Lieferung 101

Karl May

19. November 1887

Deutsche Herzen, deutsche Helden.

Vom Verfasser des »Waldröschen« und »der Fürst des Elends«.


// 2401 //

»Hier? Ist er von hier?«

»Nein und doch ja. Er ist identisch mit Prinz Oscar, dem Bruder des Großherzoges.«

»Alle Teufel! Ists wahr?«

»Wir vermuthen es.«

»Mir gleich! Mag er sein, wer er will, ich werde mich an ihm rächen.«

»Wie wollen Sie das anfangen?«

»Das weiß ich nicht.«

»Zunächst sind Sie gefangen; da ist von einer Möglichkeit der Rache keine Rede.«

»Ich bin überzeugt, daß Sie mich befreien werden.«

»So! Ich habe allerdings die Absicht, weiß aber nicht, ob es gelingen wird.«

»Es muß gelingen; das ist gar keine Frage.«

»Meinen Sie? Hm!«

»Ja, ich bin ja schon halb frei!«

»Da irren Sie sich.«

»Nun, ich befinde mich ja hier bei Ihnen!«

»Aber als Gefangener!«

»Pah! Mit diesem alten Schließer werden wir keine große Sache machen!«

»O doch!«

»Nein. Ein Hieb über den Kopf macht ihn stumm.«

»Und wir sind dann verloren!«

»Wieso?«

»Seine Hunde zerreißen uns.«

»Alle Teufel! Er hat allerdings einige solche Bestien draußen umherlaufen!«

»Sie sehen, daß es nicht so leicht ist, wie Sie denken.«

»Könnte er denn nicht bestochen werden?«

»Vielleicht. Wir haben uns bis jetzt vergeblich bemüht, hoffen aber doch, es noch fertig zu bringen.«

»Dann aber schnell! Denn wenn Steinbach einmal da ist, dann dürfte es zu spät sein.«

»Das ist sehr richtig. Wir wollen es besprechen. Jetzt handelt es sich darum, was Sie anfangen, wenn es uns gelingt, Sie zu befreien.«

»Das weiß ich am Allerbesten.«

»Nun, was?«

»Rache!«

Er stieß das zwischen den knirschenden Zähnen hervor. Seine Augen leuchteten tückisch auf.

»Das klingt wohl gut, wird aber unmöglich sein,« meinte Ibrahim Pascha.

»Warum unmöglich?«

»Weil Sie natürlich sofort verschwinden müßten. Wie wollen Sie sich da rächen?«


// 2402 //

»Ich müßte verschwinden, ja; aber fortgehen würde ich nicht von hier, bis ich mich gerächt habe!«

»Das ist Wahnsinn!«

»Pah! Steinbach, Sam Barth, Jim, Tim, sie Alle, Alle müßten daran glauben. Ich lechze nach Freiheit, aber nicht blos, um frei zu sein, sondern um mich zu rächen.«

»Ich habe ganz dasselbe Verlangen nach Rache; ich kann es befriedigen, Sie aber nicht, denn Sie dürfen sich nicht hier sehen lassen.«

»Wer sagt denn, daß ich mich sehen lassen will? Ich verstecke mich.«

»Und werden erwischt!«

»Gewiß nicht. Ich will nicht umsonst diese entsetzlichen Qualen des Transports von Sibirien bis hierher erduldet haben. Seit ich Sie gesehen habe und also auf Rettung hoffen durfte, habe ich nachgedacht, wie ich mich rächen kann. Machen Sie mich frei; dann sollen Sie sich gar nicht weiter um mich bekümmern. Die Freiheit und einiges Geld; das ists, was ich brauche. Dann sind Alle verloren, welche Ihre und meine Feinde sind.«

»Sie denken zu sanguinisch. Sie würden doch erkannt und ergriffen werden!«

»Gewiß nicht. Ich verkleide mich gut.«

»Als was?«

»Als Frauenzimmer.«

»Ah! Das ist kein dummer Gedanke.«

»Nicht wahr? Ich kleide mich als Frauenzimmer an und bleibe hier in der Gegend, bis die Rache vollendet ist.«

Er sagte das in einem so festen und entschlossenen Tone, daß man annehmen mußte, er werde sich von diesem Gedanken nicht abbringen lassen.

Der Pascha blickte sinnend vor sich nieder und sagte nach einer kleinen Weile:

»Hm! Der Plan ist kühn, vielleicht verwegen, aber nicht so übel. Als Weib könnten sie freilich ein sicheres Unterkommen finden.«

»Nicht wahr!«

»Und ich könnte Sie sehr gut gebrauchen!«

»Wozu?«

»Ich will Tschita und Zykyma entführen.«

Da sprang der Gefangene wie electrisirt von seinem Stuhle auf, so daß die Ketten klirrten.

»Entführen!« rief er. »Bravo! bravo! Welch eine Rache! Ich helfe mit.«

»Darauf rechne ich.«

»Und zugleich entführen wir Steinbachs Braut.«

»Jene Gökala? Gut, sehr gut.«

»Und jagt man uns nach, und gelingt es uns ja nicht, die Frauen fortzubringen, so tödten wir sie. Eine bessere Rache giebt es nicht.«

Der Pascha antwortete nicht sofort. Er blickte dem Agenten forschend in das Gesicht und sagte dann:


// 2403 //

»Was meinen Sie dazu?«

»Hm!« antwortete Schubert achselzuckend.

»Ich meine, zu seiner Verkleidung als Frau?«

»Das ist nicht übel.«

»So reden Sie einmal mit dem Schließer!«

»Gut; ich will meine Reservecavallerie gegen ihn vorrücken lassen.«

Der Agent wendete sich an den Schließer:

»Wie steht es mit Ihrem Sohne? Haben Sie indessen einmal mit ihm gesprochen?«

»Nein, ich wollte zu ihm, konnte aber leider heute nicht fort.«

»So wissen Sie auch nichts Näheres von ihm?«

»Ich weiß nur das, was ich bereits heut wußte.«

»So! Hm! Kennen Sie einen Getreidehändler, welcher Weber heißt?«

»Ja.«

»Hat er mit Ihrem Sohne zu thun?«

»Seit Jahren schon.«

»Ist er ihm Geld schuldig?«

»Ich glaube, ja.«

»Nun, lesen Sie einmal dieses Papier!«

Er zog den Wechsel hervor und gab ihn dem Schließer, welcher mit demselben an die Lampe trat, um ihn zu lesen.

»Ein Wechsel,« sagte er. »Ueber fünfzehnhundert Mark. Aber mein Sohn hat ihn ja nicht acceptirt. Da hat er ihn nicht einzulösen.«

»Nein, acceptirt hat er ihn freilich nicht, aber gefälscht.«

»Gefälscht? Herr! Mein Sohn?«

»Ja, Ihr Sohn.«

»Herrgott! Das ist doch nicht möglich!«

»Es ist wirklich. Er hat die Unterschrift gefälscht, um zu dem Gelde zu kommen.«

»Und wer muß es denn bezahlen?«

»Ich eigentlich nicht, sondern der Fälscher.«

»Und der soll mein Sohn sein?«

»Ja.«

Da trat der Schließer schnell zu seiner Frau, beugte sich über sie und sagte dann:

»Gott sei Dank! Sie ist ein Wenig eingeschlafen. Wenn sie es hörte, könnte es ihr Tod sein. Bitte, meine Herren, sprechen Sie leise. Ist es denn wirklich wahr, daß mein Sohn ein Fälscher ist?«

»Ja, der Inhaber des Wechsels wollte zur Polizei, um ihn sofort arretiren zu lassen.«

»Welch ein Unglück! Welch ein Elend! Ich kann es doch kaum glauben!«

»Hier der Wechsel ist der Beweis!«

»Das ist freilich wahr, o nur zu wahr. Ach, was soll daraus werden.«

»Eine vieljährige Zuchthausstrafe.«


// 2404 //

»O Himmel! Ist das denn nicht abzuwenden?«

»Eigentlich nicht. Der Wechsel ist gefälscht, und der Fälscher wird selbst dann bestraft, wenn er das Papier einlöst.«

»Das kann er nicht.«

»Desto härter wird die Strafe ausfallen.«

»Was ist zu thun, was!«

Er ging händeringend im Stübchen hin und her. Die beiden Männer antworteten ihm nicht; auch der Gefangene sagte kein Wort.

»Herr, sagen Sie, ob es denn keine Rettung geben kann?« wendete er sich an Schubert.

Dieser zuckte die Achsel.

