach Bad Wiesenstein, und steigen Sie da im Hôtel zum Stern ab!
          Ihr Oskar Steinbach.«

»Ist das nicht eigen?

»Sehr!« nickte Sam.

»So kurz!«

»Und kein Grund, warum ich kommen soll.«

»Vielleicht will Steinbach da mit Ihnen zusammentreffen.«

»Wahrscheinlich. Eigenthümlich aber ist es, daß ich gleich beim Aussteigen Sie treffe, der Sie auch ein Kamerad von drüben sind.«

»Sie werden noch einige treffen.«

»Wen?«

»Jim und Tim.«

»Die beiden Brüder? Ah, auf sie freue ich mich. Was thun sie hier?«

»Sie sind von Amerika herüber gekommen, um das hiesige Bad gegen die Hühneraugen zu gebrauchen, welche sie sich drüben angestolpert haben.«

»Spaßvogel!«

»Es ist wahr!«

»Nun, hoffentlich treffe ich sie bald.«

»Heut noch.«

»Wirklich?«

»Ja, denn sie kommen auch nach dem »Stern«, wohin ich Dich führen werde.«

»Weißt Du, wo er liegt?«

»Natürlich.«

»Ich möchte möglichst bald hin.«

»So wollen wir gleich gehen.«

»Ja. Vielleicht ist doch Steinbach da und wartet auf mich.«

»Wollen sehen. Sollte mich selbst freuen, wenn wir diesen seltsamen Menschen treffen würden.«

Sie gingen nach der Stadt.

Unterwegs sah Sam ihnen Denjenigen entgegenkommen, von dem sie ge-


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sprochen hatten, nämlich Steinbach. Dieser ging drüben auf der Straße. Sofort nahm der Dicke mit irgend einer Frage das ganze Interesse Zimmermanns so in Anspruch, daß dieser die hohe Gestalt gar nicht beachtete.

Steinbach erkannte Sam sehr wohl, da er aber an dem Gebahren desselben bemerkte, daß er nicht angeredet sein wolle, so schritt er vorüber.

Ueberhaupt hatte er selbst alle Ursache, unerkannt zu bleiben, und hielt sich daher möglichst im Schatten. In einer der vornehmeren Straßen angelangt, trat er in ein Privathaus und stieg eine Treppe empor, wo er klingelte. Ein Mädchen öffnete und fragte nach seinem Begehr.

»Der Herr Staatsanwalt zu sprechen?«

»Werde fragen. Er ist zu Hause. Wen darf ich anmelden?«

»Ich melde mich selbst an.«

Er schob das Mädchen zur Seite, trat in den Vorsaal und schritt auf eine Thür zu, die er zu kennen schien. Er zog dieselbe, als er in das Zimmer getreten war, schnell hinter sich zu.

Der Staatsanwalt schien soeben von einem Ausgange zurückgekehrt zu sein, denn er war noch in Straßentoilette.

»Hoheit!« rief er erstaunt. »Welch eine Ehre, einen solchen Besuch am -«

»Pst! Keinen Titel, mein Verehrter!« unterbrach ihn Steinbach. »Prinz Oskar kommt erst morgen nach hier. Ich komme in der Grafenreuther Angelegenheit.«

Seinem Gaste einen Sessel präsentirend, bemerkte der Beamte:

»Und ich war soeben in derselben Angelegenheit aus. Ein Bote des Amtswachtmeisters rief mich schleunigst zu dem Letzteren, und ich bin ganz untröstlich, Herrn Steinbach ein Ereigniß melden zu müssen, an welchem eine Schuld zu tragen, ich mir glücklicher Weise nicht bewußt bin.«

»Was ist geschehen?«

»Der Agent Schubert hat sich unserem Gesetze entzogen.«

»Doch nicht entsprungen?«

»Nein, sondern entleibt.«

»Auf welche Weise?«

»Er hatte nur für wenige Augenblicke ein Handtuch in seine Zelle erhalten; er mußte sich ja waschen. Er hat sich mit demselben am Fenstergitter erhängt.«

Der Blick des Staatsanwaltes war mit deutlicher Besorgniß auf das Gesicht Steinbachs gerichtet. Dieses aber verfinsterte sich nicht, wie befürchtet worden war; es nahm vielmehr einen heiteren Ausdruck an.

