Dr. William E. Thomas MD

Karl May und Dissoziative Identitätsstörung

 

 

Index

Einführung
Trauma – Misshandlungen, die Karl May in seiner Kindheit erlitt
Die Anfänge von Karl Mays D.I.D.
Karl Mays Seelenzustand
Wechselnde Persönlichkeiten übernehmen die Kontrolle des Verhaltens der Person
D.I.D. kann geheilt werden
Schlussfolgerung
Zeittabelle
Anmerkungen

 
»Ich leugne nicht, daß ich vor nun 40–50 Jahren mit dem Gesetz in Konflikt gekommen und dafür bestraft worden bin; aber was ich damals in tiefster Depression und Zwangslage tat, würde in der jetzigen, aufgeklärten Zeit nicht vor den Richter, sondern vor den Arzt gehören.«
[Karl May am 4. August 1910.][1]

 

Einführung

 
Karl May (1842–1912) war ein Schriftsteller fesselnder Reise- und Abenteuerromane, der in Sachsen geboren wurde. Es gibt über 70 Bände seiner Bücher, übersetzt in mehr als 32 Sprachen.
[2] Mays erzählerisches Talent, das Tatsachen mit Fiktion kombiniert, faszinierte Generationen von jungen und älteren Lesern. In seiner Autobiografie hat May den Seelenzustand beschrieben, in dem er sich in den Jahren 1862 bis 1874 befand.[3] Dieser war ein Rätsel für ihn und für alle, die sein Leben und sein Werk erforschen.

1994 wurde die verblüffende Dissoziative Identitätsstörung [Dissoziative Identity Disorder = DID] in der vierten Ausgabe des ›Diagnostischen und Statistischen Handbuches der Geistesstörungen‹[4] der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung erkannt und beschrieben. Dissoziative Störungen werden jetzt als die Folgen eines schweren Traumas in früher Kindheit angesehen, von wiederkehrendem physischen, emotionalen oder sexuellem Missbrauch. Wenn ein Kind mit einer traumatischen Situation konfrontiert wird, vor der es keine physische Flucht gibt, kann es auf eine ›Flucht‹ in seinem/ihrem Kopf zurückgreifen. Durch diesen Prozess der Loslösung, der eine äußerst schöpferische Überlebenstechnik ist, können Gedanken, Gefühle, Erinnerungen und Wahrnehmungen der traumatischen Erfahrungen psychologisch abgetrennt werden, und er erlaubt dem Kind, zu ›funktionieren‹, als ob das Trauma nicht stattgefunden hätte.

Die diagnostischen Merkmale von Dissoziativer Identitätsstörung [in Deutschland auch ›Dissoziative Identitäts-Syndrom‹ (DIS) genannt] werden in dem Statistischen Handbuch (DSM IV)[5] wie folgt definiert:
 

Kriterium A

Gegenwart von zwei oder mehr verschiedenen Identitäten oder Persönlichkeitszuständen.

Kriterium B

Diese übernehmen wiederholt die Kontrolle des Verhaltens.

Kriterium C

Die Unfähigkeit, sich an wichtige persönliche Informationen zu erinnern, deren Ausmaß zu groß ist, als dass sie durch gewöhnliche Vergesslichkeit erklärt werden kann.

Kriterium D

Die Störung ist nicht die Folge der direkten physiologischen Effekte einer Substanz oder eines allgemeinen medizinischen Zustandes.

  
Von Wichtigkeit ist auch der Fluchtzustand, bei dem eine Person von Zuhause weggeht in einem Zustand geänderten Bewusstseins. Die diagnostischen Kriterien wie beschrieben in DSM-IV sind:

  1. Plötzliches, unerwartetes Verlassen von Heim oder Arbeit, verbunden mit der Unfähigkeit, sich an einiges oder alles aus seiner Vergangenheit zu erinnern.
  2. Verwirrung über die persönliche Identität oder Annahme einer neuen Identität.
  3. Die Störung geschieht nicht ausschließlich während des Anfalls von D.I.D. und tritt nicht als Nebenwirkung einer Substanz oder allgemeinen medizinischen Zustandes auf.
  4. Die Symptome verursachen ein klinisch bedeutsames Leiden oder eine Beeinträchtigung der Körperfunktionen.
  5. Der Anfang von dissoziativer Flucht steht gewöhnlich in Zusammenhang mit traumatischen, stressbedingten oder überwältigenden Lebenserfahrungen.

Die bedrückenden Symptome von D.I.D. sind akustische und visuelle Halluzinationen, Gedächtnisschwund, Verlust des Zeitgefühls, Depression, Schlafstörungen wie Schlaflosigkeit, Alpträumen, Panikattacken, und Psychosen-ähnliche Anzeichen.

Eine Person mit D.I.D. hat innerhalb seiner oder ihrer Persönlichkeit zwei oder mehr Wesen, oder Persönlichkeitszustände, jedes mit seiner eigenen unabhängigen Art von Beziehung, Wahrnehmung, Denken und Erinnerung in Bezug auf sich selbst und sein Leben. In diesem Zusammenhang ist es von Interesse, die Worte von drei außergewöhnlichen Schriftstellern anzuführen: Somerset Maugham, Jack London und Karl May:

»Es gibt Zeiten, in denen ich die verschiedenen Teile meiner Persönlichkeit mit Verwirrung betrachte. Ich erkenne, dass ich aus mehreren Personen bestehe, und dass die Person, die im Augenblick die Oberhand hat, unweigerlich einer anderen Platz machen wird. Aber welche ist die wahre? Sie alle oder keine von ihnen?« [Somerset Maugham][6]

»Mein ganzes Leben lang habe ich Kenntnis von anderen Zeiten und Orten gehabt. Ich war mir anderer Personen in mir bewusst.« [Jack London][7]

»Ich habe meinem Geiste und meiner Seele ein irdisches Gewand gegeben, Roman genannt … Dieses Gewand ist der einzige Körper, in dem es meinem inneren Menschen möglich ist, mit meinen Lesern zu reden, sich ihnen sicht- und hörbar zu machen.« [Karl May][8]

Einige Leute mit D.I.D. können äußerst verantwortungsvolle Berufe ausüben, indem sie ihren Beitrag zur Gesellschaft in einer Vielfalt von Berufen und Künsten leisten. Gegenüber Kollegen, Nachbarn und anderen, mit denen sie täglich Umgang haben, scheinen sie normal zu reagieren.

D.I.D. kann geheilt werden. Der Zustand ist in hohem Maße empfänglich für individuelle Psychotherapie wie auch für eine Vielzahl anderer Behandlungsmethoden, einschließlich Medikation, Hypnosebehandlung, und zusätzlicher Therapien wie z.B. Kunst, Musik oder Bewegungstherapie. Die Behandlung ist langwierig, hat aber die besten Erfolgschancen. Individuen mit D.I.D. wurden erfolgreich von Therapeuten jeglichen berufsmäßigen Hintergrundes in einer Vielfalt von Begleitumständen behandelt. 

Der Fall des Schriftstellers Karl May ist aus vielen Gründen interessant. Er war fähig, genau die Symptome von D.I.D. zu beschreiben, fast ein Jahrhundert bevor es als eine Krankheit erkannt wurde. May versuchte anhand eines zeitgenössischen Lehrbuchs der Psychiatrie[9] herauszufinden, was mit ihm geschehen war und beschrieb ein Symptom, das dort nicht verzeichnet war: den Dissoziativen Fluchtzustand.

Karl-May-Biografen und Kritiker haben die Tatsache oft erwähnt, dass der Autor dieses Lehrbuch in seiner Bibliothek hatte, es durchlas, aber keine Erwähnung davon machte. So, wie heutzutage sogar gebildete Leute zu medizinischen Schriften greifen in dem Bestreben, mehr über ihre Krankheiten zu erfahren.

Alle bisherigen Versuche, den Seelenzustand von Karl May zu erklären, waren unbestimmt und nicht überzeugend. Er wurde als ein schwer affektierter Neurotiker präsentiert, der an Hysterie litt, ein psychosomatischer Traumwandler. Sogar ein neuer Ausdruck wurde geprägt – ›Pseudologia Phantastica‹.[10] Karl May wurde als ein von narzistischer Selbstliebe geplagter Mensch angesehen. Mays Beschreibung in seiner Biografie, er habe Stimmen gehört, z. B. Zeichen von Halluzinationen, ist nie ernstgenommen worden. Falls es so gewesen wäre, müsste May als ein Schizophrener diagnostiziert werden, was natürlich mit dem Verlauf seines Lebens und all seinen literarischen Werken nicht übereinstimmen würde.
 

Trauma – Misshandlungen, die Karl May in seiner Kindheit erlitt

  
Karl May wurde sich seiner Blindheit im 3. Lebensjahr bewußt. Er wird zumeist dahingehend interpretiert, dass er sein Augenlicht bereits kurz nach der Geburt verlor: »Dass ich kurz nach der Geburt sehr schwer erkrankte, das Augenlicht verlor und volle vier Jahre siechte …«. Wann er genau das Augenlicht verlor, wird in seiner Satzaufzählung nicht präzise angeben, und er konnte es auch nicht. Kein Mensch kann sich bis ins erste Lebensjahr zurückerinnern. Dass May volle vier Jahre siechte, bezieht sich auf sein allgemeines Befinden, denn er kehrte nach einer Augenbehandlung auch im übrigen gesundend aus Dresden heim.

Über die normale Entwicklung des Sehens beim Neugeborenen ist bekannt, daß ein gewisser Zeitraum nach der Geburt notwendig ist, den visuellen Input zu fördern, damit er das Sehzentrum in der Hirnrinde erreicht und sich dort aufbaut. Wir wissen, daß Karl May nicht mit Katarakten geboren wurde. Er erwähnt keine Operation, um sie zu entfernen, noch musste er dicke Brillengläser tragen. May litt an keinem schädigenden Augenleiden, das seine Hornhaut beeinträchtigt hat, was zu ernsten Sehstörungen im späteren Leben geführt hätte. Die wahrscheinlichste Ursache seiner Augenkrankheit ist deshalb eine milde Form von Xerophthalmie als Folge eines Vitamin-A-Mangels, ausgelöst durch eine Hungersnot,[11] die 1844 verheerende Ausmaße annahm. Seine Augenhornhaut war nicht geschädigt, aber er konnte wegen geschwollener Augenlider seine Augen nicht öffnen, ein sogenannter ›entzündlicher Blepharospasmus‹. Solch ein Verlust eines der wichtigsten Sinne in einem so frühen Alter muss das Kind tief beeinflusst haben.