»Also nicht?«

»Nein.«

»So kann ich mich nur gleich erschießen!«

»Sie sich? Sie sind ja nicht der Verbrecher!«

»Aber mein Sohn ist es!«

»Nun, das braucht ja Sie nichts anzugehen!«

»Mich nicht? Herr, was denken Sie denn von einem Vater!«

»Nicht viel! Von einem Vater, der seinen Sohn nicht retten will, kann ich nichts halten.«

»Nicht retten? Wer hat das gesagt?«

»Sie selbst!«

»Ich? Davon weiß ich kein Wort!«

»Sie haben es mir selbst gesagt, und zwar draußen im Parke. Ich gab Ihnen einen Weg an, der Ihren Sohn retten konnte,«

»Ah, die - - Befreiung des Gefangenen?«

»Ja.«

»Das kann ich nicht.«

»Nun, so muß Ihr Sohn ins Zuchthaus gehen.«

»Ins Zuchthaus! Welch ein Wort! Ins Zuchthaus. Das kann ich unmöglich überleben.«

»Was nutzt es ihm, wenn Sie sterben!«

»Das ist richtig, das ist richtig!«

»Machen Sie kurzen Prozeß! Helfen Sie uns, so helfe ich Ihnen.«

»Ich denke, er wird bestraft, obgleich er den Wechsel bezahlt und einlöst?«

»Allerdings. Das kommt ganz auf mich an.«

»Wieso?«

»Ob ich ihn anzeige oder nicht. Der Wechsel ist jetzt in meiner Hand; also befindet sich auch das Schicksal Ihres Sohnes in derselben.«

»Herr, ich bitte Sie um Himmels willen, zeigen Sie es nicht an!«

Er bat so rührend, wie nur ein Vater bitten konnte; aber der Agent antwortete hart:

»Halten Sie mich für ein Kind?«

»Sie wollten ja helfen!«


// 2405 //

»Ja, aber meine Hilfe paßt Ihnen nicht.«

»Ich kann nicht, ich kann doch nicht!«

»Ganz wie Sie wollen. Morgen früh wird Ihr Sohn in das Gefängniß abgeführt.«

»Herr, wer kann so hart sein!«

»Pah! Es handelt sich um fünfzehnhundert Mark, die ich für Ihren Sohn bezahlt habe. Soll ich diese Summe einbüßen?«

»Ich will sie bezahlen!«

»Wann? Heut? Jetzt?«

»Nein, das kann ich nicht; aber ich will sie nach und nach abzahlen!«

»Das bringen Sie bei Ihrem Gehalte in aller Ewigkeit nicht fertig!«

»O doch!«

»Nein. Wenn Sie mir aber folgen wollten, so schenkte ich Ihnen die fünfzehnhundert Mark, und Sie erhielten dann auch eine Anstellung, bei der Sie sich gegen jetzt glanzvoll ständen.«

»Ist das wahr?«

»Ja, ich halte Wort.«

Wieder ging der Schließer eine Weile hin und her. Um ihm die Sache plausibel zu machen, sagte der Agent:

»Uebrigens können Sie diese Angelegenheit doch so ordnen, daß kein Mensch einen Verdacht gegen Sie hegen kann.«

»Das ist unmöglich!«

»Pah! Es müßte nur klug angefangen werden.«

»Wie denn?«

»Sie haben nicht immerfort die Aufsicht über ihn?«

»Nein. Nur des Nachts von zwölf Uhr an.«

»Zur anderen Zeit beaufsichtigen ihn die beiden langen Kerls?«

»Ja.«

»Und da haben diese auch die Schlüssel?«

»Ja.«

»Könnten Sie denn die Schlüssel nicht einmal heimlich wegnehmen, so daß man es nicht bemerkt?«

»Hm! Vielleicht!«

»Und dann den Gefangenen fortlassen?«

»Das - das - könnte gehen. - Doch vorsichtig müßte ich sein.«

»Natürlich! Also überlegen Sie sich schnell, und geben Sie uns eine bestimmte Antwort!«

Der Schließer trat zu seiner kranken, vermeintlichen Frau, horchte auf ihren Athem und flüsterte dann:

»Sie schläft. Sie hört es nicht. Sie darf natürlich gar nichts, gar nichts davon wissen!«

»Das versteht sich von selbst!«

»Also wenn ich thue, was Sie wollen, so zeigen Sie meinen Sohn nicht an?«

»Nein.«


// 2406 //

»Und geben mir das Geld?«

»Ich gebe Ihnen den Wechsel; das Geld hat er sich ja bereits von dem Giranten geben lassen.«

»Und dann, wenn ich den Wechsel habe, ist keine Gefahr mehr für ihn vorhanden?«

»Keine. Sie werden das Papier natürlich zerreißen und dann ist kein Beweis mehr gegen ihn vorhanden.«

»Gut, gut! Ich gehe darauf ein.«

»Sie wollen es thun?«

»Ja, aber verrathen dürfen Sie mich nicht!«

»Verrathen! Sind Sie des Teufels! Da würden wir uns ja selbst auch mit verrathen! Also, Sie geben uns Ihre Hand?«

»Ja, hier ist sie.«

»So bekommen Sie heut Abend die übrigen zweihundert Mark, und den Wechsel in dem Augenblick, wenn Sie uns den Gefangenen überliefern. Wann wird das sein?«

»Das weiß ich noch nicht genau.«

»Baldmöglichst!«

»Gut! Morgen! Ich will es möglich zu machen suchen. Ist es Ihnen recht?«

»Natürlich! Zu welcher Tageszeit?«

»Des Abends.«

»Können Sie nicht ungefähr sagen, wann?«

»Nein. Zehn Uhr revidiren sie zum letzten Male, und zwölf Uhr erhalte ich die Schlüssel. Zwischen zehn und zwölf Uhr muß es geschehen.«

»Können Sie denn nicht eine List anwenden?«

»Natürlich muß es allemal eine List sein. Mit Gewalt erreiche ich nichts.«

»Aber die Ketten und Stange müssen Sie ihm abschließen.«

»Jawohl. Mit den Fesseln brächte ich ihn ja gar nicht fort. Ich will Ihnen Etwas sagen: Stehen Sie von zehn Uhr an draußen an der Gartenpforte, durch welche ich Sie heut eingelassen habe.«

»Dahin wollen Sie ihn bringen?«

»Ich hoffe es.«

»So bringe ich den Wechsel mit. Sobald der Gefangene frei durch die Pforte tritt, erhalten Sie das Papier.«

»Schön! Sehr gut! Ich verlasse mich auf Sie!«

»Aber bedenken Sie, daß übermorgen der Verfalltag des Wechsels ist. Da muß ich ihn präsentiren. Wenn Sie mir also morgen den Gefangenen nicht bringen, ists dann übermorgen zu spät. Dann könnte ich Ihren Sohn beim besten Willen nicht retten.«

»Gott, ja, es ist so wenig Zeit dazu!«

»Wenn Sie ernstlich wollen, werden Sie es dennoch fertig bringen.«

Er hatte das Seinige gethan und seinen Zweck erreicht. Er steckte den Wechsel wieder zu sich und wendete sich in russischer Sprache zum Pascha:

»Es ist geglückt. Sie hören, wie die Sachen stehen. Sind sie zufrieden?«


// 2407 //

»Ich muß, obgleich es mir viel lieber wäre, wenn ich den Gefangenen gleich jetzt mitnehmen könnte.«

»Das geht nicht an. Es käme heraus, daß der Schließer geholfen hat und dann - -«

»Bah! Was mache ich mir aus dem alten Kerl! Mögen sie ihn immerhin bestrafen!«

»Mir ist das auch sehr egal; aber es handelt sich auch um uns. Bestrafen sie ihn, so redet er und gesteht Alles. Es ist also viel besser, wenn man gar keinen Verdacht gegen ihn hegt. Uebrigens wüßten wir jetzt gar nicht, wohin mit dem Gefangenen.«

»Das ist richtig!«

»Wir müssen uns nach einem guten Ort umsehen, an welchem er sicher ist.«

»Wo einen finden!«

»Hm! Hier im Ort selbst nicht, sondern außerhalb desselben, wo es keine solche Beobachtung giebt wie in der Stadt.«

»Ich bin unbekannt.«

»Ich in der Umgegend auch.«

»Aber Sie sind länger hier als ich. Vielleicht entsinnen Sie sich doch einer Stelle, welche passend wäre.«

»Vielleicht, ja. Hm, da fällt mir ein. Eine halbe Stunde von der Stadt entfernt giebt es einen allein liegenden kleinen Meierhof. Vielleicht paßt dieser.«