»Das ist mir sehr lieb,« lächelte der Besuch.

»Ah! Wirklich?« entfuhr es dem Beamten in erstauntem Tone.

»Ja. Es klingt freilich nicht human, wenn ich Ihnen aufrichtig gestehe, daß ich Ihnen wegen dieses Selbstmordes keineswegs zürne; aber ich habe wirklich Ursache, befriedigt zu sein. Die andern Thäter, die eigentlichen Urheber, sind todt. Um dieses einen Menschen willen wären wir gezwungen gewesen, Verhältnisse an die Oeffentlichkeit zu bringen, über welche ich am Liebsten


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schweigen möchte. Es werden Familien davon berührt, deren Glieder bereits zu viel erduldet haben, als daß ich sie nun noch ohne allen Nutzen durch gerichtliche Consequenzen quälen lassen möchte. Sehen wir, wie die Angelegenheit sich so arrangiren läßt, daß die betreffenden Ereignisse mit dem heutigen Tage ihren Abschluß finden.«

»Ich stehe natürlich ganz zu Befehl und zur Verfügung.«

Die beiden Herren hatten eine vertrauliche Unterredung, in Folge deren am nächsten Morgen im Amtsblatte die Veröffentlichung zu lesen war:

»Mehrere unserer Badegäste werden sich wohl noch des eigenthümlichen Rencontres erinnern, welches zwischen seiner Herrlichkeit Lord Eagle-nest und dem angeblichen Bankier Abraham aus Kairo statt hatte. Dieser Letztere, welcher von dem erstgenannten Herrn für nicht satisfactionsfähig erklärt wurde, scheint gestern ein unfreiwilliges und gewaltsames Ende gefunden zu haben. Er wurde von einer zufälliger Weise auf Schloß Grafenreuth anwesenden Gesellschaft in einem abgelegenen Raume mit durchschossenem Kopfe vorgefunden. Neben ihm lag die Leiche eines vielgesuchten, entsprungenen Verbrechers, in Frauenkleider gehüllt, und auch mit einer Schußwunde im Kopfe. Ein Raubmord ist ausgeschlossen, da der Bankier seine sämmtlichen Habseligkeiten noch bei sich trug. Hoffentlich ist es uns später ermöglicht, Näheres über diesen gewiß eigenthümlichen Fall mitzutheilen.«

Und unter »Polizeibericht« war zu lesen:

»Gestern Abend entzog sich der hier bekannte Agent Schubert im hiesigen Untersuchungsgefängnisse dadurch dem strafenden Arme der weltlichen Gerechtigkeit, daß er sich in einem unbewachten Augenblicke selbst entleibte. Was gegen diesen Mann der problematischen Existenz vorgelegen hat, ist noch nicht in die Oeffentlichkeit gedrungen.« -

Sam hatte nach der schweigsamen Begegnung mit Steinbach seinen Begleiter nach der Villa Normann geführt und an der Gartenpforte geklingelt.

»Ist denn hier das Hotel zum Stern?« fragte Zimmermann.

»Ja,« antwortete der Dicke.

»Das hat aber viel eher das Aussehen eines Privat- als eines Gasthauses!«

»Das kommt in Bädern vor.«

Das Mädchen kam und öffnete, Sam erkennend, ohne zu fragen. Auf dem Wege nach dem Eingange zur Villa blieb der lustige Prairiejäger stehen.

»Höre,« sagte er, »ich will doch lieber erst einmal allein hineingehen, um zu sehen, ob Steinbach da ist. Befindet er sich anwesend, so mache ich mir den Spaß, ihn erst mit mir und sodann mit Dir zu überraschen.«

»So soll ich hier warten?«

»Hier nicht. Man braucht Dich nicht zu sehen. Ich führe Dich in den Garten an ein buschiges Plätzchen und bringe Steinbach hin, ohne daß er es ahnt, Dich dort zu treffen.«

»Das ist eine sonderbare Idee.«

»Ja, ich bin eben auch ein sonderbarer Kerl.«


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Er führte ihn an die Stelle, an welcher sich Zykyma und Hermann Adlerhorst zusammengefunden hatten, und hieß ihm, hier zu warten. Sodann begab er sich in die Wohnung und benützte die erste Gelegenheit, Magda bei Seite zu ziehen.

