Nscho-Tschi und ihre Schwestern

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rodger
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Nscho-Tschi und ihre Schwestern

Beitrag von rodger »

Zunächst unentschlossen, an die zwanzig € für die „Katze im Sack“ auszugeben (denn wer weiß schon was einen erwartet ... es ist schon so viel dummes und unverständiges Zeug geschrieben worden in Sachen May ...) habe ich das Buch am Samstag nun doch bestellt (bei „Winnetou in Dresden“ habe ich seinerzeit vergeblich wochenlang die Buchläden dreier Großstädte abgeklappert, dazu hatte ich diesmal keine Lust, so schön es gewesen wäre, erst einmal ein bißchen blättern zu können vor einer Kaufentscheidung ...) und heute bereits erhalten (in Sachen Schnelligkeit & Zuverlässigkeit steht Amazon wohl ganz oben).

Nebenbei: hinten werden die Bände 90 und 94 der „Gesammelten“ als „in Vorbereitung“ angegeben. Wir dürfen gespannt sein.

Soviel vorab: das Buch ist hochinteressant, sehr lesenswert und von erfreulichem Tiefgang. Endlich werden Karl Mays Figuren einmal wirklich ernstgenommen, endlich versteht mal jemand, daß es bei ihm nicht um fade Abenteuergeschichten geht, die mit uns nicht wirklich etwas zu tun haben, sondern um Erlebnisse und Erfahrungen eben auch innerer Art, zeitlose Geschichten über Menschen... (ich las heute gerade bei Hesse daß Novalis' ‚Ofterdingen‘ zeitlos sei, freilich ist er das, wie eben auch ‚Winnetou‘ u.v.a.m. ...) Man muß es gedanklich manchmal nur ein wenig übertragen, was nicht wirklich schwierig ist ...

„Ja. wir sind alle drei Frauen“ hat die Autorin unter einer Widmung für Mutter und [vermutlich] Tochter in einer augenzwinkernden Mischung aus gespielter Trotzigkeit und [Selbst-] Ironie dem Buch vorangestellt. Ja warum denn auch nicht. Wenn Frauen immer so klug schreiben wie Frau Maier, dann nur zu ... immer her damit ... Gerade in Sachen Einfühlsamkeit, Verständnis für innere Dinge usw. kommen ja gerade die Herren der Schöpfung in Sachen May oft daher wie der Ochs vorm Schlittschuhlaufen ... („vorm“ ist schon richtig, man sehe Ochsen vor sich die sozusagen stieren Blickes vor der Angelegenheit stehen und damit halt nicht zurechtkommen, das wäre ja noch in Ordnung, solange sie die Schlittschuhlauferei nicht als irrelevanten Unfug abqualifizieren oder, wie im Einzelfall zu erleben, gar frech oder ausfallend werden ...)

Das Buch wird hier Kapitel für Kapitel ausführlich besprochen werden. Beteiligung ist durchaus willkommen.

:D
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rodger
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Re: Nscho-Tschi und ihre Schwestern

Beitrag von rodger »

Vorab: Auch Kritisches und dabei auch Kleinigkeiten werden hier angemerkt werden, ich gehe einfach das Buch durch und notiere was mir auffällt, man möge bitte kritische Anmerkungen nicht überbewerten, es gibt ja Gemüter die zwischen „Verriss“ und „Lobhudelei“ , zwischen Schwarz und Weiß kaum etwas anders geartetes für möglich halten ... ich wurde mal gefragt wie eine Besprechung, die angemessenerweise sehr gemischt ausfiel, weil es eben, wie das eben manchmal so zu sein pflegt, viel Licht und Schatten gab, denn nun gemeint sei, „positiv“ oder „negativ“, da bleibt einem dann schon mal sozusagen die Spucke weg ...

'Auf Spurensuche'

„mit Rosalie Ebersbach gelacht“ (S. 7) im Kontext mit „mit Nscho-Tschi geliebt, mit Kolma Puschi gekämpft“ und „mit Hanneh triumphiert“ ist etwas unpräzise, Frau Ebersbach selber lacht nicht, sie selbst ist sich der Komik, die sie auslöst bzw. verkörpert, durchaus nicht bewußt ...

Daß „wenn man anständig Spuren lesen will, schon ganz genau hinsehen muß“ ist gut erkannt und gesagt, daß das – im übertragenen Sinne, worum es ja primär geht – „für keinen Mayleser etwas Neues“ sei, das wäre schön ... (S. 8 ). (Nur als Anmerkung zu verstehen, nicht als Kritik.Die Autorin meint ja vermutlich genau das ...)

Vereinzelt (!) gibt es Formulierungen, die mir (mit Verlaub) nicht gefallen, so die „Powerfrauen“ (S. 8 ). Nichts gegen lockerflockige Bezeichnungen, ich wäre der letzte, der sich daran störte, aber es sollte auch passen ... Die gemeinten Wesen sind halt mehr als „Powerfrauen“, sie sind singuläre Gestalten ...
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rodger
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Re: Nscho-Tschi und ihre Schwestern

Beitrag von rodger »

‚Der Wilde Westen und die Mayden‘

(keine Anmerkungen)

‚Nscho-tschi‘

Der Stich in Kinn und Zunge als „wunderbar wirkungsvolles Symbol für die verhinderte Kommunikation zwischen den scheinbar zur Feindschaft verdammten Seelenfreunden“ (S. 21), chapeau, fein gesehen.

Dass sich „May einer solchen sozialen Gemachtheit unserer Wahrnehmung der Welt und anderer Menschen mehr als bewußt war“ (S. 23), ebenfalls.

Auch wenn’s im Buch in Klammern steht, regelrecht dankbar wird registriert: „Ersteres wäre ohne Letzteres wenig wert.“ (S. 25) So ist es.

Nscho-Tschi „läßt sich schlicht und ergreifend nicht erfolgreich in dem Frauenbild verorten, das sich unser europäisch gebildeter Jüngling bis dato zusammengezimmert hat.“ (S. 28) Hübsch.

Dann wieder (vgl. die „Powerfrauen“) so eine unglückliche Formulierung, „stinksauer“ (S. 28 ) ist Winnetou nicht, „stinksauer“ ist man vielleicht z.B. wenn der Müll nicht abgeholt wurde oder einer einem die Vorfahrt genommen hat oder vor’s Rad gelaufen ist, will sagen bei Vorfällen oder Gegebenheiten durchaus andersgearteter Kategorie, Winnetous Befindlichkeit zu Zeiten fatalen schmerzlichen Mißverstehens dürfte, sozusagen die eine oder andere Nummer größer, so etwas wie im Innersten empört, zutiefst bitter enttäuscht sein ...