»Kann man denn dort wohnen?«

»Ich hoffe es. Für gewöhnliche Badegäste ist die Entfernung unangenehm. Ich werde mit der Frau sprechen.«

»Ist eine Frau dort?«

»Ja, der Mann ist gestorben. Sie ist eine Wittwe, eine freundliche Frau. Vielleicht bringe ich sie dazu, auf meinen Wunsch einzugehen.«

»Aber sie darf um Gotteswillen nicht wissen - -«

»Unsinn! Ich werde sie doch nicht zur Mitwisserin unseres Geheimnisses machen.«

»Wie aber wollen Sie es anfangen?«

»Sehr einfach. Der Gefangene ist ein Verwandter oder vielmehr eine Verwandte von mir.«

»Richtig!«

»Gemüthskrank. Der Arzt hat die tiefste Einsamkeit und Seelenruhe angeordnet.«

»Das paßt sehr gut.«

»Alle fremde Gesichter regen sie auf; darum muß sie möglichst unbehelligt bleiben.«

»Herr Polizeiinspector, Sie sind wirklich ein höchst pfiffiger Kopf.«

»Nun,« lachte Schubert geschmeichelt, »wenn wir von der Polizei nicht pfiffig sein wollen, wer denn sonst?«

»So kann ich also diese Angelegenheit ganz ruhig in Ihre Hände legen?«

»Ja. Natürlich wage ich viel, indem ich den Gefangenen für eine Verwandte ausgebe!«


// 2408 //

»Wir werden Ihnen dankbar sein.«

»Im Falle er entdeckt wird, packt man natürlich mich als Mitschuldigen an.«

»Er wird und muß sich in Acht nehmen.«

»Davon bin ich überzeugt; es liegt das ja in seinem eigenen Interesse. Aber es fragt sich nur, ob er das nöthige Geschick hat.«

»Ich? Das Geschick?« lachte der Derwisch.

»Ja, das fragt sich.«

»Da brauchen Sie keine Sorge zu haben.«

»So! Soll mich freuen. Sie werden sich also als Frauenzimmer benehmen können?«

»Sehr gut.«

»Die Stimme!«

»Ich habe eine gute Fistelstimme, werde überhaupt nur sehr wenig sprechen.«

»Ganz recht. Der Bart muß natürlich herunter.«

»Ich rasire mich alle Tage!«

»Aber das darf Niemand bemerken. Verstanden! Aber was thun wir mit dem Haar?«

»Sollte es keine blonde Perrücke geben? Ich bin sehr brünett.«

»Am Besten ist's, ich gehe gleich früh nach dem Meierhof und fahre dann nach der Hauptstadt, wo sich wohl eine falsche Haartour finden wird.«

»Das ist das Allerbeste,« meinte der Pascha. »Aber Kleider brauchen wir ja auch dazu.«

»Soll ich sie aus der Hauptstadt mitbringen?«

»Ja. Ich zahle Ihnen den Preis zurück. Es wird dort wohl alles Nöthige vorhanden sein.«

»Alles. Und damit es gut paßt, werde ich jetzt Maaß nehmen. Ich bin zwar keine Schneiderin, besser ist aber besser.«

Er sah eine Schnur auf dem Fenster liegen und benutzte dieselbe, dem einstigen Derwisch das Maaß zu nehmen.

»So,« sagte er, »jetzt sind wir nun für heute zu Ende. Oder giebt es noch Etwas zu bemerken?«

»Nein.«

»O doch!« meinte der Gefangene. »Ich muß fragen, ob ich ganz sicher auf meine Befreiung rechnen kann.«

»Natürlich!« antwortete der Pascha.

»Gut! Wenn Sie mir das als sicher versprechen, so will ich warten, sonst aber - -«

»Was denn, sonst?«

»Sonst hätte ich selbstständig gehandelt.«

»Sie? Damit hätten Sie Ihre Lage auf alle Fälle nur verschlimmert.«

»Das fragt sich.«

»Ganz gewiß!«

»Pah! Ich habe nichts zu hoffen. Mich erwartet, wenn man mir den


// 2409 //

Prozeß macht, ewiges Gefängniß oder gar der Tod. Um einem solchen Schicksale zu entgehen, wagt man natürlich Alles.«

»In Ihren Fesseln!«

»Trotz meiner Fesseln. Diesen Eisenstab kann ich doch vielleicht biegen, daß ich die Hände zusammenbringe. Dann wäre Derjenige, der mit den Schlüsseln in mein Gewölbe käme, verloren. Ich würde ihn erwürgen und mich losschließen. Bekommen sollten sie mich nicht.«

»Das ist ein wahnsinniges Unternehmen!«

»Es kann es allerdings nur Einer wagen, der vom Leben nichts mehr zu erwarten hat, und so Einer bin ich.«

»Lassen Sie es lieber. Sie werden auf alle Fälle frei. Es liegt das ja in meinem Interesse.«

»Ja, ich bitte das nicht zu vergessen!«

Das erklang in einem sehr eindringlichen, fast drohenden Tone. Darum sagte der Pascha:

»Nun, zu fürchten brauche ich mich nicht.«

»Auch vor meinen Aussagen nicht?«

»Nein.«

»Da dürften Sie sich irren. Wenn ich reden wollte, wären Sie unbedingt verloren.«

»Oder auch nicht. Es fragt sich, ob man Ihnen glaubte.«

»Jedenfalls.«

»Hm! Vielleicht. Aber streiten wir uns nicht. Wir sind für heute Abend zu Ende. Morgen punkt zehn Uhr warten wir an dem Pförtchen.«

»Ich verlasse mich darauf. Aber da fällt mir noch Etwas ein, etwas sehr Wichtiges. Wenn ich hier um zehn Uhr entkomme, kann ich doch nicht nach dem Meierhofe. Das würde dort unbedingt auffallen.«

»Allerdings. Was ist da zu thun?«

»Das überlegen wir uns schon noch,« antwortete der Agent. »Am Klügsten ist es, wir spazieren nach einer entfernten Bahnstation und thun dann so, als ob wir mit dem ersten Frühzuge hier ankommen.«

»Da sieht man mich doch!«

»Erstens werden Sie tief verschleiert sein und zweitens werde ich dafür sorgen, daß vom Meierhofe ein Geschirr hier ist, um Sie abzuholen. Um aus dem Coupée in den Wagen zu kommen, bedarf es nur einer halben Minute, und das ist keine genügende Zeit für lange und ausreichende Studien. Noch besser ist's, wir steigen auf der letzten Station aus und lassen uns von dort abholen. Da bekommt uns hier gar Niemand zu sehen.«

Damit waren die beiden Andern einverstanden und der Schließer empfing die Mittheilung, daß die Unterredung für heute zu Ende sei.

Er brachte zunächst den Gefangenen in das Gewölbe zurück, wobei ihm von dem eingeweihten Schloßpersonale natürlich nicht das Mindeste in den Weg gelegt wurde. Dann begleitete er die beiden Lauscher wieder durch den Park und zu der Pforte hinaus. Ehe er verschloß, fragte er:


// 2410 //

»Noch einmal, meine Herren, bleibt es bei Dem, was wir ausgemacht haben?«

»Natürlich!« antwortete der Agent.

»Ich erhalte den Wechsel?«

»Sie übergeben uns hier an dieser Stelle den Gefangenen und erhalten dafür den Wechsel. Dabei bleibt es. Thun Sie Ihre Pflicht gegen Ihren Sohn und fangen Sie es klug an, so kann kein Schein des Verdachtes auf Sie fallen. Gute Nacht!«

Der Schließer kehrte in seine Stube zurück, wo er vorher die zweihundert Mark erhalten hatte.

An dem Tische saßen Sam, der Dicke, und der Russe Sendewitsch. Der Letztere hatte einen rothgefärbten Mehlteig abgenommen, mit welchem er seinem Gesichte das Aussehen einer Geschwulst gegeben hatte. Auch die verwechselte Kleidung hatte er bereits wieder umgetauscht.

»Das ist prächtig gelungen,« lachte Sam. »Wenn diese Esels wirklich nur halb so klug wären, wie sie sich halten, hätten sie mich entdecken müssen.«

Die eine Ecke der Stube wurde nämlich fast ganz von einem riesigen Kachelofen ausgefüllt. Das Häuschen, welches der Schließer bewohnte, war in jener Zeit, in welcher man sich derartiger Oefen bediente, gebaut worden. Hinter demselben war Sam versteckt gewesen und zwar trotz seiner Korpulenz so vortrefflich, daß er gar nicht bemerkt worden war.

