So, ich geselle mich verspätet -aber zeitlich-thematisch doch passend - der Leserunde zu.
Zum ersten Kapitel:
Oh ja, der Einstieg ist so richtig erst dem Eigeweihten verständlich - was erklären könte, warum manche das Buch als Kitsch empfinden. Man muß schon wissen, dass Weihnachten mindestens zweimal große Katastrophen in Mays Leben auslösten - und im ersten Fall mit den "entwendeten Kerzen" sogar vermutlich gerade WEIL er einer Familie etwas Weihnachtliches mitbringen wollte (wie Herr Roseneger, der einmal Christtagsfreude holen ging.) In diesem Kontext ist auch der erwähnte Weihnachtsbaum vom Franzl nicht unkomisch, der ausführlich überlgen muß, wie er es vor seiner Frau verbirgt, dass die Kerzen zu weit abgebrannt sind. Wie auch die Nacht in der mit Speisen vollgehängten Kammer nur auf erster Ebene komisch ist. In beiden Fällen ist nämlich (wie so oft bei May) die dahinter stehende ehrenwerte - oder auch unumgänglich menschliche
Motivation wichtig. May führt vor, dass der einfach Satz "So etwas tut man nicht" in der speziellen Situation eben nicht so einfach stimmt.
sciurus hat geschrieben:Also, May war ja offensichtlich überzeugter Christ.
Auch das ist etwas komplizierter. Er war Protestant, der im Beduinengewand den Katholiken gab (wobei mir spontan keine Erwähnung des Papstes einfällt - dafür aber lange Monologe über die Gottesmutter und Heilige...). Wie überzeugt er tatsächlich war ist fraglich. Mich erinnern ja seine islamischen Muftis, Mahdis und Mudschahedins immer sehr an katholische Dorfpriester, die glauben die Wahrheit gepachtet zu haben - und ich argwöhne, er dachte ähnlich...
Ich hab mich zudem gefragt, ob die Geschichte mit dem eingereichten Gedicht nicht vielleicht auch auf Kochta und seine ersten (angeblichen?) Erfolge als Autor nach dem ersten Gefängnisaufenthalt verarbeitet? Meinem Bauchgefühl nach beschreibt er nur auf Textebene Schulzeitserlebnisse - in der Wirklichkeit liegt er später. Was sich mir bestätigen schien, als er mit Carpio über "Muhammad" spricht, was wohl kaum zum Schulunterricht in einem kleinen sächsisch-christlichen Dorf gehört haben dürfte. (Ich weiß, das nimmt den Text grade zu ernst - aber er ist 'in Gedanken' nicht wirklich in seiner Schulzeit, sonst hätte er das unterlassen...)
Verblüffend finde ich auch die Mehrdeutigkeit der Herbergsgäste. Da deutet dem lesenden Theologen natürlich bei dem Buchtitel sofort einiges auf "Heilige Familie" - was natürlich mit einem Großvater nicht so ganz hinhaut - aber eben aufgrund der Szenerie durchaus schon. Dann aber wieder sind es ausschlaggebende Figuren für den weiteren Handlungsverlauf. Und man sieht in dem anwesenden Knaben fast zugleich ein wenig Christkind und May selber. Die Andeutungen über eine Vergangenheit der drei, die im ersten Kapitel nicht ausgeführt wird, sind erneut klassicher May - wie im Surehand oder (mit Abstrichen) auch im Orientzyklus...
rodger hat geschrieben:markus hat geschrieben: Wie May es immer wieder schafft von einer heiteren, fröhlichen und unbesorgten Stimmung im nächsten Moment gleich in eine traurige, trübe und auch ergreifende Stimmung zu kommen, das bleibt wohl sein Geheimnis, das kann nur May so herstellen.
Der Hüsch kann das auch.
Und der van Veen. Es gibt einen Text über seinen Freund Max Bluhm - da wechselt er innerhalb von zwei Sekunden genau andersrum wie Hüsch im beschriebenen Beispiel - und das Restlachen im Hals wandert direkt in den plötzlich entstehenden Kloß und man spürt das ganze fragile Leben in seiner miesen mickrigen kleinen Schönheit - so kitschig sich das jetzt auch lesen mag...
rodger hat geschrieben:"Direkte Fehler, sogenannte Begehungssünden, kommen in Ihrer Motette nicht vor; sie ist da sauber geschrieben. Aber die Übung fehlt, die Gewandtheit, die Inspiration. Denken Sie sich einen guten Sonntagsreiter und dann einen Schulreiter im Cirkus! Der Sonntagsreiter in der Komposition sind Sie; es fehlt Ihnen die hohe Schule; Sie kennen Ihr Pferd nicht und auch nicht die verschiedenen Hilfen, die Sie ihm geben müssen. So etwas will nicht nur angeboren, sondern auch gepflegt und geübt sein. Ein geübter Reiter der hohen Schule würde Ihre Motette ganz anders ein- und zugeritten haben. Verstehen Sie mich?"