„Sturheit“ (S. 29) ist etwas anderes als Stolz, auch wenn’s vorsichtshalber in Klammern steht ... Old May ist eigensinnig, konsequent, radikal usw., aber nicht stur ... (Andererseits weiß ich jetzt, warum die Sache mit der Haarlocke so lange nicht zur Sprache kommt. Das war mir immer ein Rätsel. Frau Maier hat es gut erklärt. Vorsichtshalber: das ist ernst gemeint.)

„In der Tat besteht das Erzähler-Ich während seiner gesamten textuellen Existenz darauf, dass die Fähigkeit, seine Gefühle zu beherrschen, den Mann deutlich von der emotionsgesteuerten Frau unterscheidet“ (S. 29) Überzeugt mich nicht ... Es gibt z.B. jede Menge Stellen im Gesamtwerk in denen unserem Erzähler die Tränen über das Gesicht laufen und er sich dessen sowie dessen Erwähnung durchaus nicht schämt.

„Ihre ungebrochene Freundlichkeit überzeugt Old Shatterhand schließlich sogar davon, daß sie doch ein Herz haben muß (womit er sie vorerst wieder sicher in seiner ‚weiblichen Schublade‘ verstauen kann).“ (S. 31) Das wäre viel zu grob und oberflächlich gesehen, wenn es denn wirklich ganz ernst gemeint wäre. Wollen wir optimistischerweise annehmen daß dem nicht so ist.

„Standpauke“ (S. 31), so etwas hält oder erhält man wenn es etwas zu „Schimpfen“ gibt, also wenn es um irgendwelches unwesentliches Alltags-Zeugs geht; was Nscho-Tschi macht in der dankenswerter Weise erwähnten flammenden Anklagerede, ist etwas anderes, spielt in einer anderen Liga, ist wahrlich mehrere Nummern größer ...

In Sachen „Frauenschelte“ oder aber „wirkungsvolle Argumentation für die Gleichheit aller Menschen“ (S. 34) bin ich noch anderer Meinung, es ist weder das eine noch das andere ... Nscho-Tschi verweigert sich gängigen klischeehaften Anschauungen, weil sie tiefer sieht, weil sie genau „hinguckt“ im Gegensatz zu vielen vielen anderen die das gar nicht wollen, und sich lieber alle gegenseitig etwas vormachen ... sich selber und anderen ... sie erkennt was es auf sich hat mit Klischees ... (und in dem Fall eben durchaus weibliche Wesen betreffend.)

„das westmännische Verhaltensmodell liefert dem Ich keine Orientierungshilfe, wie er mit diesem fremdartigen Wesen umzugehen hat“ (S. 35), mit dem „Westmann“ dürfte es bei May weniger zu tun haben als mit individuellen Unbeholfenheiten ...

„Wie soll zwischen so unterschiedlich gebildeten Partnern eine ebenbürtige Beziehung möglich sein ?“ (S. 37) Die ist möglich, durchaus. Wenn jemand klug ist und Niveau hat (womit nota bene nicht etwa ganz nebensächliche Dinge wie Kleidung, Tischsitten, Ausdrucksweise o.ä. gemeint sind ...), und das ist bzw. hat Nscho-Tschi, kommt es auf „Bildung“ nicht an ...

Im Großen und Ganzen widersteht die Autorin der Gefahr klischeehaften Eintütens bzw. simplen Parteinehmens, gelegentliche in Formulierungen mitschwingende Anflüge davon („Herr Shatterhand“, S. 38 ) seien verziehen ... (Es gibt in ‚My Fair Lady‘ einen Song der Eliza, in der des öfteren die formelle Bezeichnung „Henry Higgins“ vorkommt, durchaus ähnlich gemeint ... Wenige gute Sänger- bzw. Darstellerinnen bringen das (im Gegensatz zur Majorität weniger differenzierter solcher) so, daß über plumpen weiblichen Triumph u.dgl. hinaus durchaus die gemischten Gefühle der Figur erkennbar sind, die neben Triumph eben auch Zuneigung und Verständigungsbedürfnis empfindet ... Würde Frau Maier singen würde ihr das sicher auch gelingen das so herüberzubringen ...)

Ich glaube nicht daß es an einem „heroisch-männlichen Verhaltensmuster“ (S. 39) Old Mays liegt daß er Nscho-Tschis Weg in den Untergang nicht zu verhindern weiß ... Er weiß doch selber zu der Zeit noch nicht so genau was er will ... läßt die Dinge auf sich zukommen ... Passivität ist das, aber nicht gerade heroisch-männlich ... Insofern ist „Schuld“ (S. 39) vielleicht „einer zuviel“ ... Er ist nicht glücklich mit der eigenen Passivität, auch im Nachhinein, fühlt sich diesbezüglich nicht allzuwohl in seiner Haut ... (ich sehe nebenbei bemerkt Käutner vor mir im Syberberg-Film, mit den beiden Frauen, wie er die "machen läßt" und selber nicht eingreift, abwartet ...)

Winnetou und Nscho-Tschi „wie zwei Inkarnationen derselben Person“ (S. 40), schön gesehen.

„Mays Ansicht nach zeichnet sich der ideale Mensch, egal welchen Geschlechts, dadurch aus, dass er ‚Seelenelemente‘ des anderen Geschlechts in sein Wesen integriert.“ (S. 41) Ich würde sagen er integriert sie nicht sondern wird ihrer gewahr, ist sich ihrer bewußt, erkennt sie als zugehörig ... und damit ist er noch lange kein „idealer Mensch“ sondern erfüllt sozusagen eine Grundvoraussetzung halbwegs bewußten Lebens ...

„Überschwänglicher geht es nicht.“ (S. 41) Das klingt als sei es etwas übertrieben ... Das ist es nicht. Es ist tief empfunden, aufrichtig, angemessen, von Herzen ...

„Aber dahin ist die Geschichte nicht unterwegs. Sie erzählt vielmehr eine Heldengenese, und sie erzählt auf Nscho-Tschis Tod hin.“ (S. 42) So ist es. Der ‚Held‘ muß lernen, mit Erfahrungen wie Tod, schmerzhaftem Verlust usw. umgehen zu können, auch dies zu integrieren. Die „unerzählte Geschichte“ (S. 42) wäre in der Tat auch reizvoll gewesen, aber um sie ging es hier in Winnetou I eben nicht.
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rodger
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Re: Nscho-Tschi und ihre Schwestern

Beitrag von rodger »

Ribanna und Ellen

Möglicherweise habe ich das Buch zu früh gelobt ... Die Enttäuschung über dieses Kapitel ist jedenfalls groß.