»Ich habe in meiner Kindheit stundenlang still und regungslos gesessen und in die Dunkelheit meiner kranken Augen gestarrt, um nachzudenken, … Ich sah nichts. Es gab für mich weder Gestalten noch Formen, noch Farben, weder Orte noch Ortsveränderungen. Ich konnte die Personen und Gegenstände wohl fühlen, hören, auch riechen; aber das genügte nicht, sie mir wahr und plastisch darzustellen. Ich konnte sie mir nur denken. Wie ein Mensch, ein Hund, ein Tisch aussieht, das wußte ich nicht; ich konnte mir nur innerlich ein Bild davon machen, und dieses Bild war seelisch. Wenn jemand sprach, hörte ich nicht seinen Körper, sondern seine Seele.«[12]

Das Kind lernte erst sehen, nachdem es seine Sehkraft durch eine ›Behandlung‹ (nicht durch eine Operation!) von zwei Medizinprofessoren zurückerhalten hatte. Vor dieser Zeit pflegte ihn seine Großmutter. Sie sprach mit ihm und las ihm Geschichten vor.[13]

»Ich war die ganze Zeit des Tages nicht bei den Eltern, sondern bei Großmutter. Sie war mein alles. Sie war mein Vater, meine Mutter, meine Erzieherin, mein Licht, mein Sonnenschein, der meinen Augen fehlte. … Was sie mir erzählte, das erzählte ich ihr wieder und fügte hinzu, was meine kindliche Phantasie teils erriet und teils erschaute. Ich erzählte es den Geschwistern und auch anderen, die zu mir kamen, weil ich nicht zu ihnen konnte.«[14]

Karl Mays Vater war sehr streng mit seinem Sohn. Er wollte all seine eigenen unerfüllten Wünsche im Leben durch Karl realisieren. Die Schule begann für den Jungen ein Jahr vor dem gewöhnlichen Alter, und sein Vater zwang ihn, alle Arten von Büchern und Texten abzuschreiben und auswendig zu lernen.

»Wie mein Vater sich in allem ungeduldig zeigte, so auch in dem, was er meine ›Erziehung‹ nannte. Notabene mich ›erzog‹ er; um die Schwestern bekümmerte er sich weniger. Er hatte alle seine Hoffnungen darauf gesetzt, daß ich im Leben das erreichen werde, was von ihm nicht zu erreichen war, nämlich nicht nur eine glücklichere, sondern auch eine geistig höhere Lebensstellung.«[15]

Der Vater, Heinrich August May, schlug seine Kinder auch:

Am Webstuhl hing ein dreifach geflochtener Strick, der blaue Striemen hinterließ, und hinter dem Ofen steckte der wohlbekannte ›birkene Hans‹, vor dem wir Kinder uns besonders scheuten, weil Vater es liebte, ihn vor der Züchtigung im großen ›Ofentopfe‹ einzuweichen, um ihn elastischer und also eindringlicher zu machen.[16]

Eine andere Beobachtung durch Karl May:

»Mein Vater war ein Mensch mit zwei Seelen. Die eine Seele unendlich weich, die andere tyrannisch, voll Uebermaß im Zorn, unfähig, sich zu beherrschen.«[17]

»Uebrigens, wenn die zehn Stunden vorüber waren, so hatten wir nichts mehr zu befürchten; wir atmeten alle auf, und Vaters andere Seele lächelte uns an. Er konnte dann geradezu herzgewinnend sein, doch hatten wir selbst in den heitersten und friedlichsten Augenblicken das Gefühl, daß wir auf vulkanischem Boden standen und von Moment zu Moment einen Ausbruch erwarten konnten. Dann bekam man den Strick oder den "Hans" so lange, bis Vater nicht mehr konnte.«[18]

Die Blindheit bedeutete bestimmt ein nachhaltiges Trauma für Karl, während dessen er lernte, wie man seinem Elend entflieht. Später misshandelte der strenge Vater, der geneigt war zu Uebermaß im Zorn, unfähig, sich zu beherrschen[19], zweifellos seine Kinder, und seinen Sohn mehr als die Mädchen, weil er seine unerfüllten Wünsche auf ihn übertrug.
 
 

Die Anfänge von Karl Mays D.I.D.
  

Zwei Ereignisse trugen zu dem voll entwickelten D.I.D.-Zustand in Karl May bei: Der Ausschluss aus dem Lehrerseminar und eine Verhaftung durch die Polizei, gefolgt von sechs Wochen Gefängnis.

Weil die Familie May arm war, hatte der örtliche Schirmherr, der Graf von Hinterglauchau, Karl Mays Ausbildung an dem Lehrerinstitut unterstützt. Mays Schwester berichtete später, wie die Familie sich einschränken musste, um Karls Bildung möglich zu machen. Jeder musste einen Teil seines wöchentlichen Verdienstes dazu beitragen.

Weihnachten 1859 wurden sechs Kerzen, die der Schule gehörten, in Karl Mays Besitz gefunden. May wurde aus dem Seminar am 28. Januar 1860 ausgewiesen. Nach einer Bittschrift an das Erziehungsministerium wurde May erlaubt, seine Studien an einem anderen Lehrerseminar zu beenden, wo er die Abschlussprüfungen im September 1861 ablegte.

Wieder an Weihnachten, 1861, als junger Lehrer, wurde er höchst wahrscheinlich zu Unrecht durch einen Mitbewohner angeklagt, eine Uhr nicht zurückgegeben zu haben, die May mit seiner Erlaubnis während der Schulzeit benutzen durfte. Nach zwei erfolglosen Bitten um Nachsicht wurde May vom 8. September bis 20. Oktober 1862 inhaftiert.

Karl May hatte alle Erwartungen seiner Familie enttäuscht. Seine Laufbahn als Lehrer, zu der sie so viel beigetragen hatten, war für immer ruiniert. Später beschrieb Karl May seinen Seelenzustand zu dieser Zeit mit diesen Worten:

»Die im letzten Kapitel erzählte Begebenheit hatte wie ein Schlag auf mich gewirkt, wie ein Schlag über den Kopf, unter dessen Wucht man in sich selbst zusammenbricht. Und ich brach zusammen! Ich stand zwar wieder auf, doch nur äußerlich; innerlich blieb ich in dumpfer Betäubung liegen; wochenlang, ja monatelang. Daß es grad zur Weihnachtszeit geschehen war, hatte die Wirkung verdoppelt. Ob ich mich an einen Rechtsanwalt wendete, ob ich Berufung eingelegt, appelliert oder sonst irgend ein Rechtsmittel ergriffen habe, das weiß ich nicht. Ich weiß nur noch, daß ich sechs Wochen lang in einer Zelle wohnte, zwei andere Männer mit mir.«[20]

»Jene Tage sind aus meinem Gedächtnisse entschwunden, vollständig entschwunden. Ich möchte aus wichtigen psychologischen Gründen gern Alles so offen und ausführlich wie möglich erzählen, kann das aber leider nicht, weil das Alles infolge ganz eigenartiger, seelischer Zustände, über die ich im nächsten Kapitel zu berichten haben werde, aus meiner Erinnerung ausgestrichen ist. Ich weiß nur, daß ich mich vollständig verloren hatte und daß ich mich dann in der Pflege der Eltern und besonders der Großmutter wiederfand. Als ich mich mühsam erholt hatte und wieder kräftig genug auf den Beinen war, bin ich nach Altchemnitz gegangen, um mein beschädigtes Gedächtnis wieder aufzufrischen. Es war in Beziehung auf die Oertlichkeiten vergebens; ich erkannte nichts, weder die Fabrik, noch meine damalige Wohnung, noch irgend eine Stelle, an der ich ganz unbedingt gewesen war.«[21]

Es gibt keinen Grund, nicht zu glauben, was Karl May schreibt. Was May beschreibt, ist als krankhafter Gedächtnisschwund bekannt, eine Erscheinung, bei der ein Bereich der Erfahrungen der ›bewussten‹ Erinnerung unzugänglich wird. In seinem Fall war der Gedächtnisschwund emotional und dissoziativ.

Dissoziativer Gedächtnisschwund ist eine der dissoziativen Störungen, die in DSM-IV beschrieben werden. Es gibt drei diagnostische Kriterien:

  1. Ein oder mehrere Episoden der Unfähigkeit, sich an wichtige persönliche Informationen, gewöhnlich traumatischen oder stressbedingten Ursprungs, zu erinnern, die zu ausgeprägt sind, als daß sie durch gewöhnliche Vergesslichkeit erklärt werden könnten.
  2. Die Störung geschieht nicht ausschließlich während der Dauer einer anderen Geistesstörung, ist nicht Folge der Nebenwirkungen einer Substanz, eines neurologischen und/oder anderen allgemeinen medizinischen Zustands.
  3. Die Symptome verursachen klinisch bedeutsame Erschöpfung oder Beeinträchtigung des Verhaltens.

Alle drei Bedingungen werden erfüllt in dem, was Karl May über seinen Seelenzustand zu dieser Zeit schreibt. Es ist wichtig, zu bemerken, dass May in diesem Zustand keine Therapie bekam. Er kam zu seiner Familie zurück, die er so elend enttäuscht hatte, und die ihm eine schmerzhafte Empfindung verursacht haben dürfte, indem sie ihn an die Ereignisse erinnerte und deshalb als ein ›Auslöser‹ für weitere psychologische Qual diente.

Es ist nicht schwer, sich die familiäre Situation von Karl May während dieser Zeit vorzustellen. Sein Vater war ein Weber, ein rechthaberischer Charakter. Seine Mutter war eine geachtete Hebamme. Von vierzehn Kindern, die ihnen geboren wurden, haben nur fünf bis zum Erwachsenenalter überlebt: drei Mädchen und Karl. Die Großmutter schien eine wichtige Rolle für die Kinder zu spielen. Zweifellos sind hohe Erwartungen in den einzigen Sohn der Familie, Karl, gesetzt worden.

Karl Mays Seelenzustand verschlimmerte sich zwischen Januar 1863 und März 1865. Nach seiner Rückkehr aus der sechswöchigen Haft lebte er bei seiner Familie und ohne irgendwelche Mittel, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten; seine Laufbahn als Lehrer war für allezeit beendet. Er wurde abhängig von der Familie. Karl May versuchte, sein geistiges Gleichgewicht mit Hilfe von Musik durch Komponieren zu erhalten. Er fing auch an, Kurzgeschichten zu schreiben. Es scheint, dass es eine harte und verlorene Schlacht für ihn war. May fing an, mehr und mehr an Halluzinationen zu leiden:

»Es war, als ob ich aus jener Zelle, in der ich sechs Wochen lang eingekerkert gewesen war, eine ganze Menge unsichtbarer Verbrecherexistenzen mit heimgebracht hätte, die es nun als ihre Aufgabe betrachteten, sich bei mir einzunisten und mich ihnen gleichgesinnt zu machen. Ich sah sie nicht; ich sah nur die finstere, höhnische Hauptgestalt aus dem heimatlichen Sumpf und den Hohensteiner Schundromanen; aber sie sprachen auf mich ein; sie beeinflußten mich. Und wenn ich mich dagegen sträubte, so wurden sie lauter, um mich zu betäuben und so zu ermüden, daß ich die Kraft zum Widerstand verlor. Die Hauptsache war, daß ich mich rächen sollte, rächen an dem Eigentümer jener Uhr, der mich angezeigt hatte, nur um mich aus seiner Wohnung loszuwerden, rächen an der Polizei, rächen an dem Richter, rächen am Staate, an der Menschheit, überhaupt an jedermann! Ich war ein Mustermensch, weiß, rein und unschuldig wie ein Lamm. Die Welt hatte mich betrogen um meine Zukunft, um mein Lebensglück. Wodurch? Dadurch, daß ich das blieb, wozu sie mich gemacht hatte, nämlich ein Verbrecher.«[22]

Hier sei die Frage erlaubt, welche Beweiskraft allein Mays Autobiografie hat, auf die wir uns in erster Linie stützen müssen. ›Mein Leben und Streben‹ ist eine späte Verteidigungsschrift, worin es galt, polemische Presseangriffe abzuwehren. Der Wahrheitsgehalt ist bei May-Kennern umstritten. Zeitzeugen können nicht mehr befragt werden, darüber hinaus sind wichtige Prozessakten vernichtet. Bezeichnenderweise kombinierte May bereits in seinem frühen Schaffen Tatsachen mit Fiktion, womit sich der Wahrheitsgehalt seiner Autobiografie ›vorsichtig‹ überprüfen lässt. Vorsichtig, weil man seine literarischen Erzeugnisse nicht überbewerten darf – eine gewisse Aussagekraft kann jedoch nicht bestritten werden. So verdient beispielsweise der Dichter William Ohlert in seiner Erzählung ›Der Scout‹  besondere Aufmerksamkeit. Dieses Thema habe ich in dem Beitrag Karl May & William Ohlert gesondert aufgegriffen. Die Geschichte von William Ohlert gibt wertvolle Hinweise auf Karl Mays Autobiografie und scheint zu bestätigen, dass es tatsächlich die Dissoziative Identitätsstörung (D.I.D.) war, unter der Karl May zeitweise litt.

