Manchmal sind es nur ein, zwei Sätze in einem umfangreichen Roman, die die Erinnerung wecken an Erlebnisse, Begebenheiten, Situationen im eigenen Leben. Sätze, die manchmal gar nicht so tiefgehend zu sein scheinen, wie sie eigentlich sind und im Gesamtzusammenhang des Textes quasi überlesen werden.
Eine solche Stelle findet sich im dritten Band des Romans „Im Reiche des silbernen Löwen“, den ich mir nach langer Zeit wieder mal vorgenommen habe.
Da schildert der Ich-Erzähler, Kara Ben Nemsi, seine Zeit kurz nach sehr schwerer Erkrankung, als er noch Genesender war:
Wieviel steckt in diesem„Als die Sonne verschwunden war, versuchte ich, mit Hilfe des Stockes die Treppe hinaufzusteigen. Es gelang.“
Eine Feststellung ohne besonderen Tiefgang für den einen. Eine ganze Welt für den, der selber in Situationen war, wo er diese scheinbare Selbstverständlichkeit erst wieder für sich erringen musste. Ich war ja selber schon mehrfach in einer solchen Lage. Daran musste ich jetzt denken, als ich an diese Stelle im Roman kam.„Es gelang!“
Und auch an eine noch andere Begebenheit musste ich denken. An eine Frau, die ich bei einer REHA kennenlernte. Die meiste Zeit saß sie im Rollstuhl, an diesen war sie schon längere Zeit gebunden. Ihr fehlte ein Bein. Es musste ihr amputiert werden, warum, gehört nicht hierher. Und es schmerzte sie, das ließ sie sich nicht anmerken, aber es war aus jedem ihrer Worte zu hören. Wenn sie erzählte, welch begeisterte Sportlerin sie war. Wie gern sie wandern ging. Wie gern sie tanzte. Und gleichzeitig war sie von bewundernswerter Energie und Willenskraft. Auch das war aus jedem ihrer Worte zu hören und noch mehr war es ihr anzusehen. Ich sehe es noch vor mir, für die REHA-Patienten war ein Tanzabend veranstaltet worden. Und sie --- tanzte auch! Im Rollstuhl! Es war phantastisch anzusehen und für ihren – ja, man kann sagen: artistischen – Tanz bekam sie, viele von uns konnten nicht anders, Beifall. Ihr Stolz, ihr verdienter Stolz, stand ihr ins Gesicht geschrieben. Konnte es da noch eine Steigerung geben?
Bis zu dem Tanzabend dachte ich, das geht nicht.
Und doch.
Wie sagt man? Der Mensch denkt, Gott lenkt.
Bei der REHA war sie auch deshalb, weil ihr eine Beinprothese angepasst worden war und sie damit das Laufen neu zu lernen hatte. Ich bin noch heute, Jahre später, dem Zufall dankbar, dass ich jenem Moment aus naher Entfernung beiwohnen durfte. Dem Moment, als sie mit ihrer Psychotherapeutin nicht nur den Gang entlanglief. Denn der Gang endete an einer Treppe. Einige wenige Stufen nur. Es fiel ihr nicht leicht, mit der Prothese zu gehen, zu neu war sie noch. Und je näher sie den Stufen kam, umso langsamer wurde sie.
Dann war sie dort, vor diesen Dingern, die für die meisten Menschen die größte Selbstverständlichkeit sind. Sie stieg nicht sofort. Ich sah, wie die Therapeutin ihr leise Mut zusprach, hören konnte ich es nicht. Dann versuchte sie es. Begann zu steigen. Hielt nach jeder der wenigen Stufen inne. Es dauerte lange, sehr lange, bis sie die Stufen überwunden hatte. Für gesunde Menschen dauerte es eine gefühlte Ewigkeit. Aber was bedeutet in solchen Augenblicken Zeit.
Und dann, nach der letzten Stufe, drehte sie sich um, um das soeben Überwundene von oben anzuschauen. Und ich konnte jetzt wieder ihr Gesicht sehen. Sie strahlte, und sie weinte. Weil sie es geschafft hatte, ein paar wenige Stufen zu überwinden. Nicht nur ich, nein, wir alle, gönnte ihr dieses ihr Glück aus vollstem Herzen.
Glaubt es oder glaubt es nicht, aber nie zuvor und niemals wieder habe ich einen Menschen gesehen, der so glücklich war.
Es ist einige Jahre her, manchmal sind es nur ein, zwei Sätze in einem umfangreichen Roman, die die Erinnerung wachrufen. Geht es euch auch so? Sicher hat bei dem einen oder andern Satz, bei der einen oder andern Stelle jeder mal so ein Erlebnis der Erinnerung. Meines musste ich mir jetzt von der Seele schreiben.