Nein, Winnetous „frauenfeindliche Tendenzen“ können keineswegs „eigentlich nur als Saure-Trauben-Attitüde interpretiert werden“ (S. 49), das wäre ja sozusagen traurig ... (Warum muß man immer alles auf fade Ottonormalverbrauchermentalität herunterreduzieren ...)

Winnetous Verzicht zu ironisieren, erscheint nicht angemessen ... (S. 49 ff) Sein Vortrag in Sachen Verzicht auf Ribannah und des damit verbundenen Entschlusses, überhaupt auf Verbindungen zu Frauen zu verzichten, ist nicht „starker Tobak“, sondern die freie Entscheidung eines unbestechlichen, starken Mannes ... So ungewöhnlich ist das übrigens gar nicht, auch wenn unserer zeitgenössischen Lockerflockig Spaßgesellschaft vielleicht etwas fremd geworden ... Immerhin wird in diesem Zusammenhang Thomas Schwettmann zitiert, wir erinnern uns gern ... aus diesem Forum übrigens. (Mit „Gottseidank vollzieht sich diese primitiv-infantile May-Beschäftigung im Internet abseits seriöser Publikationen", wie andernorts mal sozusagen beeindruckenderweise zu lesen war, ist es also doch nichts ...) Aber warum können die Leut‘ ein Entsagen nicht nachvollziehen ... Friedrich Schiller hat eine beeindruckende Ballade darüber geschrieben ... und katholische Geistliche z.B. machen doch auch nichts anderes ... Mag sein, daß „man“ den ‚Ritter Toggenburg‘ heute eher zum Lachen findet, das Armutszeugnis, das damit ausgestellt wird, geht indes in Richtung der Amüsierten ...

Hier fällt das Buch nun hoffentlich vorübergehend stark ab (S. 52 / 53)

Warum Entsagen, Verzicht offenbar nicht recht ernst nehmen können und dann sinngemäß sagen „ein Trauma, ja, das ist etwas anderes, dann kann man es verstehen“ ...(S. 53 – 55) Beides ist ernstzunehmen, beides ist vorhanden und nachvollziehbar. Das Trauma durch den Mord ist nur ein zusätzlicher Aspekt. Auch ohne den ist der Verzicht nachvollziehbar.

Daß Ellen eine der stärksten Frauengestalten Mays ist, ist richtig. (S. 61) Leider wird die Autorin ihr im Folgenden dann nicht wirklich gerecht.

Daß Harry „etwa dreizehn“ sei (S. 62), mag in der Ausgabe der Gesammelten Werke stehen, bei Karl May ist davon nicht die Rede. Bei ihm heißt es „nicht über sechzehn Jahre“. Es ist überhaupt natürlich ein Unding, in einem anspruchsvollen analytischen Buch über May offenbar durchgängig die bearbeiteteten Fassungen zu zitieren, das sei hier an passender Stelle einmal angemerkt, mehr dazu und detaillierter vielleicht später.

sie, nicht es stößt ihn ab, die Person, nicht der Sachverhalt.“ (S. 64) Das ist ganz falsch. Es ist umgekehrt. Der Erzähler bedauert Ellens innere Verhärtungen und hilft ihr im Laufe der Erzählung, sie aufzubrechen, gibt Anstöße für eine entsprechende Entwicklung, die am Ende erkennbar, aber noch nicht unbedingt abgeschlossen ist.

Um „Sünde“ (S. 65) geht es nicht, um Fehlhaltung geht es ... um eine nicht empfehlenswerte, nicht angemessene Haltung ...

Den zitierten Satz „Ich muß wohl stark bleiben, da Du ohne mich nicht leben kannst“ (S. 65) äußert Ellen mit einem Lächeln, da ist Ironie beigemischt, es ist die zarte Andeutung einer Erklärung, ein kleines kokettes Spiel ... Eine nüchterne Stellungnahme oder Bestandsaufnahme wie die Autorin sie merkwürdigerweise offenbar darin zu sehen scheint ist das sicherlich nicht.

Es ist bei Karl May überhaupt keine Rede davon, daß Ellen ihre Art und Weise, ihre Denkungsart usw. wesentlich ändern wird ... Das ist viel zu grob gesehen. Ellen wird die Dinge nach den geschilderten Erlebnissen und Erfahrungen ein wenig mit anderen Augen sehen, mehr Weichheit und Geschmeidigkeit in ihrem Inneren zulassen, von den Erkenntnissen und Einsichten aber, die sie im Laufe ihres Lebens gewonnen hat, wird sie nichts einbüßen ... Und damit ist jede Art von, jetzt formulier‘ ich auch mal salopp, „Heimchen am Herde“ völlig ausgeschlossen. (Ein vergleichbarer Fall liegt übrigens bei Wanda vor. Beide Damen werden innerlich „geknackt“, lernen Seiten ihres Wesens sozusagen freizulegen, die sie vorher weggebunkert hatten ... Das kann bei männlichen Wesen selbstverständlich ganz genau so funktionieren ...)

„in ihrem Fall ein Verbrechen“ (S. 65), ach was. S.o. bei Fehlhaltung usw.

Ellen muß sich nicht vom Erzähler „abkanzeln, erziehen und läutern lassen“ (S. 66), das ist leider diese mit Verlaub langweilige Betrachtungsweise wie sie bei so etwas wohl üblich ist ... aber halt eindimensional fehlgehend ... Menschen haben die Chance, voneinander zu lernen. Wenn sie bereit sind sich entsprechend zu öffnen. Ellen und Erzähler lernen in dieser Geschichte gegenseitig voneinander, und zwar lernt er duch sie, ‚männlicher‘ zu werden, und sie durch ihn, ‚weiblicher‘ zu werden. Das ist der ‚Witz‘.

„Im Großen und Ganzen will man die Eliminierung der Frau aus der Firehand-Episode eigentlich als Segen empfinden.“ (S. 66) Keineswegs. Umgekert wird ein Schuh draus: May hat mit der Verwandlung Ellens in Harry die Geschichte völlig verdorben. „Old Firehand“ ist eine existentielle Liebesgeschichte, einer von Mays wesentlichsten und beeindruckendsten Texten. Eine Geschichte über einen Mann und eine Frau, die unter extremsten Grenzerfahrungen ihre Liebe [und ihre Wachstumsmöglichkeiten] entdecken, und die selbstverständlich auch hundert oder hundertfünfzig Jahre später spielen könnte, z.B. mit einer Drückerkolonne statt Indianern oder vor der Intensivstation eines Krankenhauses statt galoppierend auf Pferderücken.