Die Trennung von der traumatischen Umgebung bedeutete für Karl May eine Zuflucht in das Schreiben von Geschichten. Die Dissoziative Identitätsstörung wird oft als eine äußerst schöpferische Überlebenstechnik bezeichnet, weil sie es den Personen gestattet, schmerzhafte Umstände zu ertragen, um einige Bereiche gesunden Verhaltens zu schützen. Wiederholte oder verzögerte Dissoziation kann zu einer Reihe von einzelnen Persönlichkeiten oder geistigen Verfassungen führen, die möglicherweise sogar eigene Identitäten übernehmen können. Diese Identitäten können die inneren ›Persönlichkeitszustände‹ oder ein D.I.D.-System (früher M.P.D. – Multiple Persönlichkeitsstörung) werden. Der Wechsel zwischen Bewusstseinszuständen wird als ›Switching‹ bezeichnet.

Karl May hat bereits ein wichtiges Symptom von D.I.D., den traumatischen Gedächtnisschwund, beschrieben. Andere wichtige Symptome sind visuelle und akustische Halluzinationen.

Es gibt vier diagnostische Kriterien von D.I.D., von denen Karl May alle erfüllte:
 

  1. Die Gegenwart von zwei oder mehr verschiedenen Identitäten oder Persönlichkeitszuständen – beschrieben durch Karl May zuerst als zwei, dann als eine Vielzahl von Persönlichkeiten innerhalb seiner selbst: »Es bildete sich bei mir das Bewußtsein heraus, daß ich kein Ganzes mehr sei, sondern eine gespaltene Persönlichkeit, … In diesem Drama gab es verschiedene, handelnde Persönlichkeiten, die sich bald gar nicht, bald aber auch sehr genau voneinander unterschieden.«[23]
  2. Mindestens zwei dieser Identitäten oder Persönlichkeitszustände übernehmen die Kontrolle des Verhaltens der Person – die verschiedenen Persönlichkeiten, als die Karl May sich an unterschiedlichen Orten zwischen 1865 und 1869 präsentierte, gehören in diese Kategorie.
  3. Die Unfähigkeit, sich an wichtige persönliche Informationen zu erinnern, die zu umfangreich sind, als dass sie durch gewöhnliche Vergeßlichkeit erklärt werden könnten – mehrere Begebenheiten sind bekannt: Gedächtnisschwund nach der Entlassung aus der sechswöchigen Haft 1862; seine Unfähigkeit, einfache Schreibarbeit nach der Gefängnisstrafe von 1865 auszuführen.
  4. Die Störung ist nicht eine Nebenwirkung der direkten physiologischen Effekte einer Substanz oder allgemeinen medizinischen Zustandes – Karl May war kein Alkoholiker: Der Abscheu vor Branntwein ist mir angeboren, schrieb er in seiner Biografie.[24] … und auch für Bier besitze ich keineswegs die Zuneigung, welche man empfinden muss, um ein Trinker zu werden[25] wenn ich auf meinen Spaziergängen an einem Wirtshause vorüberging, und auch des Abends, wenn Andere nicht mehr arbeiteten, trat mir das Verlangen nahe, die Feder hinzulegen und in die Kneipe zu gehen, wie sie. Ich tat es aber nicht. Vater tat es. … Ich aber hatte keine Lust dazu und blieb daheim. Das war mir nicht etwa ein Opfer und fiel mir nicht etwa schwer, o nein.[26] Noch war Karl May ein Opiumsüchtiger.

  
Karl May wurde von Ärzten bei mehreren Gelegenheiten geprüft: Im Dezember 1862 wurde er als nicht tauglich für den Wehrdienst eingestuft; am 27. März 1865 behandelte ein Polizei-Arzt nach Mays Festnahme eine überraschende Teilnahmslosigkeit; im Juni 1865 wurde May von Dr. Saxe im Zwickauer Arbeitshaus untersucht, im Mai 1870 durch Dr. Adolf Knecht im Zuchthaus Waldheim. Keiner dieser Ärzte zeichnete irgendwelche somatische Abnormalität auf.

Die Gegenwart von Stimmen, die Karl May so eindeutig beschrieb in seiner Biografie, war von verschiedenen Forschungsarbeiten über sein Leben und sein Werk nie ernst genommen worden. Vielleicht weil May früher, in der Vergangenheit, als ein Schizophrener hätte diagnostiziert werden müssen, was weder mit seiner literarischen Leistung noch mit dem Verlauf seines Lebens übereinstimmt. Der Eindruck ist, dass viele von ihnen dachten, Karl May benutzte eine allegorische Sprache. Jedoch – Karl May war es sehr ernst mit der Beschreibung seiner Erfahrungen. Psychosenähnliche Symptome wie visuelle und akustische Halluzinationen sind typische Anzeichen von D.I.D.
 

Karl Mays Seelenzustand

 
Die Beschreibung aus der Feder von Karl May über seinen Seelenzustand ist am besten ausführlich zu zitieren:

»Dieser sich in mir vollziehende Gedanken- oder Willensvorgang war nicht etwa ein klarer, kurz und bündig sich aussprechender, o nein, denn es herrschte jetzt in mir das strikte Gegenteil von Klarheit; es war Nacht; es gab nur wenige freie Augenblicke, in denen ich weitersah, als grad der heutige Tag mich sehen ließ. Diese Nacht war nicht ganz dunkel; sie hatte Dämmerlicht. Und sonderbar, sie erstreckte sich nur auf die Seele, nicht auch auf den Geist. Ich war seelenkrank, aber nicht geisteskrank. Ich besaß die Fähigkeit zu jedem logischen Schlusse, zur Lösung jeder mathematischen Aufgabe. Ich hatte den schärfsten Einblick in alles, was außer mir lag; aber sobald es sich mir näherte, um zu mir in Beziehung zu treten, hörte diese Einsicht auf. Ich war nicht imstande, mich selbst zu betrachten, mich selbst zu verstehen, mich selbst zu führen und zu lenken. Nur zuweilen kam ein Augenblick, der mir die Fähigkeit brachte, zu wissen, was ich wollte, und dann wurde dieses Wollen festgehalten bis zum nächsten Augenblicke. Es war ein Zustand, wie ich ihn noch bei keinem Menschen gesehen und in keinem Buche gelesen hatte. Und ich war mir dieses seelischen Zustandes geistig sehr wohl bewußt, besaß aber nicht die Macht, ihn zu ändern oder gar zu überwinden. Es bildete sich bei mir das Bewußtsein heraus, daß ich kein Ganzes mehr sei, sondern eine gespaltene Persönlichkeit, ganz dem neuen Lehrsatze entsprechend, nicht Einzelwesen, sondern Drama ist der Mensch. In diesem Drama gab es verschiedene, handelnde Persönlichkeiten, die sich bald gar nicht, bald aber auch sehr genau voneinander unterschieden.

Da war zunächst ich selbst, nämlich ich, der ich das Alles beobachtete. Aber wer dieses Ich eigentlich war und wo es steckte, das vermochte ich nicht zu sagen. Es besaß große Aehnlichkeit mit meinem Vater und hatte alle seine Fehler. Ein zweites Wesen in mir stand stets nur in der Ferne. Es glich einer Fee, einem Engel, einer jener reinen, beglückenden Gestalten aus Großmutters Märchenbuche, Es mahnte; es warnte. Es lächelte, wenn ich gehorchte, und es trauerte, wenn ich ungehorsam war. Die dritte Gestalt, natürlich nicht körperliche, sondern seelische Gestalt, war mir direkt widerlich. Fatal, häßlich, höhnisch, abstoßend, stets finster und drohend; anders habe ich sie nie gesehen, und anders habe ich sie nie gehört. Denn ich sah sie nicht nur, sondern ich hörte sie auch; sie sprach.[27] Sie sprach oft ganze Tage und ganze Nächte lang in einem fort zu mir. Und sie wollte nie das Gute, sondern stets nur das, was bös und ungesetzlich war. Sie war mir neu; ich hatte sie nie gesehen, sondern erst jetzt, seitdem ich innerlich gespalten war. Aber wenn sie einmal still war und ich darum Zeit fand, sie unbemerkt und aufmerksam zu betrachten, dann kam sie mir so vertraut und so bekannt vor, als ob ich sie schon tausendmal gesehen hätte. Dann wechselte ihre Gestalt, und es wechselte auch ihr Gesicht. Bald stammte sie aus Batzendorf[28], aus dem Kegelschub[29] oder aus der Lügenschmiede.[30] Heut sah sie aus wie Rinaldo Rinaldini[31], morgen wie der Raubritter Kuno von der Eulenburg und übermorgen wie der fromme Seminardirektor, als er vor meinem Talgpapiere stand.«[32] [33]

Die Beschreibung Karl Mays von seinen visuellen und akustischen Halluzinationen war genau, wie auch die der multiplen Persönlichkeitszustände:

»Es wimmelte von Gestalten in mir, die mitsorgen, mitarbeiten, mitschaffen, mitdichten und mitkomponieren wollten. Und jede dieser Gestalten sprach; ich mußte sie hören. Es war zum Wahnsinnigwerden! Wie es früher außer mir selbst nur zwei Gestalten gegeben hatte, die helle und die dunkle, so jetzt außer mir zwei Gruppen.

Solche innere Kämpfe hat jeder denkende Mensch, der vorwärts strebt, durchzumachen. Bei ihm sind es Gedanken und Empfindungen, die gegeneinander streiten. Bei mir aber hatten diese Gedanken und Regungen sich zu sichtbaren und hörbaren Gestalten verdichtet. Ich sah sie bei geschlossenen Augen, und ich hörte sie, bei Tag und bei Nacht; sie störten mich aus der Arbeit; sie weckten mich aus dem Schlafe. Die dunklen waren mächtiger als die hellen; gegen ihre Zudringlichkeit gab es keinen Widerstand. In gewöhnlichen Stunden herrschte Ruhe in mir; da gab es keinen Konflikt. Sobald ich aber zu arbeiten begann, erwachte Gestalt um Gestalt. Eine jede wollte die Arbeit so, wie sie es wünschte. Auch kam es sehr auf das Thema an, welches ich behandelte. Gegen eine lustige Humoreske hatte niemand etwas. Die konnte ich ohne Streit und Störung vollenden. Bei einer ernsten Dorfgeschichte aber erhoben sich zahlreiche Stimmen für und gegen mich. In diesen Dorfgeschichten wies ich regelmäßig nach, daß Gott nicht mit sich spotten läßt, sondern genauso straft, wie man sündigt. Hiergegen empörten sich gewisse Gestalten in mir. Den größten Widerstand aber fand ich, sobald ich in meinen Arbeiten oder meiner Lektüre noch höhere Linien bestieg. Wenn ich mir ein religiös oder ethisch oder ästhetisch hohes Thema stellte, empörte sich die dunkle Gestalt in mir mit aller Macht dagegen und bereitete mir Qualen, die ganz unaussprechlich sind.«[34]
 

Wechselnde Persönlichkeiten übernehmen die Kontrolle des Verhaltens der Person
 

In einer Person, die an D.I.D. leidet, die innerhalb ihrer oder seiner selbst zwei oder mehr Wesen hat, könnten einige von diesen die Kontrolle des Verhaltens der Person für einen Zeitraum übernehmen. Auch wenn diese wechselnden Persönlichkeiten, Bewusstseinszustände, Ich-Zustände, Identitäten, sehr verschieden zu sein scheinen, sind sie alle Erscheinungsformen einer Einzelperson.