»Fräulein,« sagte er, »ich habe Ihnen etwas sehr heimliches mitzutheilen.«

»Was?« fragte sie, neugierig, diese Heimlichkeit zu erfahren.

»Eine arme Frau kam mit mir, um mit Herrn Steinbach zu sprechen, hat aber den Wunsch, sich vorher bei Ihnen zu erkundigen.«

»Nach was?«

»Ich weiß es nicht genau, vermuthe aber, daß es sich um eine Verlobung handelt.«

»Verlobung? Zwischen wem?«

»Das ist eben das, was ich nicht erfahren konnte. Sie will nur Sie in das Vertrauen ziehen.«

»Kennt sie mich denn?«

»Ja.«

»Sie ist von hier?«

»Schwerlich.«

»Sam, da machen Sie mich schrecklich wißbegierig!«

»So eilen Sie, denn je früher Sie hinauskommen, desto eher erfahren Sie es.«

»Wo finde ich sie denn?«

»Da, wo hier alle Verlobungen verhandelt werden.«

»Wo ist das?«

»Kennen Sie den Ort, wo Zykyma sich verlobt hat?«

»Ja. Sie sitzt ja den ganzen Tag dort.«

»Nun, so wissen Sie es.«

Sie ging sehr heimlich hinaus. Ihr kleines, junges Herz klopfte laut bei dem Gedanken, bei einer heimlichen Verlobung mitwirken zu können. Leise schritt sie durch den Garten bis zu der betreffenden Stelle. Sie sah trotz der Dunkelheit, daß Jemand auf der Bank saß.

»Sam?« fragte es ihr leise entgegen, so daß sie nicht zu unterscheiden vermochte, ob es eine männliche oder weibliche Stimme sei.

»Er ist es nicht,« antwortete sie, »aber er hat mich herausgeschickt, um Ihre Mittheilung zu vernehmen.«

Die Gestalt erhob sich von der Bank und antwortete:

»Mittheilung? Ich habe nichts mitzutheilen.«

Jetzt erkannte sie, daß die Stimme ebenso wie die Gestalt eine männliche sei.

»Mein Gott,« rief sie aus, »da habe ich mich entweder im Platze geirrt oder - -«

Sie fand in ihrer Verlegenheit nichts, womit sie ihr »oder« ergänzen konnte.

»Er hat Sie wirklich gesandt?« fragte Zimmermann.


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»Ja, mein Herr.«

»So wird es wohl auch richtig sein.«

»Handelt es sich vielleicht um eine Verlobung, wegen welcher Sie da sind?«

»Keineswegs. Ich bin hier völlig fremd und weiß kein Wort von einer Verlobung. Aber das ist jedenfalls nur ein Mißverständniß. Ist Herr Steinbach drin?«

»Jetzt nicht. Er ging vorhin fort, wird jedoch wohl bald wiederkehren.«

»Aber er logirt bei Ihnen?«

»Ja.«

»So sind Sie vielleicht die Kellnerin oder das Zimmermädchen?«

»Keins von Beiden. Kellnerin? Wie kommen Sie dazu, von einer Kellnerin zu sprechen?«

»Nun, ist nicht hier das Hôtel zum Stern?«

»O nein. Das liegt im Innern der Stadt.«

»Wie? Warum hätte da Sam mich hierhergeführt?«

»Wünschten Sie nach dem Hôtel?«

»Ja. Er brachte mich hierher, sagte, dies Haus sei es, und veranlaßte mich, hier auf Herrn Steinbach zu warten. Er wollte denselben herausschicken, um ihn zu überraschen.«

»So ist das gewiß wieder einmal einer seiner drolligen Streiche, die er so gern macht. Kennen Sie denn Herrn Steinbach?«