Am Lagerfeuer: Von Müttern und Ehefrauen

„Was ist wirklich so schlimm an der Ehe?“ (S. 67) Gar nichts. Das ist nicht das Thema bei May. Darum geht es nicht.

„Die Ellen-Lösung ist offensichtlich so unbefriedigend, dass May die Sache mit der Ehe danach bald ganz bleiben lässt.“ (S. 67) Das ist doch Unsinn. „Old Firehand“ wurde 1875 geschrieben, Winnetou I, über das sich die Autorin doch im „Nscho-Tschi“-Kapitel eben auch in Sachen Eheschließungsthematik gerade ausgelassen hat, 1892/93 ...

Daß es im „kleinbürgerlichen wilhelminischen Deutschland“ (S. 68 ) schwieriger gewesen sein soll, eine gute Beziehung zustandekommen zu lassen, erschließt sich mir nicht ... Wann geht denn jede zweite Ehe kaputt, damals oder heute ? Na also ... Und die Quote war nie gut ... „Alle fünftausend Jahre glückt es“ (Richard Wagner) Übertreiben veranschaulicht.

Überhaupt kann ich diese wirklich überall zu findende Eintütung unter „wilhelminisches Deutschland“ in Sachen Karl May so allmählich nicht mehr hören ... weder hören noch lesen ... Das liest sich immer so, als ginge es um ferne, „überwundene“ Zeiten ... Es geht aber im Kreis herum und kommt früher oder später alles wieder ... und ob die aktuellen Zeiten die vorzuziehenderen seien das können wir getrost mal dahingestellt sein lassen ...

„Und eine perfekte Hüterin von Heim und Herd. Bitteschön. Drunter geht’s nicht.“ (S. 70) Schade. Es gab so gute Ansätze in Kapiteln zuvor ... Ein schwer nachvollziehbarer Absturz ins Niveaufreie.

*

Ob ich auch das Weitere so ausführlich kommentieren werde, weiß ich noch nicht. Der Arbeitsaufwand ist beträchtlich, und das Bedürfnis dazu im Moment doch recht geschwunden ...
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Re: Nscho-Tschi und ihre Schwestern

Beitrag von rodger »

Die Schöne und der Bär

Es bleibt interessant ...

Vor den wieder recht kritischen Anmerkungen zu diesem Kapitel vorab: im darauffolgenden über Judith Silberstein läuft die Autorin dann zu großer Form auf ... und macht allerhand zwischenzeitlich verlorenen Boden durchaus wieder gut ...

Marthas Besorgnis ist nicht "gluckenhaft" (S. 72) ... Sie liebt ...

Mays Linguist heißt nicht Vitzliputzli, insofern ist es inkorrekt, über GW 79 zu schreiben "bringt auch die Geschichte des Professors Vitzliputzli wieder mit der Vogel-Episode zusammen" (S. 73), Kandolfs Figur in GW 47 heißt Vitzliputzli, bei May [in Band 79] hat der Mann keinen Namen, bzw. wir erfahren ihn nicht, und wenn er einen hätte bzw. wir ihn erführen, dann hieße er vielleicht Hogenkamp oder Knisterbühl, aber gewiß nicht Vitzliputzli, Atzteken her oder hin ...

Daß May "höchst ironisch" (S. 74) über eigene Gefühle schreibt, mag sein, nur sollte man die Ironie nicht immer sozusagen beim Wort nehmen ... Wir erinnern uns umgehend an eine Stelle in "Deutsche Helden", Momenterl, die ist schnell herausgesucht: "Er hatte die Geschichte seiner unglücklichen Liebe in ironischem Tone, sich selbst geißelnd, erzählt. Jetzt lachte er leise vor sich hin." ("Warum lachen Sie Herr Katzer" kann einem auch noch mal dazu einfallen, das war auch ein in der Tat beeindruckender Fall von kaputtem Humor als Selbstschutz.)

"erklärt das Ich hier auch sich selbst resolut zu einem ungeeigneten Liebesobjekt" (S. 75) heißt es über Old May in Zusammenhang mit Martha Vogel, nicht doch, Stichwort ist wieder Selbstschutz, wer will enttäuscht werden ... lieber gleich verzichten und sich vornehmen nicht an eine erfreuliche Möglichkeit glauben zu wollen ...

Daß er "ohne ein Wort in die Weltgeschichte abdampft" (S. 78), kann man auch anders formulieren, da sind wir schon wieder beim Ritter Toggenburg, "reißt sich blutend los" heißt es da ...

Martha Vogel macht keinen "Eroberungsfeldzug" (S. 78), sondern versucht mit rührend unbeholfenen, kleinen Gesten, Verbindung herzustellen, auf etwas aufmerksam zu machen ...

Martha mit Fontane und Ibsen (S. 81 f.) in Verbindung zu bringen, das ist nicht übel ... Das wird ja leider oft nicht erkannt, daß Mays Figuren ernstzunehmende Gestalten sind, denen höher bewerteter Autoren durchaus vergleichbar ...

Schön auch gesehen Marthas Schleier als Symbol für Verhüllung ihres wahren Wesens (S. 83). In dem Zusammenhang durchaus passend das Ibsensche Stichwort Lebenslüge (S. 83).

"Es ist bezeichnend, dass die allerletzten Absätze der Satan und Ischariot - Trilogie Martha gehören" (S. 85), mit Fußnote "GW Bd. 22", jenun, die beiden bei May noch folgenden sind dort gestrichen ...
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rodger
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Re: Nscho-Tschi und ihre Schwestern

Beitrag von rodger »

Die Geldbeutel der Mrs. Silverhill

Hier nun wieder großenteils beträchtliche Zustimmung. Es ist eigenartig mit diesem Buch ...

Aber die gute Frau heißt Silberstein, bitt’schön, und nicht Silberberg ... „von May selbst in der Urfassung zwischendurch auch irrtümlich Silberstein genannt“ (S. 87): Umgekehrt ist es richtig. In der Bearbeitung mag das anders sein ... Noch einmal: in einem ernsthaft mit May sich beschäftigenden Buch bezieht man sich nicht auf die bearbeiteteten Fassungen, das ist a.) inkorrekt und richtet b.) wie wir sehen ggf. gehöriges Durcheinander an ...

