Dr. William E. Thomas MD

Karl May – Weglaufen von Zuhause

 

Als Karl May vierzehn Jahre und einen Monat alt war, lief er von Zuhause fort. Dies geschah kurz vor dem 16. März 1856, dem Tag seiner Konfirmation.[1] Die Situation daheim war zu dieser Zeit sehr angespannt. Da man nur beschränkte Mittel hatte, um Karl, den einzigen Sohn, während seiner weiteren Ausbildung zu unterstützen, musste eine Entscheidung über seine Zukunft getroffen werden.[2]

Am kritischen Abend davor scheiterte Karls Mutter mit ihrem Versuch, finanzielle Unterstützung von einem ortsansässigen Kaufmann zu gewinnen, um ihrem Sohn durch die Finanzierung seiner Schulung zu helfen. Der zornige und leicht erregbare Vater verließ das Haus mit einer Bemerkung: »... Karl geht auf das Seminar, und wenn ich mir die Hände blutig arbeiten soll!«[4] Dies war mehr ein Ausdruck seiner Frustration und Hoffnungslosigkeit, als eine moralische Unterstützung für seinen Sohn.

Jahrzehnte später, 1910, beschrieb Karl May die Szene in seiner Autobiografie: »Als Vater nach Hause gekommen und dann eingeschlafen war, stieg ich aus dem Bett schlich mich aus der Kammer und zog mich an. Dann schrieb ich einen Zettel: ›Ihr sollt euch nicht die Hände blutig arbeiten; ich gehe nach Spanien; ich hole Hilfe!‹«[5]

Weglaufen von Zuhause wird als Verhaltensstörung klassifiziert[6][7][8]. Nur einige dieser Fälle sind Augenblickseinfälle. Die meisten davon sind gut durchdacht, und die Gründe, es zu tun, sind verschieden. Wie bei anderen üblichen psychologischen Problemen bei Kindern und Jugendlichen ist Kindesmisshandlung (physisch, sexuell oder emotional) ein wichtiger Faktor, der für ihr Auftreten verantwortlich ist. Dieses Verhaltensmuster betrifft überwiegend Jungen und umfasst die größte Gruppe der kindlichen emotionalen Störungen.

Die folgenden Familienfaktoren werden heutzutage dafür verantwortlich gemacht, zu Verhaltensstörungen in der Jugend (12 bis 16 Jahre) beizutragen:[9]
 

Es gibt mindestens vier Faktoren, die auf die häusliche Situation des jungen Karl May zutreffen.

Der Junge kam nicht weit, geschweige denn nach Spanien. Nach fünf Stunden Weg holte ihn sein Vater ein, als er in einem Dorf ausruhte, wo seine Verwandten lebten.[10] Es ist interessant, dass der Vater den Jungen nicht bestrafte. Vielleicht erkannte er seinen Anteil an der ganzen Affäre: Er, der jähzornige, leicht überhitzige Mann, verhielt sich ganz anders als gewöhnlich. Seine Augen waren feucht. Er sagte mir kein einziges Wort des Zornes. Er drückte mich an sich und sagte: »Mach so etwas niemals wieder, niemals!«[11]

Natürlich konnten die Motive des Vaters eher egoistisch als uneigennützig gewesen sein. Er führte seinen vierzehn Jahre alten Sohn an der Hand nach Hause. Dies kann ein Ausdruck von Zärtlichkeit gewesen sein. Diese Geste könnte aber auch auf das Schuldgefühl des Vaters hingewiesen haben, das er das Weglaufen seines einzigen Sohnes verursacht hatte.

Entsprechend den gegenwärtigen Kriterien würde das Weglaufen von Karl May nicht als eine echte Verhaltensstörung angesehen werden. Die Amerikanische psychiatrische Vereinigung klassifiziert Weglaufen von Zuhause wie folgt:

»… ist von zuhause über Nacht zumindest zweimal weggelaufen, während er im elterlichen oder einem Pflegeeltern-Heim lebt (oder einmal für eine lange Zeit ohne zurückzukehren).«[12]

Verhaltensstörungen sind eine komplizierte Gruppe von behavioristischen und emotionalen Problemen bei Jugendlichen. Die Forschung zeigt, dass die Zukunft solcher Jugendlichen wahrscheinlich sehr unglücklich sein wird, wenn sie und ihre Familien keine frühzeitige, andauernde und umfassende Behandlung erhalten. Viele Faktoren können dazu führen, dass ein Kind eine Verhaltensstörung entwickelt. Negative Familien- und soziale Erfahrungen gehören dazu. Die Behandlung von Kindern mit Verhaltensstörungen ist schwierig, da die Ursachen komplex sind, und jeder Jugendliche einzigartig ist.

Zur Zeit besteht die Behandlung von Verhaltensstörungen aus:[13]
 

 
Bald nach dem Vorfall des Weglaufens wurde Karl May zum Lehrerseminar in Waldenburg zugelassen. Er begann seine Ausbildung zu Beginn des europäischen Schuljahreszyklus im September 1856 und wurde dort ein Internatsschüler. Das Bildungsprogramm dort hat nicht vollständig geholfen, wie der spätere Vorfall mit den Kerzen gezeigt hat.

Das Weglaufen von Karl May, als er vierzehn Jahre alt war, war ein Ausdruck von Stress und beunruhigender Situation zuhause. In seiner Autobiografie schrieb Karl May: »Das, was man als ›Jugend‹ bezeichnet, habe ich nie gehabt.«[14] Was Karl May durchlebte, war eine gestörte, anstrengende und traumatisierende Jugend.

 


 

Anmerkungen

[1] Karl May: ›Mein Leben und Streben‹, Freiburg [1910], Reprint Hildesheim - New York 1997. Anhang: S. 365, Anmerkung 89.

[2] Ebd., S. 77.

[3] Ebd., S. 78.

[4] Ebd., S. 79.

[5] Ebd., S. 79.

[6] Mental Health Practice Essentials. Australasian Publishing Co., Sydney 1998. p.66

[7] Pataki CS, Carlson GA: ›Affective disorders in children and adolescents‹. In: Tonge BJ, Burrows G, Werry J. editors: 'Handbook of studies on child psychiatry.' Amsterdam; Elsevier 1990, pp.137-160.

[8] Anderson JC: ›Conduct disorders‹. In: Tongue BJ. et alii – editors: ›Handbook of studies on child psychiatry‹, Amsterdam; Elsevier 1990, pp.283-298.

[9] Wie Anm. 6, S. 67.

[10] Karl May: ›Mein Leben und Streben‹, wie Anm. 1, S. 92.

[11] Ebd, S. 93.

[12] ›American Psychiatric Association‹. (1994). Diagnostic and statistical manual of mental disorders. Fourth edition, Washington, DC.

[13] Wie Anm. 6, S. 67.

[14] Karl May: ›Mein Leben und Streben‹, wie Anm. 1, S. 53.

  


  

Karl May aus medizinischer Sicht

Karl May – Forschung und Werk