Freilich, wenn der Pascha oder der Agent auf den naheliegenden Gedanken gekommen wären, hinter den Ofen zu blicken, so hätten sie ihn vielleicht doch entdeckt. Er hatte zusammengeduckt dagelegen, von einem alten Tuche überdeckt. Und nur dann später, als nicht mehr zu erwarten war, daß sie nachschauen würden, hatte er sich in die bequemere sitzende Stellung aufgerichtet.

Jetzt freute er sich königlich, daß sein listiger Anschlag von solchem Erfolge begleitet gewesen war. Er lachte fröhlich vor sich hin und meinte in seiner eigenartigen, lustigen Weise:

»Diese Menschen wollen Gefangene befreien und Frauen rauben. Sie haben nicht einmal das Geschick, einen Hund vom Ofen zu locken oder eine Katze zu entführen. Jetzt sind sie ganz glücklich, daß ihr Werk schon halb gelungen ist. O, wir werden dafür sorgen, daß es ganz gelingt.«

»Haben Sie denn Alles verstanden, was gesprochen worden ist?« fragte Sendewitsch.

»Das Türkische natürlich nicht. Dazu waren ja Sie da. Sie werden es mir erklären.«

Der jetzige Oberst in türkischen Diensten folgte dieser Aufforderung. Als er fertig war, sagte der Dicke:

»Schön! So kennen wir also ihren ganzen Plan und werden uns darnach verhalten.«

»Meinen Sie denn wirklich, daß wir ihnen den Gefangenen überlassen?«

»Natürlich!«


// 2411 //

»Mir scheint, als ob dies zu gefährlich sei.«

»In wiefern?«

»Wenn er nun entkommt!«

»Da haben Sie ja keine Angst. Der Kerl soll mir nicht entwischen. Dafür werde ich schon Sorge tragen.«

»Man weiß nie, was geschehen kann. Ein kleines, unvorhergesehenes Ereigniß kann Ihren ganzen Plan zu nichte machen.«

»Den meinigen nicht.«

»Haben Sie denn schon einen?«

»Versteht sich! Ich gehöre nicht zu denjenigen Menschen, welche, wenn Feuer bei ihnen ausbricht, sich erst lange fragen, ob sie aus dem Bette springen sollen oder nicht. Das muß gehen wie beim Kartenspiele: Wenn Einer trumpft, muß man ihm sofort und auf der Stelle einen höheren Trumpf draufsetzen. Und Trümpfe haben wir ja genug.«

»Wie nun, wenn sie sich die Sache anders überlegen, wenn sie auf den Gedanken kommen, sofort nach der Befreiung des Gefangenen Wiesenstein zu verlassen!«

»Das würde ich bemerken. Sie können sich denken, daß ich diese Menschen nicht aus dem Auge lasse.«

»Wird das nicht auffallen?«

»Nein. Ich müßte es sehr dumm anfangen, wenn es bemerkt werden sollte. Zunächst weiß ich, daß der Pascha im Hotel »Delphin« wohnt. Dort ist er sehr leicht zu überwachen. Einer von den beiden Geheimpolizisten, welche heut in der Weinstube dem Agenten Schubert die Wechselgeschichte plausibel gemacht haben, genügt, ihn im Auge zu behalten.«

»Aber grad das ist gefährlich.«

»Wieso?«

»Der Pascha kennt doch nun die beiden Männer.«

»Aber er hält sie für Getreidehändler.«

»Er würde aber von jedem Andern und Unbekannten leichter überwacht werden können.«

»Auch nicht leichter. Meinen Sie, daß der Polizist sich offen zur Schau hinstellt? Das fällt ihm gar nicht ein. Er hat sich nur mit dem Wirthe zu verständigen. Das ist Alles.«

»Hm!« brummte der Oberst nachdenklich.

»Da giebts gar nichts zu brummen. Der Pascha hat natürlich Gepäck mit, und zwar werthvolles. Es kann ihm gar nicht einfallen, plötzlich abzureisen und dasselbe im Stich zu lassen. Sobald er einpacken läßt, hat der Wirth das dem Polizisten zu melden. Damit ist die Sache abgethan.«

»Aber der Agent? Wie überwachen Sie ihn?«

»Durch den andern Polizisten, welcher sich in der Villa, die der Mensch seit heut bewohnt, einquartiren wird.«

»Verzeihen Sie! Dafür stimme ich nicht.«

»Sie meinen, der Agent werde Verdacht schöpfen?«


// 2412 //

»Unbedingt.«

»Pah! Zunächst stehen so einem Polizisten genug Mittel zur Verfügung, sich unkenntlich zu machen. Diese Leute sind in dieser Beziehung sehr erfahren und gewandt. Er hat sich natürlich hinter die Wirthin zu stecken. Vielleicht übernimmt er die Bewachung nicht selbst. Er ist verheirathet und kann seiner Frau diese Aufgabe anvertrauen. Jedenfalls kann der Agent nicht endgiltig hier abreisen, ohne daß wir es vorher erfahren.«

»Gut, ich will zugeben, daß diese beiden Personen, der Agent und der Pascha, uns nicht entkommen können. Wie aber steht es mit dem Derwisch?«

»Ganz ebenso.«

»Ich aber würde ihm nicht die Freiheit geben. Es ist das wirklich zu gewagt. Wie wollten Sie denn ihn beaufsichtigen?«

»Durch meine Auguste,« lächelte Sam.

»Wer ist das?«

»Das ist meine Braut, die bald meine Frau sein wird. Ich habe ihr telegraphirt, daß ich hier bin und einige Zeit hier bleiben werde. Sie kommt mit dem Vormittagszug hier an und ich quartire sie in die Meierei ein, in welcher der Derwisch als Frauenzimmer wohnen soll.«

»Hm!«

»Brummen Sie nicht abermals! Ich kann so ein Gebrumm nicht ausstehen.«

»Es fragt sich noch, ob Herr Steinbach Ihren gewagten Plan gutheißen würde.«

»Ganz gewiß. Ich kenne diesen Herrn so genau, daß ich seine Gedanken errathe. Wir müssen diesen Hallunken Gelegenheit geben, ihre Absichten auszuführen; erst dann können wir sie ihnen beweisen und dann wird ihre Strafe eine doppelt hohe sein. Nehmen Sie zum Beispiel den Pascha an. Was können wir gegen denselben vorbringen?«

»Alle seine früheren Thaten.«

»Die gehen den hiesigen Richtern nichts an, denn sie sind im Auslande geschehen.«

»Die Befreiung des Derwisches.«

»Ist eben nicht ausgeführt worden, wenn es nach Ihrem Willen gehen soll. Und überdies müssen Sie bedenken, daß sich dieser Gefangene nicht in den Händen der Behörde befindet. Wer ihn befreit, kann nicht bestraft werden, sondern vielleicht sind wir selbst straffällig, wenn wir einen Menschen ohne die Erlaubniß der hiesigen Behörde gefangen halten.«

»Die russischen Gerichte haben es erlaubt.«

»Aber die hiesigen nicht. Sobald wir die deutsche Grenze überschritten, galt die russische Genehmigung nicht mehr und wir waren gezwungen, den Kerl entweder frei zu lassen oder ihn den diesseitigen Behörden zu übergeben.«

»Nun, warum haben Sie dieses Letztere denn nicht gethan?«

»Weiß ich es? Es war Steinbach's Wille so und ich bin gewöhnt,


// 2413 //

den Wünschen dieses Herrn stets Folge zu leisten, denn ich habe erfahren, daß er immer das Richtige trifft.«

»Vielleicht war er grad hier unvorsichtig.«

»Schwerlich. Steinbach weiß stets ganz genau, was er will. Jedenfalls hat er gewisse Absichten, welche nicht zu erreichen sind, wenn er die Gerichte mit der Ausführung derselben betraut.«

»Mag Alles sein. Mir aber scheint, Sie riskiren zu viel.«

»Pah! Ich habe in meinem Leben schon oft viel mehr gewagt. Denken Sie, welch ein Gaudium es sein wird, wenn diese drei Kerls sich rächen wollen und dabei doch selbst in die Falle gehen! Welchen Spaß muß es geben, wenn sie glauben, Zykyma und Tschita zu entführen und - - -«

»Was!« fiel der Oberst erschrocken ein. »Auch das wollen Sie zugeben?«

»Freilich!«

»Das wäre fatal!«

»Pah! Ich würde dafür sorgen, daß sie die beiden Damen nicht lange haben würden.«