Zunächst wird schon wieder das wilhelminische Frauenbild bemüht, gleich darauf aber richtig erkannt „wenn man genau hinsieht, ist an Judith, wie an Martha, mehr dran. Sehr viel mehr.“ (S. 87) So ist es.

Judith ist in mehrfacher Hinsicht „widerspenstig“, „in all ihrer Unmoral und provokanten Sinnlichkeit ein subversives Element, das dem Text und seinen Idealen selbst den Kampf ansagt.“ (S. 89) Sehr schön. Und das ist natürlich dem Autor voll bewußt und übt durchaus eine gewisse Faszination auf ihn aus ... Sie sorgt für (durchaus schöpferische) „Unruhe“ (S. 89).

Interessant die Betrachtungen zum Thema Zirkus (S. 91 f.) „Der Freiheitsdrang an und für sich ist jedoch bei Judith und dem Ich, wenn schon nicht derselbe, so doch ein ähnlicher“ (S. 93), ja !

„Judiths Hass auf den Letzteren erklärt sich im Endeffekt nur so“ (S. 94), so auch, aber nicht nur so ... Da wäre auch noch unterschwellige Anziehung und Abwehr derselben zu nennen ... und Hass entsteht z.B. auch dort, wo der als im Grunde sehr ähnlich erkannte sich eben ganz anders verhält, als man selber es gerne hätte ... (da ist man sich im Grunde schon so nah und dann gibt’s solche Schwierigkeiten ...)

Zur Anklagerede Judiths mit der „Hinterlist“ usw. (S. 94) kann einem übrigens der Münedschi in „Am Jenseits“ einfallen, auch der hält dem Erzähler einen Spiegel b.A. vor, in durchaus ähnlicher Weise ...

„Judith ist also durchaus keine eindimensionale Schurkin.“ (S. 94) In der Tat.

„Energie“ (S. 95) Gutes Stichwort, gut gesehen. Und so etwas ist halt reizvoll. Vergleichen wir bei den Männern: Santer ist eigentlich nur ein uninteressanter kleiner Halunke, Abrahim Mamur, Abu Seif usw. hingegen schillernde, interessante Persönlichkeiten ... (Wie sagte Herr Jenninger in anderem Zusammenhang, Faszinosum. So ist es halt. Man mag wollen oder nicht.)

Da steht’s auch schon, „mit einer ordentlichen Portion Faszination“ (S. 98). Richtig.

„Dazu kommt, dass Judith in ihrer selbstsüchtigen Gier und schamlosen Luxussucht die Ideale der humanistisch-christlichen Heldenerzählung mit Füßen tritt“ (S. 99), in dem Zusammenhang fallen dann die Worte „Fassungslosigkeit (und Bewunderung)“. Das ist ebenso ungewöhnlich wie richtig gesehen.

„Judith dagegen scheint nicht einmal zu begreifen, dass solche Regeln überhaupt existieren oder allgemeine Gültigkeit haben.“ (S. 100) Eben. Mit Moral kommt man da insofern nicht so recht weiter ...

„Antagonismus“, „epische Fehde“ (S. 100), hübsch. Und die Anziehung eben immer unterlegt.

„Die beiden [...] vergessen dabei nicht, einander unausgesetzt den Spiegel vorzuhalten.“ (S. 101) Das ist es.

Und auch das: „Nur weil sie einander einen Spiegel vorhalten, heißt das noch lange nicht, dass sie das, was sie darin sehen, als Wahrheit anerkennen.“ (S. 102) Sehr schön. „Diese spiegelverkehrte Ebenbildlichkeit unterstreicht die Position der beiden als ebenbürtige Widersacher“ ...

Wir haben es mit einer „unterschwelligen sexuellen Spannung“ (S. 103) zu tun, völlig richtig, und darüber hinaus eben auch mit einer emotionalen ... auch wenn sich „beide Seiten heftig wehren“ (S. 104) Gut gesehen. Die Beziehung der beiden ist eine verkappte Liebesbeziehung.

Der letzte Satz der Judith erwähnt laute „Judith ist nie wieder aufgetaucht“ (S. 105), Nein, so lautet er bei May eben nicht, sondern „Judith hat nie wieder von sich hören lassen“, was eindeutig persönlicher und eben auch sozusagen verräterischer ist.

„Die hat ihre Gefangenenwärter doch in zwei Wochen zu Butlern umfunktioniert“ ('Das ist Fritschens Geschoß', frei nach Schiller), habe eine „mit mir befreundete begeisterte Mayleserin kommentiert“ (S. 105), die Frau hat Recht. (Und was für Butler ... Phantasie laß nach.)

Das bedauerliche „abzumurksen“ auf S. 196 geht nun wieder in Richtung Niveausturz, noch einmal, gegen flappsige Formulierungen ist per se nichts einzuwenden, aber wenn sie einen ganz unpassend und unvermittelt sozusagen wie ein kalter Lappen erwischen nach soviel Klugem und Tiefem, ist Schmerzfreiheit nicht gewährleistet ...

„Aber bei den immer fassungsloser werdenden Ausrufen, die Judiths unglaubliches Verhalten Old Shatterhand entlockt, schwingt stets auch Anerkennung mit.“ (S. 106), „unterschwellige Faszination des Ichs und des Textes“ [...] „das Augenmerk wird auch weg von ihren unerfreulichen Eigenschaften hin auf ihre bewunderungswürdigen gelenkt“ (S. 107), sehr gut gesehen.

„Sie sind ein wenig wie zwei Seiten einer Münze, die einander immer entgegengesetzt, aber auch untrennbar miteinander verbunden sind.“ (S. 107). Sehr gut.

„Mir will jedoch der Verdacht kommen, dass die halsstarrige Judith, die kompromisslos tut, was sie will, auch ein verborgenes Alter Ego des Ichs, wenn nicht sogar ihres Autors ist.“ (S. 108) Ja !

„Sie ist nicht durch die gleichen strengen ritterlich-christlich-humanistischen Prinzipien gebunden wie das Ich und kann so vergnügt und unbekümmert all die Dinge tun, die dem Helden versagt bleiben. Hinter ihrer Maske kann sich ihr Autor so richtig austoben.“ (S. 108) Das klingt schon etwas krass, aber Übertreiben veranschaulicht bekanntlich ... Denken wir in Sachen Austoben an Thomas Mann und seine ‚doppelte Sicherung‘ mit Herrn Zeitblom ...