Dies scheint die Erklärung für die acht dokumentierten Persönlichkeiten zu sein, unter denen Karl May während der Jahre 1862 bis 1870 auftrat. May präsentierte sich als:

  1. Dr. Heilig – am 9 Juli 1864
  2. Seminarlehrer Lohse – am 16. Dezember 1864
  3. Kupferstecher Hermes – am 20. März 1865
  4. Polizei-Oberleutnant von Wolframsdorf aus Leipzig – am 29. März 1869
  5. Geheimpolizist – am 10. April 1869
  6. Bote des Rechtsanwaltes Dr.Schaffrath aus Dresden – am 15. Juni 1869
  7. der Schriftsteller Heichel aus Dresden, der leibliche Sohn des Prinzen von Waldenburg (mit Malvine Wadenbach) – im November 1869
  8. Plantagenbesitzer Albin Wadenbach von Orby auf der Insel Martinique – am 4. Januar 1870

Karl May litt auch an kurzen psychotischen Episoden während der Monate Mai, Juni und Juli 1869. Wie sonst könnte das Ereignis vom Mai 1869 bezeichnet werden, als May in einem Kinderwagen eine Lampe mit einem Lampenschirm, eine Brille in einem Etui, zwei Brieftaschen mit zwei Talern[35] und andere verschiedene kleine Dinge gesammelt hatte und das ganze Zeug unter den Augen der Nachbarn zu einem Versteck im Wald nahm. Am letzten Tag im Mai 1869 nahm er in einem Restaurant einen Satz Billardkugeln mit. Während der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1869 nahm May ein Pferd, das er versuchte, im nächsten Dorf zu verkaufen.

Und wieder beschrieb Karl May seinen Seelenzustand während dieses Zeitraums:

»Wenn ich nicht tat, was diese lauten Stimmen in mir verlangten, wurde ich von ihnen mit Hohngelächter, mit Flüchen und Verwünschungen überschüttet, nicht nur stundenlang, sondern halbe Tage und ganze Nächte lang. Ich bin, um diesen Stimmen zu entgehen, aus dem Bett gesprungen und hinaus in den Regen und das Schneegestöber gelaufen. Es hat mich fortgetrieben, wie weit, wie weit! Ich bin aus der Heimat fort, um mich zu retten, kein Mensch wußte, wohin, doch es zog mich wieder und immer wieder zurück. Niemand erfuhr, was in mir vorging und wie un- oder gar übermenschlich ich kämpfte, weder Vater noch Mutter noch Großmutter noch eine der Schwestern. Und noch viel weniger ein anderer, ein fremder Mensch; man hätte mich ja doch nicht verstanden, sondern mich einfach für übergeschnappt erklärt. Ob irgend jemand an meiner Stelle das ausgehalten hätte, daß weiß ich nicht, ich glaube es aber kaum. Ich war sowohl körperlich als auch geistig ein kräftiger, sogar ein sehr kräftiger Mensch, aber ich wurde dennoch müder und müder. Es kamen zunächst Tage, dann aber ganze Wochen, in denen es vollständig dunkel in mir wurde; da wußte ich kaum oder oft auch gar nicht, was ich tat. In solchen Zeiten war die lichte Gestalt in mir vollständig verschwunden. Das dunkle Wesen führte mich an der Hand. Es ging immerfort am Abgrund hin. Bald sollte ich dies, bald jenes tun, was doch verboten war. Ich wehrte mich zuletzt nur noch wie im Traum. Hätte ich den Eltern oder doch wenigstens Großmutter gesagt, wie es um mich stand, so wäre der tiefe Sturz, dem ich entgegentrieb, gewißlich unterblieben. Und er kam, nicht daheim in der Heimat, sondern in Leipzig, wohin mich eine Theaterangelegenheit führte. Dort habe ich, der ich gar nichts Derartiges brauchte, Rauchwaren gekauft und bin mit ihnen verschwunden, ohne zu bezahlen. Wie ich es angefangen habe, dies fertigzubringen, das kann ich nicht mehr sagen; ich habe es wahrscheinlich auch schon damals nicht gewußt. Denn für mich ist es sicher und gewiß, daß ich ganz unmöglich bei klarem Bewußtsein gehandelt haben kann.«[36]

Dies ist ein sehr interessanter Teil in Karl Mays Biografie. Lange vor der Anerkennung von D.I.D. beschrieb May die wichtigsten Bestandteile dieser Störung: die Gegenwart mehrerer Identitäten oder Persönlichkeitszustände (die Versucher in meinem Innern); Halluzinationen (Stimmen – Hohngelächter, Flüche und Verwünschungen); Gedächtnisschwund (… da wusste ich kaum oder oft auch gar nicht, was ich tat); Identitäten oder Persönlichkeitszustände, die tatsächlich die Kontrolle über das Verhalten der Person übernehmen (Das dunkle Wesen führte mich an der Hand … Bald sollte ich dies, bald jenes tun …); und höchst interessanterweise ein Zustand, der Dissoziative Flucht genannt wird, d. h. plötzliches, unerwartetes Weglaufen von Heim oder Arbeit (»Ich bin, um diesen Stimmen zu entgehen, aus dem Bett gesprungen und hinaus in den Regen und das Schneegestöber gelaufen. Es hat mich fortgetrieben, wie weit, wie weit! Ich bin aus der Heimat fort, um mich zu retten, kein Mensch wußte, wohin …«).

Zwischen dem 29. März und 1. Juli 1869 litt Karl May an einer Serie kurzer reaktiver psychotischer Zustände. Eine solche Episode besteht aus einer plötzlichen und kurzen Psychose, die von einigen Stunden bis höchstens einem Monat dauert:

»Es trieb mich fort, hinaus. Ich lief im Wald herum und kam spät abends todmüde heim und legte mich nieder, ohne gegessen zu haben. Trotz der Müdigkeit fand ich keinen Schlaf. Zehn, fünfzig, ja hundert Stimmen verhöhnten mich in meinem Innern mit unaufhörlichem Gelächter. Ich sprang vom Lager auf und rannte wieder fort, in die Nacht hinein; wohin, wohin, das beachtete ich gar nicht. Es kam mir vor, als ob die inneren Gestalten aus mir herausgetreten seien und neben mir herliefen. … Das verfolgte mich hin und her; das jagte mich auf und ab. Das schrie und jubelte und höhnte, daß mir die Ohren gellten[37]

Natürlich würde sich jeder, der mit acht verschiedenen Persönlichkeiten konfrontiert wird, fragen, ob es eine echte Dissoziation (D.I.D.) oder ein einfacher Trick des Bewusstseins war. Es gibt mehrere Punkte, die mehr auf den dissoziativen Prozess hindeuten. Alle Alter Egos haben entweder mit Karl Mays Vergangenheit zu tun oder sind irgendwie unglaubhaft, sind nicht im Einklang mit den gegebenen Umständen, wie die Person Albin Wadenbach.

Der Augenarzt, Dr. Heilig, »früherer Militair«, erschien (9. Juli 1864), nachdem May für den Wehrdienst am 6. Dezember 1862 ausgemustert wurde. Der Name selbst, Heilig, bedeutet heilig, geheiligt oder Heiliger. Jedoch benutzte May ihn mehr im Zusammenhang mit dem Wort ›heilen‹, zu heilen, zu kurieren. Am Lehrerseminar in Plauen, wo May seine Studien fortsetzte, nachdem er 1860 ausgeschlossen worden war, gab es einen Lehrer namens Ernst Lohse. Karl May benutzte den Namen Ferdinand Lohse aus Plauen. Die dritte Persönlichkeit war der Kupferstecher Hermes (am 20. März 1865). In der griechischen Mythologie war Hermes nicht nur der Gott des Handels, sondern auch ein Trickbetrüger und ein Dieb. Eine irgendwie ungewöhnliche Kombination mit der Bezeichnung Kupferstecher.

Am 26. März 1865 wurde Karl May verhaftet und »ganz regungslos u. anscheinend leblos« gefunden, »hat auch, nachdem der Hr. Pol. Arzt herzugerufen worden ist, nicht gesprochen.«[38] Die Tatsache, dass ein Arzt aufgefordert wurde, zu kommen, um Karl May zu sehen, deutet auf sein anormales Verhalten hin.

Die nächsten beiden Identitäten standen in Zusammenhang mit dem Gesetz, vielleicht beeinflusst durch Mays Freiheitsstrafe. Sie waren der Polizei-Oberleutnant von Wolframsdorf (am 29.3.1869), ein Geheimpolizist (am 10.4.1869) und der Assessor Laube, der im Auftrag eines Rechtsanwalts handelt (Juni 1869). Dieses Mal waren es nicht Pelze und Kleidung, mit denen die fremden Identitäten handelten, sondern Geld. Wir besitzen ein interessantes Detail über Karl May in Form einer Vollmacht, die von den Behörden am 26. Juli 1869 ausgestellt wurde:

» starren, stechenden Blick … Er spricht langsam, in gewählten Ausdrücken, verzieht beim Reden den Mund, …«[39]

Das letzte Alter Ego, Albin Wadenbach (Januar 1870), ist das interessanteste. Ein ganz unwahrscheinlicher, exotischer junger Mann von einer tropischen Insel, gefunden im Schnee des zentraleuropäischen Januars, ohne Ausweispapiere, der aber handelt und spricht – jedoch auf deutsch – wie ein Einwohner der Insel Martinique, einer der Westindischen Inseln.

Folgendes hat Karl May am 4. Januar 1870 den ihn verhaftenden Beamten erwidert:

»Mein Grundbesitz in Amerika repräsentirt einen Werth von 20.000 Dollars. Ich habe mich mit der practischen Landwirthschaft befaßt, mir nebenbei auch Kenntnisse in der medicinischen Praxis angeeignet. Ich habe von Jugend auf nur Privatunterricht genossen, die practischen Kenntnisse in der Medicin habe ich mir bei einem Arzte namens Legrand(e) angeeignet. – Meine Mutter kannte ich nicht …«[40]

Karl May schrieb sogar einen Brief ›nach Hause‹ nach Martinique, in dem er eine genaue Kenntnis der örtlichen Gegebenheiten auf der Insel zeigte.