»Zugegeben, daß Ihnen das gelingt, so ist es doch für solche Damen schon ein Unglück, sich nur für eine Stunde in der Gewalt dieser Menschen zu befinden.«

»Da gebe ich Ihnen Recht. Aber wie nun, wenn sie die beiden Damen gar nicht bekommen?«

»Wenn sie sie entführen sollen, müssen sie sie ja bekommen?«

»Oder Andere.«

»Ah, Sie wollen andere Personen unterschieben?«

»Ja.«

»Das würden sie merken.«

»Schwerlich. Die That wird natürlich des Nachts geschehen und wir werden unsere Vorbereitungen so gut treffen, daß der Anschlag gar nicht mißlingen kann.«

»Mag sein; aber ich bleibe dabei, daß Sie viel zu kühn, ja verwegen sind.«

»Und Sie sind viel zu bedenklich. Ich bin vollständig überzeugt, daß Steinbach später Alles gutheißen wird, was ich unternehme. Uebrigens ist es ja auch noch gar nicht so bestimmt und sicher, daß meine Absichten zur Ausführung kommen. Es haben andere Leute vorher ihre Zustimmung zu ertheilen und darum werden wir uns jetzt zu Normann begeben. Dort wird es sich entscheiden, was wir thun werden.«

Als sie nun Miene machten, aufzubrechen, fragte der Schließer:

»Wollen Sie mir nicht für morgen Ihre Befehle ertheilen, Herr Barth?«

»Da giebt es gar nichts zu befehlen. Sie wissen ja, was Sie zu thun haben.«

»Ich antworte ihnen den Gefangenen aus?«

»Ja und nehmen dafür den Wechsel in Empfang.«


// 2414 //

»Ich werde gehorchen, lehne aber natürlich jede Verantwortlichkeit von mir ab, wenn sich später Differenzen herausstellen sollten.«

»Sie handeln in meinem Auftrage und ich verantworte Alles. Ich bin es, der Ihnen den Gefangenen übergeben hat, folglich bin ich es auch, der über ihn verfügen darf. Was ich thue, brauchen also nicht Sie zu verantworten. Sollte ich meinen Plan ändern, so komme ich, es Ihnen mitzutheilen. Erhalten Sie aber keine solche Benachrichtigung, so lassen Sie den Kerl frei.«

»Wie habe ich mich des Tages über zu ihm zu verhalten?«

»Sie thun heimlich freundlich mit ihm. Stecken Sie ihm etwas gutes Essen zu, irgend eine Delikatesse, einige Cigarren vielleicht; das wird ihm Vertrauen zu Ihnen machen. Und nun wollen wir gehen. Es giebt hier nichts mehr zu besprechen. Da jedoch die Möglichkeit vorliegt, daß der Pascha und der Agent sich noch in der Nähe des Schlosses befinden, vielleicht um zu lauschen, und zu recognosciren, so werden Sie uns jetzt so hinaus lassen, daß wir nicht bemerkt werden können.«

»Da giebt es eben nur dasselbe Pförtchen, durch welches ich auch die Beiden gehen ließ.«

»Gut! Dort sind sie jedenfalls nicht stehen geblieben, denn dort an der einsamen Mauer giebt es ja nichts zu erfahren. Wenn sie lauschen, so thun sie das an den offenen Seiten des Schlosses. Kommen Sie!«

Er wurde mit dem Oberst durch das Pförtchen gelassen. Dabei machten sie aber so leise, daß selbst auf nur einige Schritte hin nicht das geringste Geräusch zu hören war. Dann schlichen sich die Beiden der Mauer entlang und der Straße zu, welche den Schloßberg hinabführte.

Sie wollten nach Normanns Villa und hielten sich auf dem Wege dorthin stets so im Schatten, daß sie nicht gesehen werden konnten.

Nur wenige Laternen brannten noch. Ein einsamer Wanderer kam ihnen entgegen, aber auf der andern Seite der Straße.

»Stillstehen!« flüsterte Sam. »Drücken Sie sich hier eng an den Zaun. Die Laterne beleuchtet uns nicht. Wir können nicht gesehen werden.«

Sie verhielten sich ruhig. Der Mann ging jenseits langsam vorüber. Er kam dabei in den Kreis des Laternenlichtes.

»Kennen Sie ihn?« flüsterte Sam.

»Ja. Es war der Pascha.«

»Er hat den Agenten nach Hause begleitet. Wie unvorsichtig von den beiden Kerls!«

»Sie scheinen so sicher zu sein, daß ihr Anschlag gelingen werde, daß sie eine so strenge Vorsicht gar nicht mehr für geboten halten.«

»Das ist gut für uns. Nun kommt es zunächst darauf an, zu erfahren, ob der Agent auch wirklich schon daheim ist oder ob er sich vielleicht im Garten herumschleicht. Er darf uns natürlich nicht zu Normanns kommen hören. Gehen wir nach seiner Wohnung. Aber treten Sie leise auf.«

Sie bewegten sich vorsichtig weiter. Als sie die Villa Normanns, dessen


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Grundstück eine Ecke bildete, erreichten, huschten sie links ab. Bald bemerkten sie in des Agenten Wohnung Licht und da die Gardinen nicht genau schlossen, sahen sie sogar seine Gestalt. Er war barhäuptig und hatte auch schon den Rock ausgezogen. Sie bemerkten ganz deutlich, daß er sich soeben seiner Halsbinde entledigte.

»Der ist daheim und geht nicht wieder fort,« meinte Sam. »Wir sind sicher. Aber dennoch dürfen wir bei Normanns nicht klingeln; das könnte ihm auffallen. Wir steigen über den Zaun. Sie bringen das doch fertig?«

»Nicht schwerer als Sie.«

Sie stiegen leise über und huschten nach dem Eingange des Hauses. Dieses Letztere zeigte keine Spur von Licht. Die Läden waren verschlossen, denn der Agent sollte nicht ahnen, daß die Bewohner alle noch wach und munter seien. Sam klopfte leise an der Thür und es wurde sofort geöffnet. Man hatte ihn bereits mit Ungeduld erwartet.

Sie saßen Alle im Salon. Die erste Aufregung des Wiedersehens war vorüber; man hatte sich einstweilen wenigstens oberflächlich die gegenseitigen Leiden und Erlebnisse mitgetheilt und wenn die Herzen auch noch lange nicht zur Ruhe gekommen waren, so war doch die nöthige Fassung vorhanden, Sams Bericht entgegen zu nehmen und die darauf bezüglichen Beschlüsse zu fassen.

Was für Beschlüsse das waren, das sollte sich bereits am nächsten Morgen zeigen.

Der Agent Schubert stand sehr zeitig auf, um mit dem frühen Morgenzug nach der Residenz zu fahren. Er kam gerade zur rechten Zeit, sich ein Retourbillet zu lösen und dann in ein Coupee zweiter Classe zu steigen.

Er hatte eine Dame, welche einsam und wartend in der Nähe des Einganges zum Bahnhofsgebäude stand, gar nicht beachtet. Als sie ihn kommen sah, trat sie zurück und ließ ihn vorüber. Dann als er sein Coupee bestiegen hatte, nahm sie in einem solchen dritter Classe Platz.

Sie war vielleicht in der Mitte der Zwanziger stehend, sehr hübsch und hatte ein vornehmes Aussehen. Man mußte der Meinung sein, daß sie unbedingt den besseren Ständen angehöre. Wirklich rückten auch die Passagiere, welche bereits in dem Coupee saßen, respectvoll zusammen, denn eine Dame in Schleier und grauseidenem Reisekleide ist in dritter Classe eine Seltenheit.

Als der Schaffner erschien, um die Billets zu coupiren, war er sehr verwundert, als er von ihr ein solches zweiter Classe erhielt. Da sie aber so vornehm mit der Hand winkte, schwieg er. Sie mochte ihren besonderen Grund haben, dieses Coupee gewählt zu haben.

In der Residenz angekommen, ließ sie erst die Anderen aussteigen und blieb auch dann noch eine kurze Zeit im Wagen. Sie blickte vorsichtig zum Fenster hinaus, um den Agenten zu beobachten. Als derselbe den Perron verlassen hatte, stieg sie aus und ging ihm nach. Er nahm eine Droschke und fuhr fort. Sogleich bestieg auch sie eine solche und gab dem Kutscher den Befehl, ihm zu folgen und stets in einiger Entfernung hinter ihm zu halten, wo er auch halten lasse, doch so, daß es nicht auffallen könne.