Dieses Kapitel ist insgesamt ganz ausgezeichnet.
Rene Grießbach
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Re: Nscho-Tschi und ihre Schwestern

Beitrag von Rene Grießbach »

Zunächst einmal Danke an rodger für die fleiige Analysearbeit zu dem Buch. Die für mich, der ich das Buch derzeit auch, aber langsamer lese, eine Bereicherung darstellt.
Speziell bei den Abschnitten um Martha Vogel und Judith fiel mir - kurz umrissen - auf, dass sich hier May, und das ist mir beim Lesen der Originaltexte so gar nicht bewusst geworden, als Verfechter der Emanzipation der Frau betätigt. Eine Haltung, die zu seiner Zeit überhaupt nicht selbstverständlich war. Und im Abschnitt zu Judith, da hat es mir dann doch besonders der direkte Vergleich Judith-Shatterhand angetan. Was dann in dem Abschnitt zur Miss Admiral ähnlich passierte.

Was die Benutzung von bearbeiteten Texten aus dem KMV betrifft, so z.B. die ständige Erwähnung vom Kapitän Kaiman, den May gar nicht kannte, oder auch die KMV-Buchtitel - nun ja, da denke ich mal, dass das wohl der Autorin eher nicht anzulasten ist. Vielmehr vermute ich, dass das auf eine, sagen wir, redaktionelle Forderung des KMV zurückgeht, der keinen allzu großen Widerspruch zu seinem Buchprogramm haen wollte. Ist aber nur eine Vermutung, die noch dazu abgeschwächt werden könnte durch den Sachverhalt, dass in anderen Sonderbänden ja auch aus Original Maytexten zutiert wurde.
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rodger
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Re: Nscho-Tschi und ihre Schwestern

Beitrag von rodger »

Rene Grießbach hat geschrieben: Zunächst einmal Danke an rodger für die fleiige Analysearbeit zu dem Buch. Die für mich, der ich das Buch derzeit auch, aber langsamer lese, eine Bereicherung darstellt.
Dankeschön ... ich dachte schon ans Aufhören, dachte bei mir du schreibst und arbeitest dir hier 'nen Wolf und den Leut' geht's grad' irgendwo vorbei ... Nun, das wird nach wie vor meerschtenteels so sein, aber daß immerhin einer mal reagiert läßt mich für einen Moment die Illusion schmecken dem sei nicht so ...

:mrgreen:
Speziell bei den Abschnitten um Martha Vogel und Judith fiel mir - kurz umrissen - auf, dass sich hier May, und das ist mir beim Lesen der Originaltexte so gar nicht bewusst geworden, als Verfechter der Emanzipation der Frau betätigt.
Hm ... sehe ich eigentlich nicht so. Wobei ich mit dem Begriff Emanzipation eh nicht soviel anfangen kann ... Die Emanzipation der Äpfel in Sachen Birnen ...
Was die Benutzung von bearbeiteten Texten aus dem KMV betrifft, so z.B. die ständige Erwähnung vom Kapitän Kaiman, den May gar nicht kannte, oder auch die KMV-Buchtitel - nun ja, da denke ich mal, dass das wohl der Autorin eher nicht anzulasten ist. Vielmehr vermute ich, dass das auf eine, sagen wir, redaktionelle Forderung des KMV zurückgeht
Ich gestehe mich dieses Verdachts zwischenzeitlich ebenfalls nicht erwehren gekonnt zu haben ... Das wäre freilich ein Rückschritt im Vergleich zu Tendenzen einiger Jahre zuvor ... und bereits beim "Lesebuch" dachte ich noch einen Schritt weiter, nämlich daß man vielleicht davon ausgeht, daß man auf Seiten der KMG in der Hinsicht mittlerweile "Ruhe zu geben" bereit ist, im Sinne allgemeinen, salopp ausgedrückt, Friedefreudeeierkuchenburgfriedens, und man daher getrost zu schlechtem Brauch und alter Sitt' zurückkehren kann ...

Andererseits müßte dann ein Lektor wirklich beträchtliche Arbeit geleistet haben beim Maierschen Buch ... oder aber die Frau Maier bereit gewesen sein sich anzupassen und zu ignorieren, daß Karl May halt anders geschrieben hat als es in den von ihr zitierten Bänden steht ... Oder es ist ihr tatsächlich nicht bewußt in welchem Ausmaß das der Fall ist ... (die erwähnte Freundin hätte es ihr sagen können ...) ich weiß es nicht ...

Noch einmal, für die Schwarzweißler: teilweise mag ich die Bearbeitungen, erfreue mich an "Allah il Allah" und einigen anderen gelungenen Bänden, ich will die Angelegenheit keineswegs generell "verteufeln", aber wenn man ernsthaft mit dem Autor May sich auseinandersetzt sollte man ihn schon so zitieren wie er halt geschrieben hat ...
Rene Grießbach
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Re: Nscho-Tschi und ihre Schwestern

Beitrag von Rene Grießbach »

Sinngemäß ist in dem Aschnitt über die Miss Admial zu lesen, dass sie nach Ansicht von Katharina Maier trotz ihres verwerflichen Berufs (Pirat) doch gewissermaßen Sympathieträgerin ist.
Nicht übel. Habe ziemlich lang drüber nachgedacht und dann festgestellt - die Frau hat recht.

Der letzte Absatz in dem Abschnitt (Seite 122) liest sich so:
"Die Miss Admiral ist ein Bösewicht. Sie ist aber auch ein Held. Das eine wird sie durch ihre kriminellen Machenschaften, das andere durch ihre Haltung, ihre Fertigkeiten, ihre Kraft, ihren Mut, ihre Souveränität und ihre Spielfreude. (...) wir können und wollen ihr unsere Bewunderung nicht versagen und beobachten sie mit diebischer Freude dabei, wie sie die Männer in ihrer Umgebung aufs Kreuz legt - bildlich und wortwörtlich. All die lustvollen Spielereien , die von und mit der Miss Admiral getrieen werden, führen dazu, dass wir sie ungeachtet ihres Bösewichtinnentums eher lieben als hassen und trotz allem ein kleines bisschen auf ihrer Seite stehen."