Der Pflichtverteidiger Karl Haase, der mit der Verteidigung von Karl May 1870 beauftragt war, nannte ihn einen »komischen Menschen«:

»Die ganze Persönlichkeit des Angeklagten machte in der Hauptverhandlung den Eindruck eines komischen Menschen, der gewissermaßen aus Übermuth auf der Anklagebank zu sitzen schien.«[41]

Es scheint einen Grund dafür gegeben zu haben.

Ein bekannter Rechtsanwalt, Erich Wulffen, benutzte 1908 Karl May als ein Beispiel in seinem Buch ›Psychologie des Verbrechers‹.[42] Gegenwärtig werden die Gerichtshöfe mit dem Problem der Schuldfähigkeit von Leuten mit Multipler Persönlichkeitsstörung konfrontiert, bei der zwei oder mehr Persönlichkeitszustände innerhalb einer Person existieren und die volle Kontrolle über das Verhalten der Person übernehmen. Dissoziativer Gedächtnisverlust und Schuldfähigkeit, um unter Anklage gestellt werden zu können, wird auch heutzutage diskutiert. Dissoziativer Gedächtnisschwund wie z. B. psychogene Flucht und das Multiple Persönlichkeitssyndrom im besonderen sollten einen Angeklagten für unfähig erklären, unter Anklage zu stehen.


D.I.D. kann geheilt werden

 
Dissoziative Störungen sprechen auf eine Therapie an. Es stehen zwei Hauptmöglichkeiten für die Behandlung offen: individuelle Psychotherapie und andere therapeutische Mittel. Die Behandlung ist langwierig, intensiv und oft schmerzhaft, falls es die Erinnerung und das Zurückrufen der verdrängten traumatischen Erfahrungen mit sich bringt. Eine erfolgreiche Behandlung könnte nicht nur von Psychiatern oder Psychologen erreicht werden, sondern auch durch andere Therapeuten aus einer Vielfalt von Fachgebieten.

Ein guter Therapeut könnte ›Gesprächstherapie‹ anwenden, eine gute Beziehung aufbauen und das Vertrauen seines Patienten gewinnen. Andere Behandlungsmöglichkeiten können heutzutage Hypnosebehandlung, Psychodrama und expressive Therapien wie Tanzen oder die Teilnahme an Theateraufführungen einschließen. Musizieren ist sehr wichtig für einen direkten emotionalen Effekt auf den Patienten. In Psychotherapiesitzungen werden funktionsgestörtes oder unangemessenes Verhalten, Gedanken oder Vorstellungen durch angemessenere ersetzt.

Was stand Karl May zu seiner Zeit zur Verfügung? Er hatte den Vorteil, musikalisches Wissen zu haben und hatte die Gelegenheit, Musik zu spielen. Er hatte das Glück, den Katechet Kochta zu treffen, der den beunruhigenden Seelenzustand Karl Mays erkannte. Er nahm auch als Organist an Gottesdiensten aktiv teil. Die Gefängnisleitung und die Dauer seiner Haftstrafen unterstützten die bewußte Verhaltenstherapie.

Wir wissen, dass die erste lange Haftstrafe (abgeleistet in Zwickau vom 14. Juni 1865 bis 2. November 1868) Karl May nicht geheilt hatte. Nur nach dem zweiten Mal (in Waldheim vom 3. Mai 1870 bis 2. Mai 1874) verschwanden die Halluzinationen. In Waldheim traf Karl May auch den Katechet Johann Kochta (1824-1886), einen Mann, dessen starken Einfluss auf seine Erholung May selbst anerkannte.[43]

Während der Arbeitshausstrafe 1865–1868 wurde Karl May einem geordneten Leben ausgesetzt. Jedoch wurde er ein Mitglied eines Bläserkops und diente dem Gefängnis-Inspektor als Büroassistent. May wurde die Gelegenheit gegeben, eine Zelle für sich zu bewohnen und hatte auch Zugang zu der Bibliothek. Er fing an, zu schreiben – eine Form von Therapie.

Zu seinen Halluzinationen schrieb May:

»Ich habe die in mir schreienden Stimmen, von denen ich weiter oben sprach, auch in der Zelle vernommen. Ich habe mit ihnen gekämpft und sie stets zum Schweigen gebracht. Sie kehrten zwar zurück; sie ließen sich wieder hören, doch in immer längern Zwischenräumen, bis ich endlich annehmen konnte, daß sie ganz und für immer stumm geworden seien.«[44]

Karl May wurde am 2. November 1868 freigelassen, nachdem seine ursprüngliche Strafe auf 253 Tage[45] wegen guter Führung gekürzt wurde. Als Karl May nach Hause ging, fing er wieder an, die Stimmen zu hören:

»Indem ich hieran dachte, hörte ich ganz dieselben Stimmen erklingen, in mir, ganz deutlich, wie erst nur von weitem, aber sie schienen sich zu nähern.«[46]

»Ich kam eher, als man mich erwartete. … Ich grüßte gar nicht und fragte, wo Großmutter sei. ›Tot – – – gestorben!‹ lautete die Antwort. ›Wann?‹ ›Schon voriges Jahr.‹«[47]

Mays Großmutter väterlicherseits hatte großen Einfluss auf ihn, als er blind war. Sie hatte ihm Geschichten erzählt und vorgelesen. Sie hatte sein Talent zum Leben erweckt. Der kleine Karl lernte, ›in seinem Kopf wegzugehen‹, sich loszulösen von seinem Unglück, nicht sehen zu können. Es war ein gesunder, schöpferischer Prozess. Er wäre ohne die herzensgute Großmutter nicht möglich gewesen.

Und jetzt war sie tot. Es ist von Wichtigkeit, zu bemerken, dass Karl May während der Zeit seiner Gefängnisstrafe in Zwickau keine Person getroffen hatte, die als ein Psychotherapeut gehandelt hätte. Eine solche Beziehung ist eine der zwei Voraussetzungen für eine erfolgreiche Heilung von D.I.D. Wir wissen auch, daß May niemandem von seinen Halluzinationen, die er erlebte, erzählte. In diesem entscheidenden Augenblick wäre die Großmutter wahrscheinlich die einzige Person gewesen, zu der May einen Bezug hätte haben können. Es ist auch bekannt, daß während der zweiten Gefängnisstrafe, in Waldheim, Karl May eine Person fand, der er seinen Seelenzustand anvertraute und mit der er sein Problem besprach. Es war der Katechet Johannes Kochta. Er war der Psychotherapeut, der Karl May half, die D.I.D., in Verbindung mit den anderen Mitteln, hauptsächlich der Musik und dem Schreiben, zu überwinden.

Ein anderes Trauma zu Hause, zu einer Zeit, als May um sich selbst und um seine Zukunft gebangt haben musste:

»Es dauerte lange Zeit, ehe ich den Kopf wieder hob, um die Eltern nun zu grüßen. Sie erschraken. Sie sagten mir später, mein Gesicht habe schlimmer ausgesehen als dasjenige einer Leiche.«[48]

Ohne Unterstützung wurde May von Halluzinationen, Panikattacken und Phobien geplagt, verursacht durch Flashbacks:

»Es tauchten Vorwürfe in mir auf, aber keine Vorwürfe, die nur Gedanken sind, wie bei andern Leuten, die nicht von derselben Veranlagung sind wie ich, sondern Vorwürfe viel wesentlicherer, viel kompakterer Art. Ich sah sie in mir kommen, und ich hörte, was sie sagten, jedes Wort, ja wirklich, jedes Wort! Das waren nicht Gedanken, sondern Gestalten, wirkliche Wesen, die nicht die geringste Identität mit mir zu besitzen schienen und doch identisch waren. Welch ein Rätsel! Aber welch ein ungewöhnliches, furchtbar beängstigendes Rätsel! Sie glichen jenen in mir schreienden, dunkeln Gestalten von früher her, mit denen ich – – – mein Gott, kaum hatte ich an sie gedacht, so waren sie wieder da, ganz so, wie ich damals gezwungen gewesen war, sie in meinem Innern zu sehen und zu hören. Ich vernahm ihre Stimmen so deutlich, als ob sie vor mir stünden und an Stelle der Eltern und Geschwister mit mir sprächen. Und sie blieben. Sie gingen, als ich mich niederlegte, mit mir schlafen. Aber sie schliefen nicht und ließen auch mich nicht schlafen. Es begann das frühere Elend, die frühere Marter, der frühere Kampf mit unbegreiflichen Mächten, die um so gefährlicher waren, als ich absolut nicht entdecken konnte, ob sie Teile von mir seien oder nicht. Sie schienen es zu sein, denn sie kannten einen jeden meiner Gedanken, noch ehe er mir selbst zum Bewußtsein kam. Und doch konnten sie ganz unmöglich zu mir gehören, weil das, was sie wollten, fast stets das Gegenteil von meinem Willen war. Ich hatte mit meiner Vergangenheit abgeschlossen. Der vor mir liegende Teil meines Lebens sollte ein ganz anderer sein, als der, welcher hinter mir lag. Diese Stimmen aber waren bemüht, mich mit aller Gewalt in die Vergangenheit zurückzuzerren. Sie verlangten wie früher, daß ich mich rächen solle. Nun erst recht mich rächen, für die im Gefängnis verlorene, köstliche Zeit! Sie wurden von Tag zu Tag lauter; ich aber stemmte mich gegen sie; ich tat, als ob ich nichts, gar nichts höre. Das war aber selbst bei der größten Kraftaufwendung nicht länger als höchstens nur einige Tage lang auszuhalten. Indessen besuchte ich einige Verleger, um mit ihnen über die Herausgabe der im Gefängnisse geschriebenen Manuskripte zu verhandeln. Hierbei stellte es sich heraus, daß während dieser meiner Abwesenheit die inneren Stimmen um so mehr verstummten, je weiter ich mich von der Heimat entfernte, und wieder um so deutlicher wurden, je mehr ich mich ihr wieder näherte. Es war, als ob diese finstern Gestalten dort seßhaft seien und nur dann über mich herfallen könnten, wenn ich die Unvorsichtigkeit beging, mich dort einzufinden.«[49]

Die familiäre Umgebung wirkte bestimmt als Reizfaktor und löste die Verschlechterung von Karl Mays Seelenzustand aus. In diesem Stadium seines Lebens, d. h. zwischen dem 2. November 1868 (Entlassung aus Zwickau) und dem 4. Januar 1870 (Verhaftung in Böhmen) litt May sowohl an Anfällen kurzer reaktiver Psychose wie auch an Identitätsstörungen als Teil der D.I.D.