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So folgte sie ihm überall hin, zu einigen Friseuren und in mehrere Wäsche- und Confectionsgeschäfte.

Er schien es sehr eilig zu haben. Er wollte bereits mit dem nächsten Zuge zurück, denn er hatte ja so viele Vorbereitungen zu treffen und noch im Laufe des Vormittags nach der erwähnten Meierei zu gehen, um dort dem verkleideten Derwisch ein Logis zu miethen.

Als er seine Einkäufe gemacht hatte, fuhr er direct nach dem Bahnhofe, obgleich er bis zum Abgange des Zuges mehr als eine halbe Stunde Zeit hatte. Die Dame fuhr hinter ihm her. Während er noch mit den eingekauften Packeten zu thun hatte, stieg sie aus, bezahlte den Kutscher, gebot ihm Schweigen, welchem Befehl sie durch ein gutes Trinkgeld Nachdruck gab, löste sich nun ein Billet zweiter Classe und trat in den Wartesalon dieser Classe ein.

Bald kam auch er herein, gefolgt von dem Kutscher, welcher ihm die Effecten nachtrug.

Die Dame that, als ob sie ihm keine Aufmerksamkeit schenke, beobachtete ihn aber nichts desto weniger sehr genau.

Sie war in dergleichen nicht unerfahren. Sie war die Schwester jenes Geheimpolizisten, welcher sich gestern für den Getreidehändler Weber ausgegeben hatte. Sie war von demselben oft benutzt worden, geheime Aufträge auszuführen, welche in die Hand einer Dame gelegt werden mußten und hatte sich da eine gute Uebung angeeignet. Als der Agent den Kutscher abgelohnt hatte, sah er sich im Saale um. Er erblickte die Dame und beobachtete sie. Sie war jung, schön, vornehm und, wie es schien, wohlhabend. Für solche Damen pflegt ein Agent sich zu interessiren. Darum sah er sie daraufhin an, ob er es wohl wagen könne, ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen.

Sie schien ihm jetzt auch einige Aufmerksamkeit zu widmen, allerdings mit der nöthigen weiblichen Zurückhaltung. Er sah, daß sie sich langweilte. Das ließ ihn hoffen, daß sie eine höfliche Anfrage seinerseits wohl nicht streng zurückweisen werde.

Er stand auf und wanderte langsam im Saale auf und ab wie Einer, dem die Zeit sehr lang wird. Sie merkte seine Absicht sehr wohl; sie hegte ja ganz dieselbe; sie wollte womöglich in ein und dasselbe Coupee mit ihm fahren. Um ihm die Annäherung zu erleichtern, wartete sie, bis er abermals an ihr vorüberschritt und stieß dann scheinbar aus Versehen ihren Schirm um, welcher am Stuhle lehnte. Sofort sprang er herbei und bückte sich, denselben aufzuheben und ihr darzureichen.

Sie bedankte sich natürlich auf das Allerhöflichste und nun hatte er Veranlassung, von ihr keine Zurückweisung zu erwarten.

»Wie lange das dauert,« sagte er seufzend. »Man ist verwöhnt. Die Beförderung des Menschen, wenn er sich auf Reisen befindet, ist gegen früher eine unvergleichlich schnelle und doch begnügt man sich nicht damit. Man möchte am Liebsten mit der Schnelligkeit des Telegraphen fahren.«


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»Sind die Herren der Schöpfung wirklich so unbescheiden?« fragte sie lächelnd.

»O, unbescheiden ist es nicht. Man pflegt eben der Zeit und ihren Erfindungen gern vorauseilen zu wollen. Ich möchte das lieber Ungeduld nennen. Denken Sie sich, wie unbequem es ist, tagelang im Coupée sitzen zu müssen!«

»Das muß allerdings ermüdend sein.«

»Schrecklich! Ich habe das sehr oft erfahren.«

»Befinden Sie sich auch jetzt auf einer so weiten Tour?«

»Nein. Und Sie?«

»Auch meine Reise ist kurz.«

»Ich fahre nur nach Wiesenstein.«

Dabei blickte er sie auffordernd an, als ob er nun dafür auch von ihr die Mittheilung erwarte, wohin sie fahre.

»Ich ebenfalls,« antwortete sie, sehr genau auf seine Absicht eingehend.

»Freut mich, freut mich!« sagte er. »Ich bin als Sommerfrischler dort.«

»Und ich habe eine Verwandte dort, welche ich zu besuchen gedenke.«

»Mir ist, als ob ich Sie bereits gesehen habe, gnädiges Fräulein. Entschuldigen Sie!«

Das war keine Redensart. Sie wohnte ja dort und darum war es nicht nur möglich, sondern sogar sehr wahrscheinlich, daß er sie gesehen hatte.

»Möglich,« antwortete sie. »Ich bin sehr oft in Wiesenstein. Ich habe mich mit der Tante so lieb, daß sie mich nur ungern scheiden läßt. Und kaum bin ich fort, so soll ich wiederkommen.«

»Damit geben Sie sich selbst ein sehr vortreffliches Zeugniß, gnädiges Fräulein. Wer so geliebt wird, ist auch werth, geliebt zu sein.«

»O bitte!« meinte sie erröthend.

»Und ebenso liebenswürdig muß auch Ihre Frau Tante sein. Ich möchte wohl wissen, ob ich sie kenne.«

»Wohl schwerlich.«

»Vielleicht doch!«

»Sie lebt sehr zurückgezogen.«

»Und Sie also auch, wenn Sie sich dort befinden.«

»Allerdings. Ich muß mich natürlich den Gewohnheiten der Tante fügen, obgleich ich eine kleine Zerstreuung sonst nicht zurückweise.«

»Ah, recht so! Das Leben gehört der Jugend, wenn ich auch der Genuß- und Vergnügungssucht das Wort nicht rede. Wer eine Tante ist, mag sich der Einsiedelei hingeben; aber wer eine solche Nichte ist wie Sie, der hat gewisse heilige Rechte an das Leben, welche man nöthigenfalls gegen jede alte griesgrämige Tante vertheidigen muß.«

»O, griesgrämig ist die meinige nicht. Wir wohnen wunderbar schön in der allerdings etwas abgelegenen Schillerstraße und ich - - -«

»Schillerstraße?« fiel er ein. »Da wohne ich ja auch. Sie ist sehr kurz; die eine Seite wird nur ausschließlich aus Gärten gebildet und auf


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der andern Seite giebt es ja nur drei Häuser. Fast habe ich Lust, zu glauben, daß - - -«

Er hielt inne und ließ seinen erfreuten Blick auf ihr ruhen.

»Was wollen Sie glauben?« fragte sie.

»Daß - hm, ich weiß zwar nicht, wer die dritte Villa bewohnt, ob auch dort eine allein stehende Dame vorhanden ist. Aber Sie sagten, Ihre Frau Tante sei Wittwe?«

»Ja.«

»Bitte, wie heißt sie?«

»Frau Berthold.«

»Ahnte ich es doch. Bei dieser Dame wohne ich!«

»Wirklich? Oder irren Sie sich?«

»Ein Irrthum ist ausgeschlossen.«

»Aber ich weiß ja nichts davon.«

»Ich bin erst seit ganz Kurzem bei ihr.«

»Sie hätte es mir geschrieben!«

»Ich wohne seit gestern dort.«

»Ah, das ist etwas Anderes. Sie weiß, daß ich heut komme. Da hat sie es mir nicht geschrieben, selbst wenn sie andernfalls die Absicht gehabt hätte, es mir sofort mitzutheilen.«

»So bin ich herzlich erfreut, mich Ihnen bereits hier vorstellen zu können. Mein Name ist Schubert; ich bin Polizeiinspector.«

»Polizeiinspector! O weh!« rief sie lächelnd.

»Warum?«

»Ich habe eine gewisse Angst vor Alles, was Polizei heißt oder mit derselben zu thun hat.«

»Bitte, sich nicht zu fürchten. Ich bin allerdings Polizeiinspector, aber außer Dienst.«

»Das beruhigt mich.«

»Freut mich! Glauben Sie, am Bahnhofe von Ihrer Frau Tante abgeholt zu werden?«

»Jedenfalls.«

»So bitte ich, Sie wenigstens bis dahin unter meinen Schutz nehmen zu können.«

»Giebt es vielleicht Gründe, mich zu beschützen?«

Sie blickte sich in komischer Angst um.