Dass man sich beim Lesen solcher Einschätzungen teilweise ganz neue Gedanken über bereits mehrfach gelesene Texte macht, ist - denke ich - eines der hervorzuhebenden Verdienste dieses Buches. Und ich erwische mich gerade jetzt, beim Eintippen dieser Zeilen, dabei, dass ich mein Gedächtnis durchforste danach, ob es in andern May-Texten noch den einen oder anderen Schurken gibt, für den man ähnliche - hm - zwiespältige Gefühle aufbringen kann wie für die Miss Admiral. Bis jetzt durchforste ich vergeblich, wenn ich von Judith absehe, und das zeigt dann auch, dass die Miss Admiral tatsächlich eine Sonderrolle im "Mayversum" (ein für mich gewöhnungsbedürftiges Wort aus dem Buch) einnimmt.
Wobei bei Judith nicht unbedingt Sympathie das ist, was ihr entgegengebracht werden kann, nein, bei ihr ist es etwas anders. Eine Mischung aus Verachtung für ihre Methoden und Ziele und Achtung dafür, dass sie beständig und unbeirrbar der Männerwelt incl. Shatterhand Paroli bietet. Katharina Maier weißt ja auch darauf hin, dass selbst der Ich-Erzähler ihr dafür Bewunderung zollt, wie sie sich in der Wildnis bewährt.

Interessant auch der Vergleich von Miss Admiral mit FLUCH DER KARIBIK.
"In der Tat ließe sich kaum eine bessere Partnerin für Johnny Depps Captain Jack Sparrow denken als Mays Miss Admiral" (S. 110)
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rodger
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Re: Nscho-Tschi und ihre Schwestern

Beitrag von rodger »

Zunächst das zuvor schon fertiggestellte Textchen zum nächsten Kapitel, es überschneidet sich thematisch mit dem zuletzt von Rene geschriebenen; auf seinen Beitrag gehe ich dann im Anschluß ein;

Die Miss Admiral, oder: Eine Heldenschurkin

Den unentwegt genannten „Kapitän Kaiman“, der bei May Schwarzer Kapitän bzw. Latour heißt, hat Rene schon erwähnt ...

Treskow dürfte keineswegs „entrüstet“ (S. 112) sein, als er erwähnt, daß Latour und die Miß Admiral nicht die Absicht haben, einander zu heiraten, das ist seitens Treskow eine nüchterne Feststellung, allenfalls eine launige Bemerkung, weiter nichts. „Die beiden sahen sehr bald ein, daß sie vortrefflich zu einander paßten, aber nicht etwa, um einander zu heiraten, o nein! denn die 'Miß Admiral' ist in dieser Beziehung niemals ein Frauenzimmer gewesen, sondern in ganz anderer, sagen wir, geschäftlicher Beziehung.“ So steht es in Old Surehand II. Und gemeint ist natürlich nebenbei so etwas wie daß man Segeln kann auch ohne als Kapitän[in] der Yacht eingeschrieben zu sein ... womit auch die rhetorische Frage der Autorin „was auch immer das genau heißen mag“ (das mit dem Frauenzimmer) beantwortet sein dürfte ...

Auch Miß Admiral wird seitens Erzähler und Autor „bewundert“ (S 117), das ist richtig. (Nicht nur bewundert, schon klar, aber auch.)

Insgesamt herrscht mir in diesem Kapitel ein zu neckischer Ton vor, die Judith im Kapitel zuvor nimmt die Autorin erheblich ernster, hier wird nun mehr an der Oberfläche entlanggesegelt, um im maritimen Bild zu bleiben.

Das „wir“ auf S. 122 unten stört mich auch ein wenig ... wer ist „wir“ ? Die Autorin und ihre Freundin[nen] ? Oder wird dem Leser suggeriert, was er empfinden soll ?

*

Nun zu Rene;
Rene Grießbach hat geschrieben: Dass man sich beim Lesen solcher Einschätzungen teilweise ganz neue Gedanken über bereits mehrfach gelesene Texte macht, ist - denke ich - eines der hervorzuhebenden Verdienste dieses Buches.
Ja, sie guckt manchmal tiefer und besser hin als man es von anderen gewohnt ist.
Und ich erwische mich gerade jetzt, beim Eintippen dieser Zeilen, dabei, dass ich mein Gedächtnis durchforste danach, ob es in andern May-Texten noch den einen oder anderen Schurken gibt, für den man ähnliche - hm - zwiespältige Gefühle aufbringen kann wie für die Miss Admiral.
Jede Menge, Abrahim Mamur, Abu Seif, Schut, Sendador, Ahriman Mirza, Gul von Schiras, Santer jrs. ...

Murat Nassyr ... Bei dem ist's anders gelagert. Mit dem kann man halt gut plaudern und Biertrinken, auch wenn er ein Halunke ist ...
Katharina Maier weißt ja auch darauf hin, dass selbst der Ich-Erzähler ihr dafür Bewunderung zollt, wie sie sich in der Wildnis bewährt.
Ich gehe davon aus daß er sie unterschwellig liebt ... auch wenn ihm das vielleicht nicht bewußt ist ... (Seinem Autor ist's bewußt aber er zeigt es nur zwischen den Zeilen ...)

Den "Fluch der Karibik" kenne ich nicht, da kann ich nicht mitreden ... (Wenn überhaupt Zeitgenössisches, dann mag ich's gemütlicher. Wenn's die 'Rosenheim-Cops' wären, könnt' ich mit fachsimpeln ...)

:D
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rodger
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Re: Nscho-Tschi und ihre Schwestern

Beitrag von rodger »

Am Lagerfeuer: GrenzgängerInnen

„also ‚männlich‘ und ‚weiblich‘“ (S. 125), in Sachen energisch und gebieterisch resp. freundlich und mild sehe ich keinerlei Unterschied zwischen Männern und Frauen ... May sah den auch nicht ...

„In älteren Fassungen des Textes“ (S. 125), es geht um „Weihnacht“ und insofern ist diese Formulierung / Information einfach falsch, es gibt keine ältere Fassung von „Weihnacht“, es gibt einen Text Mays und eine Bearbeitung, die nicht von ihm ist ... Insofern ist der Fall völlig anders gelagert als in zuvor erwähnten Werken wie Old Surehand II / Auf der See gefangen, da gibt es schon bei May verschiedene Fassungen, nicht aber bei „Weihnacht“ ... So etwas ist entweder Unwissen oder aber, wie sollen wir es nennen, Gemauschel.

Auf dem Thema Androgynie wird unnötigerweise allzu sehr herumgeritten, offene Türen eingerannt ... Wer Mays Texte – im Original – liest und das nicht wahrnimmt, hat Tomaten auf den Augen ...

Grenzgänger sind die Mayschen Protagonisten – wohl wahr ... („Ich selbst war an Abgründen und Verräterspalten. Ich war an den Grenzen des Menschlichen - ich war in den Rocky Mountains, wo nur wenige waren: in den geistigen. Ich bin auf Pfaden geklettert. Und - all das ahnen sie nicht.“ soll May laut Robert Müller gesagt haben ...)