Die Wichtigkeit einer Art von Psychotherapie in dem Zustand, in dem Karl May sich befand, kann nicht genug betont werden. Leider war keine für ihn verfügbar oder es wurde ihm keine angeboten:

»Ich aber fühlte mich einsam, einsam wie immer. Denn auch im ganzen Orte gab es keinen einzigen Menschen, der mich hätte verstehen wollen oder gar verstehen können. Und diese Einsamkeit war mir, grad mir, dem innerlich so schwer Angefochtenen im höchsten Grade gefährlich. Nichts war mir nötiger als verständnisvolle Geselligkeit. Aber ich stand, wenn auch nicht äußerlich, so doch innerlich stets allein und war also den Gestalten, die mich bezwingen wollten, fast unausgesetzt und schutzlos preisgegeben.«[50]

Karl May erwähnte nie seinen Seelenzustand seiner Familie gegenüber. Seine Mutter bot ihm keine Hilfe an, als er sie am meisten brauchte. Es geschah nach einer kurzen psychotischen Episode, die Karl May selbst bestens beschrieb:

»Das war ein schwerer, ein unglückseliger Tag. Es trieb mich fort, hinaus. Ich lief im Wald herum und kam spät abends todmüde heim und legte mich nieder, ohne gegessen zu haben. Trotz der Müdigkeit fand ich keinen Schlaf. Zehn, fünfzig, ja hundert Stimmen verhöhnten mich in meinem Innern mit unaufhörlichem Gelächter. Ich sprang vom Lager auf und rannte wieder fort, in die Nacht hinein; wohin, wohin, das beachtete ich gar nicht. Es kam mir vor, als ob die inneren Gestalten aus mir herausgetreten seien und neben mir herliefen. Voran der fromme Seminardirektor, dann der Buchhalter, der mir seine Uhr nicht geborgt haben wollte, eine Rotte von Kegelschiebern, mit Kegelkugeln in den Händen, und hierauf die Raubritter, Räuber, Mönche, Nonnen, Geister und Gespenster aus der Hohensteiner Schundbibliothek. Das verfolgte mich hin und her; das jagte mich auf und ab. Das schrie und jubelte und höhnte, daß mir die Ohren gellten. Als die Sonne aufging, fand ich mich im Innern eines tiefen, steilen Steinbruchs emporkletternd. Ich hatte mich verstiegen; ich konnte nicht weiter. Da hatten sie mich fest, und da ließen sie mich nicht wieder hinab. Da klebte ich zwischen Himmel und Erde, bis die Arbeiter kamen und mich mit Hilfe einiger Leitern herunterholten. Dann ging es weiter, immer weiter, weiter, den ganzen Tag, die ganze nächste Nacht; dann brach ich zusammen und schlief ein. Wo, das weiß ich nicht. Es war auf einem Raine, zwischen zwei eng zusammenstehenden Roggenfeldern. Ein Donner weckte mich. Es war wieder Nacht, und der Gewitterregen floß in Strömen herab. Ich eilte fort und kam an ein Rübenfeld. Ich hatte Hunger und zog eine Rübe heraus. Mit der kam ich in den Wald, kroch unter die dicht bewachsenen Bäume und aß. Hierauf schlief ich wieder ein. Aber ich schlief nicht fest; ich wachte immer wieder auf. Die Stimmen weckten mich. Sie höhnten unaufhörlich: "Du bist ein Vieh geworden, frißt Rüben, Rüben, Rüben!" Als der Morgen anbrach, holte ich mir eine zweite Rübe, kehrte in den Wald zurück und aß. Dann suchte ich mir eine lichte Stelle auf und ließ mich von der Sonne bescheinen, um trocken zu werden. Die Stimmen schwiegen hier; das gab mir Ruhe. Ich fand einen langen, wenn auch nur oberflächlichen Schlaf, während dessen Dauer ich mich immer von einer Seite auf die andere warf, und von kurzen, aufregenden Traumbildern gequält wurde, die mir vorspiegelten, daß ich bald ein Kegel, nach dem man schob, bald ein Zigeuner aus Preziosa und bald etwas noch Schlimmeres sei. Dieser Schlaf ermüdete mich nur noch mehr, statt daß er mich stärkte. Ich entwand mich ihm, als der Abend anbrach, und verließ den Wald. Indem ich unter den Bäumen hervortrat, sah ich den Himmel blutigrot; ein Qualm stieg zu ihm auf. Sicherlich war da ein Feuer. Das war von einer ganz eigenen Wirkung auf mich. Ich wußte nicht, wo ich war; aber es zog mich fort, das Feuer zu betrachten. Ich erreichte eine Halde, die mir bekannt vorkam. Dort setzte ich mich auf einen Stein und starrte in die Glut. Zwar brannte ein Haus, aber das Feuer war in mir. Und der Rauch, dieser dicke, erstickende Rauch! Der war nicht da drüben beim Feuer, sondern hier bei mir. Der hüllte mich ein, und der drang mir in die Seele. Dort ballte er sich zu Klumpen, die Arme und Beine und Augen und Gesichtszüge bekamen und sich in mir bewegten. Sie sprachen.«[51]

In solchem Zustand – Ich war dumm, vollständig dumm. Mein Kopf war wie von einer dicken Schicht von Lehm und Häcksel umhüllt. Ich fand keinen Gedanken. … Ich wankte beim Gehen. – kam Karl May Zuhause an:

»Nach einiger Zeit öffnete sich die Schlafkammertür. Mutter trat heraus. Sie pflegte sehr zeitig aufzustehen, ihres Berufes wegen. Als sie mich sah, erschrak sie. Sie zog die Kammertür schnell hinter sich zu und sagte aufgeregt, aber leise:
   ›Um Gottes willen! Du? Hat jemand dich kommen sehen?‹
   ›Nein‹, antwortete ich.
   ›Wie siehst du aus! Schnell wieder fort, fort, fort! Nach Amerika hinüber! Daß man dich nicht erwischt! Wenn man dich wieder einsperrt, das überlebe ich nicht!‹
   ›Fort? Warum?‹ fragte ich.
   ›Was hast du getan; was hast du getan! Dieses Feuer, dieses Feuer!"
   ›Was ist es mit dem Feuer?‹
   ›Man hat dich gesehen! Im Steinbruch – – im Walde – – auf dem Felde – – und gestern auch bei dem Haus, bevor es niederbrannte!‹
   Das war ja entsetzlich, geradezu entsetzlich!
   ›Mut – – ter! Mut – – ter!" stotterte ich. ›Glaubst du etwa, daß – – – ‹
   ›Ja, ich glaube es; ich muß es glauben, und Vater auch‹, unterbrach sie mich. ›Alle Leute sagen es!‹
   Sie stieß das hastig hervor. Sie weinte nicht, und sie jammerte nicht; sie war so stark im Tragen innerer Lasten. Sie fuhr in demselben Atem fort:
   ›Um Gottes willen, laß dich nicht erwischen, vor allen Dingen nicht hier bei uns im Hause! Geh, geh! Ehe die Leute aufstehen und dich sehen! Ich darf nicht sagen, daß du hier warst; ich darf nicht wissen, wo du bist; ich darf dich nicht länger sehen! Geh also, geh! Wenn es verjährt ist, kommst du wieder!‹
   Sie huschte wieder in die Kammer hinaus, ohne mich berührt zu haben und ohne auf ein ferneres Wort von mir zu warten. Ich war allein und griff mir mit beiden Händen nach dem Kopfe. Ich fühlte da ganz deutlich die dicke Lehm- und Häckselschicht. Dieser Mensch, der da stand, war doch nicht etwa ich? An den die eigene Mutter nicht mehr glaubte? Wer war der Kerl, der in seiner schmutzigen, verknitterten Kleidung aussah wie ein Vagabund? Hinaus mit ihm, hinaus! Fort, fort!«[52]

Ablehnung von seiner eigenen Mutter in der Stunde seiner großen Not. Was Karl May brauchte, war ein mitfühlendes Ohr, einen Heiler, einen Psychotherapeuten. Es gab niemanden.

»Ich habe noch soviel Verstand gehabt, den Kleiderschrank zu öffnen und einen andern, saubern Anzug anzulegen. Dann bin ich fortgegangen. Wohin? Die Erinnerung läßt mich im Stich. Ich war wieder krank wie damals. Nicht geistig, sondern seelisch krank. Die inneren Gestalten und Stimmen beherrschten mich vollständig. Wenn ich mir Mühe gebe, mich auf jene Zeit zu besinnen, so ist es mir wie einem, der vor fünfzig Jahren irgendein Theaterstück gesehen hat und nach dieser Zeit noch wissen soll, was von Augenblick zu Augenblick geschah und wie die Kulissen sich verwandelten. Einzelne Bilder sind mir geblieben, doch so undeutlich, daß ich nicht behaupten kann, was wahr daran ist und was nicht. Ich habe in jener Zeit jenen dunklen Gestalten gehorcht, welche in mir wohnten und mich beherrschten. Was ich getan habe, erscheint jedem Unbefangenen unglaublich. Man beschuldigte mich, einen Kinderwagen gestohlen zu haben! Wozu? Ein leeres Portemonnaie mit nur drei Pfennigen Inhalt!«[53]

Die Anfälle kurzer reaktiver Psychose, die Karl May durchmachte, sind schon erwähnt worden. Einem solchen Ereignis geht ein bedeutendes Erlebnis voraus, das äußerst belastend für fast jeden in der gleichen Situation sein würde. Die Beschreibung der Ablehnung durch seine Mutter, als May ihre Ermutigung und Hilfe brauchte, ist ziemlich plastisch.

Karl May beschrieb sehr genau in den angeführten Teilen seiner Autobiographie die Symptome von D.I.D.: Depression, Schlafstörungen wie Schlaflosigkeit, Alpträume, Panikattacken, akustische Halluzinationen, Essstörungen wie Magersucht. Er beschrieb außerdem Gedächtnisverlust und den Verlust des Zeitgefühls. Dissoziation – ein Prozess, den er als blindes Kind lernte – war für ihn eine Überlebenstechnik. Wiederholte Dissoziationen führen natürlich zu eigenständigen Wesen, oder geistigen Verfassungen, die schließlich eigene Identitäten annehmen können. Diese Wesen werden die inneren ›Persönlichkeitszustände‹ der D.I.D. Der Wechsel zwischen diesen Bewußtseinszuständen wird ›Switching‹ genannt.

Statt Hilfe angeboten zu bekommen, wurde Karl May alleingelassen:

»Man hatte mich festgenommen [am 2. Juli 1869], und wo Etwas geschehen war, da transportierte man mich als ›hoffentlichen Täter‹ hin. … Ich zerbrach während eines Transportes meine Fesseln und verschwand [am 26. Juli 1869]. … ein unwiderstehlicher Trieb zur Heimkehr packte [mich] Ich folgte teils jenem unbegreiflichen Zwange, teils kehrte ich freiwillig zurück, … tat dies aber leider nicht stracks, wie es richtig gewesen wäre, sondern verfiel jenen inneren Gewalten, die sich wieder einstellten und mich verhinderten, zu tun, was ich mir vorgenommen hatte. Die Folge davon war, daß ich, anstatt mich freiwillig zu stellen, [am 4. Januar 1870] ergriffen wurde.«[54]

Karl May wusste, was ihn als Gefangener erwartete. Er wusste aber auch, dass sich sein Seelenzustand verbessert hatte, als er das letzte Mal im Gefängnis war, dass die Halluzinationen verschwanden. Als er am 26 März 1865 verhaftet wurde, fand der Polizeiarzt May fast in einem katatonischen Zustand. Über diese Zeit gibt es eine andere Zeugenaussage seines Rechtsanwalts Karl Haase: »[Karl May schien] gewissermaßen aus Übermuth auf der Anklagebank zu sitzen …«[55]

Karl May wurde zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Seine Strafe war schwer und lang [3.5.1870 bis 2.5.1874], und der auf zwei Jahre Polizeiaufsicht lautende Zusatz konnte mir bei meiner Einlieferung keineswegs als Empfehlung dienen. Ich war also auf strenge Behandlung gefasst. Sie war ernst, aber sie tat nicht wehe. Eine Anstaltsdirektion handelt ganz richtig, wenn sie sich nicht voreingenommen zeigt, sondern ruhig abwartet, ob und wie der Eingelieferte sich fügt. Nun ich fügte mich! Freilich wurde für dieses Mal auf meinen Stand keine Rücksicht genommen. Man teilte mich derjenigen Beschäftigung zu, in der grad Arbeiter gebraucht wurden. Ich wurde Zigarrenmacher.[56]

Wie im Arbeitshaus Schloss Osterstein hatte May in Waldheim Eingewöhnungsprobleme. Wahrscheinlich schaffte er zunächst sein Arbeitspensum als ›Zigarrenmacher‹ nicht, denn er wurde vermutlich deshalb disziplinarisch bestraft. Die noch teilweise erhalten gebliebenen Zuchthausakten geben hierüber keine genaue Auskunft. Fest steht: May hat unter den schweren Haftbedingungen gelitten. Es herrschte im Zuchthaus absolutes Redeverbot! Dazu die monotonen Handgriffe, täglich, mindestens 13 Stunden, unzählige Zigarren zu fertigen. Dennoch sah May seine Waldheimer-Zeit in dichterischer Verklärung positiv. Irgendwie wusste er, dass ihm diese bitteren Jahre gutgetan hatten in dem Sinn, dass ›die Stimmen‹ ihn verlassen hatten.