»Sehr genau sogar.«

»Mir ists ganz so, als ob ich auch Sie kennen müsse. Es ist nur zu dunkel, um Ihr Gesicht zu sehen; Ihre Stimme aber muß ich gehört haben.«

»Ich die Ihrige auch; das dachte ich gleich beim ersten Worte, welches ich aus Ihrem Munde hörte.«

»Wo haben Sie Herrn Steinbach kennen gelernt, mein Herr?«

»In Amerika.«

»Ah, da war ich auch!«

»Wirklich? Sollten wir uns da gesehen haben?«

»Möglich. In welcher Gegend waren Sie?«

»Ueberall. Mit Herrn Steinbach aber befand ich mich im Todesthale.«

»Mein Gott, ich auch!« rief sie aus.

»Sie auch? O bitte, darf ich Ihren Namen erfahren?«

»Ich nannte mich dort Magda Hauser.«

»Mag - - Mag - -!«

Er rief es laut vor Ueberraschung und Entzücken. Jetzt wußte er, warum der Dicke ihn veranlaßt hatte, hier zu warten.

»Was haben Sie?« fragte sie. »Warum sprechen Sie meinen Namen nicht aus?«

»Vor Staunen. Ich kenne Sie. Ich habe von Ihnen und ihren Schicksalen gehört.«

»Von wem?«


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»Von einem Bekannten, einem deutschen, jungen Kaufmann, welcher sich längere Zeit in Ihrer Nähe befand.«

»Meinen Sie etwa Sennor Cuartano?«

»Ja. Eigentlich hieß er anders.«

»Karl Zimmermann; ich weiß es wohl. Sie kannten ihn? Sie waren wohl gar mit ihm befreundet? Wissen Sie, wo er sich jetzt befindet? Wie geht es ihm?«

Sie sprach diese Fragen so schnell und hastig hinter einander aus, daß sein Herz vor Wonne bebte. Er fühlte und hörte, daß sie ihn nicht vergessen, sondern wohl sehr oft seiner gedacht habe.

»Es geht ihm gut,« antwortete er. »Er befindet sich jetzt in seiner Heimath, also in Bayern.«

»So nahe! Und er hat nichts, gar nichts von sich hören lassen!«

»Er weiß ja gar nicht, wo Sie sind. Er hat lange Zeit vergeblich nach Ihnen gesucht und erst heut erfahren, daß Sie hier sind.«

»Heut - - -?« fragte sie.

»Ja, heut, soeben jetzt.«

»Jetzt? Mein Gott, ists - ists - was höre ich - Sie - Sie wären - - -?«

Sie langte in ihrer Herzensfreude nach seiner Hand, und er griff nach der ihrigen. So standen sie eine lange Weile still, wortlos Hand in Hand. Ohne daß er es wollte, zog er sie leise an sich, und ohne daß sie es wollte, gab sie seinem Arme nach - sie lag an seinem Herzen, und er küßte sie auf den warmen, blühenden Mund.

»Karl!« hauchte sie.

»Magda,« antwortete er. »Ists wahr? Ich habe Dich! Endlich, endlich gefunden!«

»Ja, endlich, endlich!« antwortete sie.

»Wie habe ich mich nach Dir gesehnt!«

»Und ich mich nach Dir. Es war so unmöglich, Etwas über Dich zu erfahren.«

»Und mir ists gegangen, wie es in der Lenore heißt:

»Er frug den Zug wohl auf und ab,
   Und frug nach allen Namen,
Doch Keiner war, der Kunde gab,
   Von Allen, die da kamen.«

Ich habe mir unendliche Mühe gegeben, aber nichts, gar nichts erfahren können. Nun aber ich Dich gefunden habe, trenne ich mich auch nie, nie wieder von Dir.«

»Ja, Du bleibst, bleibst hier bei uns. Oder bist Du bereits anderswo gebunden?«

»Nein. Ich bin frei; ich kann wohnen, wo ich will.«

»So bleibst Du hier. O, wie werden sich die Meinigen freuen!«

»Wo befinden sie sich?«

»Hier in dieser Villa, welche meinem Schwager gehört.«


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»Werde ich ihnen aber auch willkommen sein?«

»Wie Du nur so fragen kannst! Mama wird ganz entzückt sein, Dich wieder zu sehen. O, wir haben viel, sehr viel von Dir gesprochen, und stets mit großer Sehnsucht.«

»Die Mama auch?« fragte er lächelnd.