„Vergiss Ellen.“ (S. 128) Das ist wieder so ein lockerer Schnack, indessen ganz unangemessen ... Ellen dürfte die interessanteste Figur der Mayschen Vorzeigefrauen sein ...
Rene Grießbach
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Re: Nscho-Tschi und ihre Schwestern

Beitrag von Rene Grießbach »

rodger hat geschrieben:
Und ich erwische mich gerade jetzt, beim Eintippen dieser Zeilen, dabei, dass ich mein Gedächtnis durchforste danach, ob es in andern May-Texten noch den einen oder anderen Schurken gibt, für den man ähnliche - hm - zwiespältige Gefühle aufbringen kann wie für die Miss Admiral.
Jede Menge, Abrahim Mamur, Abu Seif, Schut, Sendador, Ahriman Mirza, Gul von Schiras, Santer jrs. ...

Bei den beiden Santer-Söhnen könnt das hinkommen. Bei den anderen, in meinen Augen zumindest, nicht. Mag aber bis zu einem gewissen Grad auch Ansichtssache sein.
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Re: Nscho-Tschi und ihre Schwestern

Beitrag von rodger »

Wobei ich nachträglich noch dachte, die fallen ein bißchen aus der Aufzählung raus ... bei ihnen ist es mehr Mitgefühl, was der Autor empfindet, bei den anderen mehr unterschwellige Faszination. Bei Abrahim Mamur kann der Leser Mitgefühl empfinden, wenn er realisiert, wie der Mann hintergangen wird, der Erzähler erschleicht sich dessen Vertrauen um ihm das Liebste zu nehmen was er hat ... Und als er da in Band 3 zwischenzeitlich entkommt, kann der Leser das Gefühl haben, insgeheim freut sich der Autor darüber, imponiert es ihm ... auch wenn 'sein Mund anders spricht' ...

Abu Seif und er empfinden eine gewisse Hochachtung voreinander, zumindest Respekt ... Das wird recht deutlich gesagt ... Auch beim Schut hat man es mit einem Gegner "auf Augenhöhe" zu tun. Beim Sendador wird das noch deutlicher. Und Ahriman und Gul imponieren ihm auch ... (was die Gul betrifft kann man es nur erahnen aber ich denke mal ich liege nicht so falsch ... Vor Ahriman / Mamroth hat er durchaus einen gewissen Respekt, vor Ghulam el Multasim / Cardauns nicht ...)
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Re: Nscho-Tschi und ihre Schwestern

Beitrag von Rene Grießbach »

Eine Überlegung meinerseits zum Rosalie-Ebersbach-Kapitel:

Wir lesen auf Seite 176/177:

"Der eigentliche Clou bei Mays karnevalesken Figuren (...) ist, dass unter ihrem bizarren Äußeren, unter all den Ticks und Lächerlichkeiten immer das Potenzial des Edelmenschen schlummert (...) Die kleinen Männchen Sam Hawkens und Hobble-Frank sind Westhelden, denen im Ölprinz fast mehr Raum gewährt wid als Winnetou und Old Shatterhand, und Rosalie Ebersbach zieht eindeutig mehr narrative Aufmerksamkeit auf sich als die Frau des Navajo-Häuptlings, die das Ideal der edlen Gattin und Mutter verkörpert. Während sich nämlich diese vorbildliche "Frau Häuptling" (...) längst als Edelmenschin etabliert hat, ist Rosalie erst noch auf dem Weg dahin, und wir dürfen sie gespannt ein Stück weit begleiten (ob sie oder die Westschelme je im Ideal ankommen werden, bleit fraglich, aber darum geht es auch nicht)."

Hier sehen wir m.E. auch, dass die deutlich interessantere Figur die ist, die noch nicht zum May´schen Edelmenschen gereift ist. Ich gehe soweit, zu sagen, dass eine Figur wie Rosalie Ebersbach dadurch, dass sie eben noch nicht Edelmensch ist sondern auch mit liebenswerten Fehlern und Schwächen behaftet ist, einfach sympathischer wirkt als ein "fertiger" Edelmensch im May´schen Sinne. (der offensichtlich nicht den kleinsten Fehler, die kleinste Schwäche haben darf; unrealistischer gehts nicht)
Das trifft auf Rosalie ebenso zu wie auf Hobble-Frank oder Sam Hawkens. Und was nun den letzteren betrifft, da hat es mich gerade im Ölprinz schon immer gestört, dass er, der zu Beginn der Erzählung ein vollwertiger Westmann ist (und im etwa gleichzeitig entstandenen "Winnetou I" der erste Lehrer Shatterhands war), nach dem Auftauchen von Shatterhand und Winnetou zum unfertigen und fehlerhaften Deppen (um es böse zu formulieren) degradiert wird. (Aber das nur am Rande, hier gehts um die Frauen)
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Re: Nscho-Tschi und ihre Schwestern

Beitrag von rodger »

Ich halte den Begriff „Edelmensch“ für von May sehr unglücklich gewählt ... Gelinde gesagt. Es gibt keinen Edelmenschen, das ist Quatsch. Und die Wortwahl völlig daneben. Er kann eigentlich nur meinen: jener E. ist einer, der neben allen „Höhen“ eben auch alle „Tiefen“ in sich erkannt, als sich zugehörig erkannt hat und so, durch Bewußtsein, vielleicht darüber hinaus kommt, d.h. zum Beispiel Gier, Feigheit usw. erkannt, angenommen und integriert hat und so diese Dinge vielleicht von ihm abfallen, sich auflösen können ... oder anders ausgedrückt Gier, Feigheit usw. sind dann durchaus noch vorhanden, aber nicht mehr bestimmend, man kann mit ihnen umgehen, sie beherrschen einen nicht mehr, man beherrscht sie ... So „geht“ „Edelmensch“, anders nicht ...

Sam Hawkens wird bei May nicht zum Deppen, er tritt nur im Lauf der Zeit deutlich in den Hintergrund. Und er macht halt Fehler. Das kann vorkommen; ein Depp ist er deswegen noch lange nicht. (Das wurde ja seinerzeit auch bei den Snuffles falsch gesehen ... Schwarzweißmalerei halt.) Z.B. erleben wir (Ihr vielleicht nicht, aber ich ... :lol: ) es ja auch immer wieder,daß ein intelligenter Mensch, der durchaus über gewisse Fähigkeiten verfügt, im Alltag Züge von Trotteligkeit an sich haben kann ... er ist deswegen nicht ein Trottel, er hat halt trottelige Anteile ...
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