Karl May uneinsichtig, Kritik nicht zugänglich ? Hahahihihoho ...
Diese Stelle ist nicht unbedingt Selbstkritik (die nach Busch viel für sich hat) - sondern kann auch die Bedeutung von Pferden bei May durchaus erhellen: Denn wie antwortet er so bildreich: "Ich sitze zu steif im Sattel und habe zwar körperliche aber nicht auch geistige Fühlung mit dem Pferde." - Das sind Pferde: Mays eigene Werke - die ihm auch schon mal gestohlen werden (Es gab doch da die Stelle mit den Eseln und Mustangs, die er durch Vorreiten zurückerhält - die man auf Münchmeyer deuten konnte...), die er notfalls zureiten muß, wenn er sie Indianern mopst und die er im besten Fall von großen Menschen geschenkt bekommt. (Das ist der Unterschied zwischen Rih und Hattatitla - den einen verdient er sich, den anderen erhält er als Geschenk der größten Freundschaft.)
Ähnlich könnte dann (aber das geht zuweit, oder?) der Löwe der Hunger von Carpio sein - zumindest walzt der das Bild eines solchen recht ausführlich aus. Verknüpft mit "Hunger wie ein Bär" erklärte das zumindest einige der erlegten Pelzträgher - aber wohl kaum alle. Carpios Beschreibungen von Hunger, der bei zu langer Zeit zu einem Gefühl von "nichtmehressenkönnen" wird hingegen hat mich -obwohls in der Geschichtenlogik dann nicht zutrifft- sehr berührt. Denn genauso ist das. Das dürfte er selber auch noch gekannt haben...
Kommt noch dazu die angedeute Erklärung der vermeintlichen Reisen in fremde Länder:
Karl May hat geschrieben:"Gewöhnlich marschierten wir auf dem Gebirge zwischen Sachsen und Böhmen hin. Wir konnten uns da einbilden, die Pyrenäen zwischen FRankreich und Spanien oder gar den Himalaya zwischen Tibet und Indien zu durchwandern. [...] Dieser Schauplatz unserer Weltreisen war uns lieb geworden..." [HKA, 25]
"Zwei Landkarten hatte Carpio auch besorgt, eine von Sachsen und eine von Böhmen, weil wir doch zwischen beiden lust- und schneewandeln wollten; aber schon am ersten Tage stellte es sich heraus, daß sie, wie er behauptete, von seiner Schwester verwechselt worden waren; die eine war von Schweden und Norwegen, die andere von Algier, Tunis und Tripolis. Wir beschlossen einstimmig, sie nicht wegzuwerfen, sondern für spätere Reisen nach diesen Ländern aufzubewahren." [HKA, 27f.]
Wenn das mal nicht ein dezenter Hinweis auf zweierlei ist: Auf die "Austauschbarkeit" gewisser geographischer Angaben in seinen Reiseromanen - wie auch auf die spezielle Macht der Phantasie, die ihre Quelle vor allem in der frühesten Jugendzeit nimmt.
Und - für mich urkomisch beim Lesen - die wunderbare Frage nach der Identität und etwaigen Doppelungen. Da hat Carpio den falschen Ausweis in der Tasche - der gar keiner ist - und stellt sich somit unwissend als nicht nur ein anderer, sondern gleich als ganze Erbfolge von Kaiser Karl dem Großen bis auf Franz den Zweiten vor. Wenn das kein beißender Spott und zugleich händeringender Hinweis darauf ist, dass hier ein einfacher Dorfpolizist wohl klüger war, als ein paar Tausende seiner Leser später/zuvor...
Interessant sind tatsächlich auch die lateinischen Zitate von Franzl. Während sie im Kontext der Szene so überhaupt nicht passen, legen sie doch den "Teppich" für die gesamte Geschichte (wobei ich durch die noch nicht durch bin...) und sein Werk - er hat also nichts gewählt, was gänzlich unpassend wäre - bzw. zu bekannt. "Pecunia non olet" und "errare humanum est" (abgekürzt "Ehe") fehlen. Somit wird er eine Art unfreiwilliges Orakel. Ein hübsch versteckter Handgriff - was zum Shatterhand passt, der ja üblicherweie die List vorzieht.