»Ja, besonders aber ich,« antwortete sie aufrichtig.

»Nun, so ist nun doch diese Sehnsucht gestillt, Aber, Du sagtest vorhin, Du hättest Dich drüben Magda Hauser genannt. Hast Du denn eigentlich einen anderen Namen?«

»Ja.«

»Welchen?«

»Ich heiße Magda von Adlerhorst.«

»O wehe!«

»Was?«

»Also von Adel?«

»Ja.«

»Was werden da die Deinen von mir sagen? Ich bin nur Kaufmann und bürgerlich.«

»O, Schwager Normann ist auch bürgerlich. Uebrigens haben unsere Schicksale uns gelehrt, daß dieses kleine >von< nicht den mindesten Werth hat, und - - -«

Da tauchte eine kleine, dicke Gestalt vor ihnen auf, daß Magda einen Schrei des Schreckens ausstieß.

»Pst, keine Angst! Ich bins!«

»Ach, Sie, Sam!«

»Ja, ich! Verzeihung, wenn ich störe, aber Die drin schicken mich mit einer höchst wichtigen Frage heraus.«

»Mit welcher?«

»Wie es mit der Verlobung steht?«

»Sam!« sagte Magda verschämt.

Zimmermann aber antwortete:

»Wie es mit der Verlobung steht, werden wir gleich selbst melden. Dazu brauchen wir Dich alten, hinterlistigen Intriguanten nicht.«

»Was höre ich? Alt, hinterlistig und intriguant! Ja, die Welt ist schlecht und wird von Tag zu Tag schlechter. Jetzt nun ich das Volk zusammengeführt habe, bekomme ich eine ganze Menge von Beleidigungen an den Kopf geworfen. Das ist Dankbarkeit! Ich werde niemals wieder Jemand in den Verlobungswinkel schicken. Man hat nichts davon als lauter Aerger.«

»Na, so schlimm war es nicht gemeint, mein lieber Sam,« versicherte Magda.

»Wirklich nicht?«

»Nein. Wir sind Ihnen ja großen Dank schuldig. Gehen Sie nur gleich mit hinein!«

»Das kann ich nicht.«


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»Warum nicht?«

»Weil ich sogleich wieder nach dem Bahnhofe muß.«

»Wohl um abermals eine Braut zu besorgen?« fragte Zimmermann.

»Errathen! Ganz richtig errathen.«

»Oder machst Du Spaß?«

»Warte es ab! Jedem das Seine! Und wenn ich Einen so triste dasitzen sehe, weil ihm das Seinige fehlt, so läßt es mir keine Ruhe, ich muß sie ihm herbeischaffen. Ich komme bald wieder zurück.«

Er ging, und zwar wieder nach dem Bahnhofe, um den aus anderer Richtung kommenden Zug zu erwarten. Es hatte sich eine gewisse Unruhe seiner bemächtigt.

Endlich kam der Zug. Aus einem Coupée zweiter Classe sprang ein Neger, welcher eine sehr elegante Livrée trug, und öffnete einen Wagen erster Classe.

Ein fein gekleideter, älterer Herr stieg mit einer jungen, verschleierten Dame aus. Sam eilte sofort zu ihnen hin.

»Welcome, welcome, Master Wilkins,« rief er aus. »Gut, daß Sie kommen. Ich glaubte bereits, Sie hätten Herrn Steinbachs Depesche gar nicht erhalten.«

Es war wirklich Wilkins mit Almy, seiner Tochter; der »Taube des Urwaldes« am Silbersee. Sie erregten in Folge ihres aristokratischen Benehmens und Aeußeren das Aufsehen des Publikums.

»Grüß Gott, alter Sam!« antwortete er.

