Das offene Feld
Verfasst: 1.12.2013, 16:36
Nach fast vierzig Jahren habe ich mir noch einmal Karl Mays Im Reiche des Silbernen Löwen, Band 1 vorgenommen. Gerade über den in Amerika spielenden Teil des Romans war ich doch ein bißchen überrascht. Hatte gar nicht mehr in Erinnerung, wie schlecht gelaunt und besserwisserisch Old Shatterhand hier daherkommt. Eine Erklärung für sein seelisches Tief ist wohl, daß die Handlungszeit dieser Episode kurz nach Winnetous Tod angesiedelt ist. Entstanden ist der Amerika-Teil denn auch „schon im Herbst 1893, im zeitlichen und thematischen Anschluß an Winnetou III“. (Hermann Wohlgschaft: Karl May. Leben und Werk. Zweiter Band. Bargfeld 2005, S. 1069). Old Shatterhand trifft hier auf die beiden Snuffles: Die (...) wollten partout nicht glauben, daß ich Old Shatterhand sei (...). Sie hielten mich entweder für einen Spaßvogel oder für einen Menschen, in dessen Kopfe etwas nicht in Ordnung war, und nun stand ich gar in dem leisen Verdachte, ein Pferdedieb zu sein! (Karl May: Im Reiche des silbernen Löwen, 1. Band. Karl May’s illustrierte Werke. Hrsg. v. Heinrich Pleticha und Siegfried Augustin. Edition Stuttgart 1994, S. 18) Hermann Wohlgschaft kommentiert diese Passage so: „Der Schriftsteller bringt, 1893, seinen Ich-Helden Old Shatterhand in Legitimationszwang. Sechs Jahre später, 1899, wird Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand tatsächlich entlarvt. Hat May die Blamage vorausgeahnt?“ (Wohlgschaft, S. 1074f.) Er hat zumindest darüber nachgedacht, wie er sich seinen (wirklichen oder potentiellen) Feinden gegenüber positionieren soll. In diesem Zusammenhang hochinteressant ist ein Dialog zwischen Perkins und Old Shatterhand, der mir vor vierzig Jahren sicher nichts gesagt hat, der mir jetzt aber ins Auge gefallen ist:
»Sollen wir etwa hier schon absteigen?« fragte Perkins.
»Ja,« antwortete ich.
»Und hier auf Euch warten?«
»Ja.«
»Aber, Sir, nehmt es mir nicht übel, das ist ja der größte Fehler, den wir machen können!«
»Warum?«
»Wir sind in der Nähe der Feinde, und da so auf offenem Felde kampieren, ist doch wohl eine Unvorsichtigkeit?«
»Es ist im Gegenteile eine Klugheit, welche mir als sehr geboten erscheint. Wenn wir bis hinüber zum Berge reiten, wo es Büsche und Bäume giebt, könnt Ihr während meiner Abwesenheit beschlichen und ganz unversehens überfallen werden. Es genügt da ein einziger Roter, um Euch beide aus dem Hinterhalte zu erschießen und den Häuptling zu befreien.«
»Hm, das ist vielleicht richtig!«
»Nicht nur vielleicht! Wir haben uns ja schon vorgenommen, jeden Ort zu vermeiden, an dem Ihr überrumpelt werden könnt. Hier ist die Gegend frei, und Ihr könnt jeden Menschen, der sich Euch nähert, schon von weitem sehen; von einem plötzlichen Überfalle kann also keine Rede sein. Und sollten mehrere Rote kommen, was gar nicht zu erwarten steht, so könnt Ihr Eure Gewehre nach allen Seiten richten und sie in Schach halten. Selbst den schlimmsten Fall gesetzt, daß Ihr Euch ihrer großen Überzahl wegen ihrer nicht erwehren könntet, so genügt die Drohung, ihren Häuptling zu töten, sie von Euch abzuhalten. Ihr selbst habt das vorhin zugegeben.«
Karl May: Im Reiche des silbernen Löwen. Band 1, S. 113