»O nein,« lachte er. »Sie sehen mir trotz Ihrer gegentheiligen Versicherung gar nicht so furchtsam aus. Ich traue Ihnen vielmehr ein sehr gutes Theil Muth zu.«

»Irren Sie sich nicht?«

»Sie wissen wohl noch nicht, daß die Polizei sich niemals irrt.«

»In mir jedenfalls doch.«

»Dann sind Sie ein so interessanter weiblicher Charakter, daß ich schon aus psychologischem Interesse wünschen muß, Sie kennen zu lernen.«


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»O, meine Wenigkeit ist so unbedeutend!«

»Das glaube ich nicht. Also, darf ich?«

»Was?«

»Sie kennen lernen?«

»Ist das vielleicht für mich mit Unannehmlichkeiten verknüpft?«

»O nein.«

»Nun, dann wollen wir es versuchen.«

»Und gute Freundschaft halten?«

»Vielleicht! Wenn Sie es werth sind.«

»O, versuchen Sie es nur! Zunächst bitte ich also, bei Ihnen Platz nehmen zu dürfen.«

Sie nickte zustimmend, und er setzte sich nieder.

Diese kurze Unterhaltung war von ihr in einer so reizend neckischen Weise geführt worden, daß er sich ganz gefangen fühlte. Er fand ein so großes Interesse an ihr, daß er seine sonstige Vorsicht, genau zu prüfen, vergaß.

Und in dem angefangenen heiteren Tone wurde das Gespräch fortgeführt.

»Wie lange werden Sie in Wiesenstein bleiben?« erkundigte er sich angelegentlich.

»Wohl nur kurze Zeit.«

»Wie schade!«

»Warum?«

»Die Antwort liegt bereits in meinem Ausrufe. Warum bleiben Sie nicht länger?«

»Weil ich keine Veranlassung dazu habe.«

»Sind Sie nicht Herrin Ihrer Zeit?«

»Sogar vollständig. Ich stehe ganz allein.«

»Wirklich? Sie haben keine Familie?«

»Nein. Ich bin - eine alte Jungfer.«

»Na,« meinte er heiter, »wollte Gott, daß es lauter solche alte Jungfern gebe, da würden die alten Junggesellen sehr bald alle werden!«

»Schmeichler!«

»Wahrheit!«

»Gehören Sie vielleicht auch zu dieser Menschenklasse?«

»Nein, ich bin nur Wittwer.«

»Das ist gleich. Ich hoffe, Sie bleiben ledig.«

»Hoffen? Wieso?«

»Was man erhofft, ist doch stets etwas Gutes?«

»Allerdings.«

»Nun, also ist es auch etwas sehr Wünschenswerthes, daß Sie von jetzt an ledig bleiben, denn Sie werden und machen dann nicht unglücklich.«

»Ah, Sie halten die Ehe für ein Unglück?«

»Für das größte, welches es giebt.«

»Andere denken anders.«

»Die verstehen es nicht.«


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»Verstehen Sie es vielleicht besser?«

»Ja.«

»Als unverheirathete Dame!«

»Grad weil ich nicht verheirathet bin, sind meine Augen hell genug, alle Schatten zu erkennen.«

»So hat der ledige Stand keine Schatten?«

»Auch, aber keine so großen.«

Sie war wirklich allerliebst in ihrem reizenden Uebermuthe. Es wurde ihm ganz eigenthümlich zu Muthe. Es entfuhr ihm:

»O, wenn ich Sie bekehren könnte!«

»Glauben Sie denn anders als ich?«

»Muß ich denn nicht!«

»Warum?«

»Weil ich Sie vor mir sehe. Wer so vor Ihnen sitzt, wie ich, der kann unmöglich glauben, daß die Ehelosigkeit glücklich mache.«

»Diesen Grund erkenne ich nicht an.«

»Aber ich sehe und fühle ihn. Auch ich habe zu Ihrer Fahne geschworen gehabt; ich hatte mir fest vorgenommen, nie wieder zu heirathen. Seit ich aber Sie sehe, sind diese Entschlüsse sehr ins Wanken gerathen.«

»Geht das so rasch bei Ihnen?«

»Sonst nicht; aber es schlägt für jeden Menschen einmal die Stunde.«

»Lassen Sie es ausschlagen; dann ists vorüber!«

»Nein, dann beginnt es erst recht.«

Da gab die Perronglocke das Zeichen, daß der Zug im Herannahen sei.

»Haben Sie Gepäck?« fragte der Agent, indem er von seinem Sitze aufstand.

»Es ist schon vorausgesandt.«

»Darf ich bitten, daß wir zusammenbleiben?«

»Gern.«

»So kommen Sie.«

Er winkte einen der Kofferträger herbei, der ihm die Packete nach dem Coupée tragen sollte, und gab dann der Dame den Arm, um sie hinaus zu führen. Sie nahm diese Höflichkeit als etwas ganz Selbstverständliches an.

Der Zug war ein durchgehender; er kam von weit her. Viele stiegen aus und Viele ein. Der Agent wünschte ein unbesetztes Coupée, erhielt aber von dem achselzuckenden Schaffner den Bescheid, daß kein solches vorhanden sei; ein einziges sei nur von einer Dame besetzt. Schubert erklärte sich bereit, dasselbe zu nehmen.

Die betreffende Dame war nicht mehr zu jung. Sie hatte wohl die Vierzig überschritten und war sehr anständig, aber nicht grad elegant gekleidet. Die vielen Handgepäckstücke, welche sie bei sich hatte, ließen vermuthen, daß sie weit herkomme.

Der Agent grüßte sie gar nicht. Er ärgerte sich darüber, mit seiner


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neuen Bekanntschaft nicht allein sein zu können. Diese Letztere nickte der Anderen herablassend zu und setzte sich dann Schubert gegenüber.

Als der Zug sich dann in Bewegung setzte, beeilte sich der Letztgenannte, die unterbrochene Unterhaltung wieder anzuknüpfen. Er befriedigte sich nach und nach immer mehr, als er bemerkte, daß die erste Passagierin ihnen gar keine Aufmerksamkeit schenkte und sich nur damit unterhielt, die scheinbar vorüberfliegende Gegend zu betrachten. Von ihr war keine Störung der Unterhaltung zu befürchten. Sie hörte vielleicht gar nicht auf dieselbe.

Schubert betrachtete zunächst sein reizendes Gegenüber genauer, doch ohne aus den Grenzen des Anstandes heraus zu treten. Sie war wirklich reizend. Eine Büste zum Entzücken und eine Taille zum Umfassen. Sie hatte sich des einen Handschuhes entledigt und ließ nun ein kleines, schneeweißes Händchen sehen, dessen rosige Nägel aus Blüthenduft geformt zu sein schienen. Das Gesicht war weich und doch geistreich. Ihm war anzusehen, daß die schöne Dame gewöhnt war, nachzudenken und selbstständig zu handeln.

Sie sah, daß er sie betrachtete, machte aber keine Bewegung, irgend einen Theil ihrer Gestalt seinen Blicken zu entziehen. Das gefiel ihm. Sie war nicht prüde. Er hatte das, was er jetzt fühlte, noch niemals beim Anblick einer Dame empfunden. Sie paßte für ihren heimlichen Beruf. Sie war ganz geeignet, Diejenigen, auf welche sie es abgesehen hatte, für sich auf's Tiefste zu interessiren.

»Ich wollte,« entfuhr es ihm mitten in seinen Gedanken, »ich könnte so mit Ihnen weiter fahren, weit, sehr weit:«

»Fahren Sie so gern? Vorhin sagten Sie das grade Gegentheil.«

»Nur mit Ihnen!«

»Das wäre doch zu sonderbar. Um bei Jemandem zu sein, braucht man doch nicht immer mit ihm zu fahren.«

»Das wohl; aber nur beim Fahren erhält man leichter die Gelegenheit, in der Nähe eines Menschen zu sein, den man sonst wohl meiden müßte.«

»Wollen Sie damit sagen, daß sie gern bei mir sein möchten?«

»Ja, grad das will ich sagen. Nehmen Sie mir das vielleicht übel?«

Sie blickte ihm nachdenklich, aber nicht zornig in die Augen und antwortete dann mild:

»Wenn ein Anderer mich nach so kurzer Bekanntschaft so fragte, würde ich ihn aus dem Coupée weisen lassen.«

»Mich aber nicht?«

»Nein. Sie könnte ich doch nicht in dieser Weise kränken.«

Er ergriff ihre eine entblößte Hand und drückte dieselbe an seine Lippen. Er flüsterte:

»Ich danke Ihnen. Sie glauben nicht, wie glücklich Sie mich mit diesen Worten machen.«

»Glücklich? O, ich höre, daß ich mich also dennoch in Ihnen irre. Ich glaubte, Sie richtig beurtheilt zu haben.«

»Sagen Sie, wie haben Sie mich beurtheilt?«


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»Ich hielt Sie für einen Mann von ernsten, gereiften und soliden Eigenschaften.«

»Nun, bin ich das nicht?«

»Es scheint nicht so.«

»Warum? Was habe ich gethan, daß Sie dieses beglückende Urtheil so plötzlich ändern?«

»Nichts weiter, als daß Sie zu schmeicheln beginnen. Und Schmeichelei ist mir verhaßt.«

Es war ein Blick herzlichen Bedauerns, ein Blick der Enttäuschung, mit welchem sie durch das Fenster sah.