»Die Depesche wurde uns nach Paris nachgesandt, und wir sind Hals über Kopf gefahren, um Eurem Rufe zu folgen. In welchem Hotel hast Du uns Wohnung bestellt?«

»Bis jetzt in keinem.«

»Wie so?«

»Wollen erst sehen, wie der Hase läuft. Das Gepäck lassen wir hier in der Expedition. Der Neger mag im Wartezimmer bleiben.«

»Und wir?«

»Sie gehen mit mir.«

»Zu wem?«

»Zu Herrn Steinbach.«

»Gleich so im Reisegewand?« fragte Almy.

»Ja. Steinbach ist ein alter Junggesell, und es fällt ihm gar nicht ein, so Etwas übel zu nehmen.«

»Aber wir können uns doch wenigstens ein ganz klein Wenig vorher restauriren!«

»Ist nicht nothwendig.«

»Wohnt Herr Steinbach allein?«

»Ganz allein. Er hat keine Menschenseele bei sich als mich und eine alte, taube Haushälterin.«

»So dürfen wir es vielleicht wagen.«

»Natürlich. Kommen Sie nur!«


// 2607 //

Sie schritten der Stadt entgegen. Als Sam an der Pforte klingelte und das Mädchen zum Oeffnen kam, fragte Wilkins:

»Ist das die alte, taube Haushälterin?«

»Ja.«

Das Mädchen hatte kein Wort gesprochen, und da es zu dunkel war, um das Gesicht zu sehen, gelang diese diplomatische Unwahrheit.

Der Dicke führte die Beiden hinter das Haus und bat sie, in der Veranda zu warten, da er sie erst Herrn Steinbach anmelden müsse.

In dem neben der Veranda liegenden Salon ließen sich zahlreiche Stimmen hören.

»Wer ist da drin?« fragte Almy besorgt. »Das müssen viele Leute sein.«

»Es ist die hiesige Feuerwehr, die gekommen ist, Steinbach zu seinem heutigen Geburtstage zu gratuliren. Er ist nämlich Branddirector. Die Leute werden aber gleich gehen.«

»Ich höre doch auch weibliche Stimmen!«

»Natürlich müssen die Frauen auch mit gratuliren!«

Er trat ein. Steinbach war gar nicht da. Aber von den Andern allen fehlte keine einzige Person. Der Salon war so voller Menschen, daß fast gar kein Platz mehr vorhanden war.

Magda hatte den wiedergefundenen Geliebten hereingebracht und ihn den Ihrigen vorgestellt, die ihm ihre vollste Sympathie widmeten. Sein Erscheinen erinnerte Martin von Adlerhorst an Amerika und an die Geliebte, welche er dort zurückgelassen hatte. Darum saß er unter allen Fröhlichen als der allein Ernste da.

»Was haben Sie, Master Martin?« fragte Sam. »Ihre Gedanken machen wohl Visite über die See hinüber?

»Es scheint so,« nickte der Gefragte.

»Was kann das nützen? Gar nichts. Man darf nie denken, wie es sein könnte, sondern wie es ist.«

»Wenn es nun aber doch besser sein könnte?«

»Das ist unmöglich.«

»Oho!«

»Vollständig unmöglich. Man muß sich eben nur ein Wenig mehr um die Gegenwart bekümmern.«

»Das ist unnütz. Dadurch kommt Niemand von Amerika herüber.«

»Vielleicht doch!«

»Nein. Ich werde hinüber müssen. Habe schon seit zwei Monaten keinen Brief erhalten.«

»Nicht?« fragte Sam, indem er ein ganz erstauntes Gesicht machte.

»Nein.«

»Aber doch den heutigen!«

»Welchen?«

»Den ich vom Briefträger unterwegs erhielt und - - oh Sapperlot!


// 2608 //

Er war an Sie, aus Amerika, und ich habe ihn draußen auf der Veranda auf dem Tische liegen lassen. Verzeihung! Ich werde ihn gleich -«

Er that, als ob er fort wolle.

»Halt, halt! Ich hole ihn mir selber!« rief Martin.

Er sprang eilends auf, drängte sich durch die Anwesenden und öffnete hastig die Thür. Seine Eile hatte Aufsehen erregt. Alle blickten hin zu ihm und sahen, da das Licht durch die nun offene Thür auf die Veranda fiel, Wilkins mit Almy da stehen.