Das wichtigste Ereignis in Waldheim war, dass Karl May den katholischen Katecheten der Anstalt, Johannes Kochta, traf. Es gibt keinen Zweifel, daß Kochta einen tiefen Eindruck auf ihn machte.

Bereits 1882 schreibt May im ›Waldröschen‹ (S. 35) über den Pater Dominikaner (Kochta), der Räuber (wie Zuchthäusler) unterrichtet:

»›… Aber was sind die Leiden des Körpers gegen die Qualen des Geistes. [!] Diese sind fürchterlich, mein Sohn. Hüte Dich, sie jemals kennen zu lernen.‹
   ›Du leidest an der Seele? Wende Dich an unseren guten Dominikaner. … Er ist ein sehr guter und frommer Mann. Er ist mein Lehrer, dem ich Alles [!], was ich weiß, zu verdanken [!] habe.‹«

Und in ›Mein Leben und Streben‹ heißt es: Ich war seelenkrank, aber nicht geisteskrank. (S. 111) Mag es sich beim ›Waldröschen‹ auch noch so sehr um einen fiktiven Text handeln, die Querverbindungen zu den Qualen des Geistes und Du leidest an der Seele sind eindeutig und erhöhen die Glaubwürdigkeit der Autobiografie.

Kochta war das fehlende Glied in der Kette, die zu Karl Mays Heilung von D.I.D. führte. Ihm eröffnete May seinen Seelenzustand:

»Ich hatte ihm von meinen inneren Anfechtungen nichts erzählt, wie ich in rein persönlichen und familiären Dingen überhaupt nie einen Menschen zu meinem Vertrauten mache. Aber zuweilen fiel doch ein Wort, welches nicht andeuten sollte, aber doch andeutete. Er wurde aufmerksam. Einmal kam ich im Verlauf des Gespräches darauf, von meinen dunklen Gestalten und ihren quälenden Stimmen zu sprechen; aber ich tat so, als ob ich von einem anderen spräche, nicht von mir selbst. Da lächelte er. Er wußte gar wohl, wen ich meinte. …
   ›Nicht wahr, Sie waren es selbst, von dem Sie erzählten?‹
   ›Ja", antwortete ich.«[57]

So beschrieb Karl May Johannes Kochta in seinem Buch:

»Er war nur Lehrer, ohne akademischen Hintergrund, aber ein Ehrenmann in jeder Beziehung, human wie selten Einer und von einer so reichen erzieherischen, psychologischen Erfahrung, daß das, was er meinte, einen viel größeren Wert für mich besaß, als ganze Stöße von gelehrten Büchern. Nie sprach er über konfessionelle Dinge mit mir. Er hielt mich für einen Protestanten und machte nicht den geringsten Versuch, auf meine Glaubensanschauung einzuwirken. Und wie er sich zu mir, so verhielt ich mich zu ihm. Nie habe ich ihm eine Frage nach dem Katholizismus vorgelegt. Was ich da wissen mußte, das wußte ich bereits oder konnte es in anderer Weise erfahren. Mir war das schöne Verhältnis heilig, das nach und nach zwischen ihm und mir entstand, ohne daß sich störende Gegensätze in das rein menschliche Wohlwollen schleichen durften. Er tat seinen Kirchendienst, ich meinen Orgeldienst, aber im übrigen blieb die Religion zwischen uns vollständig unberührt und konnte also um so direkter und reiner auf mich wirken. Grad dieses sein Schweigen war so beredt, denn es ließ seine Taten sprechen, und diese Taten waren die eines Edelmenschen, dessen Wirkungskreis zwar ein kleiner ist, der aber selbst das Kleinste groß zu nehmen weiß[58]

Es scheint, dass die zwei Männer einander respektierten. Sie sprachen nie über Religion – May war Protestant – jedoch Kochtas Beispiel, Mays Teilnahme an der katholischen Messe, und der Einfluß des katholischen Priesters ließen Karl May wie ein Katholik denken. Karl May beschreibt eine solche Beziehung sehr gut in seinem Buch ›Winnetou‹, wenn der sterbende Winnetou Old Shatterhand bekennt, dass er ein Gläubiger sei, wenn auch die beiden über Religion, auf Winnetous Bitte hin, während all der Jahre ihrer Freundschaft nie gesprochen hatten.[59]

Kochta leitete bestimmte Schritte ein, die den Aufenthalt im Gefängnis für Karl May erträglicher als eine Verlegung in eine weniger strenge Besserunganstalt machten. 1874 ermöglichte es Kochta auch für Karl May, eine Arbeit in der Bibliothek des Gefängnisses zu bekommen. Der wichtigste Umstand für May war jedoch, dass er Orgel in der Katholischen Messe spielte:

»Ich bestand die Prüfung und mußte vor dem Direktor erscheinen, der mir eröffnete, daß ich zum Organisten bestellt sei und mich also sehr gut zu führen habe, um dieses Vertrauens würdig zu sein. Das war der Anfang, aus dem sich so sehr viel für mich und mein Innenleben entwickelte.«[60]

Dissoziative Störungen sprechen sehr gut auf individuelle Psychotherapie, wie auch auf einen Bereich anderer Behandlungsmethoden und zusätzliche Therapien, wie z.B. Musik, an:

»Was für Orgel- und sonstige Musikstücke bekam ich in die Hand! Ich hatte geglaubt, Musikverständnis zu besitzen. Ich Tor! Dieser einfache Katechet gab mir Nüsse zu knacken, die mir sehr zu schaffen machten. Was Musik eigentlich ist, das begann ich erst jetzt zu ahnen, und die Musik ist nicht etwa das allergeringste Mittel, durch welches die Kirche wirkt.«[61]

Karl May wurde jetzt mit Respekt behandelt. Es wurde ihm eine Vertrauensstellung gegeben und die Gelegenheit, aktiv an Gottesdiensten teilzunehmen.

»[Der Aufseher] … kam … verwundert in meine Zelle, um mich zu fragen, ob vielleicht in meinen Einlieferungsakten ein Versehen unterlaufen sei; da sei ich als evangelisch-lutherisch bezeichnet. Ich verneinte das Versehen. Da sah er mich groß an und sagte: ›Das ist noch gar nicht dagewesen! Da mußt du – – – hm, da müssen Sie sehr musikalisch sein!‹ Die Gefangenen werden natürlich ›Du‹ genannt; von jetzt an aber sagte er ›Sie‹, und Andere taten ihm das nach. Das war eine scheinbar kleine, aber trotzdem sehr wertvolle Errungenschaft, weil aus ihr vieles Andere folgerte.«[62]

Der Aufseher (Carl August Leistner) war der Leiter eines Bläserkorps und er nahm May zu seinen Musikern auf:

»Dieser Aufseher ist mir ein lieber, väterlicher Freund gewesen, und wir haben, als er später pensioniert war und nach Dresden zog, noch lange in lieber, achtungsvoller Weise miteinander verkehrt.«[63]

All dieses war wohltuend für Karl Mays geistige Gesundheit:

»Was meinen seelischen Zustand betrifft, so hatte ich Ruhe, vollständige Ruhe. In den ersten vier Wochen der letzten vier Jahre war es noch vorgekommen, daß die dunklen Gestalten mich innerlich gequält und mit Zurufen belästigt hatten; das hatte aber nach und nach aufgehört und war schließlich still geworden, ohne sich wieder zu regen.«[64]

Es gibt eine Frage in der ›Großen Karl-May-Biographie‹[65]: Wurde Karl May im Zuchthaus geheilt? Die Antwort ist – Ja, er wurde geheilt.
 

Schlussfolgerung
 

Karl May beschrieb sehr genau in seiner Biographie[66] den Seelenzustand, in dem er sich während der Jahre 1862–1874 befand. Bis jetzt waren alle vorigen Versuche, seinen geistigen Zustand zu erklären, nicht schlüssig. Viele Autoren betrachteten Mays Beschreibung von ›Stimmen‹, die er hörte, als ein Sinnbild, eine poetische und symbolische Erklärung von Ereignissen in seinem Leben. Sogar heute wird in einigen Veröffentlichungen behauptet, daß Karl May an einer ›Art von Schizophrenie‹[67] gelitten habe. Dieses widerspricht natürlich ganz seinen schriftstellerischen Werken und dem Verlauf seines späteren Lebens.

Unter Anwendung von Freudscher Psychoanalyse verwandelt sich Karl May in einen Neurotiker oder eine hysterische Persönlichkeit mit narzißtischer Geltungssucht. Die Freudsche Theorie würde voraussetzen, dass May anale und orale Phasen während seiner Erblindung in der Kindheit durchmachte, vermutlich sexuellen Neid und sogar eheliche Untreue seiner Mutter erlebte.

Dissoziative Identitätsstörung (D.I.D.) ist bis vor kurzem ein verwirrender Zustand gewesen, der als eine Kuriosität angesehen wurde. 1994 wurde das ›Diagnostische und Statistische Handbuch der Geistesstörungen IV‹ veröffentlicht, das Veränderungen des medizinischen Verständnisses dieser Geistesstörung widergibt, die weitgehend auf vermehrter empirischer Erforschung von Dissoziativen Störungen basieren, die aus einem Trauma hervorgehen.

Nur Individuen, die nachweislich an wiederholten, überwältigenden Traumata während einer empfindlichen Entwicklungsphase der Kindheit, für gewöhnlich vor dem neunten Lebensjahr, gelitten haben, entwickeln D.I.D. Es gibt vier diagnostische Kriterien, die in dem Handbuch genannt werden.

Karl Mays Blindheit zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr, zusammen mit den späteren Misshandlungen durch seinen Vater, stellen das Kindheitstrauma dar. Mays eigene Worte in seiner Autobiografie beschreiben sehr gut die vier notwendigen Kriterien für die Diagnose von D.I.D. Es sind acht Pseudonyme bekannt, die Karl May zwischen 1862 und 1874 benutzte. Auch die diagnostischen Kriterien für einen dissoziativen Fluchtzustand stimmen mit Mays Verhalten zu dieser Zeit überein. Unabhängige Beobachter und Behörden beschrieben Mays Verhalten kurzer reaktiver Psychose.