»Nehmen Sie dieses Urtheil zurück,« bat er dringend. »Ich bin nie im Leben ein Schmeichler gewesen. Meine Berufsstellung hat es nicht mit sich gebracht, daß ich den Leuten Sottisen sage. Sie meinten ja vorhin selbst, daß Sie sich vor Allem, was Polizei heißt, fürchten. Was ich sagte, ist aus dem Grunde meines Herzens gekommen.«

Da hellte sich ihr Gesicht zu einem schalkhaften Lächeln auf, als sie antwortete:

»Ja, auch vor Ihnen möchte ich mich fürchten. Es giebt Menschen, Menschen, die -«

Sie stockte.

»Was wollten Sie sagen? Sprechen Sie weiter!«

»Ich wollte sagen, daß es Menschen giebt, die man fürchten muß, auch wenn sie keine Polizeibeamten sind.«

»Warum?«

»Weil sie - gefährlich werden können.«

Er wußte nicht, ob er sie richtig verstand. Was hatte sie sagen wollen? Sprach sie aus dem Herzen oder wollte sie ihn nur äffen?

Aeffen! Hätte sie ihm in diesem Falle die Hand gelassen, die er seit dem Kusse bis jetzt festgehalten hatte? Wohl kaum. Dieses Mädchen hatte es ihm angethan. Drei kleine Viertelstunden erst kannte er sie, und doch war es ihm, als ob sie eine Macht auf ihn ausübe, der er unmöglich zu widerstehen vermöge.

»Ich kann Ihnen doch nicht gefährlich werden!« meinte er in halb zärtlichem Flüstertone.

Sie sagte nichts. Sie zuckte kaum merklich die volle Achsel und blickte zum Fenster hinaus.

»Oder haben Sie wirklich gemeint, daß Sie sich vor mir hüten müßten?«

»Ja,« nickte sie.

»Warum? Komme ich Ihnen wie ein gefährlicher Mensch vor?«

»Das eben habe ich bereits vorhin gesagt.«

»Also doch gefährlich! Aber inwiefern?«

»Seelisch.«

Indem sie das sagte, schlug sie die Augen nieder, und eine feine Röthe glitt über ihr Gesicht.


// 2423 //

Fast wäre auch er roth geworden, vor glücklicher Verlegenheit. Er, der gereifte Mann, der Wittwer, sollte Eigenschaften besitzen, welche geeignet seien, ihm in so kurzer Zeit so ein reizendes Wesen zu gewinnen! Es durchfluthete ihn eine Genugthuung, wie er sie in seinem ganzen Leben noch nie empfunden hatte.

»Seelisch, seelisch,« wiederholte er. »Sie wollen mich in Verlegenheit bringen!«

»Nein, das beabsichtige ich nicht.«

Und während ein neckisches Lächeln über ihr Gesicht flog, fuhr sie fort:

»Uebrigens würde das nur eine sehr gerechte Strafe für Sie sein, da Sie ja vorhin bezweckten, mich in Verlegenheit zu setzen.«

»Das hat mir nicht einfallen können. Es ist weder meine Absicht gewesen, Ihnen zu schmeicheln, noch Ihnen das innere Gleichgewicht zu rauben. Ich habe ganz einfach nur meinen Gefühlen Ausdruck verliehen. War das ein Unrecht, so bitte ich um Verzeihung. Ich habe es freilich nicht für möglich gehalten, daß ein einziger Augenblick im Stande sei, im Herzen eines sonst so kaltblütigen Mannes eine solche Revolte hervorzubringen.«

»Bitte, schweigen Sie!« bat sie ängstlich.

»Und doch möchte ich so gern weiter sprechen.«

»Nein, nein!«

Sie entzog ihm jetzt ihre Hand, erst jetzt.

»Gut, wenn Sie es wünschen, so werde ich schweigen. Aber ich knüpfe zwei Bedingungen daran.«

»Haben Sie das Recht, Bedingungen zu machen?«

»Nein, aber ich bitte dennoch um die Erlaubniß, sie aussprechen zu dürfen.«

»So will ich es erlauben.«

»Ich behalte mir vor, auf den Gegenstand unseres Gespräches zurückkommen zu dürfen.«

»Wäre das nicht zwecklos?«

»Von meiner Seite nicht. Darf ich?«

Erst nach einigem Nachdenken antwortete sie:

»Ich kann Ihnen nicht verbieten, zu sagen, was Ihnen beliebt. Ich bin ja nicht gezwungen, es anzuhören.«

»Nein, Sie sind nicht verpflichtet dazu, aber ich würde mich sehr glücklich fühlen, wenn Sie mir dennoch Ihr Ohr leihen wollten.«

»Vielleicht.«

»Nein, nicht vielleicht, sondern gewiß!«

»O bitte, seien Sie doch nicht so dringend. Wer wird eine Festung stürmen, noch bevor er die Laufgräben eröffnet hat!«

»Gut, ich werde die Laufgräben eröffnen. Ich constatire, daß bereits die erste Parallele angelegt ist. Und nun komme ich zu meiner zweiten Bedingung - -«

»Bitte, bitte, keine Bedingung weiter!«


// 2424 //

»Verzeihung, ich muß doch -«

Er wollte ihre Hand wieder ergreifen; sie aber entzog sie ihm und fiel ihm in die Rede:

»Nein. Ich mag keine weitere hören: Ihre Bedingungen scheinen so zu sein, daß man viel leichter auf dieselben eingehen kann, wenn man sie gar nicht anhört.«

»Ah, gnädiges Fräulein, das ist ein Trost!«

»Das finde ich nicht.«

»O doch! Ich werde Ihnen also gar keine Bedingung stellen. Ich werde die Festung stürmen, ohne vorher paralamentirt zu haben.«

»Sind Sie so kühn?«

»Unter Umständen, ja. Hassen Sie den Muth?«

»O nein, ich liebe vielmehr die Verwegenheit, wenn sie - nicht gegen mich gerichtet ist.«

»Gegen, gegen Sie gewiß nicht, denn es soll ja Alles für Sie und nicht wider Sie geschehen.«

»Schön! Nun aber lassen wir diesen heiklen Gegenstand fallen. Hoffentlich haben Sie andere und bessere Mittel, eine Mitreisende zu unterhalten.«

Er schüttelte den Kopf.

»Bessere gewiß nicht. Aber Sie haben recht. Wir können ja von den herkömmlichen Alltäglichkeiten sprechen, von Wind und Wetter, Krieg und Frieden, von dem Kartoffelkäfer und der letzten Sonnenfinsterniß.«

»Ah, also auch ironisch können Sie sein!«

»Wenn es gewünscht wird, ja; eigentlich aber habe ich keine besondere Anlagen dazu.«

»So lassen wir es lieber sein. Wie gefällt Ihnen meine Tante, Frau Berthold?«

»Sie ist eine gute, ehrwürdige Frau, der ich eine solche Nichte von Herzen gönne.«

»Beginnen Sie nicht schon wieder! Haben Sie sich auch den benachbarten Herrschaften vorgestellt?«

»Wen meinen Sie?«

»Maler Normanns.«

»Hm, ja!«

Er sagte das in gedehntem Tone.

»Das sprechen Sie so verdrießlich aus. Sind Sie vielleicht nicht angenommen worden?«

»O doch.«

»Schon glaubte ich, Sie seien abgewiesen worden, was bei Normanns gar nicht zu verwundern wäre. Sie leben sehr einsam und beabsichtigen nicht, Bekanntschaften anzuknüpfen.«

»Das scheint allerdings so.«

»Nicht wahr? Also daß Sie überhaupt vorgelassen worden sind, ist bereits eine Ausnahme, über welche Sie sich freuen können.«


Ende der einhundertersten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Deutsche Herzen, deutsche Helden

Karl May – Forschung und Werk