»Almy, meine Almy!« schrie Martin auf.

»Martin!« hauchte sie ganz erschrocken.

Er aber riß sie in seine Arme und brachte sie herein. Ihr Vater folgte, und der Dicke lachte sich ins Fäustchen.

Es läßt sich denken, welch eine Freude die Ankunft der Beiden verursachte. Da gab es zu sehen, zu hören, zu fragen mehr als Vieltausenderlei. Und dazu kam das Mädchen herein und brachte ein großes, mit dem großherzoglichen Siegel versehenes Schreiben, welches soeben für Normann abgegeben worden war.

Er öffnete es und las es durch. Dann meldete er zu Aller Entzücken:

»Morgen trifft Prinz Oskar hier ein. Um ihn zu empfangen, wird der Großherzog selbst kommen und hat für Vormittag elf Uhr folgende Personen zur Audienz befohlen:«

Er las die Namen vor. Da waren Alle, Alle verzeichnet. Zum allgemeinen Erstaunen stand sogar Master Wilkins mit Miß Almy dabei. Nur ein Einziger fehlte - Steinbach. Das waren Räthsel, welche Niemand zu lösen vermochte, bis Steinbach selbst zurückkehrte und man ihm den Inhalt des Schreibens mittheilte.

»Das ist Alles sehr einfach,« sagte er. »Der Großherzog interessirt sich ungemein für die Helden unserer Abenteuer und will sie bei Gelegenheit seiner morgenden Anwesenheit kennen lernen. Ich habe ihm ein Namensverzeichniß einsenden müssen, und da ich wußte, daß Master Wilkins heut Abend kommen werde, fügte ich auch seinen Namen mit bei.«

»Warum aber fehlt grad der Deinige?« erkundigte sich Semawa.

»Weil seine Hoheit für morgen mir einen Auftrag ertheilt haben, welcher mich verhindert, zu erscheinen. Ich verreise schon früh, Du wirst also an der Seite Deines Vaters vor dem regierenden Herrn erscheinen.«

Damit war nun abermals ein unerschöpflicher Gesprächsstoff gegeben. Die Meisten der Anwesenden hatten noch nie eine Audienz bei einem Monarchen gehabt und waren ganz entzückt von der Ehre, die ihnen widerfuhr. Sie erkundigten sich natürlich nach Allem, selbst nach den geringsten Kleinigkeiten, welche da zu beobachten seien, und es war sehr, sehr spät, als die so innig verwandte Gesellschaft sich trennte.

Am andern Morgen begab Steinbach sich nach dem Bahnhofe, um die erwähnte Reise zu machen. Dann kam der Großherzog im strengsten Incognito. Er hatte sich jeden Empfang verbeten und fuhr schleunigst nach dem Schlosse.


// 2609 //

Dann wurde es in der Stadt ruchbar, daß es um elf Uhr eine ganz außerordentliche Audienz mit darauf folgendem Frühstücke gebe, und die Menschen drängten sich an den Schloßweg, um die Geladenen passiren zu sehen. Ihre Neugierde wurde nicht ausreichend gestillt, denn der Großherzog ließ die Betreffenden in Equipagen abholen.

Punkt elf Uhr waren sie alle im Vorzimmer versammelt und durften nun in den Audienzsaal treten, wo sie Stellung nahmen, voran der Maharadscha und der Lord, mit Gökala, jetzt Semawa genannt, in der Mitte. So ging es weiter herab bis zu Jim und Tim, welche den Beschluß machten.

Dann trat der Großherzog ein, ganz allein, aber in mittlerer Uniform und begann die Audienz. Er gab sich ganz als Privatmann, und bald war die Reihenfolge aufgelößt, und Jeder bewegte sich nach eigenem Wohlgefallen.

Als nach einiger Zeit gemeldet wurde, daß das Dejeuner der Herrschaften harre, gab der Großherzog Frau von Adlerhorst den Arm, um sie zur Tafel zu führen, und wendete sich mit lauter Stimme an Semawa:

»Soeben wurde mir gemeldet, daß mein Bruder, Prinz Oskar angekommen sei. Ich möchte ihm die Freude gönnen, an unserem Male theilzunehmen und bitte für ihn um Ihren Arm, Maharadschaya.«

Als er sie dabei fragend anblickte verneigte sie sich zustimmend aber tief erröthend.