D.I.D. ist ein heilbarer Zustand. Der Verlauf der Behandlung ist langwierig. D.I.D. reagiert auf individuelle Psychotherapie und auf einen Bereich anderer Behandlungsmethoden und zusätzliche Therapien. Die Dauer von Mays Strafen, aktive Teilnahme an Konzertaufführungen als Organist und Mitglied des Bläserkorps, Beschäftigung mit Büroarbeit und als Bibliothekar, stellte die kognitive Verhaltenstherapie dar. Ein Psychotherapeut fand sich in der Person von Johann Kochta, dem Gefängnis-Katechet, dem sich Karl May mitteilen konnte. Nach Mays Entlassung 1874 litt er nicht an Symptomen von D.I.D., und wir können vermuten, daß er völlig geheilt war.


Zeittabelle
 

BEDEUTENDE EREIGNISSE

ALTER

VERLAUF DER D.I.D.
Blindheit

3-5

Erlernt die Dissoziation
(›weggehen in seinem Kopf‹),
Großmutters Geschichten
Misshandlungen durch den Vater

6-15

Unvernünftiger Wunsch zu studieren provoziert körperliche Züchtigung
Ausschluss aus dem Lehrerseminar
(Weihnachten 1859)

17

Depression
Sechs Wochen in Haft
(8. September – 20. Oktober 1862)

20

Dissoziativer Gedächtnisverlust
Keine psychologische Betreuung
(Januar 1863 – März 1865)

21

Halluzinationen
Multiple-Persönlichkeiten-Phase
Wechselnde Persönlichkeiten übernehmen die Kontrolle

22

Dr.med.Heilig – Juli 1864
Seminarlehrer Lohse – Dezember 1864

23

Hermes Kupferstecher – März 1865
Arbeitshaussstrafe verbüßt in Zwickau
(Vom 14. Juni 1865 bis 2. November 1868)

26

Halluzinationen verschwanden
Heimkehr

26

Halluziniert wieder
Wechselnde Persönlichkeiten übernehmen die Kontrolle

27

  • Polizei-Oberleutnant von Wolframsdorf – März 1869
  • Geheimpolizei-Mitglied – April 1869
  • Rechtsanwaltsgehilfe – Juni 1869
  • Schriftsteller Heichel – Nov. 1869
  • Albin Wadenbach – Jan.1870
Kurze psychotische Zustände

27

Vorfälle mit:
  • Kinderwagen
  • Billardkugeln
  • gestohlenes Pferd
Freiheitsstrafe abgeleistet in Waldheim
(Vom 3. May 1870 bis 2. May 1874)

28-32

Halluzinationen verschwanden
Psychotherapeut J. Kochta
Eine Art von kognitiver Verhaltenstherapie:
  • Musik
  • Schreiben
  • Gefängnisleitung
Heimkehr

32

Frei von D.I.D.





Anmerkungen

[1] Aus einem Brief an den ›Hohenstein-Ernstthaler Anzeiger‹, veröffentlicht am 6. August 1910 (in: ›Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft‹ Nr. 111, März 1997, S. 49).

[2] Veröffentlicht in englischer Übersetzung von The Seabury Press, New York, 1977 (The Collected works of Karl May); nur einige Bücher sind erschienen: ›Winnetou‹ (Bd.1 und 2); ›Ardistan and Djinnistan‹ (›Ardistan und Dschinnistan‹) (Bd.1 und 2); ›In the desert‹ (›Durch die Wüste‹); ›The Caravan of Death‹ (›Die Todeskarawane‹); ›The Secret Brotherhood‹; ›The Evil Saint‹); ›The Black Persian‹ (›Der schwarze Mustang‹). Es wurden 16 Filme basierend auf Karl May-Büchern gedreht.

[3] Karl May: ›Mein Leben und Streben‹, Freiburg [1910], Reprint: Hildesheim – New York 1997.

[4] Version IV (DSM-IV).

[5] Die vierte Ausgabe 1994.

[6] Somerset Maugham: ›Of Human Bondage.‹ In: Mark Pierce: ›The Multiple Personality Dispute‹, Tomte Publications, US 1995.

[7] Jack London: ›The Star Rover‹, Corgi Books, London 1976, S. 9. – J. London beschrieb ebenfalls Dissoziation (auf S.50): »Und dann, für eine halbe Stunde, zehn Minuten, oder, eine Stunde lang oder so, würde ich unbeständig und töricht durch die gespeicherten Erinnerungen meiner ewigen Wiederkehr auf Erden wandern. Aber Zeiten und Orte wechselten zu schnell. Ich wusste nachher, wenn ich erwachte, dass ich, Darrell Standing, die verbindende Persönlichkeit war, die alle Bizarrheit und alles Groteske verband. Aber das war alles. Ich könnte niemals völlig eine ganze Erfahrung ausleben, einen Punkt des Bewusstseins in Zeit und Raum.«

[8] Karl May – aus dem Original: ›Ein Schundverlag und seine Helfershelfer‹. Zwei fragmentarische Texte aus den Jahren 1905 und 1909. Erstveröffentlichung aus dem Nachlaß. Prozeß-Schriften 2, Bamberg 1982, S. 372.

[9] Dr. W. Griesinger: ›Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten‹, Braunschweig 1871.

[10] Diese ›Geschichten erzählende Lügenhaftigkeit‹ gehört in dieselbe Kategorie wie die chronisch verwirrte Manie (die ›Verworrene Manie‹ bei deutschen Psychiatern); die ›Mania Resonans‹, wenn Patienten abweisend sind, die ganze Zeit streiten und klagen oder die ›Mania Stuporosa‹, bei welcher der Patient einem glücklichen, faulen, trägen Buddha zu ähneln scheint. Perioden der Prahlerei, die mit niedriger moralischer Einsicht (Pseudologia Phantastica) verbunden sind, wechseln mit Perioden tiefer Depression ab. Patienten sind in der Regel nicht zu irgendeiner kreativen, sinnvollen Arbeit fähig.

[11] William Thomas: Karl Mays Blindheit. Die Hungernot in Hohenstein und Ernstthal ist historisch belegt. Vgl. ›Entstehung und Entwicklung der Bergstadt Hohenstein‹. Zusammengestellt und herausgegeben von Oberlehrer Otto Sebastian, zweite vervollständigte Auflage, Hohenstein-Ernstthal 1927, S. 211f. Ferner: ›Aus einem Bittgesuch von 1844‹, Stadtarchiv Hohenstein-Ernstthal. Zitiert nach Hainer Plaul: ›Der Sohn des Webers – Über Karl Mays erste Kindheitsjahre 1842–1848‹. In: Jb-KMG 1979, Hamburg 1979, S. 50.

[12] Karl May: ›Mein Leben und Streben‹, wie Anm. 3, S. 30f.

[13] Seine Großmutter väterlicherseits, Johanne Christiane Kretzschmar (1780–1865).

[14] Karl May: ›Mein Leben und Streben‹, wie Anm. 3, S. 32.

[15] Ebd.,  S. 50f.

[16] Ebd., S. 10.

[17] Ebd., S. 9.

[18] Ebd.,  S. 10f.

[19] Ebd.,  S. 9.

[20] Ebd., S. 109f.

[21] Ebd., S. 107.

[22] Ebd., S. 117f.

[23] Ebd., S. 111f.

[24] Ebd., S.159.

[25] Ebd., S. 159.

[26] Ebd., wie Anm. 3, S. 159f.

[27] Im Originaltext nicht hervorgehoben.

[28] Fiktives Dorf, in dem die Leute lügen und einander Streiche spielen.

[29] Kegelbahn, wo die Spieler fluchen und obszöne Sprache benutzen.

[30] Gasthaus, wo die Stammkunden sich treffen, um Unheil zu stiften.

[31] Christian August Vulpius (1762–1827): ›Rinaldo Rinaldini‹, Veröffentlicht in Leipzig 1798. Ein Roman über Räuber und Wegelagerer.

[32] Oder Kerzen, gefunden in Karl Mays Besitz, die er gestohlen haben sollte.

[33] Das ganze Zitat in: ›Mein Leben und Streben‹, wie Anm. 3, S. 111f.

[34] Karl May: ›Mein Leben und Streben‹, wie Anm. 3,  S. 114f.

[35] Alte deutsche Münzen.

[36] Karl May: ›Mein Leben und Streben‹, wie Anm. 3, S. 118f.

[37] Ebd.,  S. 163.

[38] Hermann Wohlgschaft: Große Karl-May-Biographie,  Paderborn 1994, S. 94.

[39] Ebd., S. 113.

[40] Ebd., S. 115.

[41] Heinz Stolte: ›Narren, Clowns und Harlekine. Komik und Humor bei Karl May.‹ In: Jb-KMG 1982, S. 40-59.

[42] Erich Wulffen: Psychologie des Verbrechers. Ein Handbuch für Juristen, Ärzte, Pädagogen und Gebildete aller Stände. – Groß-Lichterfelde-Ost,  II. Bd., S. 173 und S. 314-315. Veröffentlicht März 1908.

[43] Karl May: ›Mein Leben und Streben‹, wie Anm. 3,  S. 172f.

[44] Ebd., S. 130f.

[45] Hermann Wohlgschaft: ›Große Karl-May-Biographie‹, wie Anm. 38, S.103.

[46] Karl May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 3, S. 154.

[47] Das heißt 1867; Johanne Christiane Kretzschmar starb tatsächlich am 19. September 1865; die Familie erzählte Karl May nichts davon.

[48] Karl May: ›Mein Leben und Streben‹, wie Anm. 3, S. 155.

[49] Ebd., wie Anm. 3, S. 156ff.

[50] Ebd., wie Anm. 3, S. 160f.

[51] Ebd., wie Anm. 3, S. 163ff.

[52] Ebd., wie Anm. 3, S. 165ff.

[53] Ebd., wie Anm. 3, S. 167.

[54] Ebd., wie Anm. 3, S. 167f.

[55] Heinz Stolte: ›Narren, Clowns und Harlekine‹, wie Anm. 41, S. 45.

[56] Karl May: ›Mein Leben und Streben‹, wie Anm. 3, S. 169f.

[57] Ebd., S. 176f.

[58] Ebd., wie Anm. 3, S. 172f.

[59] Winnetous letzte Worte »Scharlih – Ich glaube an den Erlöser – lebe wohl!« sind in der englischen Übersetzung ausgelassen worden (May, K.: ›Winnetou‹, The Seabury Press, New York 1977, S.648.) Die letzten Worte Winnetous sind in den meisten anderen Übersetzungen (zum Beispiel: ›Vinnetou‹, Band 4; Touzimsky a Moravec, Prag 1939, S. 255; ›Vinnetou‹, Band 3, Tranoscius, Liptovsky Sv. Mikulas 1947, S. 379), und in der Fassung: ›Winnetou‹ III. Karl-May-Verlag Bamberg 1951, S. 435 enthalten.

[60] ›Mein Leben und Streben‹, wie Anm. 3, S. 171.

[61] Ebd., S. 173.

[62] Ebd., S. 172.

[63] Ebd., S. 172.

[64] Ebd., S. 176.

[65] Hermann Wohlgschaft: ›Große Karl-May-Biographie‹, wie Anm. 38, S. 127.

[66] Veröffentlicht in englischer Übersetzung durch The Seabury Press, New York 1977.

[67] Hermann  Wohlgschaft: ›May in Blickpunkt‹, KMG Nachrichten Nr.115, März 1998, S. 46. 

  


  

Karl May aus medizinischer Sicht

Karl May – Forschung und Werk