»Ah, da kommt er schon! Willkommen, mein lieber Oskar! Hier bringe ich Dir die Dame, nach deren Arm und Hand es Dich so außerordentlich verlangt hat. Sie gab ihre Einwilligung, und der meinigen darfst Du natürlich ebenso versichert sein.«

Der Prinz war durch eine Seitenthür eingetreten. Er trug die Uniform eines Kavalleriegenerals. Wie erstaunten Alle, als sie in dem hohen, stolzen Manne ihren geliebten und bewunderten Steinbach erkannten!

»Alle Teufel! Habs mir gedacht!« entfuhr es Sam so laut, daß Alle es hörten.

Semawa stand ganz bleich vor freudigem Schreck. Sie breitete die Arme aus, als ob sie nach einem Halt suche. Da trat er schnell herbei, legte den Arm um sie, bog sich zu ihr nieder und flüsterte ihr zu:

»Sage mir, mein Leben, wirst Du mich nun auch noch grad so lieb haben wie vorher?«

»Ach Gott!« hauchte sie. »Welche Wonne!«

»Auch mir bereitet es eine wahre Seligkeit, daß Du Herrliche nicht die Frau eines armen Assessors werden mußt.«

Damit spielte er auf den Scherz an, den er nach ihrem Zusammentreffen in Sibirien gemacht hatte, indem er sich für einen armen Assessor am deutschen auswärtigen Amte ausgab. Ein glückliches Lächeln strahlte dabei über sein männlich schönes Gesicht.

Sie gab ihm dieses Lächeln ebenso zurück und antwortete:

»Ich kann Dich nicht lieber haben als vorher. Ich würde Dich lieben in allen Lagen und zu aller Zeit.«

Nun begann die Tafel. Es war kein Galafrühstück, und die Regeln der


// 2610 //

Etiquette wurden nicht streng befolgt. Der Großherzog selbst erklärte, daß er wünsche, ein Jeder möge sich wie zu Hause fühlen; er sei jetzt Privatmann und habe die Uniform nur angelegt, um seine Gäste zu ehren und ihnen zu beweisen, daß ein braver Mensch im schlichten Rocke dem Mann in Wehr und Waffen vollständig gleichwerthig sei.

Nach aufgehobener Tafel bat der Großherzog, die Anwesenden möchten sich für den ganzen Lauf des Tages als seine Gäste betrachten. Dann zog er sich zurück.

Die verschiedenen Paare, welche sich nach langen Leiden und nach oft langer Trennung endlich zusammengefunden hatten, lustwandelten in Park und Garten. Prinz Oskar aber führte seine Geliebte ganz allein durch die prächtig ausgestatteten Räume des Schlosses.

Dann stand er, den Arm um ihre Taille gelegt, hoch oben mit ihr auf dem Söller, von wo aus man meilenweit ins Land blicken konnte. Als Semawa's Blick freudetrunken in die Ferne schweifte, fragte er sie in besorgtem Tone:

»Hier wirst Du wohnen, mein Herz. Wirst Du Dich nicht bald nach dem fernen Osten sehnen?«

Sie presste ihr Köpfchen an seine Brust.

Sie preßte ihr Köpfchen an seine Brust und antwortete:

»Nie, niemals! Seit ich Dich kenne, ist Deutschland das Land meiner Sehnsucht gewesen, das Land der Treue, das Land der Kraft, das Land der Helden.«

»Höher noch als deutsche Kraft steht das deutsche Herz, mein Lieb. Das Deinige lernte in fremden Zonen schlagen; es wird dennoch hier deutsch fühlen lernen.«

»O,« lächelte sie, »das wird ihm gar so leicht gemacht; es lebt hier ja nur unter

»Deutschen Herzen und deutschen Helden!«

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Ende der einhundertneunten Lieferung.



Karl May: Deutsche Herzen, deutsche Helden

Karl May – Forschung und Werk